Gerda Holz "Kinderarmut - Impulsvortrag, anlässlich des WSI-Herbstforums " Armut, Reichtum und Sozialstaat am 29./30.11.2007 in Berlin
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Gerda Holz „Kinderarmut Impulsvortrag, anlässlich des WSI-Herbstforums „ Armut, Reichtum und Sozialstaat am 29./30.11.2007 in Berlin
1. These Kinderarmut ist ein Massenphänomen in Deutschland und zunehmender Sprengstoff für unsere Gesellschaft.
Kinder ... arme Kinder .... Heutige Normalität ? In Deutschland ist von einer Armutsbetroffenheit bei jedem 4. Kind (unter 15 Jahre) auszugehen Sozialgeld = rd. 1,9 Mio. (08/2007) Sozialhilfe = rd. 19.000 (2005) Asylbewerberleistung = rd. 64.500 (2005) GESAMT = rd. 1,99 Mio. im Transferbezug Dunkelziffer Sozialgeld = rd. 0,9 Mio. (2006) (Berechnung Irene Becker = knapp 48 %) sind dem größten Armutsrisiko die jüngsten Altersgruppen ausgesetzt (d.h. Kinder von 0 bis unter 6 Jahre bzw. von 6 bis unter 10 Jahre) haben ca. 6 Mio. unter 25-Jährige einen Migrationshintergrund = 27,2 % (Knapp die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und ist nicht selbst zugewandert) 32,5 % der unter 6-Jährigen – davon wurden mehr als 90 % in Deutschland geboren Quellen: Statistisches Bundesamt: versch. Jahrgänge; Bundesagentur für Arbeit 2007, HBS-Impulse 8/2007
2. These Nicht jedes Kind ist von Armutsrisiken gleichermaßen betroffen – Soziale Ungleichheit wirkt bereits ab frühster Kindheit.
Zentrale Ursachen und Risiken Erwerbsprobleme, z.B. Migration (Langzeit-)Erwerbslosigkeit Niedrigeinkommen Alleinerziehend Working poor Hartz-IV-Bezug Bildung Sozialraum Soziale Probleme, z.B. Überschuldung „Kinderreiche“ Familien Trennung/Scheidung Behinderung/Krankheit Multiproblemlage
3. These Armut hat ein eigenes Kindergesicht und basiert auf Ressourcenmangel sowie defizitärer Lebenslagen? Das Kindergesicht der Armut ist konkret sichtbar und messbar.
Was ist Kinderarmut? Materiell (Kleidung, Wohnen, Nahrung, Partizipation u.a.) Sozial (Soziale Kompetenz, Eltern/ Kind Soziale Kontakte u.a.) Erwachsene Gesundheitlich (physisch und psychisch) Kulturell Was kommt beim Kind an ? (kognitive Entwicklung, Sprache, Bildung, kult. Kompetenzen u.a.) Lebenslage Kind Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation Quelle: Hock/Holz/Wüstendörfer 2000
Lebenslage von 6-Jährigen nach Armut – 1999 Anteil arm er und nicht-arm er Kinder m it Defiziten Lebenslagedim ension Arm e Kinder Nicht-arm e Kinder G rundversorgung 40,0 % 14,5 % (n = 220 arm ; 598 nicht-arm ) G esundheit 30,7 % 19,7 % (n = 225 arm ; 640 nicht-arm ) Kulturelle Lage 36,0 % 17,0 % (n = 223 arm ; 614 nicht-arm ) Soziale Lage 35,6 % 17,6 % (n = 219 arm ; 618 nicht-arm ) Auf- oder abgerundete Angaben Q uelle: „Arm ut im Vorschulalter“ 1999, Berechnungen des ISS
Lebenslage von 10-Jährigen nach familiärem Einkommensniveau – 2003/04 Lebenslagedimension Arme Nicht-arme Kinder Kinder Prekärer Unterer Oberer Wohlstand Durchschnitt Durchschnitt (< 50 %) (50 % – 75 %) (75 % – 100 %) (> 100 %) Materielle Lage/ 51,6 % 9,2 % 5,3 % 0,0 % Grundversorgung Kulturelle Lage 37,7 % 19,0 % 9,5 % 3,6 % Soziale Lage 34,6 % 16,0 % 15,8 % 3,6 % Gesundheitliche Lage 25,8 % 23,3 % 21,1 % 8,4 % N = 500 159 163 95 83 Quelle: „Armut im späten Grundschulalter 2003/04“; eigene Berechnung
Dynamik der kindbezogenen Lebenslagetypen bei den Kindern der AWO-ISS-Studie – 1999 und 2003/04 Lebenslagetyp 1999 Lebenslagetyp 2003/04 35 = (41,7 %) Multiple Deprivation 36 = (42,9 %) N = 84 13 = (15,5 %) 43 = (22,3 %) Benachteiligung 87 = (45,1 %) N = 193 63 = (32,7 %) 19 = (8,5 %) Wohlergehen 94 = (42,2 %) N = 223 110 = (49,3 %) Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“, „Armut im späten Grundschulalter 2003/04“. Berechnungen des ISS.
