Neue Arbeitskonflikte in Südchina: Das Beispiel Yue Yuen
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Neue Arbeitskonflikte in Südchina:
Das Beispiel Yue Yuen
Im April 2014 legten mehr als 40.000 Arbeiter und Arbeiterinnen des Schuhherstellers
Yue Yuen im südchinesischen Perlflussdelta, der Werkbank der Welt, die Produktion still.
Der Streik ist Teil einer neuen Welle von industriellen Konflikten im aufstrebenden
Industrieland China. Diese Auseinandersetzungen haben das Potenzial, die Arbeitsbezie-
hungen zu verändern: Ältere Wanderarbeiter protestieren nun für Sozial- und Renten-
versicherungsansprüche und zeigen die Grenzen der hyperflexiblen Billiglohnproduktion
in China auf.
Stefan Schmalz, Br andon Sommer, Lea Schneidemesser
und wie die Arbeitsbedingungen in China gestaltet sind, ist
1. Der Streik bei Yue Yuen als also für Akteure in Deutschland von großem Interesse.
sozialwissenschaftlicher Zweitens handelte es sich bei der Protestwelle um kein
isoliertes Ereignis. Im Perlflussdelta mit seinen vielen Millio-
Untersuchungsgegenstand
nen schlecht entlohnten Wanderarbeitern kam es zu unzäh-
ligen wilden Streiks. Dies hat damit zu tun, dass die Staatsge-
Der Konflikt bei Yue Yuen in Gaobu, Dongguan, war der werkschaft ACGB (Allgemeinchinesischer Gewerkschafts-
Höhepunkt einer Streikwelle in den Jahren 2013 – 2015, die bund) bisher als kollektive Interessenvertretung weitgehend
Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung
(gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffent-
unterschiedliche Industriesektoren wie die Elektronik-, Me- versagt hat, wenn es darum ging, das bestehende Arbeitsrecht
tall-, Textil-, Spielzeug- und Plastikindustrie in der südchi- in der Praxis umzusetzen und die soziale Situation der Be-
nesischen Provinz Guangdong traf. Der Yue-Yuen-Streik gilt schäftigten zu verbessern. In den 2000er Jahren kam es deshalb
dabei nicht nur als der größte Arbeitskonflikt des vergange- zu zehntausenden spontanen Streiks, in denen die Arbeiter
nen Jahrzehnts in China, sondern er zog auch Arbeitsnieder- meist ihre gesetzlichen Rechte einklagten (Lee 2007; Zhang
legungen in weiteren Fabriken in Dongguan, aber auch in 2015, S. 183ff.). Im Frühjahr 2010 folgte dann eine umfassen-
anderen chinesischen Yue-Yuen-Produktionsstandorten in de Streikwelle. Die Arbeiter bei Honda Auto Parts Manufac-
Zhuhai (Provinz Guangdong) oder in Anfu ( Provinz Jiangxi) turing Co., Ltd. (CHAM) legten die Produktion in Foshan still
nach sich. Die Ereignisse sind aus verschiedenen Gründen und forderten neben einer Lohnsteigerung um 800 Renmin-
lichung online oder offline) sind nicht gestattet.
von Bedeutung: Erstens gilt das Perlflussdelta seit geraumer bi (RMB) im Monat (damals ca. 95.- €) eine wirksame be-
Zeit als der größte Industriestandort weltweit und als beson- triebliche Interessenvertretung. Danach kam es auch außer-
ders attraktive Region für exportorientierte, arbeitsintensive halb der Provinz Guangdong und des Automobilsektors zu
Industriesektoren. In der Region siedelten sich solche Indus- Streiks. Viele Beobachter waren sich einig, dass die Arbeits-
triekonzerne an, zunächst aus Hongkong und Taiwan, seit konflikte eine neue Qualität erreicht hatten, da die Beschäf-
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den 1990er Jahren auch aus den USA und Europa. Heute sind tigten nun offensivere Lohnforderungen stellten und ihre
viele westliche Unternehmen im Perflussdelta und mittler- Proteste besser organisierten (Chan/Hui 2014).
weile auch in ganz China aktiv. Der Druck, der durch Stand- Drittens hat die Staatsführung auf die wachsenden sozia-
ortverlagerungen nach China ausgeübt wird, war deshalb len Konflikte mit einer Reform der Sozial- und Arbeitsgesetz-
auch in den letzten zwei Jahrzehnten in Europa spürbar. Die gebung reagiert. Eine wichtige Rolle hierfür spielen auch
Frage, wie die chinesische I ndustrie sich zukünftig entwickelt wachsende Strukturprobleme der chinesischen Wirtschaft,
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die nicht mehr einseitig auf die Exportproduktion, sondern zahlung fehlender Sozialleistungen ein gutes Ergebnis erzielt
verstärkt auch auf die Binnennachfrage setzen muss. Bereits haben, hat die Verlagerung von Aufträgen an andere Stand-
im Jahr 2008 verabschiedete der Volkskongress mit dem Ar- orte zur Verschärfung ihrer Situation geführt. Dass der Streik
beitsvertragsgesetz neue Regeln für den Abschluss schriftli- dennoch weitreichende Folgen hatte, wird in Abschnitt 6 dis-
cher Arbeitsverträge, einen verbesserten Kündigungsschutz kutiert: Die Arbeiter in anderen Betrieben im Perlflussdelta
und legte Zuschläge für Überstunden und Nachtarbeit fest. sind über das Thema nun besser informiert; es kommt immer
Mit der Reform der chinesischen Sozialgesetzgebung wurde wieder zu Nachahmerstreiks, die dazu beitragen könnten, die
im Jahr 2011 dann ein Sozialsystem etabliert, das der bism- Transformation der chinesischen Arbeitsbeziehungen in Rich-
arckschen Sozialgesetzgebung nicht unähnlich ist: Arbeitgeber tung einer besseren sozialen Absicherung der Arbeiter und
und Arbeitnehmer führen nun Geld für Rentenversicherung, Arbeiterinnen voranzutreiben. Ob dieser Prozess jedoch auch
Unfallversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenver- zu einer stärkeren Institutionalisierung des Arbeitskonflikts
sicherung und Mutterschaftsschutz für alle Beschäftigte ab. führen wird, bleibt ungewiss. 1
Außerdem tragen beide Parteien Mittel zu einem Wohnungs-
baufonds bei. Die neuen Regeln wurden jedoch in vielen Fäl-
len nur unzulänglich umgesetzt: So zeigte eine Studie der New
Yorker Nichtregierungsorganisation (NGO) „China Labor
Watch“, dass keine der 400 Fabriken, die von der Organisati- 2. Industrieller Wandel in Guangdong
on in den letzten zehn Jahren in China überprüft wurde, alle
gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen für die Beschäf- Guangdong war das Versuchslabor für die chinesische Reform-
tigten abgeschlossen hatte (CLW 2014). und Öffnungspolitik, die mit Deng Xiaopings „Vier Moderni-
Folglich ist eine langsame Transformation der chinesi- sierungen“ (sì gè xiàndàihuà) im Jahr 1978 begonnen hatte. In
schen Arbeitsbeziehungen im Gange, deren Ausgang – auch Shenzhen, Zhuhai und Shantou entstanden die ersten Sonder-
aufgrund der Implementationsdefizite – ungewiss ist. Wenn wirtschaftszonen. Die Region gewann nach Deng Xiaopings
es gelingt, die Arbeitsbeziehungen stärker zu regulieren, wird „Reise in den Süden“ 1992, bei der er die Sonderwirtschaftszo-
dies auch den Druck in der internationalen Standortkonkur- nen im Perlflussdelta besuchte, Modellcharakter für andere
renz verringern und spürbare Auswirkungen in Europa haben. Provinzen. Guangdong war ein Vorreiter der Außenöffnung:
In diesem Kontext kommt dem Yue-Yuen-Konflikt, so unse- Die Provinz erwirtschaftete Anfang der 1990er Jahre mehr als
re These, die Rolle eines paradigmatischen Streiks für die ein Drittel der chinesischen Exporte und zog beinahe ein Drit-
chinesischen Arbeitsbeziehungen zu. Denn seitdem ist es zu tel aller ausländischen Direktinvestitionen an. Große Teile der
einer Vielzahl vergleichbarer Konflikte gekommen. Diese Aus- Industrieproduktion bauten auf Niedriglöhne. Einen wichtigen
einandersetzungen sind Ausdruck eines Generationswandels: Einfluss hatten Unternehmer aus Hongkong und aus Taiwan.
