Georges Bizet/Rodion Shchedrin/Julia Wolfe Ballett von Ivan Alboresi - Theater Nordhausen
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Georges Bizet/Rodion Shchedrin/Julia Wolfe CARMEN Ballett von Ivan Alboresi Uraufführung Spielzeit 2021/2022 Federica Lamonaca, Alfonso López González, Laura Volpe, Erika Cucumazzo, Thibaut Lucas Nury, Kino Luque, Luca Scaduto, Vito Damiano Volpicella
BESETZUNG Musikalische Leitung Henning Ehlert Choreografie Ivan Alboresi Bühne Wolfgang Kurima Rauschning Kostüme Birte Wallbaum Carmen Erika Cucumazzo Don José Alfonso López González Der Tod Jett Shoesmith Toreador Escamillo Thibaut Lucas Nury Leutnant Kino Luque Garcia Luca Scaduto Arbeiterinnen/Toreras/Banditinnen Otylia Gony, Federica Lamonaca/Erika Cucumazzo, Camilla Matteucci, Zsófia Takács, Laura Volpe Soldaten/Toreadore/Banditen Kino Luque, Luca Scaduto, Vito Damiano Volpicella, Alfonso López González/Thibaut Lucas Nury Loh-Orchester Sondershausen Uraufführung am 29. Oktober 2021, Theater Nordhausen, Großes Haus Dramaturgie Juliane Hirschmann Trainingsleitung und Assistenz Ilka von Häfen Ballettrepetition Nivia Hillerin-Filges Inspizienz Esther Nüsse Technische Leitung Kerstin Bayer Technische Einrichtung Lennert Schmidt Beleuchtung Mario Kofend Ton Michael Scharifi Maske Karolin Friedrich Requisite Michael Stoff Herstellung der Dekorationen und Kostüme in den Werkstätten der Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH: Werkstattleiter Jonny Wilken, Gewandmeisterei/Damenschneiderei Kati Herzberg, Herrenschneiderei Angela Kretschmer, Tischlerei Jens Grabe, Malsaal Carsten Stürmer, Schlosserei Uwe Bräuer, Dekorationsabteilung Dörte Oeftiger, Theaterplastik Jeannine Heymann Bitte schalten Sie vor Beginn der Vorstellung Ihre Mobiltelefone und die Stundensignale an Armbanduhren aus. Bild- und Tonauf- nahmen während der Vorstellung können wir aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestatten. Musikverlag Hans Sikorski, GmbH, Berlin G. Ricordi & Co., Bühnen- und Musikverlag GmbH 4/5 Alfonso López González
HANDLUNG 1. Teil Don José wartet in einer Gefängniszelle auf seine Hinrichtung. Bei ihm ist der personifi- zierte Tod, mit dem er ringt. In diesen letzten Momenten seines Lebens, auf dem Weg zum Galgen, erzählt Don José im Rückblick wie es so weit kam. Vor einer Zigarettenfabrik warten Wachsol- daten auf das Eintreffen der Arbeiterinnen. Die Frauen flirten mit den zu ihrem Schutz bestellten Männern und genießen die Auf- merksamkeit, die sie ihnen schenken. Unter den Frauen befindet sich auch Carmen, die mit dem später eintreffenden Don José kokettiert. Er hat gerade seine neue Position als Wachsoldat angetreten. Nach ihrer ero- tisch aufgeheizten Habanera bleibt Don José, von Carmens Ausstrahlung und Auftreten aufgewühlt, zurück. Er versucht die in ihm aufkeimenden Gefühle zu beherrschen. Innerlich kämpft sein Begeh- Jett Shoesmith, Erika Cucumazzo, Alfonso López González ren mit seinen Prinzipien und dem Treuever- sprechen gegenüber seiner entfernten Ver- lobten. sehr zum Missfallen seiner Begleiterin, zu ver- 2. Teil Nach dieser Vergewaltigung wünscht Carmen In der Fabrik wird die Pause eingeläutet. Die führen. Zunehmend eifersüchtig beobachtet Don José, nun Mörder und Deserteur, hat sich sich zunächst den Tod, entscheidet sich aber Arbeiterinnen kommen heraus, um sich zu Don José das Geschehen aus der Ferne. Der der Schmugglerbande um Carmen angeschlos- doch im letzten Moment für das Leben. entspannen und auszuruhen. Doch zwischen Leutnant ist jedoch nicht der einzige Mann, sen, um in ihrer Nähe sein zu können. Carmen Da begegnet sie erneut dem Toreador. Sie be- Carmen und einer der Frauen kommt es zum der Carmens Interesse weckt: Als der ruhm- gibt sich ihm zwar hin, verlässt ihn dann jedoch gleitet ihn bei seinem Einzug auf das nächste Konflikt. Die Auseinandersetzung wird zuse- reiche Toreador eintrifft, wendet sie sich sogleich wieder. Sie will sich nicht festlegen, Fest, wo er von der Menge bejubelt und auf hends handgreiflich, schließlich verletzt Car- auch ihm zu. Don José sieht, durch seine Ei- sondern ihre Freiheit behalten. Doch im Inne- Händen getragen wird. Don José erscheint und men ihre Gegnerin mit einem Messer. fersucht albtraumhaft verzerrt, vor seinem ren ist auch sie nicht glücklich und sehnt sich drängt Carmen von der Gruppe ab, um mit ihr Don José und die Soldaten verhaften Carmen inneren Auge Carmen mit diesen beiden Män- nach einem anderen Leben. alleine zu sein. Doch sie gibt ihm zu verstehen, und bringen sie ins Gefängnis. Doch es gelingt nern im intimen Miteinander. Doch in der Garcia, ein Bandit, mit dem Carmen bereits seit dass sie nichts mehr von ihm wissen will. In sei- ihr, Don José so zu verführen, dass sie ent- Realität lässt der Toreador Carmen stehen. längerem in einer Beziehung ist, misshandelt ner Verzweiflung erwürgt er sie mit bloßen kommen kann. Dieser wird daraufhin degra- Als Don José mitbekommt, wie sich anschlie- und dominiert sie. Als Don José Zeuge davon Händen. Auch für sich sieht Don José keinen diert. ßend der Leutnant an Carmen ranmacht, wird, bringt er auch Garcia um. Carmen ist mitt- anderen Weg mehr, als zu sterben. Doch der Auf einem Straßenfest entdeckt Carmen ei- übermannt ihn die Eifersucht. Er ersticht ihn lerweile ermüdet von Don José und will ihn Tod gewährt ihm diese Gnade nicht und hält nen attraktiven Leutnant und versucht ihn, im Affekt und flieht. nicht mehr. Doch er nimmt sie sich gewaltsam. ihn davon ab, sich selbst umzubringen. 6/7
