Gesprächsführung bei Kindern und Jugendlichen mit Asperger Syndrom als Opfer von Misshandlung und Mobbing - Abschiedssymposium Madeleine Eggler

 
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Gesprächsführung bei Kindern und Jugendlichen
          mit Asperger Syndrom als
    Opfer von Misshandlung und Mobbing

       Abschiedssymposium Madeleine Eggler

                        Matthias Huber
                     Autismussprechstunde
           Kinder- und Jugendpsychiatrische Poliklinik
                          KJPP Bern
                          23.06.2011
Für Madeleine

©Matthias Huber (2011)                   2
Ziel?

•     Nicht Modell vorstellen, wie Gesprächsführung gelingen kann, sondern anhand
      von Beispielen verstehbar machen, wie Ki/Ju mit AS wahrnehmen, denken und
      verarbeiten.
•     Vorschläge für Gedankengänge geben, die Sie dann denken können oder nicht.

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1. Madeleine: Weisst du noch?

Mädchen, 8 Jahre, Schulverweigerung

•     Fragen stellen und hohe Antwortlatenz:
      Madeleine: „Was ist mit meiner Frage passiert, wo ist sie hin?“

•     Ungewöhnliche Erklärungen für ungewöhnliche Verhaltensweisen:
      Bsp.: „Ohrring verloren“

•     Gewöhnliche, typische Antworten, aber ungewöhnliche Erklärungen:
      Bsp.: Mathematik („Welche Fächer magst du nicht?“)

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2. Das Asperger-Syndrom: Für den Dialog relevant

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Für Dialog relevant   (Manser&Huber)

Blickkontakt:
• Fehlend oder starrend oder nur kurz.
• Blickabwendung, wenn man mit ihm/ihr spricht.

Mimik:
• Flach oder kaum moduliert, wirkt künstlich, emotionales Erleben kann von
  Aussenbetrachter (NT) nicht adäquat „abgelesen“ werden.

Gestik:
• Wenig oder nicht adäquate, übertriebene, gleichbleibend Gestik; wirkt angelernt.

Sprache:
• Ungewöhnlich in Sprachmelodie und Geschwindigkeit: Monoton oder überbetont,
  zu schnell/zu langsam, pedantisch, nicht an Dialog angepasst; altklug wirkend.
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Kommunikation/Interaktion:
• Kein/wenig oder monologisches Sprechen, ungenügende Kenntnisse der
     Gesprächsregeln, wortwörtliches Verstehen
• logisch- detailverhaftetes Denken, im Dialog nicht oder kaum veränderbar,
     kaum lenkbar („Flugzeug, bin geflogen“).
• Spezialinteressen/Sonderinteressen (SIs):
     Auf eigene Themen und Gedankengänge fixiert, bis ins Detail
     Extrem hohe intrinsische Motivation, intensives und fast ausschliessliches
     Beschäftigen (Fahrpläne, Fussball-Ergebnisse, Kirchenglocken, Dinosaurier, Pferde, Hydranten,
     Astronomie, etc.)

• Stereotypien:
     Wiederkehrende Geräusche/Fragen, motorische „Unruhe“,
     Gedankenstereotypien

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Nonverbale Kommunikation:
•     Kein/kaum Kopfnicken, keine Reaktion, keine Antwort oder deutlich
      erhöhte Antwortlatenz (nicht selten über 10sec.)

•     Zeigt nicht, wenn überfordert (Ruhe, Pause, etc.)

•     Starrt, fixiert einen Gegenstand an während Gespräch

•     Extrem Regel-fokussiert: Will, dass alle seine oder die gängigen Regeln
      eingehalten werden

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Wahrnehmung:

• Oft Hyper- oder Hyposensibilitäten
     Licht, Geruch, Geräusche, Essen, Kleidung, Oberflächenbeschaffenheit,
     Schmerzempfinden Bsp.: „Hauptbahnhof zur Stosszeit“

• Detailfokussierte Wahrnehmung
     (Bsp.: „Wald vor lauter Bäumen“)

Intelligenz:
• im Durchschnitt oder überdurchschnittlich

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3. Beispiele für Gewalt und Mobbing

