GEMEINSAM EINSAM? HOMEOFFICE IN ZEITEN DER CORONA-PANDEMIE

 
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GEMEINSAM EINSAM? HOMEOFFICE IN ZEITEN DER CORONA-PANDEMIE
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GEMEINSAM EINSAM?
HOMEOFFICE IN ZEITEN DER
CORONA-PANDEMIE
von Beatrice Brülhart, Fachbereichsleiterin Gesellschaft und Behinderung

Seit Montag, 18.1.21 ist es in der           Prof. Dr. Hartmut Schulze, der promovierte
Schweiz wieder soweit: Homeoffice            Psychologe, Dozent und Institutsleiter
ist nicht mehr nur ein Recht, sondern        am Institut für Kooperationsforschung
eine zivilgesellschaftliche Pflicht. Mit     und -entwicklung an der Hochschule für
der Umstellung von Büroarbeit zu             Angewandte Psychologie FHNW, hat sich in
Homeoffice in der Corona-Krise ergeben       der Forschungsgruppe «Gestaltung flexibler
sich völlig neue Arbeitsumfelder und         Arbeit» zusammen mit Kolleginnen und
Lebensumstände. Zum zweiten Mal              Kollegen eingehend mit den Auswirkungen
innerhalb eines Jahres wird mit der          von Homeoffice und mobil-flexibler Arbeit
zweiten Welle Homeoffice überall da, wo      auf unsere Psyche auseinandergesetzt. Er
es umsetzbar ist zur Arbeitsrealität.        erklärt im Interview welche Auswirkungen
                                             Homeoffice auf unsere Psyche und unser
Was macht das mit den Menschen,              soziales Leben haben kann und was
wie hat sich durch die Umstellung auf        Arbeitnehmende und Arbeitgebende im
Homeoffice das Wohlbefinden von              Homeoffice tun können, damit sie seelisch,
Arbeitnehmenden verändert?                   körperlich und sozial gesund bleiben.

                                             In der Forschungsgruppe «Gestaltung
                                             flexibler Arbeit» an der Hochschule für
                                             Angewandte Psychologie FHNW wurden
                                             psychologisch fundierte Tipps für das
                                             Homeoffice während der Corona Pandemie
                                             erarbeitet. Die Zusammenstellung finden
                                             Sie hier.

26.01.2021
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                                                         Prof. Dr. Hartmut Schulze
                                                         Institutsleiter Institut für Kooperations-
                                                         forschung und -entwicklung
                                                         Mitglied der Leitung der Hochschule für
                                                         Angewandte Psychologie FHNW
                                                         Dozent im vierfachen Leistungsauftrag
                                                         der FHNW

Beatrice Brülhart: In einer Erhebung der       und mehr. Bei der Frage, wie Homeoffice
Fachhochschule Nordwestschweiz zu Beginn       nun mit der erneuten Verpflichtung seit
der ersten Welle im Frühjahr 2020 wurde        Montag, 18.01.2021 wahrgenommen wird
festgestellt, dass sich mehr als 70% der       und wie sich das weiterentwickelt, sind
insgesamt 333 Befragten im Homeoffice          wir auf Mutmassungen und Schätzungen
wohl oder sehr wohl fühlen und diese Art der   angewiesen. Rede ich mit Kolleginnen
Arbeitsorganisation nach der Coronakrise       und Kollegen oder mit Betroffenen im
beibehalten wollen. Wie steht es heute,        Rahmen von Vorträgen, so habe ich schon
während der zweiten Welle, um die Psyche       den Eindruck, dass sich die Stimmung
und das Wohlbefinden der Arbeitnehmenden       etwas verändert hat. Im Frühling war das
im Homeoffice?                                 ununterbrochene oder doch zumindest
                                               sehr häufige Homeoffice für viele etwas
Hartmut Schulze: Das Erleben des               Neues, man war noch euphorisch. Jetzt
Homeoffice während der ersten                  kennt man die Vor- und Nachteile des
Welle konnte mittlerweile empirisch            häufigen Arbeitens von zu Hause aus
recht gut aufgearbeitet werden. Es             besser und viele sind, nach meinem
liegen diverse Studien und Daten zu            persönlichen Eindruck, etwas kritischer
Einschätzungen während dieser Zeit und         oder zurückhaltender eingestellt. Aus
zu den erfahrenen Auswirkungen von             einer psychologischen Perspektive heraus
verschiedenen Forschungsinstitutionen          lässt sich sagen, dass eine Homeoffice-
vor. Wir selbst konnten im Auftrag der         Pflicht die Wahlmöglichkeiten bezogen auf
«Work Smart Initiative» nach dem ersten        den Arbeitsort und damit den Kontroll-
Lockdown im August eine repräsentative         oder Entscheidungsspielraum merklich
Erwerbstätigenbefragung durchführen            einschränkt und dies zu psychischen
(vgl. Weichbrodt et al., 2020). Generell       Belastungen führt. Empirische Daten zum
lässt sich sagen, dass Homeoffice während      Erleben der zweiten Homeoffice-Pflicht wird
des ersten Lockdowns im Frühling/              es aber erst später geben.