DIE MUSIK Georges Bizet/Rodion Shchedrin vorstelle, noch eine musikalische Ergänzung »Carmen-Suite« für Streichorchester und geben muss. Eine Ergänzung, die außerhalb dieser Schlaginstrumente (1967) spanischen Klangwelt steht und die es mir (Bearbeitung von Bizets Oper zum Ballett »Car- ermöglicht, die Mehrschichtigkeit der Geschichte, men«, uraufgeführt am 20. April 1967 am Mos- wie sie sich in der literarischen Vorlage von kauer Bolschoi-Theater mit der Primaballerina Prosper Mérimée zeigt, herauszuarbeiten. Maja Plissezkaja in der Titelrolle.) Mit Julia Wolfe fand ich eine Komponistin, deren Musik perfekt dazu geeignet ist, Momente zu Julia Wolfe schaffen, in denen ich in die psychologische Tiefe »Cruel Sister«, für Streichorchester (2004) der Figuren eindringen kann. Julia Wolfe (Komponiert im Auftrag des Münchener Kam- verwendet mit einem Streichorchester ein merorchesters, uraufgeführt im Herkulessaal klassisches Instrumentarium. Ihre Musik hat eine der Münchener Residenz.) Schärfe, eine Klarheit, die mich sehr berührt. Sie ist puristisch und treibt einen zugleich nach vorne, »Fuel«, für Streichorchester (2007), Part II + IV stößt etwas in mir an. Sie hat eine gewisse (Komponiert im Auftrag des Ensemble Reso- Dramatik, ohne banal zu sein.« (Ivan Alboresi) nanz, Hamburg, uraufgeführt 2007 in einer multimedialen Performance mit einem Film Die Musik in Bizets Oper »Carmen« hat selbst von Bill Morrison im Kaispeicher B im Hambur- bereits einen sehr tänzerischen Charakter, wie ger Hafen.) u. a. der Musikwissenschaftler Egon Voss beschreibt, allerdings ohne, »dass sich in der Regel »In der Tanzwelt ist das Stück von Rodion ein bestimmter Tanz als Muster nennen ließe.« Shchedrin wirklich ein Klassiker, es ist gleichwer- Die Musik in »Carmen« ist daher, so Voss, »nicht tig mit dem ›Schwanensee‹ von Tschaikowsky nur Ausdruck der Stimme, sondern des gesamten oder den großen Balletten von Strawinsky. Körpers. Die Körperlichkeit der Musik, wie man Shchedrin benutzt für seine Bearbeitung der Oper diese Eigenschaft nennen könnte, ist ein Wesens- ›Carmen‹ eine besondere Orchesterbesetzung, merkmal der ›Carmen‹; sie macht die besondere ausschließlich mit Streichern und Schlagwerk. Er Vitalität der ›Carmen‹-Musik aus […].« Dies arbeitet so andere Facetten heraus. Bei ihm korrespondiert auch mit der Figur der Carmen, bekommt die Musik von Georges Bizet eine sehr wie sie sowohl bei Mérimée als auch bei Bizet starke und markante Rhythmik. Er gibt ihr eine gezeichnet wird, denn sie ist Sängerin und Modernität, sie ist sehr dynamisch und kompakt, Tänzerin. »Und schließlich war Andalusien, wo das heißt, die musikalischen Bögen sind kürzer, die Handlung der ›Carmen‹ spielt, auch im wodurch die Musik sehr tanzbar wird. 19. Jahrhundert schon berühmt für den ›canto Shchedrins Bearbeitung ist sozusagen ein Destillat flamenco‹, in dem Gesang und Tanz eng der Oper und mit rund 45 Minuten nicht miteinander verbunden sind.« abendfüllend. Für mich war klar, dass es, um die (Egon Voss, 1984, Musikwissenschaftler) Geschichte so erzählen zu können wie ich sie mir Erika Cucumazzo, Kino Luque
DIE URSPRÜNGE DES NORDHÄUSER CARMEN-BALLETTS von Juliane Hirschmann Die Novelle »Carmen« schnell eifersüchtig tötet Don José, der Car- weniger Schurke als in Merimées Novelle. Um nien, obwohl Bizet eine originär spanische Fol- von Prosper Merimée (1845) men in blinder Leidenschaft verfällt, einen ih- den dramatischen Konflikt jedoch zu schär- klore nicht aufgegriffen hat. Er verarbeitete Georges Bizet bekam 1872 von der Pariser rer Liebhaber sowie den einäugigen Garcia, fen, bauten die Librettisten Josés Novellen- vielmehr das, was im 19. Jahrhundert als ty- Opéra-Comique den Auftrag, eine heitere der ihm als ihr Ehemann vorgestellt wird, und Gegenspieler Lucas zu dem heldischen Torre- pisch spanisch galt. Das Vitale der Musik, das in Oper zu schreiben. Sein Plan war, ein völlig zu guter Letzt auch Carmen, da sie nicht be- ro Escamillo aus. Als dramaturgische und den Ohren der Zeitgenossen mitunter hart und neuartiges Werk zu schaffen. »Ich werde die reit ist, sich an ihn zu binden. Dem Archäolo- psychologische Kontrastfigur zu Carmen er- grell klang, steht im wirkungsvollen Kontrast Kunstgattung der Opéra comique erweitern, sie gen ist Carmen, als Don José seine Geschichte fanden sie für die Oper das Bauernmädchen zur Tragik des Geschehens. umformen«, ließ er seinen Freund Ernest Gui- offenbart, keine Unbekannte, denn er war ihr Micaëla. Sie ist in jeder Beziehung das Gegen- Am 3. März 1875 ging in der Pariser Opéra-Co- raud wissen und wählte die 1845 in der franzö- auf seinen Reisen bereits selbst zuvor zufällig teil zu Carmen. Sie verkörpert die treue Frau, mique die Oper »Carmen« das erste Mal über sischen Kulturzeitschrift »Revue des Deux begegnet. Er teilt die Faszination für Carmen die Don José in stiller Liebe ergeben ist. Doch die Bühne. Sie sollte Bizets letztes Werk vor Mondes« erschienene Novelle »Carmen« von mit Don José. gegen Carmen schafft sie es nicht, Don José seinem Tod wenige Monate später sein. Am Prosper Mérimée als