Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
Das Kulturmagazin – Du 808 – Juli /August 2010
          Geniessen Sie Gauguins «Der Markt»,
          ohne an Börsen denken zu müssen.                                                                                                                                                                                   Montreux Jazz Festival
                                                                                                                                                                                                                                     Die Emotionsmaschine

                                                                                                                                                           Das Kulturmagazin – Nr. 808 – Juli /August 2010
                                                                                                                                                             Montreux Jazz Festival – Die Emotionsmaschine

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
Inhalt

                                                I. Thema

                         Der Sammler und sein Festival – Christian Rentsch                                «Ich hasse dieses Spiel» – Gespräch mit Claude Nobs
                12      Seit 1967 gibt es das Gesamtkunstwerk Montreux Jazz Festival – ein
                bunter Mix aus Pop, Jazz, Blues und World Music. Das grösste und spektakulärste
                                                                                                  22        Er ist kontaktfreudig und charmant und hat nach 43 Jahren inmitten
                                                                                                  der besten Musiker der Welt viele Anekdoten auf Lager. Er ist aber auch bissig
                Sommerfestival der Schweiz war aber stets auch eine Fabrik für hochkarätige       und streitbar und immer schwer zu packen. Claude Nobs, der 74-jährige Festival-
                Ton- und Fernsehaufnahmen. Dank Claude Nobs, dem Mitbegründer und                 leiter von Montreux, hat uns ein unüblich offenes und nachdenkliches Gespräch
                langjährigen Festivalleiter.                                                      gewährt über die Veränderungen im Musikgeschäft und in seinem Leben.

                         I.
                         Festivalgeschichte – Christian Rentsch                                          Jamie Lidell im Gespräch mit Adrian Schräder
                12       Archiv der Rhythmen                                                      56     «Quincy Jones nahm mich in den Schwitzkasten»
                                                                                                         Er kommt im Morgenrock auf die Bühne, wo er den Soul in
                         Gespräch mit Claude Nobs – Jean-Martin Büttner, Christian Rentsch               einen neuen Morgen führt. Mit seiner Improvisationsgabe
                 22      «Ich mache das Spiel mit, aber ich hasse es auch»                               und dem Willen, sich nie zu wiederholen, hält der Engländer
                                                                                                         Jamie Lidell den Geist von Montreux am Leben.
                         Festivalszene – Ane Hebeisen
                 32      Wo die Musik zu Hause ist                                                       Portfolio – Matthias Willi
                         Es wird viel geschimpft über das Montreux Jazz Festival:                 60     Nach der Landung
                         zu wenig Jazz, zu viel Fest. Tatsächlich befindet sich der                      Der Basler Fotograf Matthias Willi hält Musiker unmittelbar
                         Anlass in einer Art Midlife-Crisis. Doch wie gefährdet ist                      nach Konzertende fest. Im Zwischenreich von Rausch, Ein-
                         der «Mythos Montreux»? Ein Blick hinter die Kulissen                            samkeit und Erschöpfung, im Niemandsland hinter der
                         zeigt: Das Herz der Musik schlägt weiterhin am Genfersee.                       Bühne, wo sie ihre professionelle Maske sinken lassen, entste-
                                                                                                         hen sehr persönliche Offenbarungen.
                         Herbie Hancock im Gespräch mit Albert Kuhn
                42       «Montreux ist mein Lieblingsfestival»                                           Nachwuchswettbewerb – Adrian Schräder
                         Keiner ist so häufig in Montreux aufgetreten wie der vielfach            68     Besser als Norah Jones, besser als Jamie Cullum
                         ausgezeichnete Pianist und Komponist Herbie Hancock.                            Musik von Welt zu Gast in der Provinz: Die Gewinner des
                         Er hat den Jazz erneuert, indem er ihn mit anderen Stilen                       Nachwuchswettbewerbs von Montreux trafen sich im Januar
                         verwob. Dasselbe Konzept, den Kulturaustausch, sieht er                         2010 zu Aufnahmen im Toggenburg. Zwischen geräuchertem
                         für die Zukunft der Musik – und der Welt.                                       Fisch und Individualistentum zeigte sich viel junges Talent.

                         Lori Immi im Gespräch mit Adrian Schräder
                48       «Der Kampf wird härter»
                         Lori Immi ist seit 1994 Programmleiterin der Miles
                         Davis Hall am Montreux Jazz Festival. Sie stellt fest:
                         Das Publikum zahlt gerne einen Aufpreis, wenn es
                         dafür mehr erwarten darf. Gleichzeitig liegt im ständig
                         wachsenden Festivalbusiness die Latte immer höher.