Frühsommer 2020 von der Mehrheit
deutlich positiv erlebt wurde – mit            BB: Im Jahre 2016 wurde in einer anderen
generellen Zufriedenheitswerten von 80%        Studie festgehalten, dass sich 87% der
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   befragten Schweizerinnen und Schweizer      Tages, den Zeitgewinn durch den Wegfall der
   mehr Homeoffice wünschen. Hat man das       Reisezeiten und eine höhere Produktivität
   Homeoffice, als man die eher belastenden    durch ungestörteres Arbeiten. In einer
   Seiten dieser Arbeitsform noch nicht        repräsentativen Studie aus Deutschland
   einschätzen konnte, idealisiert? Hat sich   wurde in diesem Zusammenhang
   diese Vorstellung mit der Erfahrung des     interessanterweise eine Verbesserung der
   Homeoffice während Corona relativiert?      Schlafqualität während Homeoffice im
                                               Lockdown festgestellt. Im Mittel schliefen
   HS: Zum Zeitpunkt dieser Erhebung 2016      die Beschäftigten an Werktagen ca. eine
   wurde Homeoffice nur oder immerhin          Stunde länger und konnten ihre Schlaf- und
   schon von 38% der Erwerbstätigen in der     Wachzeiten besser an ihren zirkadianen
   Schweiz zumindest ab und zu genutzt. In     Rhythmus anpassen. Dies hing vor allem
   unserer Studie vom August 2020 hat sich     mit dem Wegfall der Pendelzeiten zum
   gezeigt, dass während des Lockdowns im      Arbeitsort sowie mit dem Homeschooling
   April durchschnittlich 58% im Homeoffice    der Kinder zusammen, denn auch sie
   arbeiteten. In Branchen wie Strategie,      sparten den Schulweg. Als Nachteile und
   Forschung, Informatik, Kommunikation,       Belastungsfaktoren zeigen sich in den
   Medien, also in der wissensbasierten        Studien immer wieder die erschwerte
   Dienstleistung waren es sogar bis zu        Zusammenarbeit im Team, der reduzierte
   75% (vgl. Golder et al., 2020, gfs Bern).   Austausch unter Kolleginnen und Kollegen
   In der Verwaltung, im Tourismus oder        und bei höheren Anteilen Homeoffice auch
   in der Gesundheit waren es weniger als      die Vermischung und sehr viel schwierigere
   20% , die Homeoffice nutzen konnten.        Abgrenzung von Arbeit und Freizeit. Ich
   Die Einschätzung der Vor- und Nachteile     denke, insgesamt hat sich nunmehr ein
   von Homeoffice hat sich im Zuge der         realistischeres aber auch durchaus ein
   zunehmenden Nutzung auf jeden Fall          positives Bild von Homeoffice herausgestellt.
   bestätigt: Diejenigen, die Homeoffice       Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass
   während der ersten Welle nutzen konnten     Erwerbstätige heute durchschnittlich
   und jene, die dies auch schon vorher        mehr Tage im Homeoffice arbeiten wollen:
   taten, schätzten vor allem die grösseren    waren es 2014 ca. ein Tag Homeoffice pro
   Freiheiten zur zeitlichen Gestaltung des    Woche, so wünscht sich eine Mehrheit der
                                               Erwerbstätigen aufgrund der positiven
«Homeoffice in Zeiten der Pandemie             Erfahrungen mittlerweile zwischen zwei und
ist gleichzeitig ein Ort, an dem sich          drei Tage Homeoffice pro Woche. Ich denke,
                                               dass auch nach den Erfahrungen mit der
insbesondere durch die schwierigere            Homeoffice-Pflicht während der jetzigen
                                               Anordnung der Wunsch nach einer Mischung
Vereinbarung von Familienarbeit                zwischen Büro- und Homeoffice-Arbeit
und beruflicher Arbeit sowie durch             bleiben wird.