• In der Pause packten Mitschüler D. und ejakulierten über seine Hosen. Dies kam
  mehrmals vor.
   (D., 2008)

• Mitschüler von N., einer Gymnasiastin, urinierten in ihren Helm. Sie bemerkte es
  erst, als sie ihn aufgesetzt hatte. Sie fuhr mit dem Helm auf dem Kopf nach
  Hause, denn sie hatte gelernt, dass Mofa fahren ohne Helm nicht erlaubt ist.
   (Schuster, 2009)

• In einem Lager wurde C. von einer Horde Jungen an den Beinen gepackt, diese
  auseinander gerissen und links und rechts an einem dicken Holzpfosten vorbei
  gezogen, sodass seine Genitalien gequetscht wurden.
   (aus der Praxis)

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• Der 14 Jährige B. ging über Monate in den Fussballclub und kam danach mit
  kleinen Schürfwunden und zerrissenem Hemd nach Hause.
   Zu seiner Mutter sagte er: „Ich werde weiterhin hin gehen. Sie schlagen mich,
   aber das ist das kleinere Übel als die Einsamkeit“.
   (Bericht einer Mutter aus ?, ca. 2008)

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• E.‘s Mutter wurde von anderen Eltern angerufen. Sie solle umgehend mit den
  Lehrpersonen Kontakt aufnehmen, denn ihr Sohn E. würde derart geplagt auf
  dem Pausenplatz, dass die anderen Kinder dies nicht mehr ertragen könnten..
   Sie seien traumatisiert vom Zusehen.
   E‘s Mutter und Vater wussten bis zu diesem Gespräch nichts von der Gewalt,
   welcher ihr Sohn ausgesetzt war.
   (aus der Praxis, 2007)

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•     A., 10 Jahre, hatte ein wenig Gras essen. Die Nachbarskinder sagten ihr, dies
      sei gesund, sie solle weiter essen, was sie tat.
      Danach teilten sie ihr mit, sie werde heute noch sterben, denn Gras sei für
      Menschen giftig.
      A. hatte grosse Angst vor dem Sterben, sagte ihren Eltern nichts, weil sie
      wusste, dass diese sehr traurig sein würden, wenn sie sterben würde. Sie blieb
      für Stunden im Gras sitzen und wartete auf den Tod. Als es Abend wurde, ging
      sie nach Hause heim.
      (A. in den 80-er Jahren)

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•     M. wurde im 4. und 5. Schuljahr regelmässig von Mitschülern geschlagen,
      angespuckt und mit Schimpfwörtern betitelt.
      Mehrmals wurden in der Pause ganze Horden von Kindern des 1. und 2.
      Schuljahres auf ihn gehetzt, um ihn mit Ruten zu schlagen.
      Er hat nicht zurück geschlagen, da er gelernt hatte, dass man Jüngere nicht
      schlagen darf, weil das gemein ist.
      (Biographie)

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4. Was fällt auf?

•     Keine Lappalien
•     Oft unübliche Formen von Gewalt und Mobbing:
      Teilweise skurril wirkendes Ausmass an Gewalt
•     Nicht ein bis zwei TäterInnen, sondern auch ganze Klassen, Horden
•     Antwort auf Gewalterlebnis des AS-Ki/Ju eher logisch geleitet und nicht
      emotional
•     Form und Inhalt der Gewalt kann Hinweise darauf geben, wie Ki/Ju von Peers
      wahrgenommen wird, wie es von Umgebung eingeschätzt wird, wie es sich
      selbst und die Anderen definiert, wahrnimmt und einschätzt.