Mit den älteren Wanderarbeitern engagiert sich nun eine Be- Viele arbeitsintensive Industriezweige, die dort wegen steigen-
schäftigtengruppe, deren Konfliktbereitschaft lange Zeit als der Lohnkosten oder Immobilienpreise nicht mehr profitabel
niedrig galt (Lee/Pun 2010; Chan/Hui 2014). Aufgrund ihrer waren, wurden auf das chinesische Festland ausgelagert. Die
unsicheren Perspektive im Alter rücken sie mit der Sozial- und Folge war nicht nur eine rasche wirtschaftliche Entwicklung,
Rentenversicherung ein bisher randständiges Thema in den sondern auch eine umfangreiche Zuwanderung von Wander-
Mittelpunkt von Arbeitskämpfen. Derartige Konflikte besitzen arbeitern2 aus ärmeren Provinzen. Heute leben über
eine besondere Sprengkraft, da viele Unternehmen und loka-
le Regierungsfunktionäre gesetzliche Standards unterlaufen
haben, um die Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen und Nach- 1 Grundlage für den Artikel sind 72 Interviews und vier Grup-
ahmerstreiks diese zwingen könnten, den staatlichen Regeln pendiskussionen mit Experten, (Wander-)Arbeitern und Ma-
stärker Folge zu leisten. nagern, die wir im Zeitraum von Juni bis September 2014
in Guangdong und Hongkong zum Thema Arbeitsbeziehun-
Wir argumentieren wie folgt: Zunächst skizzieren wir die
gen, Prekarität und industrieller Konflikt im Perlflussdelta
Widersprüche der industriellen Aufwertung in Südchina. Yue geführt haben. Fünf der Interviews und eine Gruppendis-
Yuen in Gaobu ist ein Beispiel für eine exportorientierte Tex- kussion wurden am Yue Yuen-Werksgelände in Gaobu ge-
tilfabrik, die durch Standortverlagerungen unter Druck gera- führt, sieben weitere Experteninterviews in Guangzhou,
Shenzhen und Hongkong bezogen sich direkt auf den
ten ist; auch werden an diesem Fall politische Konflikte zwi- Streik. Die Forschung wurde von dem am Institut für Sozio-
schen dem Zentralstaat und den regionalen Parteistrukturen logie der Friedrich Schiller-Universität Jena angesiedelten
in Dongguan um gesetzliche Standards und Korruption deut- Kolleg „Postwachstumsgesellschaften“ der Deutschen For-
schungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützt.
lich (Abschnitt 2 und 3). Anschließend gehen wir auf die äl-
tere Generation von Wanderarbeitern ein (4). Sie verfolgen 2 Der Begriff „Wanderarbeiter“ ist etwas missverständlich, da es
andere Interessen als ihre jüngeren Kollegen, da ihre Verhand- sich um Personen handelt, die keinen städtischen Aufenthalts-
lungsmacht auf betrieblicher Ebene begrenzt und ihre Pers- status und somit in der Stadt keine Rechte auf verschiedene
soziale Dienstleitungen (Schulbildung, etc.) haben. Die Zuwan-
pektive prekär ist. Wir stellen dann den Ablauf und die Er-
derer bleiben aber oft den Rest ihres Lebens im urbanen
gebnisse des Streiks dar (5). Auch wenn die Arbeiter mit einer Raum. Der Begriff „Wanderarbeiter“ wird im Folgenden den-
Lohnerhöhung über 230 Renminbi (RMB) und einer Nach- noch genutzt, da er im Deutschen die gängige Bezeichnung ist.
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35 Mio. Menschen ohne städtischen Aufenthaltsstatus (hùkǒu) tifiziert, die mit Steuervergünstigungen gefördert werden (In-
in Guangdong. terview (Int) 59r).