die Reduktion sozialer Kontakte                BB: Gibt es einen Unterschied im Erleben
psychische Belastungen stellen, sich           zwischen dem selbstgewählten Homeoffice
                                               und dem Homeoffice als Pflicht unter den
aber auch psychische Ressourcen                Bedingungen der Corona-Krise?

ergeben.»
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HS: Es ist schon ein grosser Unterschied, ob     konkreten Bedingungen die psychische
man sich freiwillig für ein anteiliges Homeof-   Gesundheit. Als positiv haben sich z.B. die
fice entscheiden kann oder ob man dazu ge-       Unterstützung der Arbeit im Homeoffice
zwungen wird. Es gibt viele Belege dafür, dass   durch die Arbeitgebenden aber auch ein
die Rücknahme von Freiheitsspielräumen           ergonomisch gestalteter Arbeitsplatz am
leicht zu Widerstand und Reaktanz führen         besten in einem eigenen Bürozimmer oder
kann und damit psychische Belastungen ver-       in einer Arbeitsnische erwiesen.
bunden sind. Wie bereits erwähnt, liegt einer
der Hauptvorteile des Homeoffice für Arbeit-     BB: Homeoffice als Pflicht unter den Bedin-
nehmende in der grösseren Autonomie und          gungen einer weltweiten Krise, stellt auch
der Wahlmöglichkeit bezogen auf den Ar-          Führungskräfte vor besondere Herausforde-
beitsort. Wenn man nun Homeoffice-Pflicht        rungen. Sie haben unter erschwerten Be-
einführt, dann entzieht man den Arbeitneh-       dingungen einen positiven Einfluss auf die
menden die Wahlmöglichkeit, was grundsätz-       Motivations- und Leistungsfähigkeit auszu-
lich eine Rücknahme von Entscheidungsspiel-      üben und ihren Beitrag dazu zu leisten, die
räumen bedeutet. Es zeigt sich aber aktuell,     Produktivität sicherzustellen. Wie kann eine
dass dies im letzten Lockdown als weniger        Führungsperson trotz physical distancing
gravierend eingeschätzt wurde, als dies nach     über digitale Kommunikation ein emphati-
der Theorie zu erwarten gewesen wäre. Dies       sches Beziehungsgefüge aufrechterhalten?
liegt einerseits daran, dass Homeoffice eine
positivere Wertigkeit erhielt, auch weil es      HS: Es ist gut in Studien dokumentiert,
eine ganze Reihe von Erwerbstätigen gab,         dass der Erfolg des digitalen Führens im
die zum ersten Mal im Homeoffice arbeiten        örtlich verteilten Kontext noch stärker von
konnten. Ein zweiter Grund liegt meiner An-      der Qualität der Beziehung zwischen der
sicht nach in der Kompensation des Auto-         Führungsperson und den Mitarbeitenden
nomieverlustes infolge einer eingeschränkten     und damit auch vom gegenseitigen
Ortswahl, durch eine grössere Autonomie in       Vertrauen abhängt. Wenn man nicht
der zeitlichen Gestaltung des Arbeitstages.      mehr im gleichen Raum arbeitet, sind
Da es im Homeoffice ja möglich ist, Arbeits-     spontane Treffen deutlich erschwert und
einheiten auch mal auf den Abend oder das        ein schneller Blickkontakt im Vorbeigehen
Wochenende zu verschieben, ergeben sich          ist nicht mehr möglich. Damit bekommt die
dann eben auch Gelegenheiten für Freizeit-       Führungsperson viel weniger mit, wie es
oder Familienaktivitäten während des Tages.      den Mitarbeitenden geht, wo sie anstehen
                                                 oder was ihnen gut von der Hand geht.