4. These Armut ist der größte Risikofaktor für die kindliche Entwicklung, wirkt ab frühster Kindheit und hat Langzeitfolgen. Es existieren aber genauso Schutzfaktoren, die es zu stärken gilt.
Bildungskarriere und Armut Der Zusammenhang von Sozialer Herkunft und Bildungschancen ist schon im KiTa-System angelegt und verfestigt sich im Schulsystem weiter. ungleiches Angebot, Zugangsrechte, Gebühren, ungleiche Ausstattung Bei armen Kindern im Vergleich zu nicht-armen Kindern ... ist ein früher und zeitlich umfassender KiTa-Besuch seltener sind zu frühe Einschulungen oder Rückstellungen häufiger sind Klassenwiederholungen häufiger sind die Durchschnittsnoten am Ende der Grundschule schlechter ist der Wechsel ins Gymnasium seltener, der Wechsel in Förder- und Hauptschulen jedoch häufiger
Hochschulzugang nach sozialer Herkunft Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung Mikrozensus 1996 und 2000; 17. Sozialerhebung 2003 und Studienanfänger-Befragung 2000, Berechungen des DSW
Schutzfaktoren für (arme) Kinder Sind Merkmale, die die potentiell schädlichen Auswirkungen von Belastungen vermindern oder ausgleichen Es finden sich zwei Gruppen von Schutzfaktoren Personale Ressourcen = Resilienz d.h. protektive Faktoren, die in der Person des Kindes liegen Soziale Ressourcen d.h. Schutzfaktoren, die in der Betreuungsumwelt des Kindes und hier wiederum – innerhalb der Familie – außerhalb der Familie liegen.
Was fördert das Aufwachsen von Kindern im Wohlergehen? Zu den Schutzfaktoren zählen u.a. Individuelle Faktoren, z.B Außerfamiliale Faktoren, z.B. Kognitive Ressourcen Unterstützung durch Dritte Selbstsicherheit, Selbstachtung (Familie, Freunde, Nachbarschaft) Individuelle soziale Kompetenzen Erholungsräume für Kinder + Eltern Interesse und Aufmerksamkeit Vertraute Institutionen/Fachkräfte, die professionelle Hilfen eröffnen Möglichkeit zum Erproben, Lernen und zur Familiale Faktoren, z.B. personalen Entwicklung von Kompetenzen Stabile und gute emotionale Beziehung zu (Vereine, Jugendhilfe) Eltern in den ersten Jahren Früher KiTa-Besuch Positives Familienklima Gelingende Schulische Integration Regelm. gemeins. Familienaktivitäten Schulische Förderung und Erfolge Kindzentrierter Alltag Gelingende soziale Integration in Peers Frühe Eigenverantwortung, aber Eltern als „moralische Instanz“ Problemlösungskompetenz der Eltern Keine Armut der Familie Gefühl der Eltern, ihre (Armuts-)Situation zu Ein ausreichendes Einkommen bewältigen Keine Überschuldung Berufstätigkeit der Eltern
5. These Kinderarmut kommt und geht nicht von allein. Erforderlich ist eine soziale Gegensteuerung. Den Handlungsansatz bietet eine „kindbezogene Armutsprävention“, die auf eine entsprechende Gestaltung von Rahmenbedingungen abzielt und bei der Förderung von individuellen Kompetenzen ansetzt.