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5. Zum Erkennen von Gewalt

5.1. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen werden und adäquat
     eingeschätzt werden können

5.2. Gewaltakte, die nicht als solche wahrgenommen werden

5.3. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen werden, aber als zu wenig
     schlimm eingeschätzt/eingeordnet werden

5.4. Normales, typisches, adäquates Verhalten der Umgebung, das von
     AS-Ki/Ju als Gewaltakt wahrgenommen/eingeordnet wird

5.5. Gewaltakte Anderer, als Antwort auf aggressiv anmutendes Verhalten
     des AS-Ki/Ju

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5.1. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen werden und eingeschätzt
                                   werden können

Was braucht es dazu?
-     Sinnesfähigkeiten: Sinne nutzen:
      Die eine Situation, in der man steckt(e), mit anderen, vorhergehenden
      Situationen im Zusammenhang erfassen können
-     Gerichtete Sinne: Sinne, die so gerichtet sind, dass sie in jenem Moment
      genau jenes erfassen, was nötig ist, um Einschätzung machen zu können
      (Orientierungsreaktion, Blickrichtung und Hörrichtung auf das Wesentliche, keine innere
      Ablenkung, Konzentration auf das, was geschieht)
-     Diskrimination relevantes/irrelevantes: Möglichkeit oder Fähigkeit, relevante
      von irrelevanten sozialen Details unterscheiden zu können
-     Genügend Zeit und „Ruhe“ zum Erfassen: Erkennen und beobachten
      erfordert bestimmten Ruhepegel
      (=Niedriger Stresspegel: Unter grossem Stress kann u.U. nichts mehr erkannt werden)

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-     Wissen über Hierarchisierungsmöglichkeiten („Welche Kriterien müssen erfüllt
      sein, dass…“ schlimm/weniger schlimm)

      Wahrnehmungsfunktionen, -kompetenzen und Soziale Kognition/Soziales
      Wissen
      (Soziale Situation wird erfasst, Ich und Gegenüber wird in seiner Reziprozität
      richtig eingeschätzt)

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Im Dialog

„Wie ist es dazu gekommen?“
A. kann berichten,
• was passiert ist (Fakten)
• wie es dazu gekommen ist (Ablauf)
• was er sich dabei überlegt hat (Nachdenken, Reflektion)
• was sich die Anderen dabei gedacht haben (Theory of Mind)
• flexibles abrufen von Erlebtem (Flexibilität)

=> Langfristige Speicherfähigkeit besitzen und kurzfristig Abrufen können
   innerhalb einer (schwierigen) sozialen Situation

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Langfristige Speicherfähigkeit und kurzfristiges Abrufen können

„sozial-fokussierte Speicherfähigkeit des Gehirns, zumindest immer dann,
wenn es um soziale Inhalte geht“:
Schafft soziales langfristig abzuspeichern und kurzfristig abzurufen:

Fähigkeit, soziale Skripts abzurufen, zu vergleichen in der jeweiligen Situation:
- trotz Stress
- trotz Unruhe im Umfeld, in welchem man sich bewegt
- trotz Wahrnehmungsbesonderheiten

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Z.B.: Wenn Menschen dies oder jenes sagen, meinen sie damit…?

- Wenn Menschen dies oder jenes genau dann sagen, meinen sie damit…
- Wenn Menschen dies oder jenes genau dann sagen, meinen sie damit, sofern
   vorher folgendes geschehen ist….
- Wenn Menschen dies oder jenes genau dann sagen, meinen sie damit, sofern
   vorher folgendes geschehen ist und sie die Stimme in einer Weise einsetzen,
   welche so oder so klingt…
- Wenn Menschen dies oder jenes genau dann sagen, meinen sie damit, sofern
   vorher folgendes geschehen ist und sie dabei die Stimme in einer Weise
   einsetzen, welche so oder so klingt und mit dem Gesicht so schauen und mit
   den Händen solche Bewegungen machen,…

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-     Wenn Menschen dies oder jenes genau dann sagen, meinen sie damit, sofern
      vorher folgendes geschehen ist und sie dabei die Stimme in einer Weise
      einsetzen, welche so oder so klingt und sie mit dem Gesicht so schauen und mit
      den Händen solche Bewegungen machen, dann und genau dann…
      ….könnte es sein, dass ich soeben gemobbt werde oder wurde.