BB: Wie bedeutend für eine gute psychische       Selbst in Videokonferenzen müssen solche
Gesundheit im Homeoffice sind Resilienz und      Informationen mühsam erschlossen werden,
Selbstwirksamkeit im Unterschied zu Um-          hier fehlt insbesondere die räumliche
weltbedingungen?                                 Relation. Es hat sich aber auch gezeigt, dass
                                                 es durchaus erfolgreiche Führungspersonen
HS: Das bedingt sich gegenseitig. Psychische     gibt, die die kommunikative Vernetzung
Gesundheit im Homeoffice ist letztlich sicher    im Team aufrechterhalten können, auch
ein Resultat aus einem resilienten Verhalten     wenn man sich nicht mehr real sieht.
und entsprechenden Kompetenzen der               Eine Empfehlung für eine gute digitale
Einzelnen. Gleichzeitig fördern oder             Zusammenarbeit ist, die digitalen Kanäle
behindern aber die jeweils vorliegenden          nicht nur für den formellen Austausch,
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sondern auch für beispielsweise informelles     «Es ist schon ein grosser
Kaffeetrinken zu nutzen. Oder morgens im
virtuellen Raum ein kurzes Standup-Meeting
                                                Unterschied, ob man sich
zur Aufgabenkoordination durchzuführen.         freiwillig für ein anteiliges
Eine verlässliche Kommunikationsrhythmik
schafft Nähe und Vertrauen. Wichtig ist         Homeoffice entscheiden kann
aber auch Klarheit: die Aufgaben sollten
                                                oder ob man dazu gezwungen
gut besprochen sein und eine gewisse
Reichweite haben, so dass die Führungskraft     wird».
nicht im Minutentakt kontrollieren muss.
Ausserdem sollten genügend Ressourcen zur
Erfüllung der Aufgaben vorhanden sein.          Gleichzeitig erlebten ca. 20% der befrag-
                                                ten Personen zu Hause mehr Spannungen
BB: Es eignen sich nicht alle Personen          und Konflikte als vor dem Lockdown. Rund
gleichermassen für die Homeoffice-Arbeit.       20% fühlten sich währenddessen einsamer.
Welchen Personen geht es gut im Homeoffice      Homeoffice in Zeiten der Pandemie ist also
und für welche eignet sich Homeoffice           gleichzeitig ein Ort, an dem sich insbesonde-
weniger gut?                                    re durch die schwierigere Vereinbarung von
                                                Familienarbeit und beruflicher Arbeit sowie
HS: Wir haben gesehen, dass gerade im           durch die Reduktion sozialer Kontakte psy-
Lockdown, Familien mit Kindern im betreu-       chische Belastungen stellen, sich aber auch
ungspflichtigen Alter unter einer grösseren     psychische Ressourcen ergeben. Dieses Ver-
Belastung stehen als diejenigen, bei denen      hältnis hängt dabei auch vom Bildungsstand
keine Kinder im Haushalt leben. Familien, die   und dem verfügbaren Einkommen ab: Eltern
sowohl die Kinder verpflegen und beschäf-       mit tieferem Bildungsstand können aufgrund
tigen, sowie beim Homeschooling unter-          ihrer beruflichen Aufgaben deutlich weniger
stützen mussten und gleichzeitig noch im        im Homeoffice arbeiten und ihren Kindern
Homeoffice arbeiteten, hatten im April 2020     Homeschooling ermöglichen. Eltern mit hö-
im Vergleich zum Februar 2020 zwischen          herem Bildungsstand sind eher in der Lage,
einem Viertel bis zu einem Drittel weniger      auf Homeoffice umzustellen und müssen
Kapazitäten für ihre Erwerbstätigkeit (vgl.     dann aber Homeoffice, Homeschooling, Kin-
Bütikofer et al., 2020, Forschungsstelle        derbetreuung und Familienarbeit unter einen
sotomo). Es zeigten sich zum Teil deutliche     Hut bringen. Entsprechend geben sie auch
Geschlechterunterschiede: 10 % mehr Frau-       insgesamt etwas höhere Belastungen an (vgl.
en als Männer gaben im letzten Lockdown         Bütikofer et al., 2020). Auf der persönlichen
von März bis Juni 2020 an, infolge ihrer        Präferenzseite finden sich ebenfalls Unter-
Betreuungsaufgaben über weniger Kapazi-         schiede: Diejenigen, die klarer zwischen
täten für ihre berufliche Arbeit zu verfügen.   Arbeit und Freizeit trennen wollen, haben
Verbunden mit dem Lockdown finden sich          mehr Mühe, sich im Nonstop-Homeoffice
verschiedene positive und einige negative       wohlzufühlen. Das sind übrigens auch die-
Entwicklungen. So geben Familien aus Haus-      jenigen, die in Normalzeiten anstelle des
halten mit Kindern eine gestärkte Familie       Homeoffice eher Coworking Spaces wählen.
beziehungsweise Partnerschaft an. Dieje-
nigen ohne Kinder im Haushalt erlebten zu       BB: Wie gehen Menschen, die alleine leben
Hause mehr Ruhe und Entspannung.                mit der Isolation im Homeoffice um?