Grundlage für seine Der Franzose Mérimée, der sich vor allem mit vollends für sich zu gewinnen. Ihre Musik Abend der Uraufführung war nicht im Entfern- Oper. Henri Meilhac und Ludovic Halévy, die seinen rund 25 Erzählungen einen Namen folgt, anders als jene der Carmen, eher tradi- testen daran zu denken, dass sie einmal zu den schon mehrfach als Autorenduo für Operet- machte, arbeitete in »Carmen« zwei Erlebnis- tionellen Mustern. Schon bei der Urauffüh- meistgespielten und -rezipierten Opern über- ten von Jacques Offenbach (darunter »La Belle se seiner Spanienreise ein, die er im Jahr 1830 rung wurde Micaëlas Arie beklatscht, da diese haupt gehören würde. Der Komponist war am Hélène«, 1864, und »Les Brigands«, 1869) in unternahm: die Begegnung mit einem schö- inmitten von allem Ungewohnten »noch recht Boden zerstört, »diesmal bin ich wirklich vernich- Erscheinung getreten waren, schufen daraus nen Mädchen namens Carmencita, die Ziga- nach altem Brauch« war (Ludovic Halévy). Kei- tet«, äußerte er. Die Vorstellungen in den kom- das Libretto. rettenarbeiterin in Granada war, sowie die nes der anderen Solonummern bildet ein in menden Monaten fanden meistens vor einem In der Novelle fungiert ein Archäologe als Rah- Bekanntschaft mit der späteren Ehefrau Na- sich geschlossenes Ganzes: So wird Carmens halbleeren Zuschauerraum statt. Kritiker fielen menerzähler, der sich auf einer Forschungsrei- poleons III. Eugénie de Montijo, die eine enge »Seguidilla« im 1. Akt mehrmals von Don José mit bösen Zungen über dieses Werk her: Car- se in Spanien befindet und in Andalusien Freundin Mérimées wurde. Von ihr hörte er unterbrochen, in ihrer »Habanera« ist der men sei in ihrer unbedingten Freiheitsliebe mehrfach auf den von der Polizei gesuchten vom berüchtigten spanischen Deserteur und Chor und in ihrem »Chanson bohème« im »obszön«, eine »Inkarnation des Lasters« und Mörder Don José stößt. Als er diesem kurz vor Banditen namens Don José Maria Zempranito 2. Akt sind ihre beiden Begleiterinnen Frasqui- sollte »polizeilich verboten werden«. Und: »Wel- dessen Hinrichtung erneut begegnet, erzählt in den 1830ern. Merimée war einer der ersten ta und Mercédes beteiligt. Carmen singt nicht che Realistik, aber was für ein Skandal! […] Aus der Verurteilte ihm seine Geschichte. Dabei französischen Schriftsteller der Romantik, der in der »höchsten Klasse« des Gesangs, dem der niedersten Klasse nehmen neuerdings unsere wird von Beginn an deutlich, dass Don José ein Spanien für eine längere Zeit bereist hatte. Sopran, so wie Micaëla, sondern im Mezzoso- Autoren die Hauptgestalten unserer Dramen, Ko- impulsiver Charakter ist: Als junger Mann pran, einer Stimmlage, die durch ihre Tiefe der mödien und jetzt sogar unserer Opéra comiques. musste er seine baskische Heimat verlassen, Die Opéra comique »Carmen« männlichen näher ist und durch ihr größeres […] Carmen ist und bleibt ein schamloses Weib, da er einen Gegner im Spiel tötete. Er ist beim von Georges Bizet (1875) Volumen noch mehr Leidenschaft und auch eine liederliche Zigeunerin.« Zaghaft äußerten Militär tätig und hat gute Aussichten auf eine Das Libretto zu Bizets Oper, an dem der Kom- Macht zum Ausdruck bringen kann. sich allerdings auch schon damals positive Beförderung, als er Carmen vor den Toren ei- ponist selbst auch mitwirkte (so forderte er Spanien war zu Bizets Zeiten selbst bei den Stimmen. Der französische Schriftsteller ner Tabakfabrik kennen lernt. Im Streit er- zum Beispiel »mehr Realismus, zu einem Mittel- französischen Nachbarn ein fremdes Sehn- Théodore de Banville etwa kommentierte: sticht sie eine Arbeiterin. Don José soll sie ab- weg kann ich mich nicht verstehen«), verzichtet suchtsland. Eindrücke aus Vorstellungen gastie- »Statt der himmelblauen und rosa Puppen, die führen, doch kann sie durch eine List Reißaus auf die Rahmenhandlung. Es konzentriert sich render Tanzgruppen, aus Reiselektüren oder die Freude unserer Väter waren, hat er versucht, nehmen, woraufhin er eine Haftstrafe absit- auf die Beziehung zwischen Carmen und Don auch durch eigene Reisen inspirierten bildende wirkliche Männer und Frauen, verblendet und ge- zen muss. Nach der Freilassung beginnt die José, weshalb zum Beispiel seine Morde am Künstler, Literaten und Musiker gleicherma- quält von Leidenschaft, zu zeigen.« Die Erfolgs- Abwärtsspirale. Er desertiert, um mit Carmen einäugigen Garcia und einem ihrer Liebhaber ßen. Die Musik in der Oper »Carmen« klingt geschichte der Oper begann jedoch erst nach zusammen zu sein. Besitzergreifend und nicht vorkommen. Damit ist er in der Oper exotisch und vermittelt eine Ahnung von Spa- dem Tod Bizets. 10/11
Ballett TN LOS! Zsófia Takács, Laura Volpe, Federica Lamonaca, Otylia Gony, Camilla Matteucci, Erika Cucumazzo Thibaut Lucas Nury, Luca Scaduto, Kino Luque, Vito Damiano Volpicella Laura Volpe, Vito Damiano Volpicella, Erika Cucumazzo