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5.2. Gewaltakte, die nicht als solche wahrgenommen werden

Was es braucht es dazu?
-     Fehlendes soziales Wissen („Schwitzkasten im Bus“)
-     Fehlender Kontext oder Kontextverwechslung:
      („Body Check auf Schulweg= kein Rugby“)
-     Fehlende Fähigkeit, Emotionen in Stimmen decodieren zu können („Super,
      mach‘ das doch noch 100x!“)
-     Fehlende Blickrichtung (-bewegungen), Augen schnell und richtig steuern ,
      „organisieren“ können (sieht Schlag nicht kommen, sieht Gesicht nicht, denkt, sei ein
      Versehen)
-     Schwierigkeit, in kurzer Zeit, soziale Informationen verarbeiten zu können
      (Bsp.: „Bildet Zweiergruppen“ – Zeitrafferlebnis, erkennt nicht, dass alle Nase rümpfen,
      wenn sie ihn anschauen) Warum bist du immer die, die zurück bleibt? Weil wir 17 sind und
      17 ist eine ungerade Zahl, einer bleibt immer übrig.“

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2. Im Dialog

„Wie ist es dazu gekommen?“
• Kann nicht erklären was abgelaufen ist
• Vergisst wichtiges, erwähnt unwichtiges
• Sagt, er sei von XY berührt/angefasst geworden, kann aber nicht sagen, ob
  dieser geschlagen hat, und wenn ja, ob aus Wut oder nicht.

Sprachverarbeitung: „Wie ist es dazu gekommen?“
(Nicht-Wissen, was mit der Frage gemeint ist: Bsp.: Geschlagen worden)
- „Ich weiss nicht…Sie suchten Tannzapfen.“
- Und dann?
- Weiss nicht…“,
   (Frage „und dann…“ verknüpft Betroffener nicht mit Ablauf, mit der Frage nach dem Ablauf,
   sondern mit der Frage nach den Tannzapfen…)

     CAVE: Fehlende Joint Attention (kein gemeinsamer Gesprächsgegen-
     stand“)
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Z.B. „Schwitzkasten im Bus“:
„Ich bin jetzt auch einer seiner besten Freunde.“
„Wie erkennst du, dass du einer seiner besten Freunde bist, wie hast du entdeckt?“
„Er hat mich im Bus in den Schwitzkasten genommen. Es war lustig im Bus, alle
haben gelacht. Er mag mich, weil er mich in den Schwitzkasten genommen hat,
denn das macht er auch immer wieder mit seinem besten Freund. Und weil er
seinen besten Freund immer wieder in den Schwitzkasten nimmt, weiss ich, dass
ich nun auch ein bester Freund bin von ihm.“

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5.3. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen, aber als zu wenig
                      schlimm eingeschätzt/eingeordnet werden

Was braucht es dazu?
• Schwierigkeit, verschiedene Verhaltensweisen von gleichen oder
  verschiedenen Menschen als adäquat/inadäquat einschätzen zu können…
• Kann eigene Verhaltensweisen nicht oder kaum einordnen:
   Z.B.: „Was ist schlimmer: Wenn ich nicht Danke sage oder wenn ich jemanden zusammen
   haue? Warum ist das Hauen schlimmer, wer hat das heraus gefunden?“
• Fehlende, „traditionelle“ Sozialisierung: Peers: Peer-Group und Reaktionen der
   Erwachsenen bieten Möglichkeiten zu erfassen und zu erfahren, was als schlimm, weniger
   schlimm angeschaut wird.
   Unvermögen, emotionale Gewalt, die mit physischer Gewalt einher geht, zu
   erfassen. (Kopf aufs Pult: „Damit du besser sehen kannst…“)
• Fehlende Gelegenheit, fehlendes Gefühl der Eingebundenheit in eine
  Gruppe: Was denkt eine Gruppe? Was ist einer Gruppe wichtig? (Schamgefühl?)

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•     Fehlendes Werkzeug, mit welchem gemessen werden kann, was schlimm, was
      Bagatelle ist.
•     Fehlende, gesunde Portion Misstrauen, stattdessen 100%-ige Gutgläubigkeit:
      (Aber: Meinungen sind keine Tatsachen,...)