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     HS: Alleinstehende Personen sind auf jeden      Persönlichkeit verändern?
     Fall ebenfalls besonders herausgefordert.
     Weil diese Personen in ihren sozialen           HS: Tatsächlich besteht eine gewisse Ge-
     Kontakten und in ihrem sozialen Leben           fahr für psychische Spätfolgen. Insbesonde-
     noch viel mehr beschnitten sind, als            re dann, wenn es nicht gelingt, steigenden
     beispielsweise Familien. Insbesondere           psychischen Anforderungen auch Kompensa-
     für Jugendliche und Adoleszente ist das         tionsmöglichkeiten entgegenzustellen. Hier
     soziale Miteinander in ihren Peergroups         kommt es natürlich auch wieder auf jeden
     ein ganz wichtiger Faktor für ihre              Einzelnen, jede Einzelne an. Und man kann
     Persönlichkeitsentwicklung und den              von Erfolgsgeschichten lernen. So gelingt es
     Ablösungsprozess von den Eltern.                beispielsweise einigen, ihre sozialen Be-
     Letztlich können Einsamkeits- und               ziehungen trotz Lockdown und geschlosse-
     soziale Isolationsgefühle zu depressiven        nen Sportstätten zu verbessern. Indem der
     Verstimmungen auswachsen. Im Zusammen-          Austausch im Verein nicht einfach aufhört,
     hang mit dem aktuellen Anstieg psychischer      sondern auf virtueller Ebene weitergeht und
     Erkrankungen wie Depressionen und auch          man sich noch einmal ganz anders kennen-
     Versagensängsten, gerade bei den Jüngeren,      lernen kann. Einige wurden aus dem Ho-
     wie sie die Corona-Taskforce des Bundes         meoffice heraus auch caritativ tätig, indem
     Anfang Januar 2021 im Rahmen einer              sie über digitale Plattformen Organisationen
     Befragung feststellte, könnten die eventuell    unterstützen und daraus Sinn und Relevanz
     wieder nötig werdenden Schulschliessungen       schöpfen können. Darüber hinaus denke ich,
     die Situation zu Hause im Homeoffice weiter     haben auch die Firmen für ihre Mitarbeiten-
     belasten.                                       den im Dauer-Homeoffice eine Fürsorge-
                                                     pflicht. Es stellt sich einfach die Frage, wie
«Diejenigen, die Homeoffice während                  es ihnen gelingt, diese wahrzunehmen und
                                                     angemessene Formen der Unterstützung zur
der ersten Welle nutzen konnten                      Verfügung zu stellen. Wenn allerdings die
und jene, die dies auch schon vorher                 Work-Life Balance nicht stimmt und man
                                                     beispielsweise aufgrund von Abgrenzungs-
taten, schätzten vor allem die                       problemen zuviel arbeitet, weil im Homeof-
grösseren Freiheiten zur zeitlichen                  fice die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit
                                                     immer stärker verschwimmt, dann besteht
Gestaltung des Tages, den Zeitgewinn                 die Gefahr von innerfamiliären Konflikten.
                                                     Diese können sich dann auch erst spät aber
durch den Wegfall der Arbeitszeiten                  vielleicht dann auch nachhaltig zeigen.
und eine höhere Produktivität durch                  Wichtig ist also, dass Kontakte nicht ganz ab-
                                                     brechen und dass man klare Grenzen zwi-
ungestörteres Arbeiten.»                             schen Arbeit und Freizeit zieht, wenn man im
                                                     Homeoffice arbeitet.