»DAS LEBEN IST WIE EIN STIERKAMPF« Ivan Alboresi zu seinem neuen Ballett »Carmen« Wo liegt für dich das Interessante an der Ge- wechseln wir die Ebene: Wir sind im Kopf von schichte von Carmen? Was ist dir besonders Don José, wir sind bei dem, was ihn antreibt, wichtig? was in seinem Inneren geschieht. Wir hören Mein Ballett »Carmen« sehe ich als Psycho- die Musik von Julia Wolfe nie ohne Don José. drama. Ich gehe zurück auf die Novelle von So beginnt der Abend mit ihrer Musik: Don Mérimée, die Vorlage Bizets, und erzähle die José wartet auf seine Hinrichtung, als ihm der Geschichte aus der Sicht von Don José. So personifizierte Tod erscheint. Er beginnt als lässt sich sein persönliches Drama nachzeich- Rückblick seine Geschichte zu erzählen, hier- nen, lässt sich zeigen, was ihn antreibt, warum zu erklingt dann erstmals Shchedrin. er etwas so und nicht anders tut. Wir sehen in seinen Kopf, seine Gedanken, Vorstellungen Was interessiert dich an Don José? Du hättest ja und Albträume hinein. Dazu gibt es eine Figur, auch die Titelfigur ins Zentrum rücken können. die immer wieder in Erscheinung tritt: der Nachdem ich die Novelle gelesen hatte, war Tod, als Personifikation des Schicksals. Ich mir klar, dass ich auch Don Josés Perspektive glaube, dass der Tod nicht am Ende unseres zeigen muss. Carmens Geschichte lässt sich Weges auf uns wartet, er läuft während unse- nicht vollständig erzählen, wenn wir nicht res ganzen Lebens mit, taucht immer wieder nachvollziehbar machen, wie und warum Don auf, geht in unsere Gedanken ein und beein- José sich so in sie verliebt hat und er in diesen flusst unsere Entscheidungen. Das zeige ich in ausweglosen Strudel des Wahnsinns und Mor- meiner Version der Geschichte, besonders in dens geraten ist. Er konnte ihr, die ihn genom- Bezug auf die Figur des Don José, aber auch in men und wieder fallen gelassen hat, nicht wi- Bezug auf Carmen. Für mich ist sie eine mo- derstehen. Thibaut Lucas Nury, Alfonso López González derne, emanzipierte Frau, die sich nimmt, was Ich habe meinen Tänzer*innen immer gesagt, sie will. Ihr Freiheitsdrang übersteigt dabei so- dass Carmen wie »Wasser« ist, man kann sie gar ihre Sehnsucht nach Bindung und Gebor- nicht festhalten, sie rinnt einem immer durch sen. Auch ohne die traditionellen spanischen nicht vordergründig vorhanden, sondern genheit. Und doch bleibt sie eine Getriebene. die Finger. Carmen kommt und geht wie sie Röcke sind sie sehr weiblich und wissen ihre mehr eine Nuance. Wir werden zwar keinen Erlösung und Befreiung aus dem konstanten will. Sie braucht ihre Freiheit, kann sich nicht Reize gezielt einzusetzen. Flamenco auf der Bühne sehen, aber spani- inneren Widerspruch findet sie nur im Tod. binden, will nicht abhängig sein. Sie ist aber sches Temperament und Leidenschaft. die treibende Kraft, die in den anderen etwas Bizets Oper und Mérimées Novelle leben auch Dazu sind der spanische Stier und der Stier- Du fügst zur Bearbeitung von Shchedrin noch bewegt. Bei Don José weckt sie die Liebe und von den Klischees, die sie bedienen. Sei es – in der kampf durch die zwei überdimensionalen Hör- Musik der US-amerikanischen, zeitgenössischen in der Folge die Eifersucht. Diese nimmt Car- Oper – von den Klischees spanischer Musik, von ner im Bühnenbild von Wolfgang Kurima Komponistin Julia Wolfe ein. Wo inspiriert dich men die Freiheit und schließlich ganz wörtlich dem, was man sich damals unter dem Leben der Rauschning omnipräsent. Wenn Don José in die bearbeitete Musik von Bizet, und wo genügt die Luft zum Atmen: Bei uns wird Carmen »Zigeuner« vorstellte oder dem Klischee Spanien den Knast geht und kurz vor seiner Hinrich- sie nicht für das, was du zum Ausdruck bringen nicht erstochen, sondern erwürgt. überhaupt. Spielt die Farbe »Spanien« für dich tung ist, dann ist es so, als wenn er in eine Are- möchtest? So wie Carmen sind auch die anderen Frauen eine Rolle? na hineinläuft. Das Leben ist wie ein Stier- Die Musik von Bizet/Shchedrin trägt die ei- in meinem Ballett stark, emanzipiert und Wenn man genau hinschaut, dann kann man kampf, manchmal ist man der Stier, manchmal gentliche Handlung der Geschichte. Immer, selbstbewusst. Sie sind »Anpackerinnen«, die Andeutungen von Gestik aus der spanischen der Toreador. Die Machtposition ist immer wenn wir die Musik von Julia Wolfe hören, sich nicht von den Männern dominieren las- Tanztradition sehen, aber sie ist natürlich anders. 14/15
ANSICHTEN AUF CARMEN Eine Zusammenstellung »Ihre Augen waren schräg, doch wunderbar ge- rassistischen Untertöne, die diese emanzipatori- »Aus der Literatur und der Oper wandert Car- »Carmen ist vor allem eine sich ihrer Weiblich- schnitten; ihre Lippen schön gezeichnet, aber et- schen Impulse letztlich neutralisieren.« (José men bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in ein keit vollbewusste Frau. Mehr noch: Ich bin über- was zu voll; zwischen ihnen leuchteten Zähne, Colmeiro, 2002, Literaturwissenschaftler) neues Medium ab: Der Film wird zu ihrer neuen zeugt, dass Mérimée mit dieser Gestalt einen weißer als geschälte Mandeln. Ihr vielleicht ein Heimat. Carmen wird zu einer internationalen Frauentyp geschaffen hat, in dem sich das Weib- wenig zu starkes Haar war schwarz mit dem »Über die Herkunft und ethnische Zugehörigkeit Ikone und immer dann verstärkt in Szene gesetzt, liche als vollkommen verwirklicht darstellt – und bläulichen Schimmer des Rabengefieders. […] Sie entspinnt sich [zwischen Carmen und dem Ich- wenn es um die Bewältigung von Alteritäts- und daher ihr universeller Wert als literarische Schöp- war von seltsamer wilder Schönheit. Ihr Gesicht Erzähler in der Novelle von Merimée] ein länge- Emanzipationskrisen geht. Als ungebundene Frau fung. Modern gesprochen