Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen

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Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
Gletscherschwund und neue Seen in den
Schweizer Alpen
Perspektiven und Optionen im Bereich Naturgefahren und Wasserkraft

Wilfried Haeberli, Anton Schleiss, Andreas Linsbauer, Matthias Künzler, Michael Bütler

                                                                                              des noch verbleibenden alpinen Eisvolu-
                                     Zusammenfassung                                          mens bereits bis zur Jahrhundertmitte ab-
 Mit fortschreitendem Temperaturanstieg und Gletscherschwund bilden sich in Hoch-             schmelzen und auch grosse Gletscher in
 gebirgen weltweit viele neue Seen. Modellrechnungen zeigen, dass sich die heute              der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts
 noch existierenden Gletscher-Landschaften der Schweizer Alpen bei realistischen              bis auf kleine Reste verschwinden dürften
 Szenarien der Klimaentwicklung in den kommenden Jahrzehnten für wohl sehr lange              (z.B. Haeberli and Hoelzle 1995, Jouvet et
 Zeit zu Fels-Schutt-Seen-Landschaften mit stark erhöhter Abtragsdynamik verwan-              al., 2011, Huss, 2012). Das hochsommer-
 deln werden. Im Projekt NELAK (Neue Seen als Folge der Entgletscherung in den                liche Wasserangebot dürfte dadurch in
 Alpen) des Nationalen Forschungsprogramms 61 «Nachhaltige Wassernutzung»                     kontinentaler Dimension beeinflusst wer-
 werden Grundlagen für den Umgang mit dieser absehbaren Entwicklung erarbeitet.               den (Huss, 2011).
 Von besonderem Interesse sind im Hinblick auf die anstehenden Neukonzessionie-                       Als Folge der Gletscherschmelze
 rungen im Bereich der Wasserkraft dabei Synergiepotenziale von multifunktionalen             bilden sich neue Seen (Frey et al., 2010).
 Projekten für Energieproduktion, Sedimentrückhalt und Hochwasserschutz. Letzterer            Diese neuen Seen beschleunigen den Eis-
 betrifft vor allem die langfristig ansteigende Wahrscheinlichkeit von grosskalibrigen        zerfall noch zusätzlich. Jüngste Beispiele
 Sturzereignissen in Seen unmittelbar unterhalb von zunehmend eisfrei werdenden               aus der Schweiz sind der «Gletschersee»
 Steilflanken mit tendenziell abnehmender Stabilität. Komplexe Rechtsfragen stehen            beim «Unterer Grindelwaldgletscher», der
 an und eine frühzeitige Planung ist angezeigt                                                See am Triftgletscher, die neuen Seen auf
                                                                                              dem Glacier de la Plaine Morte, im Vorfeld
                                                                                              des Palü- und Gauligletschers (Bild 1) oder
1.      Einleitung                            et al., im Druck) verlieren die Gletscher der   der gegenwärtig rasch wachsende See an
Der Schwund der Gebirgsgletscher ist ein      Alpen gegenwärtig (2011) im Mittel jährlich     der Zunge des Rhonegletschers. Als Folge
weltweites Phänomen (WGMS 2008) und           etwa 40 km2 ihrer Fläche von noch rund          des fortgesetzten Gletscherschwundes
scheint mit zunehmender Geschwindigkeit       1800 km2 und etwa 2 km3 ihres Volumens          dürften innerhalb der nächsten Jahre und
abzulaufen (WGMS 2011). Dies ist primär       von noch rund 80 ± 20 km3. Die Intensität       Jahrzehnte zahlreiche weitere neue Seen
eine Folge des globalen Temperaturan-         der Schmelzprozesse führt dabei zuneh-          entstehen. Diese Seen stellen ein ernst zu
stiegs, der wiederum immer stärker durch      mend zu Zerfallserscheinungen des Eises.        nehmendes Gefahrenpotenzial dar (Künz-
Einflüsse des Menschen (v.a. Treibhaus-       Modellrechnungen verschiedener Kom-             ler et al., 2010, Schaub et al., im Druck),
gase) auf den Strahlungshaushalt der Erde     plexität für realistische Szenarien weiterer    eröffnen gleichzeitig aber auch neue Per-
gesteuert wird. Nach den neuesten Hoch-       Erwärmung ergeben seit vielen Jahren            spektiven für die Wasserkraft (Terrier et
rechnungen (Haeberli et al., im Druck; Paul   übereinstimmend, dass wesentliche Teile         al., 2010) und den Tourismus (Müller et

Bild 1. Gauligletscher mit dem entstehenden See im Vorfeld, aufgenommen vom südlichen Seeufer (Foto: Bruno Petroni,
«Wasser Energie Luft» – 104. Jahrgang, 2012, Heft 2, CH-5401 Baden                                                 93
August 2009, Quelle: swisseduc.ch).
Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
al., im Druck), wobei komplexe Rechtsfra-    gralen Analyse, hier speziell im Hinblick     2009) oder empirischen Schubspannungs-
gen entstehen. Das Projekt NELAK1 (New       auf Möglichkeiten der Kombination von         werte als Funktion des durch die Höhener-
lakes in deglaciating high-mountain areas:   Hochwasserschutz und Wasserkraft. We-         streckung des Gletschers beeinflussten
climate-related development and challen-     sentliche Vorarbeiten wurden bereits im       Massenumsatzes verwendet (Linsbauer et
ges for sustainable use) des Nationalen      Rahmen der Projekte «Klimaänderung und        al., 2009). Weil die Komponenten des Glet-
Forschungsprogramms 61 «Nachhaltige          Wasserkraft» (vgl. Beiträge in WEL 4-2011)    scherfliessens (Eisdeformation und ba-
Wassernutzung» erarbeitet in interdiszi-     sowie «Klimaänderung und Hydrologie»          sales Gleiten) nicht realistisch quantifiziert
plinärer Zusammenarbeit und in engem         (CCHydro)2 geleistet.                         werden können, sind die absoluten Werte
Kontakt mit Institutionen der Politik, der                                                 der so geschätzten Eisdicken mit Unsi-
Privatwirtschaft und betroffener NGOs        2.      Neue Seen                             cherheiten von rund ± 20–30% behaftet.
eine entsprechende Wissensbasis als Ent-     Digitale Geländemodelle ermöglichten es       Die daraus berechneten räumlichen Muster
scheidungsgrundlage für die zukünftige       in den letzten Jahren, Eisdicken für Ge-      von Eisdicken und entsprechenden Glet-
Planung. Der Gesamtbericht soll im Jahr      birgsgletscher detailliert zu berechnen. Im   scherbett-Topographien sind jedoch pri-
2012 publiziert werden. Im vorliegenden      Prinzip basieren die verwendeten Ansätze      mär über die basalen Schubspannungen
Artikel werden zentrale Aspekte der Na-      auf einer vereinfachten Inversion des Eis-    mit der in den Geländemodellen enthal-
turgefahren und der Wasserkraft heraus-      Fliessgesetzes (Spannung als Funktion         tenen Oberflächenneigung verknüpft und
gegriffen. Die gemeinsame Betrachtung        von Massenumsatz und Fliessen). Dabei         daher robust. Mit dem GIS-basierten An-
dieser beiden Aspekte zeigt die Vorteile     werden die über Oberflächenprozesse           satz von Linsbauer et al. (2009) wurde ein
der im Projekt NELAK angestrebten inte-      geschätzten Massenflüsse (Farinotti et al.    digitales Geländemodell der gesamten
                                                                                           Schweizer Alpen «ohne Gletscher» erstellt.
                                                                                           Dieses Geländemodell enthält im Bereich
                                                                                           der heutigen Gletscherbetten 500–600 ge-
                                                                                           schlossene Depressionen oder «Übertie-
                                                                                           fungen» mit einer Gesamtfläche von rund
                                                                                           50–60 km2, in denen sich in absehbarer
                                                                                           Zukunft Seen bilden könnten (Bild 2). Die
                                                                                           grössten Durchschnittstiefen solch poten-
                                                                                           zieller Seen liegen bei 100 m, die meisten
                                                                                           potenziellen Seen sind jedoch im Schnitt
                                                                                           weniger als 50 m tief. Rund ein Drittel aller
                                                                                           Übertiefungen weist ein Volumen von über
                                                                                           1 Mio m3 auf, etwa 40 haben ein Volumen
                                                                                           von über 10 Mio m3 und potenzielle Seen
                                                                                           mit Volumen über 50 Mio m3 sind bei den
                                                                                           Gletschern Aletsch, Gorner, Otemma,
                                                                                           Corbassière, Gauli und Plaine Morte zu er-
                                                                                           warten. Im verkarsteten Gebiet der Plaine
                                                                                           Morte ist eine langfristige Seebildung frag-
Bild 2. Modellierte Übertiefungen (~ potenzielle Seen) in den heute eisbedeckten           lich. Das Gesamtvolumen der potenziellen
Gletscherbetten der Schweiz. Die Übertiefungen sind klassifiziert nach ihrem Volumen       Seen beträgt etwa 2 km3 oder rund 3% des
(Kreisgrösse) und dem erwarteten Zeitpunkt ihrer Freilegung (Kreisfarbe). Übertiefun-      heutigen Gletschervolumens der Schweiz.
gen mit einem Volumen < 1 Mio m3 sind nicht dargestellt. Modell und Berechnung:            Die entsprechende Wassermenge liegt in
Linsbauer et al. (2009). Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).            der gleichen Grössenordnung wie ein jähr-

Bild 3a, links. Kavernenbildung infolge subglazialer Ablation durch einen Schmelzwasserbach am Gletscherbett unter der Zunge
des Morteratschgletschers. (Foto: Jürg Alean, Februar 2009, Quelle: swisseduc.ch). Bild 3b, rechts. Kollaps-Erscheinung am Stein-
gletscher (Foto: Esther Peguiron, Institut de Géologie, Université de Neuchâtel, September 2004).