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5.4. Normales, adäquates Verhalten der Umgebung, das von AS-Ki/Ju als
                 Gewaltakt /wahrgenommen/eingeordnet wird

Was braucht es dazu?
• Fehlendes Wissen, warum Fragen gestellt werden:
      „Gehst du in die Ferien?“
      „Warum willst du das wissen?“
•     Mitschüler gibt K. auf Pausenplatz ein Geburtstagsgeschenk. K brüllt,
      schmeisst es weit weg, hasst Überraschungen. In der Folge: Will nicht mehr mit
      diesem Schüler reden und hält dauerhaft Abstand. Sei ein ganz Gemeiner, der
      habe ihm etwas zuleide getan.
•     K. hasst es über Ferien zu sprechen, weil er und seine Familie das letzte Mal
      den Flug verpasst haben. LP: „Erzähl‘ doch mal von deinen Ferien“ K fängt laut an zu schreien.
•     K. gerät in Panik, wenn das Wort ‚Ferien‘ fällt, weil ihm vor vielen Jahren ein
      Papagei in einer Zoohandlung „Ferien!“ ins Ohr geschrien hat.
      LP: „Gehst du in die Ferien?“ K. hält sich die Ohren zu und schlägt seine Lehrerin.

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•     K geht gerne in die Schule und hasst Ferien. Als er einen Aufsatz über Ferien
      schreiben soll, findet er seine Lehrerin gemein.

      Fehlende Theory of Mind (fehlendes sich eindenken können, warum
      Menschen etwas sagen oder wünschen)
      Eigene, private Definitionen von Menschen und deren Begriffen, Sätzen und
      Verhaltensweisen
      Unverschuldetes Unvermögen der Umgebung, zu wissen, was im Kopf des
      AS-Ki/Ju vorgeht

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Eigene, private Ängste:
      S., ein 16 J. mit AS: Spielfilm in Schule über einen Mafia-Boss, der (wie er auch)
      Münzen sammelt und während des Ordnens der Münzen umgebracht wurde.

      In der Folge: Extreme Ängsten, er würde umgebracht, spricht alle möglichen
      Leute an, teilt ihnen mit, dass er zwar noch Münzen sammle, diese aber nicht
      mehr ordne.
      Umfeld reagiert mit Unverständnis auf diese langweilige, unerhebliche
      Mitteilung, die er immer wieder sagt…
      S. erzählt nichts über seine Ängste, weil er nicht weiss, dass die Anderen keine
      Ahnung von seinen Gedankengängen haben.

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5.5. Gewaltakte Anderer, als Antwort auf aggressiv anmutendes Verhalten
                                des AS-Ki/Ju

Was braucht es dazu?
•     Nichtverstehen des Menschen mit AS
•     Fehldeutungen der NTs
•     Rezidivierende Erlebnisse von Frustration und Kränkung im Zusammenleben
      mit AS-Ki/Ju
•     Fehlendes autismusspezifisches Wissen im Zusammenhang mit AS-Ki/Ju
•     Fehlende Theory of Mind von Seitens der neurotypischen Menschen im Bereich
      Autismus
•     Egozentrische Sichtweise von seitens der NTs
      („Kigä und an den Zöpfen ziehen“)
•     Fehlendes Offerieren von Rückzugsmöglichkeiten

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Zu bedenken

•     AS-Ki/Ju u.U. durchgehend verängstigt, weil sie nicht vorhersehen können,
      wann sie das nächste Mal angeschrien/geschlagen wird. Weiss nicht, wann
      jemand schlägt und ob jemand schlägt und wie jemand ist, der nicht schlägt.
      Jeder kann ein Schläger sein, jeder kann kein Schläger sein.
•     Oppositionell vs. Wahrnehmungsspezifische Besonderheiten:
      Z.B. unterbricht ständig Eltern beim Mittagessen (dabei: Zu laut am Tisch, wenn geredet,
      gekaut, gegessen wird und das Besteck unvorhersehbar vor sich hin klirrt)

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6. Fallbeispiele: Jugendlicher, AS, 17 Jahre