könnte man sagen, befremdete einen zuerst, aber man konnte es rer Wortwechsel – der Erzähler rät vergeblich wird sie – vor allem unter dem Einfluss der Eman- dass Carmen einen Idealtyp der echt emanzipier- nicht vergessen. Insbesondere hatten ihre Augen verschiedene Möglichkeiten (aus Cordoba, Anda- zipationsbewegung nach 1968 – zu einer Figur, ten Frau verkörpert, das heißt, sie ist frei, sicher einen wollüstigen und zugleich bösen Ausdruck, lusien, Maurin, Jüdin), bis Carmen sich als ›Zigeu- auf die Sehnsüchte nach Freiheit, aber auch und Herrin ihrer Entschlüsse. Carmen ist keine wie ich ihn im Blicke keines andern Menschen nerin‹ vorstellt. […] Die magischen Kräfte, die er Ängste vor dem Fremden projiziert werden. Sie leichtfertige oder oberflächliche Frau, launisch wiedergefunden habe.« (Prosper Mérimée, bei Carmen vermutet, wecken seine Neugier und ist eine Wiedergängerin der femme fatale der oder unbesonnen und erst recht keine Prostituier- 1845, in der Novelle »Carmen«) Faszination. Im Folgenden benutzt der Erzähler Jahrhundertwende.« (Aus dem Vorwort zu dem te – wie sie allzu häufig interpretiert wird. Nein. aber verschiedene oft abwertende Namen und Sammelband »›Carmen‹. Ein Mythos in Litera- Bei gründlichem Nachdenken über diese Gestalt »Der Name gibt Rätsel auf. Plausibler als die ety- Bezeichnungen für Carmen, nennt sie eine Gita- tur, Film und Kunst«, 2011) muss doch auffallen, dass Mérimée sie als Zigeu- mologische Herleitung aus dem Lateinischen, wo nelle, Hexe, Teufelsdienerin, ›Zigeunerin‹, Satans nerin beschreibt. Diese sehr besondere Angabe Carmen ›Lied‹ bedeutet, ist der Verweis von Tho- Patenkind oder Teufelsmädchen. […] An der Dis- »Durch Bizet gewann die ›Carmen‹-Fabel den trägt, statt die weiblichen Züge Carmens zu über- mas Macho auf die ›Virgen del carmen‹, die Jung- kussion über Fragen der Herkunft wird deutlich, Rang des Archetypischen: Carmen als Urweib, schatten, im Gegenteil dazu bei, sie noch hervor- frau vom heiligen Berg Carmel [i.e. die Schutz- wie schwer Carmens ethnische oder nationale Don José als hypnotisiertes Opfer, Escamillo als zuheben, gerade eben durch den Umstand, dass heilige der Fischer und Seefahrer], deren Fest Identität zu fassen ist bzw. wie sehr sie sich einer Typ des leichtfertigen Eroberers und Micaëla als Carmen aus jeder Zugehörigkeit zu einer konkre- jährlich mit großem Pomp in Spanien und Latein- Einordnung nach festen Identitätskategorien ent- Inbegriff scheuer, aufopfernder Zuneigung. Ange- ten Kultur und Gemeinschaft herausgelöst wird. amerika gefeiert wird und die im spanischspra- zieht. […] Carmen fügt sich nicht in ein traditio- siedelt ist diese Fabel im Spanien der Zigeuner: in Mehr noch, ich möchte so weit gehen zu behaup- chigen Kulturkreis so populär ist, dass Carmen – nelles Frauenbild: Sie raucht, handelt mutig, lässt einer Szenerie aus südländischer Leidenschaft ten, dass die Stärke und Ausdruckskraft Carmens, nach Maria – zu einem der beliebtesten sich auf keine Rolle festlegen, ist bindungslos und und unbehauster Ursprünglichkeit. Bizet hat nie die gelassene Annahme ihres Schicksals und be- Mädchennamen geworden ist. In Mérimées No- freiheitsliebend. […] Im Gegensatz zu ihr verlangt spanischen Boden betreten. […] Er verließ sich, sonders ihres Todes uns in gewisser Weise einen velle gibt es deutliche Hinweise auf diese biblisch- es Don José, der immer noch darunter leidet, dass höchst romantisch, auf Intuition und Vision […]. Vergleich mit den großen tragischen Figuren des christliche Genealogie […].« (Aus dem Vorwort er seine baskische Heimat verlassen musste, nach ›Das Meisterwerk der Grausamkeit‹, wie [der antiken Theaters nahelegen. […] [Don José] ist ein zu dem Sammelband »›Carmen‹. Ein Mythos Sicherheit, nach einer stabilen Identität. […] Für französische Schriftsteller] Henry de Montherlant Mann ohne Persönlichkeit, Opfer aller Arten von in Literatur, Film und Kunst«, 2011) Don José ist Carmen, die ihn zugleich fasziniert, ›Carmen‹ genannt hat, führte über den romanti- familiären und religiösen Komplexen. Ein Mann, in ihrer sprachlichen Flexibilität, Mehrdeutigkeit schen Exotismus des ›Hispanismo‹ und über die der sich zum Beispiel schämt, einfacher Soldat zu »Die zeitgenössische kritische Lesart des Carmen- und der Verwirrung, die sie stiftet, Auslöser und bewegliche Form der Opéra comique hinaus an sein. […] Ein Mann, der sich – im Werk Mérimées Mythos, insbesondere in den Kulturwissenschaf- Verstärker seiner Ängste und Unsicherheiten […]. die Grenze zum Verismus. ›Carmen‹ ist so etwas – selbst noch in seiner Todesstunde weigert, zu ten, folgt zwei gegensätzlichen Tendenzen. Die- Die zwiespältige Faszination des Fremden und wie die Mutter des musikalischen Naturalismus, seiner persönlichen Verantwortung zu stehen.« jenigen, die sich an der feministischen Theorie der fremden Lebensweise, die sich in der Carmen- und die veristische Oper der Jahrhundertwende (Teresa Berganza, 1977, Mezzosopranistin und orientieren, sehen in ihr eine Affirmation des Novelle spiegelt, ist die Folie, vor deren Hinter- bezeugte stets ihre Dankbarkeit.« (Karl Schu- Carmen-Darstellerin) freien Willens, der Unabhängigkeit und der Be- grund der Carmen-Mythos bis heute nicht an mann, 1976, Musikkritiker, aus einem Einfüh- freiung; diejenigen, die der postkolonialen Theo- Aktualität verloren hat.« (Kirsten Möller, 2011, rungstext zu Georg Soltis Gesamteinspielung rie folgen, enthüllen die frauenfeindlichen und Literaturwissenschaftlerin) der Oper) 16/17