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Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
licher Gletscherabfluss bei heute typisch
negativer Massenbilanz (Eisdickenverlust)
von rund 1 m/Jahr. Offen bleiben die Fra-
gen, ob allenfalls schluchtartige Entwäs-
serungsrinnen vorhanden sind und wie
schnell vor allem seichte Seen mit Sedi-
menten gefüllt würden. Das Modellresultat
entspricht in diesem Sinn wohl eher einer
Maximalvariante der möglicherweise ent-
stehenden Seen. Am Gletscherrand mo-
dellierte Seen müssen mit besonderer
Vorsicht interpretiert werden, da es dort
wegen der problematischen Neigungsbe-
stimmung zu Modellartefakten kommen
kann (Paul und Linsbauer, 2012).
        Die zur Verfügung stehende Pla-
nungszeit bis zur allfälligen Entstehung der
neuen Seen muss mit plausiblen Szenarien
des Gletscherschwundes abgeschätzt
werden. Damit verbunden ist eine ganze         Bild 4. Abflusskurve beim Ausbruch des temporären Gletschersees am Unteren Grin-
Kette von Unsicherheiten hinsichtlich der      delwaldgletscher vom 30. Mai 2008. Die progressive Erweiterung des Abflusskanals im
natürlichen Klimaschwankungen, der zu-         Eis-/Felstrümmerdamm ist mit mehreren plötzlichen Durchbrüchen nach vorüberge-
künftigen Treibhausgas-Emissionen, der         hendem Rückstau kombiniert. (Diagramm: Nils Hählen, Oberingenieurkreis I Kanton
Reaktion des Klimas auf veränderte Treib-      Bern, 2008).
hausgaskonzentrationen und der Reak-
tion der Gletscher auf sich verändernde
Klimabedingungen. Vereinfacht werden
oft Temperatureffekte für die Entwicklung
der Gletschermasse betrachtet (z.B. Oerle-
mans, 2001, 2005). Da die Lufttemperatur
tatsächlich alle Faktoren der Energie- und
Massenbilanz – über die Schnee/Regen-
grenze auch die Akkumulation – beeinflusst
(Ohmura, 2001), liefern solche Näherungen
erster Ordnung bereits entscheidende In-
formation. Bei einem Temperaturanstieg
von mehreren °C spielen beispielsweise
Veränderungen des Niederschlags nur
noch eine untergeordnete Rolle (Zemp et
al., 2006). Neben der Frage nach der an-
zunehmenden Klimaentwicklung sind bei
langfristigen Abschätzungen des Glet-
scherschwundes Unsicherheiten der be-
rechneten Gletscherszenarien primär
durch Schwierigkeiten der Parametrisie-
rung – vor allem der nur grob geschätzten
Eisdicke, der Akkumulation von Schnee
und der Veränderung der Albedo – gege-
ben. Die durch Staubeintrag seit 2003 ein-
getretene massive Reduktion der Albedo
an den Oberflächen der Alpengletscher
(Paul et al., 2005; Oerlemans et al., 2009)
dürfte nachhaltig sein und die Energiebi-
lanz gegenüber früheren Bedingungen für
viele Jahre wenn nicht Jahrzehnte stark ver-
ändern. Weitere selbstverstärkende Rück-
koppelungsprozesse werden beobachtet
(Paul et al., 2007): die neuen Seen selber
können infolge ihrer niedrigen Albedo          Bild 5a, oben. Jährliches Zuflussvolumen in den Mauvoisin-Stausee (gemittelt über
und ihrer Fähigkeit zur Erwärmung über         fünf Jahre) gemäss verschiedenen Klimaszenarien.
0 °C mit effizienten Zirkulationsprozessen     Bild 5b, unten. Hydraulisches Regime des Mauvoisin-Zuflusses (gemittelt über fünf
und Kalbungsvorgängen am Eisrand die           Jahre) für das Szenario ETHZ.