Das Ergebnis war eine Industriestruktur, in der die Ex- Bisher ist umstritten, inwieweit diese Politik erfolgreich
portproduktion eine wichtige Rolle spielt. Boy Lüthje et al. war: In Gesamtchina hat sich zwar seit der Krise 2008 der
(2013, S. 24ff.) identifizieren bei einer Untersuchung der hohe Leistungsbilanzüberschuss von 10,1 % des Bruttoin-
chinesischen industriellen Beziehungen fünf unterschied- landsprodukts (BIP) (2007) auf 2,9 % (2013) verringert, al-
liche Produktionsregimes (staatsbürokratische Unterneh- lerdings zeigen die meisten Studien, dass der Konsumanteil
men, bürokratische Großunternehmen, high performan- weitgehend stabil geblieben ist (Schmalz 2013, S. 343ff.). In
ce-Großunternehmen, flexible Massenproduktion und Guangdong werden große Teile der Industriestruktur wei-
klassische Niedriglohnproduktion). Von ihnen zeichnen terhin von der Exportbranche dominiert. Jedoch herrscht
sich die letzten beiden durch Niedriglöhne, überlange Ar- ein wachsender Druck durch steigende Löhne und sinken-
beitszeiten, flexible Beschäftigung, fehlende Tarifverträge de staatliche Unterstützung. Insgesamt ist also eine Tendenz
und die Missachtung gesetzlicher Regelungen aus. Zudem zu einer Verlagerung und Restrukturierung von Wertschöp-
sind im gewerblichen Bereich dieser Unternehmenstypen fungsketten in Gang gekommen (Zhu/Pickles 2014). Wie
überwiegend Wanderarbeiter beschäftigt (ebd., S. 27f.). weit sich dies auch auf die Arbeitsbedingungen der Beschäf-
Das Exportmodell wurde lange Zeit kaum hinterfragt. Es tigten auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Zwar sind
galt als erfolgreich, um Devisen zu erwirtschaften, Arbeits- die Reallöhne in Guangdong von Ende 2007 bis Ende 2013
plätze zu schaffen, Wachstumsimpulse in Gang zu setzen und um über ein Drittel gestiegen. Aber in einigen Branchen,
um – zusammen mit der Joint Venture-Politik der Regierung wie der Bekleidungsindustrie, geht die industrielle Aufwer-
– Technologie zu transferieren. Spätestens seit der globalen tung ohne spürbare soziale Verbesserungen einher (Butol-
Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 war jedoch klar, dass lo 2014, S. 343ff.). Auch wenn die Staatsgewerkschaft ACGB
das Modell an seine Grenzen geraten war (Brink 2013, S. 323ff.; auf der Provinzebene erste Reformen umgesetzt hat, um die
Schmalz 2013). Durch die scharfe Rezession in den US-ame- Situation der Beschäftigten zu verbessern, vertritt sie in den
rikanischen und europäischen Absatzmärkten brachen die Betrieben weiterhin nur selten konsequent die Interessen
Exporte aus dem Perlflussdelta zwischen dem 3. Quartal 2008 der Belegschaft (Friedman 2014).
und dem 1. Quartal 2009 um rund zwei Drittel ein (Yu 2010,
S. 90). Im Grunde wirkte die Krise als ein Katalysator; Struk-
turprobleme verschärften sich. Bereits zuvor hatte der dama-
lige Premierminister Wen Jiabao das chinesische Wirtschafts-
modell als „instabil, unausgewogen, unkoordiniert und nicht 3. Yue Yuen in Dongguan:
nachhaltig“ (zit. n. Hung 2009, S. 190) bezeichnet und die vom Modellbetrieb zum
einseitige Exportausrichtung, die niedrigen Löhne und die
Korruptionsfall
ökologischen Probleme kritisiert. Initiativen wie das Arbeits-
vertragsgesetz (2008) wurden schon vor der Krise umgesetzt.
Die Regierung reagierte dann auf den Kriseneinbruch mit Die Yue-Yuen-Gruppe ist unmittelbar von dem Umbau des
einem 4 Bio. RMB (damals rund 450 Mrd. Euro) schweren chinesischen Wirtschaftsmodells betroffen. Yue Yuen ist ein
Konjunkturprogramm, das umfangreiche Investitionen in die taiwanesischer transnationaler Konzern, der zurzeit der
Infrastruktur vorsah. Da jedoch nur ein geringerer Anteil in größte Sportschuhhersteller weltweit ist. Das Unternehmen
Konsumausgaben floss und die Nachfrage nach chinesischen ist ein Teil von der Pou Chen Group, einem taiwanesischen
Exportwaren bereits 2010 wieder auf Vorkrisenniveau ange- Unternehmenskonglomerat, das von der Tsai-Familie ge-
langt war, konnte das Wirtschaftsmodell zunächst nicht nach- leitet wird und neben der Schuhproduktion auch in der
haltig transformiert werden (Pettis 2013). In der Folge kam Elektronikherstellung, im Einzelhandel und im Immobili-
es zu weiteren Reforminitiativen. So versucht etwa die Zent- ensektor engagiert ist. Die Produktpalette von Yue Yuen
ralregierung, mit dem 12. Fünfjahresplan (2011 – 2015) – ne- umfasst vor allem Sportschuhe, mit der Kette Footzone
ben Fördergeldern für Hochtechnologie – die Sozialsysteme wurde das Unternehmen auch auf dem chinesischen Markt
weiter auszubauen und durch verschiedene Maßnahmen, etwa im Einzelhandel aktiv (Appelbaum 2009, S. 74). Die wich-
Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor, den gesamtwirt- tigsten Markenfirmen im Sportschuhgeschäft wie Adidas,
schaftlichen Konsumanteil zu erhöhen. Guangdong setzte sich Nike und Asics zählen zu den Kunden (Merk 2008, S. 86;
mit dem damaligen Parteivorsitzenden der Provinz, Wang Yue Yuen 2014). Yue Yuen spielt dabei die Rolle eines Kon-
Yang, erneut an die Spitze der Reformbewegung: Es sei Zeit, traktfertigers, d.h. Design und Know-how werden von den
„den Käfig zu leeren, um die Vögel auszutauschen“ (ténglóng Markenfirmen geliefert, Yue Yuen übernimmt die Produk-
huànniăo), d.h. die einfache Exportindustrie durch techno- tion vor Ort. Der Konzern produziert bereits seit 1988 in
logieintensive Industriesektoren zu ersetzen, so seine Devise. Festlandchina. Die Wahl fiel zunächst ausschließlich auf
Die Provinzregierung implementierte verschiedene Maßnah- Standorte in Guangdong (Zhuhai, Zhongshan und Dong-
men, um dieses Ziel zu erreichen: So werden etwa im Rahmen guan). Später wurden auch in anderen chinesischen Pro-
des aktuellen Fünfjahresplans Hochtechnologiebetriebe iden- vinzen wie Jiangxi und Hubei Fabriken eröffnet. Im folgen-
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den Jahrzehnt wurden neue Standorte in Vietnam, nehmern bestehen. Derartige Probleme sind in Dongguan