SHCHEDRINS »CARMEN«: NEUES IM BEKANNTEN GEWAND von Andrew Lindemann Malone Seitdem sich das Musikpublikum von seiner an- das Schlagwerk ein, um die melodische Linie fänglichen Abneigung gegen Georges Bizets unerwartet zu erschüttern, wie in der Szene »Carmen« im Jahr 1875 erholt hat, wurde der »Changing of the Guards« (»Wachablösung«), unerschöpfliche Fundus an einprägsamen Me- wenn das Klirren und Klappern auf die einzel- lodien der Oper für Potpourris, Fantasien und nen Noten des Themas einprasseln. Shchedrin Suiten genutzt. Das Ballett, das der russische arbeitet auch mit subtileren Verfremdungen, Komponist Rodion Shchedrin 1967 auf der indem er Noten, Rhythmen und Akkorde so Grundlage der Partitur schuf, hebt sich etwas verändert, dass sie dem Original von Bizet nur von den meisten dieser Werke ab. Shchedrin geringfügig unähnlich klingen, was der Partitur hielt es für unmöglich, ein Carmen-Ballett ohne gelegentlich eine neoklassizistische Note ver- Bizets Musik zu schreiben, nicht zuletzt, weil leiht. Mitunter werden Melodien für einen »ge- nur wenige Zuschauer die herrliche Partitur fundenen« Kontrapunkt kombiniert; manch- von Bizet vergessen können (oder wollen), mal werden sie auch gekürzt oder ohne während sie eine neue Bearbeitung der Ge- Begleitung belassen […]. Dennoch sind die gro- Erika Cucumazzo, Alfonso López González schichte hören. Aber Shchedrin wollte der Mu- ßen Melodien alle gut erkennbar, und die dra- sik auch seinen eigenen Stempel aufdrücken matische Kraft der Partitur hält Shchedrins Ein- und sich, wenn schon nicht als gleichberechtig- griffen mühelos stand; das Ganze hat die ter Partner, so doch zumindest als Arrangeur seltsame Eigenschaft, sich gleichzeitig respekt- profilieren. Dies gelang ihm zunächst dadurch, los und zutiefst demütig zu geben. Das Finale dass er die Suite für Streicher und Schlagzeug veranschaulicht dies perfekt: Melodien werden komponierte, was ihn dazu zwang, neue Klang- verdreht, auf exotisches Schlagwerk geworfen farben zu finden, die jene bei Bizet ersetzen und anderweitig zertrampelt, aber die daraus konnten. Die berühmte Habanera wird hier resultierende Musik mit ihrem leidenschaftli- unter anderem vom Vibraphon schwungvoll im chen Höhepunkt und der Coda aus entfernten Duett mit den Streichern vorgetragen – sicher- Glocken und Pizzicato-Streichern hat immer lich ein Klang, der weit von Bizets Gedanken noch Schwere und Tiefe, was sowohl auf Bizet entfernt, aber deswegen nicht weniger einneh- als auch auf Shchedrins Eingriffe zurückzufüh- mend ist. An anderen Stellen setzt Shchedrin ren ist. BALLETT FÜR EINE RUSSISCHE PRIMABALLERINA von Juliane Hirschmann Der heute fast 90-jährige Komponist Rodion 1990 hatte er dieses Amt inne (im Unterschied Shchedrin war bereits zu Sowjetzeiten interna- zum Komponistenverband der gesamten tional präsent. Auf Schostakowitschs Bitte hin UdSSR herrschte, so Shchedrin, in der einst von wurde er 1973 Präsident der russischen Sektion Schostakowitsch gegründeten russischen Sek- des Sowjetischen Komponistenverbandes. Bis tion »ein anderer Blick auf die Musik, ein toleran- 18/19 Ballett TN LOS!
terer, offenerer, selbständigerer Blick«). Mitglied besten in der gesamten Musikgeschichte. Ich habe der Kommunistischen Partei war er nie. Heute nicht nur ›Carmen‹, sondern auch ›L’arlesienne‹ lebt Shchedrin abwechselnd in München und und andere Werke von Bizet verwendet.« Die da- Moskau. In der schillernden Vielfalt seiner maligen Gegebenheiten am Bolschoi-Theater Werke verbinden sich Musik seiner russischen mögen Shchedrins Entscheidung für sein Inst- Heimat mit Einflüssen westlicher Traditionen, rumentarium mit beeinflusst haben: »Zu dieser vereinen sich Gegenwart und Vergangenheit. Zeit waren die Streicher im Orchester des Bolschoi- Seit 1958 war er mit der 2015 verstorbenen Pri- Theaters unglaublich, denn es war das Jahr 1967 maballerina Maja Plissezkaja verheiratet, einer und verboten, aus der Sowjetunion auszuwandern. Jett Shoesmith, Alfonso López González der erfolgreichsten Tänzerinnen weltweit, die Die besten Streicher gab es am Bolschoi-Theater für einige seiner Ballettmusiken wie »Anna Ka- und in der Leningrader Philharmonie. Später, ir- renina« nach Leo Tolstoi sowie »Die Möwe« gendwann in den Jahren 1972–1973, begann die nach Anton Tschechow eigene Choreografien jüdische Auswanderung aus Russland nach Israel JULIA WOLFE: MUSIK VON GROSSER KRAFT von Juliane Hirschmann entwickelte. In der Choreografie des Kubaners […] Und es gab auch eine hervorragende Gruppe Alberto Alfonso tanzte sie am 20. April 1967 von Schlagzeugern im Bolschoi-Theater zu dieser Julia Wolfe, geboren 1958 in Philadelphia, ist nen Pennsylvanias widmet, brachte ihr 2015 am Moskauer Bolschoi-Theater auch die Urauf- Zeit.