                4

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Inhalt

                                            II. Horizonte                                                                 III. Sélection

                          «Ich wollte die Grimms rausholen aus dem 19. Jahrhundert»                        Ausstellungstipp, Theatertipp
                74        – Gespräch mit Günter Grass über sein neues Buch
                Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm ist das Standardwerk der deutschen
                                                                                                114        Voyeurismus ist älter als Google Street View, YouTube und Handy-
                                                                                                kameras. Die spannende Ausstellung zum Phänomen findet in der Londoner Tate
                Sprache schlechthin. In seinem neuen Buch Grimms Wörter greift Günter Grass     Modern statt: Exposed. Voyeurism, Surveillance and the Camera. Martin Heckmanns
                dessen Entstehungsgeschichte auf und macht zugleich eine Liebeserklärung – an   und Rebekka Kricheldorf begeben sich auf Geschichts- und Geschichtensuche in
                die Sprache, die Literatur und die Leser.                                       Ostdeutschland – dem Zentrum der deutschsprachigen Dramatik.

                         II.                                                                    III.
                         Günter Grass im Gespräch mit Thomas David                              110 Urs Stahels Sichtweisen: Luigi Ghirri
                74       «Die Geschichte der Grimms ist auch eine politische
                         Geschichte»                                                            112 Raffinierter leben mit Ludwig Hasler
                                                                                                114 Bice Curigers Ausstellungstipps
                         Vorabdruck – Günter Grass
                                                                                                116 Fotobuch: «The Ruins of Detroit»
                82       Der Engel, die Ehe, das Ende
                         Die Brüder Grimm und der Buchstabe E: Du präsentiert in                118 Stefan Zweifels Literaturtipps
                         einem exklusiven Auszug aus Günter Grass’ neuen Buch.                  120 Filmtipp: Martin Walder über «Romans d‘ados»
                                                                                                121 Theatertipp von John von Düffel
                         Kunst – Brigitte Ulmer
                88       Leuchtturm im Niemandsland                                             122 Jazztipp: Steve Tibbetts
                         Wie kommt Aarau zu einem der engagiertesten Kunsthäuser                123 Klassiktipps ⁄ Poptipps
                         der Schweiz? Das anstehende Jubiläum von Kunstverein                   124 Opernhaus Zürich: Die Szenografin Penelope Wehrli im
                         und Kunsthaus ermöglicht spannende Einblicke.
                                                                                                       Dialog mit Kurator Detlev Schneider
                         Madeleine Schuppli im Gespräch mit Brigitte Ulmer                      126 Migros-Kulturprozent: Der Dirigent John Eliot Gardiner
                92       «Schweizer Kunst entsteht in globalen Zusammenhängen»                  130 Vorschau «Du» 809: Dayanita Singh
                         Die Direktorin des Aargauer Kunsthauses, Madeleine
                         Schuppli, hat ihre «Nationalgalerie der Schweiz» spürbar
                         verjüngt. Das Haus steht nun vielen Künstlern offen.                   –
                                                                                                3      Editorial
                         Kunst – Felicity Lunn
                98       Gestern wird es besser                                                 8      Impressum und Bildnachweis
                         Eine Gruppenausstellung mit nationalen und internationalen             66     Back-Issues und Abonnementkarte
                         Künstlern ums Thema der Erinnerung und deren Bedeu-
                         tung für die Zukunft.

                         Musik – Albert Kuhn
                104 Die Speerspitze der Evolution
                    Die Plastic Art Foundation ist vielleicht das ungewöhnlichste
                    musikalische Unternehmen der Schweiz: Es plant einen Auf-
                    stand der Musik zur Umwälzung der Gesellschaft.

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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen

                       Ray Charles, zur Zeit der Rassentrennung in den USA aufgewachsen, war einer der bedeutendsten Wegbereiter des Soul. In Montreux begeisterte er ein hauptsächlich
                12     weisses Publikum. Heute ehrt eine Bronzeplastik gegenüber des Palace Hotels den erfolgreichsten schwarzen Entertainer seiner Generation.

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Du 808 – Juli /August 2010

                                           Archiv der Rhythmen
                                           Seit 1967 gibt es das Gesamtkunstwerk Montreux
                                           Jazz Festival – ein bunter Mix aus Pop, Jazz, Blues und
                                           World Music. Das grösste und spektakulärste Sommer-
                                           festival der Schweiz war aber stets auch eine Fabrik
                                           für hochkarätige Ton- und Fernsehaufnahmen. Dank
                                           Claude Nobs, dem Mitbegründer und langjährigen
                                           Festivalleiter.