Indonesien, USA und Mexiko aufgebaut. Die Produktions- offenkundig. Die Stadt ist ein Standort für exportorientier-
kapazitäten in Südostasien wuchsen rasch an und gewannen te Industrieunternehmen, deren Eigentümer oftmals taiwa-
im Gesamtkonzern an Bedeutung. Ein Teil der Produktion nesischer Herkunft sind. Bei einer Bevölkerung von über
aus Festlandchina wurde aus Kostengründen dorthin aus- 8 Mio. Menschen sind rund 100.000 Taiwaner. Die Regu-
gelagert. Aus diesem Grund eröffnete Yue Yuen weitere lierung der Exportwirtschaft durch die Stadtregierung ist
Fabriken in Bangladesch und Kambodscha. Das Unterneh- nur schwach ausgeprägt, da Dongguan aus einzelnen auto-
men setzte im Jahr 2013 etwa US$ 7,6 Mrd. um und erreich- nomen Dörfern entstanden ist und in der örtlichen Verwal-
te Profite nach Steuern von US$ 435 Mio. (Yue Yuen 2014, tungsstruktur die der üblicherweise einer bezirksfreien Stadt
S. 2ff.).Yue Yuen ist also ein transnationaler Konzern mit (dìjíshì) untergeordnete Kreisebene (xiànshì) nicht exis-
einer für einen Zulieferer recht stattlichen Profitrate von tiert.3 Zudem werden in Dongguan die zwielichtigen Ver-
5,7 %. Rund 29,3 % des Umsatzes wurden auf dem US-ame- knüpfungen zwischen Parteistaat und (Export-)Kapital
rikanischen, 20,2 % auf dem europäischen Markt erwirt- besonders deutlich. Viele Regierungsbeamte gelten als kor-
schaftet. Eine Reorientierung weg von den traditionellen rupt, gesetzliche Standards werden nur unzureichend im-
Zielmärkten ist bereits im Gang: Yue Yuen erzielte 2013 plementiert. In Dongguan existiert beispielsweise ein großer
bereits 42,3 % seines Umsatzes in Asien. illegaler Prostitutionssektor mit rund 300.000 Sexarbeite-
Yue Yuen unterhält im Industriebezirk Gaobu in Dong- rinnen, der rund ein Zehntel der Einnahmen der Stadt aus-
guan ein großes Fabrikgelände mit über 40.000 Beschäftig- machen soll (South China Morning Post, 13.02.2014). Die
ten, auf dem es neben den Werkhallen auch Wohnheime Parteiführung in Peking um Xi Jinping hat Dongguan als
und andere Infrastruktur gibt. Derartige Betriebsgrößen ein Beispiel genutzt, um ein Exempel in der Korruptions-
sind selbst für China zwar groß, aber dort durchaus üblich: bekämpfung zu statuieren: Die Stadt wurde in den Staats-
Yue Yuen in Gaobu hatte im Jahr 2006 zeitweise sogar über medien als eine Art chinesisches „Sodom und Gomorra“
100.000 Beschäftigte und war traditionell der größte Stand- stilisiert. Immer wieder folgten Zeitungsmeldungen über
ort des Unternehmens. Lediglich der Betrieb in Ho Chi Prostitution, Korruption und sogar Drogenhandel in „Sin
Minh-Stadt in Vietnam besitzt eine ähnliche Größenord- City“ (China Daily 11.2.2014). Durch großangelegte Poli-
nung. In Gaobu werden vor allem Turnschuhe gefertigt, zeieinsätze baute man eine Drohkulisse auf, um die örtlichen
aber auch Freizeitschuhe und Vorprodukte wie Schuhsoh- Funktionäre und (taiwanesische) Unternehmer zu diszip-
len. Auf dem Werksgelände sind insgesamt sechs Fabrikan- linieren und die gesetzlichen Standards durchzusetzen.4
lagen angesiedelt, in denen in einzelnen Werkshallen ge- Folglich ereignete sich der Yue-Yuen-Streik in einer auf-
trennt voneinander verschiedene Markenschuhe (Adidas, geladenen Situation, da ökonomische Umbrüche und politi-
Nike etc.) hergestellt werden. Dabei bringen die Marken- sche Konflikte miteinander interagierten. Beide spielten eine
firmen nicht nur ihr Know-how, sondern auch moderne Rolle bei dessen Entstehung. Die ökonomische Situation
Maschinen und Leitungspersonal mit ein. Im Kern handelt engte den Verhandlungsspielraum für Lohnsteigerungen ein
es sich also um eine relativ flexible Niedriglohnproduktion und bildete auf diese Weise einen Nährboden für Konflikte.
mit einem teilweise hohen Technologiestandard (Merk 2008, Dabei galt Yue Yuen lange Zeit als ein erfolgreiches Modell
S. 87). Die Spitzenauslastungen des Standorts in Gaobu für Corporate Social Responsibility. Neben der Implementa-
scheinen allerdings überschritten zu sein: Der Betrieb hat tion von einigen Codes of Conduct (keine Zwangsarbeit,
einige Rationalisierungsschübe und Outsourcingprozesse Überstundenkompensation etc.) wurden ein Betriebskinder-
durchlaufen. Viele Aufträge wurden verlagert. Hierzu hat garten, ein Krankenhaus, eine Bücherei, Englischkurse und
neben niedrigeren Lohnkosten in anderen Yue-Yuen-Stand- Freizeitaktivitäten zur Verfügung gestellt (Chang 2009, S. 99f.;
orten auch die wachsende Konkurrenz mit inländischen Merk 2008; Appelbaum 2009, S. 74). Die Fabrik hatte so eine
Herstellern aus der Provinz Fujian beigetragen (Int. 61o). gewisse Ausstrahlungskraft in der Region. So zitiert Chang
Die Anzahl der Arbeitskräfte in Gaobu ist seit dem Höhe- in ihrem Bestseller „Factory Girls“ eine Beschäftigte, die auf-
punkt im Jahr 2006 rückläufig. Die Bedeutung des Standorts grund schlechter Arbeitsbedingungen in anderen Fabriken
im Gesamtkonzern hat abgenommen. Ende 2013 waren bei wieder zu Yue Yuen zurückgekehrt war, wie folgt: „I've
Yue Yuen rund 413.000 Arbeiter beschäftigt, davon arbeiten
nur noch ein Zehntel in Gaobu und etwa ein Viertel in
Festlandchina.
Doch der Druck auf den Standort ist nicht rein ökono- 3 Den Hinweis auf die Verwaltungsstruktur und die politi-
mischer Natur, sondern wird auch politisch erzeugt. Viele schen Konflikte in Dongguan verdanken wir einem länge-
ren Gespräch mit Boy Lüthje im Juli 2014.
Reforminitiativen der Zentralregierung zielen auf eine Auf-
wertung der Industriestruktur und richten sich gegen die 4 In unseren Interviews mit Unternehmern aus Dongguan
einseitige Billiglohnproduktion und gesetzeswidrige Prak- erfuhren wir, dass nicht nur die staatliche Kontrolle deut-
lich zugenommen habe, sondern auch, dass viele Unter-
tiken im Exportsektor. Es ist jedoch nicht einfach, solche
nehmer heute Angst vor der Kampagne der Parteiführung
Reformen auf lokaler Ebene durchzusetzen, da enge Ver- haben und sie sich deshalb vom örtlichen Vergnügungs-
flechtungen zwischen den Lokalregierungen und den Unter- viertel bewusst fernhalten.