•     Bsp: Alle Assoziationen, Themen, Wörter Gegenstände die (auch im
      Entferntesten!) mit traumatischen Erlebnissen zu tun haben, kann er weder
      sagen noch denken…
•     Jedes Detail zu dieser Zeit wird abgespeichert, alles was geschah,
      unabhängig davon, ob gut oder nicht gut, wird als Ganzes, „starr“
      abgespeichert, es gibt keine Unterscheidung mehr, was in dieser Zeit trotz allem
      gut lief oder getan hat. Es wurde die Zeitspanne mit allen Inhalten
      abgespeichert und als völlig umfassendes Trauma abgespeichert.
•     Deshalb: Neue Sätze, Begriffe, Gedanken und Themen und Assoziationen
      bilden helfen. Weg vom gesamtem Inhalt aus dieser Zeit hin zu neuen
      Gedankengängen, die nicht belastet sind.
      Stehen diese neuen Begriffe zur Verfügung, gibt es eine Art Fundament, dem
      es dem Betroffen erlaubt, von sich aus kurze Abschwenker zu den Erlebnissen
      zu machen.

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•     Im Jetzt bleiben. alles was im Jetzt passiert, geschieht, mithelfen einzuordnen kann dazu
      führen, dass anhand des Jetzt die Vergangenheit beschrieben und gedeutet werden kann.
•     Wichtig: Gemeinsame Sprache finden, aufbauen auch zur Verfügung stellen, die das
      Gegenüber einsetzen und nutzen kann.
      => Wer reden will, muss auch wissen, wie!

•     Bsp.: Wie merkt man, wenn man eine Pause braucht, wie kann man mitteilen, wenn man
      eine Pause braucht?
      Ju nimmt „Thema Pause“ später auf: „Die haben mich nicht verstanden, wurden immer
      wütend, weil ich weglief und haben mich am Kragen gepackt und zurück geschleift, dabei
      brauchte ich eine Pause. Warum brauchen Menschen eigentlich Pausen?“

•     Neue Erkenntnisse: Alles nochmals von vorne durch denken.

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Junge, AS, 12 Jahre

•     Bsp. „Exzessives Nägel kauen“:
      Wenn du Nägel kaust, kaust du dann im Bett, am Morgen bevor du aufstehst?
      Nein.
      Beim Frühstück? Im Bad? Auf dem Schulweg? Im Schulzimmer? Wenn du im
      Schulzimmer sitzt oder auch wenn du stehst? Auf dem Pausenplatz?
•     Wo kaust du am Häufigsten? Ungefähre Einschätzung reicht, muss nicht 100%
      stimmen.
      Auf dem Fussballplatz.
      Wenn du kaust, kaust du im Stehen, gehen, rennen oder sitzen? Im Gehen und
      Stehen.
•     Wo stehst du am Häufigsten, wenn du kaust?
      Auf Pausenplatz
•     Wo schaust du hin oder was schaust du manchmal an, wenn du kaust? Auf den
      Ball.
      Kaust du mehr, wenn der Ball sich bewegt oder wenn er still steht?
      Kaust du eher, wenn er sich im Feld bewegt oder wenn er sich ausserhalb des
      Feldes bewegt?

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•     Thematik: „Unvorhersehbares Verhalten des Balles auf dem Spielfeld“
      Fehlen eines sozialen Skriptes. Neue Situation Anpassungsleistung auf dem
      Spielfeld, da Fussball völlig neu war für ihn. Erklärung, was ein Ball so alles tut,
      wenn er beim Fussball eingesetzt wird „heilt“ das Nägel kauen nach kurzer Zeit.

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7. Gesprächsführung, konkret

Individuumszentriert

Möglichkeiten:
• Zuhören und zuhören
• Zuhören und antworten, 1-, 2- oder 3-Wort-Sätze („gemein“, „das ist fies“)
• Zuhören und antworten und längere Sätze
• Zuhören und antworten und erklären
      Erklären, wie andere mit schwierigen Situation umgehen, bzw. was sie erleben, ohne zu
      beabsichtigen, dass es modellhaft wirken soll (dient lediglich der Erklärung, wie andere
      „ticken“) Bsp.: „Anderen hilft es zur Ruhe zu kommen, wenn sie in ihr Zimmer geschickt
      werden“.
•     Zuhören und mitschwingen:
      kann Emotionen verstärken, aufschaukeln, Dekompensieren
      oder
      senken, da AS-Ki/Ju anfängt, Gegenüber zu beobachten