«Wasser Energie Luft» – 104. Jahrgang, 2012, Heft 2, CH-5401 Baden                                                                 95
Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
Schwundprozesse drastisch beschleuni-                 In Anbetracht der mit den Szenarien     nimmt aber mit wachsender Anzahl neuer
gen. Wenn der Dickenschwund der Glet-         des Gletscherschwundes verbundenen              Seen und weiter schwindendem Eis zu. Vor
scher schneller ist als die Längenänderung    Unsicherheiten wird der Zeitraum der neu        allem wird diese Gefahr voraussichtlich für
durch den Rückzug der Zunge, verstärken       entstehenden Seen nicht in Jahreszahlen         viele Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahr-
sich subglaziale Schmelzprozesse durch        sondern in Worten ausgedrückt, nämlich          hunderte andauern. Man kann die neuen
Kavernenbildung (Bild 3a) und Eindringen      «bevorstehend», «in der ersten Hälfte des       Seen deshalb nicht einfach sich selber
von Warmluft im Sommer, was zu beschleu-      21. Jahrhunderts» und «nach der Jahrhun-        überlassen. Die Gefahr von vermehrten
nigendem Einsinken der Oberfläche und zu      dertmitte». Ausschlaggebend sind dabei          Bergstürzen und Seeausbrüchen wie auch
Kollaps-Erscheinungen (Bild 3b) des Eises     die maximalen und minimalen Schwundra-          die Möglichkeit des Hochwasserschutzes
führen kann. Entgegengesetzt – also den       ten aus den oben geschilderten Modellan-        durch Retentions-Massnahmen müssen
Eisschwund verlangsamend – wirkt die bei      sätzen. Aus Bild 2 wird deutlich, dass ein      insbesondere auch im Zusammenhang
abnehmender Gletscherfläche und eisfrei       wesentlicher Teil der neuen Seen bereits in     mit dem weiteren Betrieb oder Ausbau von
werdenden Felsflanken tendenziell zuneh-      den kommenden Jahrzehnten entstehen             Kraftwerken im Hochgebirge berücksich-
mende Schuttbedeckung. Mit dem Absin-         dürfte.                                         tigt werden.
ken der Gletscheroberfläche erhöht sich ei-                                                            Flutwellen und Murgänge als Folge
nerseits die Lufttemperatur und damit der     3.      Das Gefahrenpotenzial                   von Seeausbrüchen im Hochgebirge kön-
Schmelzvorgang an der Gletscherober-                  neuer Seen                              nen über grosse Distanzen schwere Schä-
fläche, andererseits kann sich aber auch      Mit fortgesetztem Gletscherrückgang bil-        den anrichten. Hochwasserabflüsse aus
der Schattenwurf umliegender Berge ver-       den sich die neuen Seen mehr und mehr           entsprechenden Grossereignissen können
stärken. Die Summe der Effekte muss für       am Fuss von extrem steilen und oft ver-         dabei das Ausmass von Niederschlags-
jeden Gletscher individuell betrachtet wer-   eisten Bergflanken. Die Stabilität dieser       hochwassern bei weitem übersteigen und
den, wirkt sich aber insgesamt wohl deut-     Steilflanken nimmt mit dem Eisschwund           den Charakter von Flutwellen und Murgän-
lich beschleunigend auf den Eisschwund        langfristig ab, was zu grosskalibrigen Sturz-   gen nach Dammbrüchen annehmen, wie
aus. Effekte verzögerter Reaktion hängen      ereignissen mit weit reichender Schwall-        sie im Rahmen von Sicherheitsbetrach-
primär mit der latenten Energie des Eises     und Flutwellenbildung in Seen führen kann       tungen für künstliche Stauseen in Betracht
zusammen und spielen bei grossen Glet-        (Haeberli and Hohmann, 2008). Die Wahr-         gezogen werden. Da der Alpenraum einem
schern und relativ kurzen Zeitintervallen     scheinlichkeit solch potenzieller Katastro-     grossen Siedlungsdruck unterworfen ist,
(wenige Jahrzehnte) eine Rolle.               phen mag derzeit noch klein erscheinen,         befinden sich Bevölkerung und Infrastruk-
                                                                                              tur oft unweit potenziell gefährlicher Seen.
                                                                                              Um entsprechende Gefahrenpotenzi-
                                                                                              ale und Risiken abzuschätzen, müssen
                                                                                              komplexe Situationen und Prozessketten
                                                                                              für Bedingungen weit jenseits des histo-
                                                                                              rischen Erfahrungsbereiches in integrativer
                                                                                              Art erfasst und nach Möglichkeit quantita-
                                                                                              tiv modelliert werden. In der Schweiz ist zu
                                                                                              dieser Problematik eine international an-
                                                                                              erkannte Wissensbasis erarbeitet worden.
                                                                                              Neuere Übersichten dazu geben Haeberli
                                                                                              et al. (2007, 2010), Huggel et al. (2004) oder
                                                                                              Kääb et al. (2005a, b). Zeitlich rückwärts
                                                                                              orientierte und einseitig auf Gletscher ein-
                                                                                              geengte Konzepte (Raymond et al., 2003)
                                                                                              sind hier nicht zielführend.
                                                                                                       Ausbrüche von Hochgebirgsseen
                                                                                              können durch verschiedene Kombinati-
                                                                                              onen von Dispositions- und Auslösepro-
                                                                                              zessen verursacht werden (Haeberli, 2010).