                                           Von Christian Rentsch

                                           «Ohne eine Reihe glücklicher Zufälle gäbe es kein Montreux Jazz
                                           Festival …», sagt Claude Nobs; den Rest des Satzes lässt er unaus-
                                           gesprochen im Raum stehen. Denn man weiss es sowieso: Nobs hat
                                           den glücklichen Zufällen immer wieder tatkräftig nachgeholfen.
                                           Oder anders: Ohne Claude Nobs gäbe es das Montreux Jazz Festival
                                           noch viel weniger. Wann das genau begonnen hat mit dieser Ge-
                                           schichte, verliert sich im Dunst jener Anekdoten, die er selber im-
                                           mer wieder gerne erzählt. Etwa diejenige über seinen Vater Henri
                                           Nobs, den Dorfbäcker von Territet bei Montreux, der offenbar an
                                           derselben Krankheit litt, die später auch seinen Sohn befallen hat:
                                           die Leidenschaft des Sammelns. Wie dieser einem Nachbarn, der
                                           einen kleinen Musikladen betrieb und nebenbei alte Schallplatten-
                                           sammlungen auf- und per Kilo weiterverkaufte, zwanzig Kilo
                                           78er-Schellackplatten abkaufte. Wie der siebenjährige Claude so die
                                           Musik entdeckte, mit der er bald seinen ganzen Lebenstraum ver-
                                           band: den Jazz und den Blues.
                                                     Auch das gehört zur privaten Vorgeschichte des Festivals:
                                           Nobs junior verstand sich nie als blosser Zuhörer. Er wollte mitma-
                                           chen, dazugehören zu dieser faszinierenden Glitzerwelt. Stunden-
                                           lang, so erzählt er, habe er vor dem alten Grammofon die Bigbands
                                           von Basie und Ellington dirigiert, auch wenn die Musiker seine
                                           Einsätze noch nicht immer genau befolgt hätten.
                                                     Dann folgten einige eher ruhige Jahre, die letzten ruhigen
                                           im Leben des umtriebigen Musikfans: eine Kochlehre in Basel –
                                           «Weil man als Koch nicht ganz so früh aufstehen muss wie ein

                                                                                                                 13

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen

                Bäcker» –, erste Anstellungen im Grand Hotel von Territet, im           Das war der vermutlich folgenreichste Zufall im Leben von Claude
                Kongresshaus Zürich, in Düsseldorf, bei der Bankgesellschaft in         Nobs wie auch in der Vorgeschichte des Festivals. Denn Raymond
                Montreux. Dazwischen die Hotelfachschule in Lausanne. Immer             Jaussi war ein unverbesserlicher, aber auch äusserst geschäftstüchti-
                aber spielten im Hinterkopf der Jazz und Blues. In Basel entdeckte      ger Visionär; er hatte weit früher als selbst die meisten Experten das
                Nobs die Radiosendungen von Frank Tenot und Daniel Filipacchi           Zukunftspotenzial des Fernsehens erkannt und wollte dieses für
                auf Europe 1 – in den 1950er-Jahren neben Joachim-Ernst Berendts        Montreux nutzbar machen. Denn Montreux war nach dem Zweiten
                SWF-Jazzsessions die einzige brauchbare Quelle für junge Leute,         Weltkrieg von einem mondänen Sommerkurort für den europäi-
                die sich ernsthaft mit dem Jazz befassten. Im Zürcher Kongress-         schen Adel und für amerikanische Millionäre zur Bedeutungs-
                haus sah er erstmals live amerikanische Stars auf ihren noch seltenen   losigkeit abgesunken. In langen Gesprächen gelang es Jaussi, die
                Europatourneen: Ella Fitzgerald, die kunterbunt zusammenge-             Bosse des Schweizer Fernsehens zu überzeugen, 1954 in Co-Pro-
                würfelten Allstar-Bands von Norman Granz mit Roy Eldridge,              duktion mit der eben erst gegründeten Union Européenne de
                Coleman Hawkins, Count Basie und Lester Young. In Lausanne              Radio-Télévision (UER/EBU) das legendäre Narzissenfest von
                lernte er Willy Leiser, den Veranstalter von Blues- und Gospelkon-      Montreux zu produzieren und in sieben Länder auszustrahlen –
                zerten, kennen und dessen beträchtliche Plattensammlung.                die erste offizielle Eurovisions-Sendung.
                          Als Nobs mit Pfadikollegen auch in Montreux Blues-Kon-                  Einige Jahre später konnte Jaussi die Vertreter der Dach-
                zerte veranstalten wollte, warnte ihn Leiser: «Da musst du aber viel    organisation der europäischen TV-Sender dazu bewegen, in
                Geld in die Hand nehmen, mindestens 250 bis 300 Franken.» Den-          Montreux das erste Symposium der UER und die Rose d‘Or zu ver-
                noch verschaffte Leiser seinem Freund die notwendigen Kontakte,         anstalten. Ging es beim Symposium vor allem um technische
                und bald waren in Montreux regelmässig Bluesmusiker wie Curtis          Fragen, etwa um Normen für die Übertragung, so diente die als
                Jones, Champion Jack Dupree, John Lee Hooker und Willy Dixon            Wettbewerb und Messe konzipierte Rose d‘Or dem Austausch
                zu Gast. Anfang der 1960er-Jahre holte Raymond Jaussi, der Vater        von Produktionen zwischen den UER-Mitgliedern – Musikshows,
                von zwei Pfadifreunden und Chef des lokalen Verkehrsvereins, den        Comedy-Serien, Dokumentarfilme und internationale Sportanlässe.
                musikversessenen Koch als Buchhalter in sein Team.