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moved here and there, and I always seem to end up in this (Lee/Pun 2010; Chan/Hui 2014). Diese Arbeiten gingen
factory“ (zit. n. Chang 2009, S. 105). Außerdem bildete sich bisher davon aus, dass jüngere Wanderarbeiter der zweiten
aufgrund des politischen Drucks durch die Zentralregierung Generation derzeit die wichtigsten Streikakteure sind. Die-
eine „politische Gelegenheitsstruktur“ (zum Konzept: Tarrow se Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie im urbanen
1994, S. 85) für die Yue-Yuen-Arbeiter heraus, um auf Miss- Raum aufgewachsen ist, über bessere soziale Netzwerke und
stände im Betrieb hinzuweisen, die von der Lokalregierung ein höheres Wissen über gesetzliche Standards und den
lange Zeit geduldet wurden. Die Spaltungslinie zwischen der Arbeitsmarkt verfügt und dass sie nicht mehr die Absicht
Parteizentrale und den lokalen Kadern trug dazu bei, dass hegt, in die Heimatprovinz zurückzukehren.
die Forderungen der Arbeiter nicht einfach übergangen wer- Die Gründe für diesen eher ungewöhnlichen Protest
den konnten. Peking intervenierte schließlich sogar in den ergaben sich aus einer spezifischen Konstellation: Die Stim-
Streik. mung im Betrieb hatte sich verschlechtert. Die relativ guten
Sonderleistungen bei Yue Yuen konnten nicht mehr über-
decken, dass sich die Löhne weitaus weniger dynamisch
entwickelt hatten als in anderen Werken; Mindestlohner-
höhungen waren teils durch Kürzungen von Boni kompen-
4. Angst vor dem Abstieg: Die ältere siert worden (CLB 2014a). Der Durchschnittslohn lag in
Generation der Wanderarbeiter Dongguan bereits 2012 bei 4.750 RMB. Die Wanderarbeiter
in unserem Sample, die überwiegend in kleineren Betrieben
Dennoch sind die strukturellen Rahmenbedingungen nicht im Bereich der flexiblen Massenproduktion und der klas-
ausreichend, um die Proteste zu verstehen. Denn die sozi- sischen Niedriglohnproduktion beschäftigt waren, beziehen
ale Zusammensetzung der Streikenden und deren subjek- Löhne von 3.000 bis 3.500 RMB, also mehr als bei Yue Yuen.
tive Beweggründe sind von entscheidender Bedeutung für Außerdem waren die Arbeiter in den einzelnen Werkhallen
die Entstehung des Arbeitskampfs. Yue Yuen wirkt ober- relativ hohem Leistungsdruck ausgesetzt. Konkret artiku-
flächlich betrachtet wie ein Fallbeispiel für arbeitsintensive, lierte sich der Protest bei Yue Yuen aber am Thema der
flexible Massenproduktion (Lüthje et al. 2013, S. 27). Bei Sozialleistungen. Diese sind vor allem für ältere Arbeiter
den Beschäftigten in der Produktion handelt es sich fast von Bedeutung.
ausschließlich um Wanderarbeiter und Wanderarbeiterin- In unseren Interviews konnten wir diesen Zusammen-
nen aus den Provinzen Hunan, Hubei, Jiangxi und Sichuan; hang nachzeichnen.6 Die Arbeitsbiografien der Wanderar-
rund drei Viertel sind Frauen. Die Löhne sind, je nach Auf- beiter unterteilen sich in zwei Phasen. Die jüngeren Wan-
tragslage und Arbeitserfahrung, mit 2.200 bis 3.000 RMB, derarbeiter tendieren dazu, für bessere Arbeitsbedingungen
Überstunden und Stücklohnpremien inklusive, recht nied- und ein höheres Gehalt relativ rasch den Job zu wechseln.
rig. Die Ausbildung der Arbeiter ist mit einem dreitägigen Diese Strategie ist – anders als Medienstereotype über die
Crashkurs minimal. Der Betrieb ist hierarchisch struktu- verwöhnte 1990er Jahre-Generation implizieren – durchaus
riert: Rund 200 taiwanesische Manager und Aufseher sind rational. In einem unserer Interviews erzählte uns eine drei-
an der Spitze des Betriebs, zwischen 300 und 400 Festland- ßigjährige Arbeiterin aus einer Plastikflaschenfabrik, dass
chinesen besetzen die niedrigen Management- und Ange- sie nach einer dreijährigen Arbeitszeit in einer Elektronikfa-
stelltenpositionen. Die Staatsgewerkschaften spielten im brik in den letzten Jahren bereits sieben Mal den Job gewech-
Betrieb keine Rolle: In einer Befragung der NGO „China selt habe. Sie tat dies aus freien Stücken „weil die Arbeitsbe-
Labor Watch“ von Yue-Yuen-Arbeitern im Jahr 2010 wuss- dingungen bei diesen Jobs schlecht und der Lohn niedrig“,
ten 36,2 % der Befragten nicht, dass eine Betriebsgewerk- „die Regeln zu restriktiv” waren oder weil es „zu anstrengend
schaft existiert. Rund 95,7 % gaben an, noch nie in der Ge- war, täglich Überstunden bis spät nachts zu schieben” (Int
werkschaft aktiv gewesen zu sein (CLW 2010, S. 38f.). 15w). Diese Strategien sind nur aufgrund des angespannten
Doch es gibt auch Merkmale, die dem Regime einer Arbeitsmarkts und der daraus erwachsenden Verhandlungs-
flexiblen Massenproduktion nicht entsprechen: Auch wenn
die monatliche Fluktuationsrate mit 6 % auf einem hohen
Niveau liegt, zeichnet sich das Werk durch eine vergleichs-
5 Genaue Zahlen über die Größe der Stammbelegschaft
weise stabile Stammbelegschaft aus.5 Hierbei handelt es sich
konnte uns selbst ein Human-Resources-Manager nicht
überwiegend um Arbeiterinnen mittleren und höheren Al- nennen. Allerdings gab uns ein Aufseher in einer Produkti-
ters (d. h. in China über 30 Jahre); die Mehrheit ist über onslinie bei der Fertigung für Adidas die Information, dass
zwei Jahre bei Yue Yuen beschäftigt, viele von ihnen sind in seinem Bereich ein Drittel der Beschäftigten dauerhaft
dort arbeite (Int 65o). Die Arbeitsbedingungen in den ein-
sogar seit über zehn Jahren in Gaobu. Die Arbeiterinnen
zelnen Werkhallen sind jedoch unterschiedlich, sodass die-
erhalten sogar Erfahrungszulagen von bis zu 290 RMB. Der se Zahl nicht umstandslos verallgemeinert werden kann.
Einsatz von Leiharbeitern ist eher ungewöhnlich. Folglich
6 Dieser Abschnitt bezieht sich auf 38 biografische Inter-
entspricht die Yue Yuen-Belegschaft auch nicht den klassi-
views mit Arbeitern in Shunde und Dongguan aus unse-
schen Protestakteuren, wie sie in den meisten Studien zu rem Gesamtsample, in denen wir vor allem auf die Preka-
den chinesischen Arbeitsbeziehungen beschrieben werden ritätserfahrungen der Arbeiter eingegangen sind.