                                                                                              Seen mit massiven Gletscherdämmen bre-
                                                                                              chen «hydraulisch» durch Anhebung der
                                                                                              Eisbarriere und progressive Erweiterung
                                                                                              von Kanälen im oder unter dem Eis aus. Bei
                                                                                              Eistrümmerdämmen von Eislawinen kann
                                                                                              es auch zu «mechanischem» Bruch mit
                                                                                              plötzlichen und besonders hohen Abfluss-
                                                                                              Spitzen kommen. Kombinationen der bei-
                                                                                              den Ausbruchsarten sind ebenfalls möglich
Bild 6a, oben. Übersichtskarte des potenziellen neuen Stausee im Vorfeld des Glacier          (Bild 4). Breschenbildung und rasche Ent-
du Corbassière mit dem möglichen Pumpspeicherwerk zur Verbindung mit dem Stau-                leerung von moränengestauten Seen kann
see Mauvoisin. Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).                         durch progressiven Grundwasserfluss (pi-
Bild 6b, unten. Profil entlang des möglichen Pumpspeicherwerkes zwischen Glacier du           ping), rückschreitende Erosion am Über-
Corbassière und Stausee Mauvoisin.                                                            lauf oder instabile Steilböschungen der

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Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
Dammflanken ausgelöst werden, wobei all          Gruber and Haeberli, 2007; Haeberli et al.,   testen reichende Schadenpotenzial wohl
diese Phänome bei hohem Wasserspiegel            1997; Harris et al., 2009; Huggel, 2009).     mit grossen Stürzen in Seen am Fuss von
zusammenspielen können. Grundsätzlich            Die komplexen thermischen Bedingungen         Steilflanken verbunden.
können alle Seen innerhalb der Reichweite        hochalpiner Gipfel können in entspre-                 Für die Gefahrenprävention steht
von Eis-, Fels- und Bergstürzen oder Morä-       chenden Rechenmodellen der Wärmedif-          in der Schweiz bereits heute eine ganze
neninstabilitäten als Folge entsprechender       fusion in ihren wesentlichen Zügen simu-      Palette möglicher Massnahmen zur Ver-
Impulse überschwappen oder sogar ganz            liert werden (Noetzli and Gruber, 2009) und   fügung (vgl. Berichte der Nationalen Platt-
ausgepresst werden. Prozesse der Hang-           mögliche Sturzbahnen können mit Modell-       form Naturgefahren PLANAT5). Diese
Destabilisierung sind mit Erwärmungsten-         rechnungen abgeschätzt werden (Noetzli        Palette reicht von der visuellen Beo-
denzen verbunden (a) über die Span-              et al., 2006; Romstad et al., 2009, Schnei-   bachtung bis zur instrumentierten Über-
nungsumverteilung nach abnehmender               der, 2011). Auf internationaler Ebene de-     wachung/Frühwarnung, vom passiven
Stützwirkung durch Gletscher (z.B. Sturz         finierte der International Working Group      Schutz durch Freihalten von gefährdeten
in der Eiger-Ostflanke nach massivem             on Glacier and Permafrost Hazards4 (GA-       Zonen oder kurzfristiger Evakuation bis zu
Gletscherschwund) und (b) über die Erwär-        PHAZ) der International Association of Cry-   baulichen Eingriffen (Überflutungsschutz,
mung, den Eisverlust und die zunehmende          ospheric Sciences (IACS/IUGG) und der         Retention). Retentionsmöglichkeiten als
Durchlässigkeit für Wasser des wärmer            International Permafrost Association (IPA)    langfristige Schutzmassnahme sind im Zu-
werdenden Permafrostes. In letzter Zeit          grundsätzliche Prinzipien und Standards       sammenhang mit dem Kraftwerksbetrieb
scheinen sich im Permafrost-Bereich des          bei der Behandlung solcher Probleme.          besonders interessant.
Hochgebirges grosse Sturz-Ereignisse mit                  Mögliche Ausbruchsmechanismen
Volumina über 105 bis 106 m3 zu häufen           und entsprechende Schadenpotenziale           4.      Wasserkraft
(Fischer et al., 2012). Das jüngste Ereig-       sind Veränderungen in der Zeit unterwor-      Die Wasserkraft ist der Hauptpfeiler der
nis wurde am Pizzo Cengalo3, Bergell, am         fen. Von den grossen Moränen der kühleren     schweizerischen Elektrizitätsversorgung
27. Dezember 2011 beobachtet und hatte           nacheiszeitlichen Perioden haben sich die     und wird auch in Zukunft die wichtigste
ein Volumen von 2–3 Millionen m3, das            rasch reagierenden Alpengletscher be-         und effizienteste erneuerbare Energie in
durchaus vergleichbar ist mit dem Volu-          reits zurückgezogen. Brüche von Morä-         der Schweiz bleiben. Mit dem Rückzug
men vieler neu entstehender Seen. Neben          nendämmen stehen deshalb weniger im           der Gletscher verändern sich die Zuflüsse
der geologischen Beschaffenheit und der          Vordergrund der Betrachtung. Eisdämme         zu den Stauseen. Seit etwa 30–40 Jahren
Neigung ist der Eisschwund nur ein Ein-          können bei Seen lokal bedeutend sein, die     sind die Zuflüsse zu den Stauseen ange-
fluss in der für längerfristige Hanginstabili-   sich an Gletscheroberflächen bilden: z.B.     wachsen. Dieser Trend wird dank der Glet-
täten im Hochgebirge massgeblichen Fak-          Grindelwald (Werder et al., 2010), der Lago   scherschmelze je nach Klimaszenarien in
torenkombination. Er ist jedoch derjenige        Effimero am Ghiacciao del Belvedere, Ma-      den nächsten 10 bis 30 Jahren anhalten.