                                                                                        Nobs erklärt TV-Bossen das Fernsehen
                                                                                        Um die gewichtigen Herren nach getaner Arbeit bei Laune zu hal-
                                                                                        ten, sorgte Jaussi mit exklusiven Galaabenden für Unterhaltung.
                                                                                        Und wer war für diesen Job geeigneter als sein junger Buchhalter,
                                                                                        der längst mehr Beziehungen zum Musikbusiness hatte als sonst
                                                                                        einer in Montreux? Jaussi machte Nobs zum musikalischen Regis-
                                                                                        seur der Galaabende. Und dieser legte sich ins Zeug: 1964 brachte
                                                                                        er den britischen Sender ITV dazu, seine renommierte Musikshow
                                                                                        Ready, Steady, Go! live in Montreux zu präsentieren. Stars des
                                                            9. 5. –                     Abends waren Petula Clark und Adamo, als Neben-Act brachte
                                                                                        ITV eine auf dem Kontinent noch weitgehend unbekannte Rock-
                                                            5. 9. 2010                  gruppe nach Montreux. Noch heute lacht Nobs über die entgeisterte
                                                                                        Frage eines UER-Verantwortlichen vor dem Galaabend: «Wer sind
                                                                                        denn diese Rolling Who?» Es war der erste Liveauftritt der Rolling
                                                                                        Stones ausserhalb Englands.
                                                                                                 Zwei Jahre später gelang es Nobs, den Jazzpianisten Erroll
                                                                                        Garner nach Montreux zu holen. Wieder halfen Jaussi und Nobs
                                                                                        der Zukunft etwas nach: «Ich fand es absurd, dass ein Galaabend
                                                                                        der europäischen Fernsehbosse ohne Fernsehen über die Bühne ge-
                                                                                        hen sollte. Nach stundenlangem Feilschen war die Managerin von
                                                                                        Garner dann aber bereit, seinen Auftritt aufzuzeichnen.» So ent-
                                                                                        stand die erste TV-Aufzeichnung eines Montreux-Konzerts – und
                                                                                        eine der ganz wenigen Fernsehmitschnitte, die es von Erroll Garner
                                                                                        überhaupt gibt.
                                                                                                 Das Garner-Konzert gab den Anstoss für den nächsten
                                                                                        Coup. Weil die meisten europäischen Sender damals (wie heute)
                                                                                        keine eigenen Jazzsendungen produzierten, überredeten Jaussi und