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•     Vorgängig Ablauf des Gespräches erklären:
      Ki/Ju mitteilen, dass man manches auf Anhieb versteht, manches nicht,
      manches nicht sofort aber später, oder nach langer Zeit
      (Ziel: Ki/Ju beruhigen, Reduktion von „Verzweiflungsanfällen“)

•     Grundsätzliche Mitteilungen:
      „Du hast es auch nicht immer einfach gehabt im Leben.“
      „Du hast es auch nicht immer einfach im Leben“.
      „Manchmal ist es ziemlich kompliziert. Man kann nicht immer alles wissen.“

•     Varianten aufzählen, anbieten:
      Manipulation, Suggestion vs. Möglichkeit, eine Sprache zu bekommen.

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8. Erschwernisse

•     Andere Begriffs-Definitionen:
      Nein, werde nicht geplagt, heisst nicht, dass man nicht geplagt wird…
      (Z.Bsp.: „Plagen ist nicht Mobbing“)
•     Erfahrungen sammeln über private Definitionen von Begriffen:
      Wo du denkst oder sagst du manchmal zu dir, kann auch im Kopf sagen sein
      „das stört mich“?
      Auf dem Pausenplatz.
      Was hat dich dort gestört?
      Schläge und Schimpfwörter.

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•     Was und wie erzählt man jemandem etwas? Wie tut man das vom Ablauf,
      was erwähnt man, was darf man vergessen, was nicht?
      Wo fange ich an, wenn ich etwas erzähle oder von etwas berichte?
      Wie weiss ich, ob ich etwas erzähle, was verstanden worden ist? Wie erzählt
      man, dass man verstanden wird? Warum erzählen sich Menschen eigentlich
      etwas?
•     Traumatypisches verhalten oder autismusspezifisches Verhalten oder
      beides?
•     Erlebnisse (pos und neg.) werden immer wieder gleich stark durchlebt,
      schwächen sich weniger schnell ab als bei Anderen. Keine Verarbeitung, immer
      wieder gleich abgespult und emotional gleich stark erlebt. („autistische
      Schlaufe“)

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•     Sprachliche und nonverbale Missverständnisse,
      Wahrnehmungsbesonderheiten:
      Erhöhte Vulnerabilität?

•     Unter bestimmten Bedingungen (endogen und exogen) als Vorteil:
      Schutzfaktor Autismus!
      „Dein Pullovers sieht potthässlich aus!“

•     Konsequenz: Therapeutische Begleitung erschwert, denn Mensch an sich wird
      nicht auf die gleiche Weise eingeordnet, erkannt, beschrieben, wie es typische
      Menschen täten.

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Vielleicht…

Vielleicht sagen Sie jetzt: „Nun ja, nichts besonderes, ist wie bei anderen Kindern
und Jugendlichen, die Erfahrungen von Gewalt und Mobbing erleben.“
• Dann antworte ich: „Aha, wieder eine Gemeinsamkeit.“

Oder Sie sagen: „Das könnte etwas anders sein bei Kindern und Jugendlichen mit
Asperger-Syndrom“.
• Dann antworte ich: „Aha, eine Besonderheit“.

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Oder Sie sagen: „Keine Ahnung, von was der redete“.
• Dann antworte ich: „Au weia, was habe ich nur gemacht…“

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Fast vergessen….

1. Madeleine, weisst du noch?
2. Asperger-Syndrom: Für Dialog relevant
3. Beispiele für Gewalt und Mobbing
4. Was fällt auf?
5. Wahrnehmung von Gewalt
  5.1. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen werden und eingeschätzt werden
  5.2. Gewaltakte, die nicht als solche wahrgenommen werden
  5.3. Gewaltakte, die als solche wahrgenommen werden, aber als zu wenig
       schlimm eingeschätzt/eingeordnet werden
  5.4. Typisches, adäquates Verhalten der Umgebung, das von AS-Ki/Ju als
       Gewaltakt wahrgenommen wird
  5.5. Gewaltakte als Antwort auf aggressiv anmutendes Verhalten von Ki/Ju mit
       AS
6. Fallbeispiele
7. Gesprächsführung, konkret
8. Erschwernisse im Dialog

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Danke für Ihre Aufmerksamkeit

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