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macht möglich; denn der Zustrom von neuen Wanderarbei-
tern aus Zentral- und Westchina hat in den Nachkrisenjah- 5. Anlass und Ergebnisse des Streiks
ren nachgelassen. Die jüngeren Arbeiter finden relativ rasch
einen Job; in unseren Interviews war von Zeiträumen von Der Streik bei Yue Yuen Gaobu entzündete sich an dem
„weniger als zehn Tagen” (Int 14w) oder „rund zwei Wochen” Thema der Pensionszahlungen. Der Ausgangspunkt für die
die Rede (Int 35w). Auch aufgrund anderer Faktoren – wie Proteste war, dass ein Angestellter nach 18 Jahren Beschäf-
bessere Kenntnisse des chinesischen Arbeitsrechts und grö- tigung herausfand, dass seine Pensionszahlungen niedriger
ßere Ansprüche, die die jüngere Generation an Einkommen waren als er erwartet hatte und dass sie nicht in die Heimat-
und Arbeitsbedingungen stellt – engagieren sich diese jun- provinz transferiert werden konnten. Yue Yuen hatte für
gen Arbeiter vermehrt in offensiven Lohnkämpfen. Der pa- mehrere Jahre zu niedrige Mittel abgeführt, da die Firma
radigmatische Streik bei Honda Nanhai wurde z. B. maß- nicht den Bruttolohn, sondern den Mindestlohn als Bemes-
geblich von Auszubildenden organisiert, die sich über sungsgrundlage genutzt hatte. Die Entdeckung des Ange-
moderne Kommunikationsmedien vernetzten und in einer stellten war jedoch nur der unmittelbare Anlass für den
Auseinandersetzung wenig zu fürchten hatten. Streik. Die Information über nicht-geleistete Zahlungen war
Allerdings ändern sich die Präferenzen im späteren bereits zuvor gestreut worden, eine größere Anzahl von
Arbeitsleben. Mit den ersten Gedanken an eine Familien- festlandchinesischen Angestellten und Vorarbeitern hatte
gründung (ungefähr mit Mitte 20 in China) beginnen die sogar damit gedroht, zu kündigen, wenn keine Kompensa-
Wanderarbeiter, sich nach stabileren Verhältnissen umzu- tion erfolge (Int 61o, 64r, 66w). Ein Grund hierfür war das
sehen. Faktoren wie ein sicheres Auskommen oder das Gefühl der Beschäftigten, um einen Teil der Pension geprellt
Verhältnis zu den Kollegen werden wichtiger. Die bereits worden zu sein, und dass es sich hierbei um eine weitere
erwähnte Arbeiterin erklärte uns, warum sie sich schließ- Form der Lohndrückerei handele. Es gab auch Gerüchte
lich für die Flaschenfabrik entschieden hatte: „Es gibt kei- über Korruption. Die Unternehmensführung habe die feh-
ne Überstunden, und wenn wir doch Überstunden haben, lenden Mittel für Schmiergelder an örtliche Parteifunktio-
wird es nicht so spät, sodass ich rechtzeitig nach Hause zu näre veruntreut, so ein gängiges Argumentationsmuster (Int
meinem Sohn kann. Die Firma zahlt außerdem Sozialleis- 66w).
tungen und der Leistungsdruck bei der Arbeit ist nicht Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Mel-
allzu hoch” (Int 15w). Diese Übergangsphase ist entschei- dung, dass ein Arbeiter im Schuhsohlenwerk Nr. 3 geschla-
dend, da die Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt gen worden sei. Am 5. April 2014 begannen die Yue-Yu-
noch ausreichend ist, um einen Job gezielt auswählen zu en-Arbeiter deshalb einen spontanen Streik, der zwar auf
können. Mit Ende Dreißig beginnt dann eine zweite Le- das Schuhsohlenwerk Nr. 3 begrenzt blieb, aber bei dem, je
bensphase. Der Traum, auf das Land zurückzukehren, nach Quelle, zwischen 2.000 und 6.000 Beschäftigte mobi-
rückt für viele in weite Ferne. Die Stabilität des Arbeits- lisiert werden konnten (CLB 2014a). Die Geschäftsführung
verhältnisses ist absolut zentral, da die Arbeiter meist El- kündigte als Reaktion an, bis zum 14. April eine Lösung für
tern geworden sind und ihre Verhandlungsmacht stetig das Problem zu finden. Bis dahin begannen einige Arbeiter,
schrumpft. Das Thema der Pensionszahlungen gewinnt sich besser zu organisieren. So traf sich eine Aktivengruppe
immer mehr an Bedeutung, da die Arbeiter nunmehr über am 12. April mit einer NGO aus Shenzhen, die bereits Er-
ihre Absicherung im Alter (das Renteneintrittsalter in Chi- fahrung bei der Beratung von Streikenden hatte (Int 76r).
na liegt bei 50 Jahren für Frauen und 60 für Männer) nach- Am 14. April unterbreitete der stellvertretende Betriebslei-
zudenken beginnen. Eine gewisse Stabilität in einem for- ter Li Lujia ein Angebot der Geschäftsführung. Dieses sah
mellen Arbeitsverhältnis ist hierfür extrem wichtig, denn keine Nachzahlung der Sozialversicherungsbeiträge für die
die Beschäftigten müssen zumindest 15 Jahre in die Ren- vergangenen Arbeitsjahre vor. Für die faktische Verweige-
tenkasse eingezahlt haben, um Rentenansprüche zu erhal- rung, auf die Forderung der Arbeiter einzugehen, wurde
ten. Die Sorge, keine Absicherung zu haben, und das Di- die Blockadehaltung der örtlichen Regierung angeführt
lemma, dass das eigene Kind sie nicht immer ausreichend (CLB 2014a). Sie fürchtete, dass eine umfangreiche Entschä-
unterstützen kann, wurden in unseren Interviews immer digung in anderen Unternehmen in Dongguan Schule ma-
wieder geäußert. Diese Probleme sind auch bei Yue-Yuen chen könnte. Der Arbeitskampf breitete sich daraufhin aus.