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
Du 808 – Juli /August 2010

                Nobs den Direktor von Radio Suisse Romande, neben Symposium                                                 und Rockgruppen wie Led Zeppelin und Yes produzierte. Zwar tat
                und Rose d‘Or ein UER-Jazzfestival nach dem Muster des Concours                                             die Vorzimmer-Sekretärin, was jede andere wohl auch getan hätte:
                Eurovision de la Chanson zu initiieren: Jedes Land sollte auf eigene                                        Sie beschied dem Jungspund, der subito ein Gespräch mit dem
                Kosten eine Jazzgruppe nach Montreux delegieren, dafür erhielten                                            obersten Label-Boss Nesuhi Ertegün verlangte, er solle doch einen
                alle 23 Länder die Senderechte für alle Konzertmitschnitte.                                                 Brief schreiben und dann abwarten, ob dieser ihn empfangen wolle.
                          Noch heute wundert sich Nobs, dass es so viel Über-                                               Damit war sie bei Nobs an den Falschen geraten – er sei doch nicht
                redungskunst brauchte, um die Fernsehgewaltigen von den Möglich-                                            extra aus der fernen Schweiz nach New York gereist, bloss um sich
                keiten ihres Mediums zu überzeugen. Schliesslich war es so weit:                                            hier abwimmeln zu lassen. Wer Claude Nobs’ Überredungskünste
                Das welsche Fernsehen übernahm die Produktion, das Tourismus-                                               und seine Charmeur-Qualitäten kennt, wird diese Anekdote wohl
                büro die Organisation, und am Wochenende des 18. Juni 1967 ging                                             glauben müssen. Auf jeden Fall: Beim Stichwort «Switzerland»
                das erste Festival de Jazz Montreux über die Bühne des alten Casinos.                                       brach die Abwehr der Sekretärin zusammen. Denn jedermann im
                «Es war eine ungeheure Plackerei», erinnert sich Nobs, «die paar                                            Unternehmen wusste, dass Nesuhi und Ahmat Ertegun, die beiden
                Leute vom Office de Tourisme mussten alles selber machen: Plakate                                           Bosse, als Söhne eines früheren türkischen Botschafters in Bern die
                kleben, die ganze Werbung, die Musiker abholen und betreuen,                                                Schweiz enthusiastisch liebten.
                Tickets verkaufen, die Eingänge kontrollieren, die Bühnenarbeit –                                                    Es folgte ein stundenlanges Gespräch mit Ertegün über
                und das alles mit einem Budget von 10 000 Franken. Wir waren                                                die Schweiz, über den Genfersee und seine Weinberge, über die
                Tag und Nacht auf den Beinen.»                                                                              Alpen und das Schloss Chillon, bis man endlich zur Sache kam und
                          Um dem ersten Festival ein Glanzlicht aufzusetzen, hatte                                          Nobs dem mächtigen Atlantic-Boss von seiner Vision erzählte, den
                Nobs den amerikanischen Superstar Charles Lloyd engagiert, der                                              Jazz und Soul nach Montreux zu bringen. Worauf Ertegün den
                mit seinem «Hippie-Jazz» für heftige Kontroversen sorgte, aber                                              kecken Schweizer sofort und bis zum Lebensende ins Herz schloss
                von seinem Album Forest Flower gerade über eine Million verkauft                                            und ihm jede Unterstützung versprach – und ihm diese später tat-
                hatte. Schon bei dieser ersten Ausgabe beschränkte sich das Festival                                        sächlich auch gewährte. Das blieb so, als Atlantic kurz darauf Teil
                nicht auf die Konzerte im Casino; im Nebenprogramm gab es eine                                              des grossen Warner-Konzerns wurde: Nobs übernahm später als
                Fotoausstellung, eine Schallplattenbörse, einen Schlagzeug-Work-                                            Artists Relation Manager in der Schweiz, als Chef des in Montreux
                shop, die Präsentation von Jazzfilmen und Freiluftkonzerte mit                                              angesiedelten Departements Video Duplication und als Geschäfts-
                amerikanischen Highschool-Bands im Schwimmbad neben dem                                                     leitungsmitglied über Jahrzehnte wichtige Funktionen im Warner-
                Casino. Alles ganz nach dem Gusto von Nobs: Das Festival als im-                                            Elektra-Atlantic-Konzern. Und manch einer seiner Kollegen und
                menser Rummelplatz – und er, als Dirigent, mittendrin.                                                      Konkurrenten unter den Festivalmachern wunderte sich, dass das
                          Raymond Jaussi hatte seinem hyperaktiven Schützling für                                           Montreux Festival immer wieder mit Leichtigkeit an Atlantic-
                seine musikalisch-touristischen Aktivitäten schon früh jede erdenk-                                         Künstler herankam, an denen sie sich die Zähne ausbissen.
                liche Freiheit gegeben. Und Nobs nützte das auf seine Weise: Auf
                seinem ersten Trip in die USA lief er in New York schnurstracks
                zum Headoffice von Atlantic Records, einem der drei grossen inter-                                          «Salade Nobs»
                nationalen Jazzlabels, das neben Jazzstars wie John Coltrane,                                               Nach dem ersten durchschlagenden Erfolg baute Nobs das Festival
                Charles Mingus oder Ornette Coleman auch Rhythm’n’ Blues- und                                               zügig aus. Aus drei Tagen wurden vier, dann fünf. Nach Charles
                Soul-Künstler wie Ray Charles, Aretha Franklin, Otis Redding                                                Lloyd kamen Brian Auger, Nina Simone – und Bill Evans, dessen LP

                                                                             4. Juli bis 29. August 2010
                 Sladjan Nedeljkovic, Ausschnitt aus Konstellationen, 2009

                                                                             Sladjan Nedeljkovic
                                                                                      Discovery
                                                                             Kunst aus Zug – Die Sammlung
                                                                             Dorfstrasse 27 | 6301 Zug | www.kunsthauszug.ch | Di bis Fr 12 – 18 h | Sa & So 10 – 17 h
                                                                             | Mo geschl. | Bundesfeiertag, 1. August und Maria Himmelfahrt, 15. August geöffnet 10 – 17 h.
                                                                                                                                                                              Kunsthaus Zug

                                                                                                                                                                                                           15

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
Oben links: Von den zwei Musikstücken, die die NASA für ihre Weltall-Erkundungsmission ausgewält hat, war eines von ihm: Chuck Berry, Montreux, 1972.
                Oben rechts: Nina Simone verlangte zusätzlich zur Gage eine Piaget-Uhr. Die Konzertatmosphäre war geprägt von Ehrfurcht – man hatte Angst, dass sie
                einen herunterputzen könnte.