     BB: In den Medien wurde auch darüber be-
     richtet, dass sich gewisse Symptome, wie        BB: Die Situation fordert von uns allen
     zum Beispiel Schlaflosigkeit oder Antriebslo-   enorme Anpassungsleistungen. Was
     sigkeit, erst spät, nach Monaten oder Jahren    passiert mit den Menschen, die diese
     bemerkbar machen. Müssen wir mit trauma-        Anpassungsleistungen nicht (mehr) erfüllen
     tischen Langzeitfolgen rechnen, welche die      können? Ist damit zu rechnen, dass bei
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diesen Menschen psychische Schäden               in Zukunft den direkten Kontakt und dafür
bestehen bleiben oder dass sie von               geeignete Räume brauchen. Ich hoffe, dass
Ausschluss bedroht sind?                         Homeoffice und Coworkingspaces anteilig
                                                 und auf freiwilliger Basis reguläre und von
HS: Dass sich psychische Belastungs-             Arbeitgebenden anerkannte Arbeitsorte
symptome entwickeln, dafür müssen                werden. Wenn sich das so entwickelt, denke
verschiedene Faktoren zusammenkommen.            ich, wird sich auch der psychologische
Dazu spielt sicher die Vorgeschichte oder        Vertrag ändern: Die Möglichkeit von
eine Vorerkrankung eine Rolle und ob man         Homeoffice stellt dann kein reines
alleine oder mit anderen zusammen im             Entgegenkommen des Arbeitgebers mehr
Homeoffice arbeitet. Letzlich auch, wie          dar, verbunden mit der Erwartung, dass die
sich die Arbeit gestaltet. Einschränkungen       Mitarbeitenden allein für ihre Arbeitsfähigkeit
in Autonomie und Freiheitsspielraum              zuständig sind. Die Organisationen wären
sind auf jeden Fall belastend. Ich würde         im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht stärker
nicht soweit gehen, dass wir durch die           gefordert, den Mitarbeitenden auch zu Hause
Homeoffice-Pflicht in grossem Ausmass            ein produktives und gesundes Arbeiten zu
psychischen Erkrankungen Vorschub                ermöglichen.
leisten. Wir müssen aber die Entwicklung
gut im Auge behalten und genügend                BB: Was werden wir aus dieser Zeit gelernt
Ressourcen bereitstellen. Hier kommt auch        haben?
unseren Kulturinstitutionen eine wichtige
Rolle zu. Die Teilnahme an virtuellen            HS: Ich wünsche mir, dass Homeoffice zu-
Theateraufführungen, Filmfestivals oder          künftig als regulärer Arbeitsort neben ande-
Lesezirkeln kann die soziale Eingebundenheit     ren anerkannt wird und dafür die politischen,
stärken und für Entlastung sorgen. Deshalb       rechtlichen und organisationalen Voraus-
ist deren Förderung und deren Initiative ganz    setzungen geschaffen werden. Das dichte
sicher wichtig                                   Zusammensein sollte zukünftig nicht nur als
                                                 Gefahr betrachtet werden. Wir müssen ein
BB: Wagen wir nun einen Blick in die Zukunft.    gezieltes Zusammenarbeiten in Präsenz auch
Auf der Grundlage der Erfahrungen, die wir       wieder lernen. Wenn es bei einer nächsten
jetzt mit der Homeoffice-Pflicht machen:         Pandemie wieder zu einer Homeoffice-Pflicht
Wie sehen Arbeitsformen der Zukunft aus?         kommt, haben wir hoffentlich ein Rüstzeug
                                                 zur Verfügung, um etwas sicherer und geüb-
HS: Da können wir über evidenzbasierte           ter damit umzugehen.
Visionen sprechen: Arbeitnehmende sollten        Dann zum Schluss noch etwas ganz Prakti-
aufgrund ihrer jeweiligen Arbeitstätigkeiten     sches, das ich mir wünsche: dass man die
und aufgrund ihren Präferenzen den dafür         Luft in den Büros besser umwälzen und ab-
geeigneten Arbeitsort jeweils auswählen          führen kann und Pflanzen in ihrer Fähigkeit
können. Dieser kann dann mal im Büro, mal        stärker nutzt, um den CO2 Gehalt und die
im Homeoffice oder in Coworking-Spaces           Viruslast senken zu können. Ich hoffe, dass
sein. Man muss allerdings im Auge behalten,      es uns gelingt, die Bürolandschaften in den
dass der Austausch, kreatives Teamwork           Organisationen wieder zu attraktiven und
oder auch intensive Stillarbeit nicht an allen   gleichzeitig sicheren Orten werden zu lassen.
Orten gleichermassen möglich sind. Für
die Team-Zusammenarbeit wird es auch             BB: Herr Schulze, ich danke Ihnen sehr herz-
                                                 lich für dieses Gespräch.
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