« eine namhafte zeitgenössische US-amerikani- den Pulitzer Prize for Music ein. führung des einaktigen Balletts »Carmen« mit Shchedrins Bearbeitung wurde nach der Urauf- sche Komponistin und Professorin für Kom- »Fuel« (deutsch s.v.w.: Kraftstoff, Brennstoff) Musik von Georges Bizet in der Bearbeitung führung im April 1967 zunächst von den sowje- position an der New York University. Die Kraft für Streichorchester komponierte Julia Wolfe ihres Mannes. tischen Machthabern als »respektlos« gegen- und Energie ihrer Musik fordern Publikum im Auftrag des Hamburger Ensemble Reso- Die Idee für dieses Projekt kam von ihr. Sie ver- über dem originalen Werk Bizets abgewertet. und Interpreten gleichermaßen. Sie erhielt nanz und wurde, wie die Komponistin selbst fasste zudem das Libretto. Für die Umarbeitung Die sowjetische Kulturministerin Jekaterina eine klassische musikalische Ausbildung an es beschreibt, »von den feurigen Streichern« der Musik von der Oper zum Ballett wandte sie Furtsewa verbot sie nach der Uraufführung, sie der University in Michigan, der Yale School of des Ensembles inspiriert. »Die Mitglieder der sich zunächst an Schostakowitsch. Doch dieser sei eine »Beleidigung« von Bizets Meisterwerk: Music und der Princeton University, ein Ful- Gruppe forderten mich auf, etwas Rauschendes lehnte ab, »ich habe Angst vor Bizet«, äußerte er. »Wir können nicht zulassen, dass sie aus Carmen, bright Stipendium ermöglichte ihr zudem ei- und Virtuoses zu schreiben und die Gruppe bis an »Alle sind so sehr an die Oper gewöhnt, dass du sie der Heldin des spanischen Volkes, eine Hure ma- nen Aufenthalt in Amsterdam. die Grenzen zu treiben. Diese Aufforderung ver- enttäuschen wirst, egal was du schreibst.« Schließ- chen«. Doch dank des Einsatzes von Dmitri Wolfes kompositorisches Schaffen fußt im schmolz mit den Klängen von Verkehr und Häfen lich nahm sich Shchedrin diesem Projekt an. Schostakowitsch für die Bearbeitung Shche- Post-Minimalismus. In vielen ihrer Werke – New York und Hamburg –, von großen Schiffen, Aber auch für ihn war es kein ganz einfaches drins wurde sie kurze Zeit später am Bolschoi- schwingt zudem der Geist von Pop und Jazz knarrenden Docks, pfeifenden Geräuschen und Unterfangen: »Ich dachte an die Worte von Theater wieder aufgenommen. Heute ist sie ei- im Hintergrund mit. Zu ihren Einflüssen zählt einer unerbittlichen Energie.« »Cruel Sister« Schostakowitsch – er ist ein weiser Mann, ein wei- nes von Shchedrins meistgespielten Werke. sie auch Funk, Hiphop oder die Rockband Led (»Grausame Schwester«) hingegen erzählt die ser Mann – und so musste ich etwas kombinieren. Zeppelin. Inspirationen sucht sie weniger in in einer alten englischen Ballade überlieferte Auf der einen Seite sollte es etwas Frisches sein, Shchedrins »Carmen«-Bearbeitung enthält der Literatur, Philosophie oder Wissenschaft Geschichte von zwei rivalisierenden Ge- auf der anderen Seite eine Verbindung zu diesen folgende 13 Sätze: I. Einleitung, II. Tanz, als in Alltagserlebnissen, die sie in ihre Kunst schwistern. Entstanden im Auftrag des Mün- berühmten Melodien geben. Und die Idee war, III. Erstes Intermezzo, IV. Wachablösung, einbezieht, in Klängen und Rhythmen des Ur- chener Kammerorchesters wurde dieses Werk glaube ich, eine glückliche, nur Streicher und V. Carmen-Auftritt und Habanera, VI. Szene, banen, Eindrücken aus Film, Comic und Car- für Streichorchester im Mai 2004 unter der Schlagzeug zu verwenden, weil es dann eine ganz VII. Zweites Intermezzo, VIII. Bolero, IX. Torero, toon. Wolfes 2014 in Philadelphia uraufge- musikalischen Leitung von Christoph Poppen moderne Kombination gibt.« Für Shchedrin war X. Torero und Carmen, XI. Adagio, führtes Oratorium »Anthracite Fields«, das im Herkulessaal der Münchener Residenz ur- die Partitur von Bizet »fantastisch«, »eine der XII. Wahrsagung, XIII. Finale sich dem Leben der Arbeiter in den Kohlemi- aufgeführt. 20/21
ZUM WEITERLESEN UND -HÖREN CARMENS GESCHICHTE GETANZT – EIN ÜBERBLICK Die Nordhäuser Stadtbibliothek »Rudolf Hagelstange« hält folgende Medien zum von Juliane Hirschmann Ballett »Carmen« bereit: Dass Carmen singt und tanzt, beschreibt bereits André Girad gekürzt und neu arrangiert. Die Ur- Literatur: Mérimée in seiner Novelle. Bizets Musik hat ei- aufführung des Balletts fand im Februar 1949 Georges Bizet, Carmen: nen ausgeprägten rhythmischen Impuls. Die am Shaftesbury Theatre in London statt. In den Marius Flothius: Artikel zu »Carmen«, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.): Pipers Enzyklopädie des Geschichte der Carmen mit der Musik von Bizet folgenden 50 Jahren gab es das Werk weltweit Musiktheaters, Bd. 1, München, Zürich 1896, S. 355–361. zu vertanzen hat daher schon viele Choreogra- rund 5000 Mal zu sehen. 1967 schrieb Rodion Curt A. Roesler, Siegmar Hohl (Hrsg.): Bertelsmann Opernführer. Werke und Komponisten, fen gereizt. Shchedrin seine Bearbeitung für das am Bol- München 1995, S. 62–64, 430–431. (607 Seiten), Illustrationen. Das erste Carmen-Ballett entstand jedoch noch schoi-Theater aufgeführte, rund 45 Minuten vor Bizets Oper: Der französische Balletttänzer dauernde Ballett. Abendfüllend ist das Ballett Ballett: und Choreograf Marius Pepita ließ sich zu der des britischen Choreografen John Cyril Cranko Kristina Scharmacher-Schreiber: Ballett mit anderen Augen, München 2018. (32 Seiten), Illustra- Zeit, als er als erster Tänzer am Teatro Real in nach Merimée mit Musik von Wolfgang Fortner tionen. (Die Welt des Balletts für Kinder) Madrid wirkte (1844–1847), von der Geschichte in Zusammenarbeit mit Wilfried Steinbrenner Spanien: bei Merimée zu dem Ballett »Carmen et son To- aus