                Unten: Jazz-Sängerin Ella Fitzgerald, mit Frank de la Rosa, Tommy Flanagan and Ed Thigpen (von links). Seit den ersten Konzerten immer dabei: Die obligaten
                TV-Kameras.

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
Oben: Gehört auch zum
                      Mythos Montreux,
                    das Setting am See.
                   Mitte: Legendär sind
                spontane Poolkonzerte.
                  Frau mit Kontrasbass,
                    späte 1960er-Jahre.
               Unten: Stone The Crows.
              Die Hippies schliefen bei
                     warmem Wetter im
              Garten. Morgens kam die
                    Polizei und erklärte:
                   «Wenn ihr euch nicht
             verdrückt, pissen vielleicht
                   die Hunde auf euch.»

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Geniessen Sie Gauguins "Der Markt", ohne an Börsen denken zu müssen.
I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen

                Oben: Das Feuer von Smoke on the Water. Nobs: «Ich ging für einen letzten Check ins Gebäude und fand Mme Nini, die seelenruhig in der Kellerküche weiterkochte.
                Wir verliessen als letzte das brennende Gebäude.» Claude Nobs (l.) und Michel Ferla am Feuerwehrschlauch.

                Live in Montreux mit dem Schloss Chillon auf dem Cover zur ersten                  nahmen fanden dann abenteuerlich improvisiert im leer stehenden
                perfekten Symbiose von Festival und Tourismuswerbung wurde.                        Théâtre Alcazar in Territet statt. Mit dem Song Smoke On The Water
                Dann kamen Ella Fitzgerald, Eddie Harris und Les McCann, und                       ging nicht bloss der feurige Abend in die Annalen der Rock-
                mit Colosseum und Ten Years After die ersten Rock-Acts. Auch                       geschichte ein, sondern Nobs kam zu seinem berühmtesten Über-
                die Blueslegenden B.B. King und John Lee Hooker. Und Carlos                        namen: «Funky Claude was running in and out / Pulling kids out
                Santana. «Klar, Jazz und Blues waren meine Leidenschaft», sagt                     of the ground.» Tatsächlich sieht man auf einem berühmten Foto
                Nobs heute, «aber als Unterhaltungsmanager des Verkehrsvereins                     Nobs und seinen kaufmännischen Direktor Michel Ferla nicht un-
                wollte ich auch ein grösseres Publikum ansprechen; ich wollte                      bedingt fachmännisch, aber doch sehr erschrocken und engagiert
                mehr Happy Music, mehr Unterhaltung, mehr etwas in Richtung                        mit einem Feuerwehrschlauch hantieren.
                Sommerfestival.»                                                                            Die folgenden Übergangsjahre im Pavillon des Grand Hotel
                         Ein Unglücksfall sollte ihm dabei zu Hilfe kommen: Am                     Palace und danach im Kongresshaus nutzte Claude Nobs, um dem
                4. Dezember 1971 brannte das alte Casino während eines Auftritts                   (un)glückseligen Zufall das Beste abzugewinnen: Dank der Termin-
                von Frank Zappa, einem der vielen Konzerte, die Nobs ausserhalb                    schwierigkeiten des Kongresshauses konnte er endlich das inzwi-
                des Festivals organisierte, bis auf die Grundmauern ab. Der Brand                  schen zehntägige Frühlingsfestival in die Sommerferien verlagern
                hätte noch schlimmer ausgehen können, denn als es im Saal zu räu-                  und Schritt für Schritt auf sechzehn Tage ausweiten. Als sich kurz
                cheln begann, als Zappa «Fire, Fire!» schrie und ein uniformierter                 darauf die UER aus der Programmgestaltung verabschiedete,
                Feuerwehrmann das Publikum bat, den Saal bitte zu verlassen,                       nutzte er die Gelegenheit, seine Vision in die Tat umzusetzen: In
                glaubten viele an einen typischen Zappa-Gag. Im letzten Moment                     den folgenden Jahren – erst recht nach dem Umzug ins neu erbaute
                konnte eine gefährliche Panik unter den Zuschauern verhindert                      Casino 1975 – holte er alles nach Montreux, was im Jazz, Blues,
                werden. Mit von der Partie war an diesem Abend auch Ian Gillan                     Soul, Pop und Rock, in der Folk- und Ethnomusik Rang und Na-
                von Deep Purple, die in den kommenden Tagen im Casino eine LP                      men hatte, von Miles Davis bis Jimmy Cliff, vom Art Ensemble
                aufnehmen wollten – die übrigen vier Deep Purples verfolgten den                   Of Chicago bis Ray Charles, von Leonard Cohen bis Gilberto Gil
                Brand vom Balkon des benachbarten Hotels Eden aus. Die Auf-                        und Maria Bethania. Kunterbunt gemischt, ein Tutti-Frutti-Kon-

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Du 808 – Juli /August 2010

                                      OBEN???