von Bedeutung: „Ich habe hier 13 Jahre gearbeitet und es Noch am gleichen Tag traten die Arbeiter von vier Werk-
sind noch drei Jahre bis ich in Rente gehe. Ich weiß nicht, hallen auf dem Yue-Yuen-Gelände unter dem Motto „Er-
was ich dann ohne Sozialversicherung machen soll“, so ein stattet unsere Sozialversicherungsbeiträge, erhöht unsere
Yue-Yuen-Arbeiter (Int 66w). Gerade aufgrund der Reform Gehälter, macht ein Abfindungsangebot“ (bŭshèbăo, zhăng-
des Sozialsystems in den Jahren 2011 (Einführung eines gōngzī, duángōnglíng) in den Ausstand. Bereits am Folgetag
Versicherungssystems) und 2013 (Transfermöglichkeit von waren 40.000 Arbeiter im Streik. Die Polizei zog mehrere
Ansprüchen in andere Provinzen) existiert heute eine re- Tausend Einsatzkräfte zusammen. Es kam zu Auseinander-
lativ hohe Bereitschaft, sich im Alter interessenpolitisch setzungen, Repressalien und Verhaftungen. Doch der Streik
einzusetzen, wenn die Rente oder der Arbeitsplatz gefähr- zeigte seine Wirkung. Die Produktion lag fast vollständig
det sind. still. Es folgten staatlich moderierte Verhandlungsrun-
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den. Bei den Gesprächen saßen neben der Geschäftsführung bis 30 RMB gekostet, aber nun sind es 300 RMB […] und
und den Vertretern der Streikenden Regierungsmitglieder wir müssen auch noch Steuern zahlen! Für junge Arbeiter
am Tisch. Die Gewerkschaften spielten keine Rolle; die lo- werden insgesamt 400 RMB, für ältere 500 bis 600 RMB
kale Zweigstelle des ACGB hatte lediglich eine Einsatzgrup- abgezogen. Im letzten Monat habe ich nur 1.900 Yuan ver-
pe gesendet, um die Vorwürfe der Streikenden zu prüfen, dient, nicht einmal 2.000 Yuan! […] Ich habe im letzten
und gab schließlich eine Erklärung ab, in der sie kollektive Monat keine Überstunden arbeiten können. Die Arbeiter
Verhandlungen befürwortete, aber die Streikenden auffor- werden immer weniger und die Produktion bleibt auf einem
derte, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Schließlich niedrigen Niveau. [Die Geschäftsleitung] sagt, ,Keine Pro-
wurde ein neuer Plan der Geschäftsführung veröffentlicht. duktion, keine Boni’” (Int 66w). Die Situation führte dazu,
Dieser kam auf Druck des Arbeitsministeriums in Peking dass das Ansehen von Yue Yuen sank und dass viele jünge-
zustande (Handelsblatt, 25.4.2014). Er sah vor, dass neben re Arbeiter die Fabrik verließen. Heute erhalten Beschäftig-
einer Lohnerhöhung um 230 RMB und einer Implementie- te Prämien, wenn sie neue Arbeitskräfte für Yue Yuen an-
rung der Sozialgesetzgebung die Mittel für die Sozialversi- werben (Int 60w). Direkte Vorteile von dem Kompromiss
cherung und den Wohnungsbaufonds nachgezahlt werden hatten nur ältere Arbeitnehmer, die sich bereits auf ihre
sollen. Zunächst gaben sich viele Arbeiter hiermit nicht Rente vorbereiten. Ein Rechtsanwalt, der sich zu Beginn des
zufrieden, es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Konflikts für die Streikenden eingesetzt hatte, sah darum
Am 23. April folgte dann eine gemeinsame Erklärung von bereits kurz nach dem Streik weitere Konflikte als wahr-
Management, Gewerkschaften und Lokalregierung, dass scheinlich an: „Meiner Meinung nach wird es bei Yue Yuen
die Beschäftigten an die Arbeit zurückkehren sollten oder innerhalb von zwei Jahren wieder einen Streik geben, da
ansonsten nach drei Tagen entlassen würden. Die Erklärung viele Probleme nicht gelöst wurden“ (Int 56r). Der Anwalt
wurde von erneuter Polizeirepression begleitet. Bis zum sollte Recht behalten.
29. April war die Ordnung im Betrieb wiederhergestellt.
Die Ergebnisse des Streiks waren zwiespältig: Die Ar-
beiter hatten zwar, dies bestätigen sogar NGO-Aktivisten
(Int 76r), ein vergleichsweise gutes Zugeständnis erreicht.
Auch bemühte sich der ACGB, in Yue Yuen Gaobu eine 6. Vom Wandel des Arbeitskonflikts zum
Betriebsgewerkschaft mit gewählten Delegierten aufzubau- Wandel der Arbeitsbeziehungen?
en. Das Projekt blieb jedoch aufgrund ihrer Rolle im Streik,
der Frustration der Aktiven und der schieren Größe des Die Bedeutung des Streiks für die Entwicklung der chine-
Betriebes, so selbst die Einschätzung eines hochrangigen sischen Arbeitsbeziehungen sollte nicht unterschätzt wer-
Gewerkschaftsvertreters, erfolglos (Int 58r). Bis Juli 2014 den. Denn der Streik hat dazu beigetragen, dass das Thema
waren nur 1.500 Arbeiter der Gewerkschaft beigetreten. der Sozialversicherung nun zum Konfliktgegenstand ge-
Doch der Streik hatte Spuren hinterlassen: Die Profite des worden ist. Ein Gewerkschaftsfunktionär berichtete uns:
Gesamtkonzerns gingen im Jahr 2014 durch die unmittel- „Den Statistiken zufolge gab es in Guangdong von April bis
baren Folgen des Streiks um US$ 27 Mio. zurück, für die August mehr als zehn Streiks, die durch das Problem der
Mehrausgaben für Löhne und Sozialausgaben wurden Sozialversicherung verursacht wurden. Sie waren alle vom
US$ 31 Mio. und für die Nachzahlungen für den Arbeitge- Yue-Yuen-Streik beeinflusst worden“ (Int 58r). Es gab seit-
beranteil an den Sozialleistungen weitere US$ 37 Mio. ver- dem immer wieder teils sehr große Konflikte, die dem Mus-
anschlagt. Zudem reagierten die Markenfirmen auf den ter des Yue Yuen-Konflikts folgten: Im Dezember 2014
Streik mit einer Restrukturierungswelle. Sie vergaben nun streikten bei der Schuhfabrik Guangzhou Panyu Lide Shoes
Teile ihrer Aufträge an andere Yue-Yuen-Standorte oder Co rund 2.500 Arbeiter, um ihre Sozialversicherungsansprü-
sogar direkt an die Konkurrenz. Bereits kurz nach dem che durchzusetzen. Im März 2015 folgte dann ein Streik von
Streik lagerte Adidas Maschinen in die Fabrik Wanbang 5.000 bei Stella Shoe Co in Donguan, in dem die Beschäf-
(Fresh) Shoes Industry in Qingyuan aus. Die Folge der Auf- tigten eine Zahlung von Geldern aus dem Wohnungs-
tragsflaute war, dass die Überstunden sanken und so ein baufonds verlangten (Zhu 2015). Es folgte ein Bumerangef-
Teil des Einkommens der Arbeiter wegfiel. Außerdem führ- fekt: Nachdem die Arbeiter in der Werkhalle drei bei Yue
te die volle Implementierung der Sozialleistungsansprüche Yuen Dongguan durch eine Restrukturierung ihre Ansprü-
dazu, dass auch der Arbeitnehmeranteil anstieg und direkt che auf die Gelder aus dem Wohnungsbaufonds bedroht
von den (erhöhten) Löhnen abgezogen wurde. Folglich san- sahen, traten Ende März 4000 Beschäftigte erneut in den
ken zumindest für die einfachen Arbeiter die Löhne. Diese Streik.