Faktor, der sich zurzeit am schnellsten und      cugnaga/Italien (Kääb et al., 2004), der      Anschliessend werden die Zuflüsse mit
massivsten ändert. Eine Abschätzung des          Lac de Rochemelon in Frankreich (Vin-         dem fortschreitenden Verschwinden der
Gefahrenpotenzials durch einen grossvo-          cent et al., 2010), oder die neuen Seen auf   Gletscher stark und längerfristig irreversi-
lumigen Sturz muss versuchen, kritische          der Plaine Morte. Sie dürften wegen des       bel abnehmen (Bild 5). Die dabei neu ent-
Faktorenkombinationen zu definieren.             generellen Gletscherschwundes in den          stehenden Seen, welche höher als die be-
Eine rasch zunehmende wissenschaftliche          kommenden Jahrzehnten jedoch eine             stehenden Stauseen liegen, könnten mit-
Literatur liefert dazu wichtige Grundlagen       sukzessiv kleiner werdende Rolle spielen.     helfen, die heutige Stromproduktion aus
(Davies et al., 2001; Fischer et al., 2010;      Auf die Dauer ist das grösste und am wei-     Wasserkraft aufrecht zu erhalten. Durch
                                                                                               den Bau von neuen Talsperren kann das
                                                                                               Volumen dieser natürlichen Seen ver-
                                                                                               grössert werden und zur Produktion von
                                                                                               Spitzenenergie aber auch zu Pumpspei-
                                                                                               cherung von temporär überschüssiger
                                                                                               Wind- und Sonnenenergie verwendet
                                                                                               werden. Die Speicherfunktion der beste-
                                                                                               henden und zukünftigen Stauseen ist für
                                                                                               den Wasserhaushalt in der Schweiz von
                                                                                               grösster Bedeutung, da diese nach dem
                                                                                               Abschmelzen der Gletscher deren Spei-
                                                                                               cherfunktion übernehmen müssen. Neben
                                                                                               der sicheren Stromversorgung werden die
                                                                                               Stauseen zukünftig vermehrt zur Anreiche-
                                                                                               rung der Gewässer in lang andauernden
                                                                                               Trockenperioden sowie zum Hochwas-
                                                                                               serschutz beitragen müssen. Die Gefahr
                                                                                               von unkontrollierten Ausbrüchen sowie
                                                                                               das Überschwappen bei Felsstürzen und
Bild 7. Übersichtskarte des potenziellen neuen Stausees im Vorfeld des Gauliglet-              Erdrutschen in diese neu entstandenen
schers mit dem möglichen Speicherkraftwerk zur Verbindung mit dem Grimselsee                   Gletscherseen kann mit dem Bau von Tal-
(Option B) oder der möglichen Überleitung des Wassers (Option A) in den Grimselsee.            sperren reduziert werden, welche kontrol-
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).                                         lierte Überläufe sowie genügend Freibord

«Wasser Energie Luft» – 104. Jahrgang, 2012, Heft 2, CH-5401 Baden                                                                      97
Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
gegen Impulswellen haben. In diesem
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                                                                                         Mehrzweck- und Synergieprojekte sein.
                                                                                         Nicht zuletzt müssen die neuen Stauseen
                                                                                         so konzipiert sein, dass sie auch die ver-
                                                                                         stärkte Sedimentzufuhr nach Abschmel-
                                                                                         zen der Gletscher mit entsprechenden
                                                                                         Spülvorrichtungen beherrschen können.
                                                                                                 An zwei Fallstudien wurde das en-
                                                                                         ergiewirtschaftliche Potenzial der neuen
                                                                                         Gletscherseen untersucht. Dabei wurden
                                                                                         die Einzugsgebiete mit allen bestehenden
                                                                                         und zukünftigen Anlagen in einem hydrolo-
                                                                                         gisch-hydraulischen Abflussmodell (Rou-
                                                                                         ting System 3.0) nachgebildet. Nach einer
                                                                                         Eichung mit Messungen der Abflüsse und
                                                                                         der Gletscherentwicklung für die letzten
                                                                                         rund 30 Jahre wurden vier verschiedene
                                                                                         Klimaszenarien simuliert. Für die Energie-
                                                                                         produktion wurde ein spezielles Simula-
                                                                                         tionsmodul entwickelt, welches basie-
                                                                                         rend auf den Spotmarktpreisen (EEX) die
                                                                                         Stromproduktion unter bestimmten Rand-
                                                                                         bedingungen wie Speicherinhaltsentwick-
                                                                                         lung wirtschaftlich optimiert. Sich selbst
                                                                                         verstärkende Rückkoppelungseffekte wie
                                                                                         etwa die in jüngsten Jahren eingetretene
                                                                                         Albedo-Reduktion der Gletscheroberflä-
Bild 8a, oben. Übersichtskarte des aufgestauten Triftsees mit dem möglichen Speicher-    chen oder die zunehmende subglaziale
kraftwerk. Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).                        Ablation sind noch nicht berücksichtigt.