                                      Oben links: Bluesgitarrist B. B. King, ein häufiger Gast in Montreux. Oben rechts: Er unterschrieb 1967 den ersten internationalen Vertrag von
                                      Claude Nobs – Charles Lloyd.
                                      Unten: Miles Davis. Nobs: «Ich fragte Miles, wie er weiss mit wem er arbeiten will. Er sagte, er schaue den Leuten gerne in die Augen. Ein paar
                                      Sekunden später wisse er, ob er auch nur mit der Person sprechen will.»

                                                                                                                                                                                        19

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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen

                zept, das der ehemalige Koch selbst «Salade Nobs» nennt. Um die        im High-Definition-Format auf, seit 1997 sind weiterentwickelte
                ganze Dimension dieses Gesamtkunstwerks, die Kombination von           Formate, wie sie derzeit von den Fernsehanstalten allmählich ein-
                Wasser, Sonne und Unterhaltung zu skizzieren: Vergnügungspark          geführt werden, in Montreux Standard.
                total, eine Musterfarm der Erlebnisgesellschaft mit Superstars im                Aufgezeichnet wurden sämtliche Konzerte des Festivals,
                Konzertsaal, mit Bootsfahrten, Gratiskonzerten, mit Strassenmusi-      seit der ersten Ausgabe 1967. «Leider hat das Schweizer Fernsehen
                kern und Feuerspeiern auf der Seepromenade, mit Dutzenden von          eine ganze Reihe dieser Konzerte wieder gelöscht», ärgert sich
                Ständen mit Fast Food, Spezialitäten aus aller Welt, mit Leder- und    Nobs, «diese alten Bänder brauchten offenbar zu viel Platz.» Weit
                Silberschmuck, amerikanischen T-Shirts und indischen Wickel-           über 4000 Stunden Jazz- und Rockgeschichte lagern heute in einem
                tüchern. Die institutionalisierte Leidenschaft des unersättlichen      Schutzraum in Caux, alle inzwischen in digitalisierter Form, archi-
                Sammlers. Es war, wie Montreux-Veteranen mit verklärtem Blick          viert nach allen möglichen Stichworten. Zudem Zehntausende von
                heute sagen, die beste Zeit des Festivals.                             Dokumenten über das Festival und rund 40 000 LPs und fast eben-
                                                                                       so viele CDs, Laserdiscs und DVDs aus Nobs Privatsammlung.
                                                                                       Öffentlich zugänglich sind die Datenbank sowie zahlreiche Kon-
                4000 Stunden Jazz- und Popgeschichte                                   zertauszüge über Montreux Sounds (www.montreuxsounds.com),
                Hinter den Kulissen sorgte der Technik-Freak Nobs aber für die         die Betriebsfirma, die Nobs 1973 gegründet hat und die das gigan-
                eigentliche Sensation des Montreux Jazz Festival: Im Keller des        tische Archiv hütet, pflegt und unterhält.
                neuen Casinos richtete er zusammen mit der Rockgruppe Queen                      Bislang erschienen rund zweihundert Konzerte auf DVD.
                das Mountain Studio ein, ein Aufnahmestudio der Superlative, das       Wenn es nach dem Willen von Claude Nobs geht, soll dereinst,
                nicht bloss alle Festivalkonzerte in höchster Qualität aufzeichnete,   wenn all die komplizierten urheberrechtlichen Fragen und die Pro-
                sondern unter dem Jahr zahlreichen Gruppen wie Led Zeppelin,           bleme der Piraterie gelöst sind, das ganze Archiv über Bezahl-
                Pink Floyd, Queen und den Rolling Stones für Plattenaufnahmen          programme heruntergeladen werden können. Möglich, dass Mon-
                diente. Allerdings genügte auch das Nobs noch bei Weitem nicht:        treux dann ein weiteres Mal eine Pionierrolle übernehmen wird. <
                «Es hat mich immer geärgert, dass das Westschweizer Fernsehen
                wie damals alle Sender der Welt die Aufzeichnungen mit einer lau-
                sigen Mono-Tonspur versahen.» So kombinierte er weltweit erst-
                mals die Fernsehbilder auf einem neuartigen Sony-U-Matic-Band
                mit dem Hi-Fi-Stereoton des Mountain Studio. Eine kleine Revo-
                lution der Aufnahmetechnik, welche die Manager von MTV so
                begeisterte, dass sie Nobs sofort zur Demonstration dieser neuen
                Technologie nach Amerika einluden.
                         «Seit 1974», so Nobs, «haben wir alle Fernsehaufzeich-
                                                                                       Christian Rentsch gehört als langjähriger Musikkritiker und Kulturredaktor
                nungen in zumindest annehmbarer Stereoqualität. Bis heute haben
                                                                                       des «Tages-Anzeigers» seit der dritten Ausgabe des Montreux Jazz Festival 1969 und
                wir dann unser Equipment laufend dem neuesten Stand der Tech-          bis Ende der 1990er-Jahre zu den regelmässigen Festival-Besuchern. Heute arbeitet
                nik angepasst.» Bereits 1984 nahm Sony das Festival versuchsweise      er als freier Publizist.