Kindbezogene Armutsprävention … ist ein Konzept das kindzentriert, d.h. aus der Perspektive des Kindes, angelegt ist, das bei der Analyse und Stärkung der Ressourcen und Potenziale eines Kindes und auf allen gesellschaftlichen Ebenen ansetzt. zielt darauf ab, armen Kindern jene Entwicklungsbedingungen zu eröffnen, die ihnen ein Aufwachsen im Wohlergehen ermöglichen. ist ein komplexer sozialer und kinder-/jugendpolitischer Prozess, der ausdrücklich die Verbesserung von Lebensweisen (Handeln und Verhalten), Verbesserung von Lebensbedingungen (Verhältnisse, Strukturen, Kontexte), umfasst.
Die zwei entscheidenden Ebenen 1. Focus = Strukturelle Armutsprävention Veränderung von Verhältnissen durch armutsfeste Grundsicherung sowie umfassende und qualifizierte öffentliche Infrastruktur 2. Focus = Individuelle Förderung und Stärkung Veränderung von Verhalten/Handeln durch Angebote/Maßnahme über öffentliche Infrastruktur, individuelle Zeit und Kompetenz
Strukturelle Präventionsansätze zur Gesamtgestaltung von Lebensbedingungen von Kindern/Familien Arbeitsmarktpolitik Niedriglohn – Mindestlohn Niedrigeinkommen – Teilzeit, Minijobs, gering Qualifizierte Harzt IV - Regelungen Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer Familienfreundliche Unternehmen Flexible und verlässliche Betreuung Familien(sicherungs)modell Geschechtsspezifische Rollenaufteilung und Absicherung Staatliche(r) Familienförderung / Familienlastenausgleich Ehegatten- vs. Familiensplitting Rechte und Schutz von Kindern Eigenständige Grundsicherung Rechtsanspruch auf Hilfe bei Bedürftigkeit, auf Bildung, auf Gesundheit Kindeswohlsicherung Kindergelderhöhung und Ausbau der Infrastruktur für Kinder Kindergeld orientiert an tatsächlichen Kinderkosten Tageseinrichtungen für Kinder – Rechtsanspruch (ganztags, kostenfrei usw.) Schulen (ganztags, Bildungserfolg, Breiten- und/oder Begabtenförderung)
6. These Die Verantwortung zur Armutsprävention (bei Kindern) tragen alle, Politik und Staat, Wirtschaft und Bürgerschaft. Kinder sind private und öffentliche Verantwortung.
Forderungen für (arme) Kinder Kinder haben ein Recht auf eine eigene „armutsresistente“ Existenzabsicherung 9 u.a. Kinder in einkommensschwachen/armen Familien sind besser abzusichern Kindspezifische Bedarfe sind in allen Transfer- und Versorgungsbereichen systematisch und umfassend zu berücksichtigen 9 u.a. Reform von Harzt IV und Leistungserhöhung „Benachteiligung durch soziale Herkunft/Lage“ ist aktiv durch soziale Gegensteuerung zu verhindern 9 Zugangsrechte und Teilhabemöglichkeiten 9 Ausbau der qualifizierten Infrastruktur 9 Armutspräventionskette ab Geburt und bis zum erfolgreichen Berufseinstieg
FAZIT oder Was ist zu tun? Strukturelle Armutsprävention Individuelle Förderung und Stärkung (Arme) Kinder sind private und öffentliche Verantwortung!
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