dem Jahr 1971. Die auf der Oper von Bizet David Baird: Sevilla & Andalusien, München 2016. (288 Seiten), zahlreiche Illustrationen + 1 Karte. réro« inspirieren. Es sind leider keine Quellen basierenden Collagen sind in der Zwölftontech- überliefert, die über die verwendete Musik Auf- nik verfasst. Sonstiges: schluss geben. Bis heute regt der Carmen-Stoff zahlreiche Cho- Genevieve Fraiss, Michelle Perrot: Geschichte der Frauen, Bd. 4, 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es am reografen zu Balletten an, die zumeist die Musik 1994. (608 Seiten), Illustrationen. Alhambra Theatre im Londoner West End drei von Bizet, mitunter in der Umsetzung von Françoise Thébaud: Geschichte der Frauen, Bd. 5, 20. Jahrhundert, Frankfurt 1995. (718 Seiten), verschiedene Carmen-Ballette zu sehen. Sie wa- Shchedrin – der bekanntesten »Carmen«-Bear- Illustrationen. ren von allen damals dort gezeigten Balletten beitung überhaupt – verwenden und sich nicht am erfolgreichsten. Im späten 19. Jahrhundert selten auf die Novelle von Merimée beziehen. CDs und DVDs: wurden Tänzer zumeist nur für Balletteinlagen 1983 brachte der Regisseur Carlos Saura einen Georges Bizet: Carmen. Oper in 3 Akten nach einer Novelle von Prosper Mérimée. Lorin Maazel, in Opern eingesetzt. Anders war es in London, Tanzfilm mit Antonio Gades und Laura del Sol Orchester der Deutschen Oper Berlin, Chor der Deutschen Oper Berlin, BMG Music, P 1979; C wo es sowohl am Alhambra Theatre als auch im heraus, in dem die Bühnendarsteller, die eine 1995. (2 CDs) Empire Theatre, – beides Theater, die leichtere »Carmen«-Aufführung erarbeiten, die Ge- Rodion Shchedrin: Carmen Suite. Transcription of Fragments from Bizetʼs Opera »Carmen«. Unterhaltung boten – florierte. Das Alhambara schichte der Novelle selbst erleben. Realität und Olympia, P 1987. (1 CD) Theatre hatte eine eigene große Ballettcompag- Fiktion vermischen sich miteinander. Die Musik Georges Bizet: Carmen. Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von nie und engagierte bedeutende Choreografen. kombiniert jene von Bizet mit Flamenco von Carlos Kleiber, TDK Marketing Europe GmbH 1978. (1 DVD, ca. 154 Min.) Das Carmen-Ballett in der Choreografie von Paco de Lucía, dem »Großmeister« der Flamen- Aimé Bertrand aus dem Jahr 1897 verwendete cogitarre. Dass Bizets Musik eine choreografi- Stadtbibliothek „Rudolf Hagelstange“: Nikolaiplatz 1, Tel. (0 36 31) 69 62 67 Musik von Georges Jacobi, die anderen zwei sche Umsetzung geradezu herausfordert, fand entnahmen die Musik aus Bizets Oper (1903, schließlich auch der Produzent Horant H. Hohl- Textnachweise: S. 7: Zitat Egon Voss, in: Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.): Georges Bizet, »Carmen«. Texte, Materialien, Choreografie von Lucia Cormani; 1912, Cho- feld, als er im Jahr 1990 seinen Tanzfilm »Car- Kommentare, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 16; Zitate S. 16/17: Prosper Mérimée: Carmen, übers. von Arthur Schurig, Zürich 1983, S. 35; Kirsten Möller, Inge Stephan, Alexandera Tacke, aus dem Vorwort zu: Dies. (Hrsg.): Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und reografie von Augustin Berger). men on Ice« für Eiskunstläufer entwickelte. Die Kunst (=Literatur – Kultur – Geschichte. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 28), Köln, Weimar, Wien 2011, S. 7/8; José Erfolgreich war auch das Ballett, das der franzö- Titelrolle besetzte er prominent mit Katharina Colmeiro, zitiert in: Kirsten Möller: Prosper Mérimées »Carmen«. Eine französisch-spanische Beziehungsgeschichte, in: Dies., Inge sische Choreograf Roland Petit im Jahr 1949 für Witt. Sie war schon 1988 bei den Olympischen Stephan, Alexandra Tacke (Hrsg.): Carmen. Ein Mythos, S. 13; Kirsten Möller, in: Ebd., S. 13–22; Karl Schumann, zitiert in: Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.): Georges Bizet, »Carmen«, S. 266; Teresa Berganza, zitiert in: Ebd., S. 259. seine eigene Compagnie »Les Balletts de Paris« Spielen in Calgary in einer Kür zu Bizets Musik Artikel von Andrew Lindemann Malone (S. 18) auf: www.allmusic.com. Die Zusammenfassung der Handlung sowie die Artikel auf den schuf. Die Geschichte folgt derjenigen Méri- als Carmen angetreten und und hatte damit den Seiten S. 10/11 und S. 18–20 sind Originalbeiträge von Juliane Hirschmann für dieses Programmheft. Fragen auf S. 14/15 von Juliane Hirschmann. mées, die Musik ist von Bizet und wurde von Olympiasieg davongetragen. Die Probenbilder von Ida Zenna entstanden eine Woche vor der Premiere auf der ersten Kostümprobe. 22/23
»Weil ich dich liebe, bin ich des Nachts So wild und flüsternd zu dir gekommen, Und dass du mich nimmer vergessen kannst, Hab ich deine Seele mit mir genommen. Sie ist nun bei mir und gehört mir ganz Im Guten und auch im Bösen; Von meiner wilden, brennenden Liebe Kann dich kein Engel erlösen.« (Hermann Hesse) Impressum: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH Spielzeit 2021/2022, Intendant: Daniel Klajner Käthe-Kollwitz-Straße 15, 99734 Nordhausen, Tel: (0 36 31) 62 60-0 Premiere: 29. Oktober 2021 Programmheft Nr. 6 der Spielzeit 2021/2022 Redaktion und Gestaltung: Dr. Juliane Hirschmann Satz und Layout: Dorothee Probst, Abteilung Kommunikation und Marketing des Theaters Nordhausen
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