       …für die
       anspruchsvolle
       Fotografie

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Du 808 – Juli /August 2010

                Queen in den Mountain Studios im Keller des Casinos. Von 1975 bis 2003 war dies das modernste Aufnahmestudio Europas. David Bowie, Duran Duran, AC ⁄ DC,
                Ella Fitzgerald, UB40, die Rolling Stones – alle grossen Namen pilgerten hierher.

                Anekdoten I.
                                 Er sei so quasi ein «Freund des Hauses», versicherte unser Kollege, als wir anderen Jungs zögernd
                                 am Eingang von Claude Nobs’ Nobel-Chalet an unserer Erwünschtheit zweifelten. Ein rauschendes Fest war im
                          Gange. Wir stürzten uns mit bübischer Schamlosigkeit auf das famose Buffet, um gut gefüllt unsere Expedition
                          durch die Villa in Angriff zu nehmen. Beflügelt von der ungezwungenen Atmosphäre und den Beteuerungen unseres
                          Freundes des Hauses, dass den Gästen alles zur freien Verfügung stehe, erkundeten wir sämtliche Räume,
                          durchforsteten Archive, bespielten Instrumente berühmter Musiker … Ich höre sie heute noch, diese kernige Stimme,
                          die donnergrollend drohend ihre Freundlichkeit nicht verlor – wir hatten zwei Minuten Zeit, das Haus zu
                          verlassen. (an)

                                                                                                                              Eine Probe in den 1990er-
                       Jahrelang war Champion Jack Dupree Stammgast in                                                        Jahren. Miles Davis und seine
                       Montreux, allerdings meistens draussen auf der Terrasse des                                     Band spielten eine Art von futuristischem
                Casinos, wo er für kreolischen Soulfood sorgte. Auf die Bühne                                          Fusionrock, eine Musikrichtung,
                schaffte es der Blues-Pianist nur selten. So am 18. Juli 1979, als der                                 die sich nicht so einfach einordnen lässt.
                irische Blues-Rocker Rory Gallagher endlos auf sich warten liess.                                      Plötzlich gab es auf dem grossen Bild-
                Claude Nobs schickte den alten Kämpen zur Überbrückung auf die                                         schirm eine Fehleinspielung– und Bugs
                Bühne. Dupree spielte sein stampfendes Piano, sang vom Blues                                           Bunny erschien. Bassist Joseph McCreary
                in der Seele und vom Whisky im Kopf. Der Saal erwartete Gallagher,                                     konnte es kaum glauben und schrie
                buhte und grölte. Da griff sich der Alte das Mikrofon: ‹Ja ja,                                         «Hey, schau mal, das ist Bugs Bunny!
                ihr braucht meine Musik nicht gut zu finden, ihr verwöhnten Kinder,                                    Bugs Bunny!», spielte aber in einem fort
                ihr habt alle Lesen und Schreiben gelernt. Ich aber bin anders                                         weiter, ohne die kleinste Unterbrechung.
                aufgewachsen, im Elend, ohne Schule, ich habe nur gelernt, auf diesen                                  Dieser surreale Moment zeigte etwas
                Tasten meinen Blues zu spielen. Gewiss, ich beneide euch und schäme                                    vom Spirit und Kaliber jener Musiker.
                mich über meine Unwissenheit und Armut. Aber ihr habt nicht das                                        Einerseits hatten sie noch genug
                Recht, mich wie einen Nigger zu behandeln.› Drehte sich wieder zum                                     Kind in sich, um die plötzliche Präsenz
                Klavier und sang weiter vom Blues, vom Whisky, von den schönen                                         Bugs Bunnys zu schätzen, anderseits
                Frauen und der traurigen Liebe. Der ganze Saal hörte aufmerksam                                        probten sie mit gnadenloser Professionali-
                zu. Und der Schlussapplaus klang – sehr beschämt. (cr)                                                 tät weiter. (rk)

                                                                                                                                                                            21

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