Bild 8b, unten. Profil entlang des möglichen Speicherkraftwerkes zwischen Triftsee       Der Gletscherschwund könnte in Wirklich-
und Innertkirchen.                                                                       keit deshalb auch dramatischer ausfallen.
                                                                                                 Im Fallbeispiel Mauvoisin hat sich
                                                                                         gezeigt, dass ein neuer See «Corbas-
                                                                                         sière» mit einer relativ kleinen Staumauer
                                                                                         zu einem bedeutenden Speicher von
                                                                                         rund 50 Mio m3 Inhalt aufgestaut werden
                                                                                         könnte. Neben der zusätzlichen Saison-
                                                                                         speicherung kann die Gefällsstufe von
                                                                                         durchschnittlich 600 m für ein Pumpspei-
                                                                                         cherwerk von 500 MW genutzt werden
                                                                                         (Bild 6). Dieses Pumpspeicherkraftwerk
                                                                                         Mauvoisin-Corbassière wäre bereits bei
                                                                                         den heutigen Strompreisen wirtschaftlich
                                                                                         und würde die bestehenden Anlagen ener-
                                                                                         giewirtschaftlich erheblich aufwerten.
                                                                                                 Beim Kraftwerkskomplex Ober-
                                                                                         hasli (KWO) geht es um zwei neue Seen bei
                                                                                         den Gletschern Gauli und Trift. Der Gauli-
                                                                                         see müsste mit einer kleinen Mauer gesi-
                                                                                         chert werden. Das Wasser könnte direkt
                                                                                         mit einem neuen Kraftwerk in den beste-
                                                                                         henden Grimselstausee turbiniert werden
                                                                                         (Bild 7). Beim neuen Triftsee erweist sich
                                                                                         als wirtschaftlichstes Projekt der Bau einer
                                                                                         110 m hohen Talsperre mit einem Stausee
                                                                                         von 105 Mio m3 Inhalt. Das Wasser könnte
                                                                                         zur Erzeugung von Spitzenenergie in einer
                                                                                         neuen Zentrale bei Innertkirchen turbiniert
                                                                                         werden (Bild 8). Mit einer Beileitung des
Bild 9. Blick auf den «Unteren Grindelwaldgletscher» mit dem Fiescherhorn im Hinter-     Wassers aus dem Steingletscher könnte
grund (Foto: Wilfried Haeberli, 2009).                                                   der Zufluss zum neuen Triftsee noch er-

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Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
höht werden. Die beiden Anlagen könnten       den, kann die geschädigte Person den fi-        vor Gefahren, zur Stromproduktion oder für
die regulierbare Leistung bei den KWO         nanziellen Schaden zivilrechtlich evt. auf      den Tourismus geplant, sind Interessen-
um insgesamt 500 MW erhöhen. Sie wür-         eine haftpflichtige Person bzw. Behörde         konflikte zwischen Nutzung und Schutz zu
den auch die Energiewirtschaftlichkeit der    überwälzen. Dazu müssen die Vorausset-          beachten. Vorgängig ist eine eingehende
heutigen Anlagen sowie diejenigen des ge-     zungen spezieller Haftungsnormen (z.B.          Analyse der tatsächlichen und rechtlichen
planten Ausbaues KWO plus verbessern.         allgemeine Verschuldenshaftung, Haftung         Voraussetzungen zu empfehlen, um Pro-
                                              des Werkeigentümers bei Werkmängeln,            bleme und mögliche Konflikte rechtzeitig
5.      Rechtliche Fragen                     Vertragshaftung oder Staatshaftung) er-         zu erkennen bzw. zu verkleinern. In recht-
Die mit Gletscherseen verbundenen Ge-         füllt sein. Auch pflichtwidriges Untätigblei-   licher Hinsicht sind die gesetzlichen Vor-
fahren (Flutwellen, Hochwasser, Mur-          ben (Unterlassung) vermag beim Vorliegen        gaben der Raumplanung, des Natur- und
gänge) werfen die Frage auf, wer für          einer Rechtspflicht (Garantenstellung)          Heimatschutzes, des Gewässer- und Um-
Schutzmassnahmen zugunsten von Be-            haftungsrechtliche Konsequenzen auszu-          weltschutzes, des Wasser- und Transport-
völkerung, Siedlungen und Infrastrukturen     lösen. Ein allfälliges Selbstverschulden des    rechts massgeblich. Für grosse Bauvorha-
verantwortlich ist. Die Rechtsgrundlagen      Geschädigten führt mindestens zu einer          ben mit überörtlicher Bedeutung besteht
zu den Naturgefahren sind uneinheitlich       Reduktion des Schadenersatzes. Verlet-          eine Planungspflicht (auf Ebene Richtpla-
und zersplittert. Massgebend ist vorlie-      zungen der Sorgfaltspflicht können auch         nung bzw. Nutzungsplanung). Kleinere
gend die Wasserbau- und Waldgesetz-           strafrechtliche Sanktionen (z.B. Busse,         Bauprojekte ausserhalb der Bauzonen er-
gebung. Nicht ausdrücklich gesetzlich         Freiheitsstrafe) nach sich ziehen.              fordern eine Ausnahmebewilligung, wel-
verankert ist das heute angewendete in-                Werden im Bereich von Gletscher-       che Standortgebundenheit und eine um-
tegrale Risikomanagement (Prävention,         seen bauliche Massnahmen zum Schutz             fassende Interessenabwägung bedingt.