bewerteten die Ergebnisse des Streiks teilweise äußerst skep- Der Konflikt bei Yue Yuen und die darauf folgenden
tisch. Auf die Frage, ob der Streik dabei hilfreich war, die Streikwellen deuten darauf hin, dass sich sowohl die
bestehenden Probleme zu lösen, erhielten wir von einer Streikakteure als auch die -themen verändern, was den Re-
Yue-Yuen-Beschäftigten folgende Antwort: „Nicht im ge- formdruck auf die chinesische Staats- und Parteiführung
ringsten. Vor dem Streik lag unser Lohn bei über 3.000 Yuan. erhöht. Die Proteste in Yue Yuen und vielen anderen der
Bereits in der Vergangenheit hat uns die Versicherung 20 betroffenen Fabriken werden nunmehr oft von älteren Ar-
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beitern und damit von einer Gruppe getragen, die bisher als wenig kon- http://www.chinalaborwatch.org/upfile/2010_11_2/20101130143496.pdf (letzter
fliktbereit galt. Für diese Beschäftigten steht im Alter viel auf dem Spiel: Zugriff: 27.02.2015)
CLW (China Labor Watch) (2014): Yue Yuen worker strike enters its second
Manchmal sind es die Pensionszahlungen nach der Rente, etwa wenn die week, Adidas pulls out of factory, 22.4., http://www.chinalaborwatch.org/
Unternehmen diese nicht korrekt abgeführt haben oder die Beitragsjahre newscast/234 (letzter Zugriff: 27.02.2015)
nicht ausreichen. Manchmal steht auch der Arbeitsplatz zur Disposition, Friedman, E. (2014): Insurgency trap. Labor politics in postsocialist China,
Ithaca, NY/London
wenn Jobs verlagert werden oder Firmen schließen. Diese Altersprekarität
Hung, H.-F. (2009): A caveat. Is the rise of China sustainable?, in: Hung,
ist ein Ergebnis der hyperflexiblen Billiglohnproduktion der letzten Jahr- H.-F. (Hrsg.): China and the transformation of global capitalism, Baltimore,
zehnte in China und wird durch die Gefahr von Entlassungen im Rahmen S. 188 – 202
des derzeitigen Umbaus der Industriestruktur zusätzlich verschärft. Lee, C. K. (2007): Against the law, labor protests in China’s rustbelt and
sunbelt. Berkely et al.
Der Konfliktzyklus seit 2013 zeichnet sich darum auch durch veränder-
Lee, C. K./Pun, N. (2010): Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit,
te Arbeitskampfthemen aus. Nach Daten des China Labor Bulletin sind Gender und Klassenzusammensetzung in China, Berlin
Sozialleistungen mit 14,5 % und auch Standortverlagerungen bzw. Fusionen Lüthje, B./Luo, S./Zhang, H. (2013): Beyond the iron rice bowl. Regimes of
production and industrial relations in China, Frankfurt a. M.
von Unternehmen mit 12,8 % der Nennungen im Jahr 2014 zu wichtigen
Merk, J. (2008): Restructuring and conflict in the global athletic footwear
Streikthemen in Guangdong aufgestiegen (CLB 2014b). Folglich haben die industry: Nike, Yue Yuen and labour codes of conduct, in: Taylor, M. (Hrsg.):
Sozialreformgesetzgebung 2011 und die Reorganisation der Wertschöp- Global economy contested: power and conflict across the international
fungsketten zur Vervielfältigung der Kämpfe beigetragen: Neben offensiven division of labour. Rethinking globalizations, London
Pettis, M. (2013): Avoiding the fall. China's economic restructuring,
Lohnkämpfen kommt es heute zu harten Auseinandersetzungen um die
Washington/DC
Absicherung potenzieller Verlierer der ökonomischen Modernisierung. Es Schmalz, S. (2013): Neue Vögel im Käfig? Chinas steiniger Weg zu einem
ist noch nicht absehbar, was diese neue Dynamik langfristig bedeutet. Doch neuen Akkumulationsregime, in: Atzmüller, R./Becker, J./Brand, U./Oberndor-
das Thema Sozialversicherung wird sicherlich zu anderen Streiks führen, fer, L./Redak, V./Sablowski, T. (Hrsg.): Fit für die Krise?: Perspektiven der
Regulationstheorie, Münster, S. 329 – 352
auf die die Geschäftsführungen der Unternehmen reagieren müssen. Hier Tarrow, S. G. (1994): Power in movement. Social movements, collective action,
spielt auch die Anfang 2015 in der Provinz Guangdong in Kraft getretene and politics, Cambridge/New York
Tarifverhandlungsrichtlinie eine Rolle, die die Möglichkeit bietet, Sozial- Yu, H. (2010): Impact of the global economic crisis on the Pearl River Delta and
Yangtze River Delta Regions, in: Zheng, Y./Tong, S. Y. (Hrsg.): China and the
leistungen tarifvertraglich abzusichern und somit zusätzliche Anreize zur
global economic crisis, Singapore, S. 89 – 112
Umsetzung der Gesetzgebung setzt. Generell ist es wahrscheinlich, dass der Yue Yuen (Yue Yuen Industrial Holdings Limited) (2014): 2013 Annual Report,
Druck, die Sozialgesetzgebung auch in die Praxis umzusetzen, deutlich http://www.yueyuen.com/index.php/en/about-us-7/investor-an-
steigen wird und die Sozialversicherung mittelfristig in den unteren Pro- nos/902 – 2014 – 04 – 24-annual-report-2013 (letzter Zugriff: 27.02.2015)
Zhang, Lu (2015): Inside China’s automobile factories. The politics of labor and
duktionsregimes (flexible Massenproduktion und klassische Niedriglohn-
worker resistance,
produktion) eine zunehmende Rolle spielen wird. Zeigt dieser Trend auch Zhu, J. (2015): China shoe factory strike highlights benefit fears, in: Financial
außerhalb von Guangdong Wirkung, käme das einer spürbaren Regulierung Times vom 11.03. http://www.ft.com/intl/cms/s/0/cd-
der chinesischen Arbeitsbeziehungen gleich. Ob dieser Umbruch jedoch c409bc-c7d6 – 11e4 – 8210 – 00144feab7de.html#axzz3ce1xuMSO (letzter Zugriff:
05.06.2015)
auch zu einer stärkeren Institutionalisierung des Arbeitskonflikts führen Zhu, S./Pickles, J. (2014): Bring in, go up, go west, go out: upgrading, regiona-
wird, bleibt fraglich. Der Parteistaat scheint derzeit wieder vermehrt auf lisation and delocalisation in China’s apparel production networks, in: Journal
Repression gegenüber unabhängigen Akteuren wie NGOs zu setzen, und of Contemporary Asia 44 (1), S. 36 – 63
die zögerlichen Reformversuche der Staatsgewerkschaften sind vorerst zum
Stillstand gekommen. Folglich sind weitere Streiks zu erwarten.
AUTOREN
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https://doi.org/10.5771/0342-300X-2016-6-436 443
Generiert durch IP '46.4.80.155', am 29.10.2021, 12:06:44.
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