Intervention, Wiederinstandstellung). Pri-
oritär sind raumplanerische, sekundär
bauliche Massnahmen. Die zuständigen
Behörden haben Ereigniskataster und
Gefahrenkarten zu erstellen, nach Objekt-
kategorien abgestufte Schutzziele zu defi-
nieren sowie Mess- und Frühwarnsysteme
einzurichten. Entsprechende Erkenntnisse
sind in der Richt- und Nutzungsplanung
von Kantonen und Gemeinden zu berück-
sichtigen. Dies geschieht mittels verschie-
dener Gefahrenzonen (Verbots-, Gebots-
und Hinweiszone) und Vorschriften in den
Bau- und Zonenreglementen. Um vorhan-
dene Hochwassergefahren zu reduzieren,
müssen die Gewässerräume ausgeweitet,
Abflusskorridore freigehalten und Rück-       Bild 10. Überblick über die Region um den Aletschgletscher. Dargestellt sind die mo-
halteräume geschaffen werden. Je nach         dellierten Gletscherbetten (die Gletscher vollständig entfernt) mit den darin detektier-
Umständen dürfen lokal keine Bauzonen         ten Übertiefungen (potenzielle zukünftige Seen). Reproduziert mit Bewilligung von
ausgeschieden werden, sind Rück- oder         swisstopo (BA110005).
Auszonungen vorzunehmen bzw. Nut-
zungsbeschränkungen oder Auflagen zu
verfügen. Bauliche Schutzmassnahmen
setzen voraus, dass deren Errichtung für
die Behörden zumutbar ist und dass öko-
logische Anforderungen eingehalten wer-
den.
        Den Betreibern von Stauanlagen
obliegen speziell geregelte Sorgfalts-
pflichten. Die offiziellen Kategorien von
Wanderwegen sind so anzulegen und zu
unterhalten, dass Wandernde vor über-
raschenden, fallenartigen Gefahren ge-
schützt sind. Schutzmassnahmen müs-
sen zumutbar sein. Sie können nur verlangt
werden, wenn die Gefahr den verantwort-
lichen Behörden und Organisationen be-
kannt war bzw. sein musste. Die Eigenver-
antwortung spielt gerade auf Wanderwe-
gen eine wichtige Rolle.                      Bild 11. Die modellierten Gletscherbetten der Region Mattmark. In der Bildmitte das
        Ereignen sich im Zusammenhang         Bett des Allalingletschers mit zwei grösseren modellierten Übertiefungen (potenzielle
mit Gletscherseen Unfälle oder Schä-          Seen). Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).

«Wasser Energie Luft» – 104. Jahrgang, 2012, Heft 2, CH-5401 Baden                                                                   99
Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
Steilflanken mit Hängegletschern ausdeh-
                                                                                             nen (Bild 9). Später werden wohl weitere
                                                                                             Seen in grösserer Höhe und ebenfalls un-
                                                                                             terhalb grosser Steilflanken entstehen.
                                                                                             Das Gefahrenpotenzial wird sich dadurch
                                                                                             langfristig erhalten oder sogar steigern. Mit
                                                                                             dem Ausbau (tiefere Niveaus) des bereits
                                                                                             erstellten Entwässerungsstollens kann
                                                                                             dieser Entwicklung begegnet werden.
                                                                                                     Die grössten beiden neuen Seen
                                                                                             mit Flächen von je etwa 2 km2 könnten
                                                                                             um die Jahrhundertmitte am Aletsch-
                                                                                             gletscher entstehen (Bild 10). Diese Seen
                                                                                             kommen in die Nähe grosser Steilflanken
                                                                                             zu liegen. Im Auslaufbereich möglicher
                                                                                             Flutwellen liegt eine Stadt (Brig), die Seen
                                                                                             können deshalb nicht einfach sich selber
                                                                                             überlassen werden. Retentionsmöglich-
                                                                                             keiten bestehen aber bereits heute mit
Bild 12. Die modellierten Gletscherbetten der Monte-Rosa-Region. Der potenzielle             dem Gebidem-Stausee. Die Situation ist
Gorner-Stausee würde sich an der Stelle der heutigen Zunge des Gornergletschers              vor allem auch deshalb sehr speziell, weil
befinden, nicht weit oberhalb von Zermatt zwischen Gornergrat und Kleinem Matte-             der Aletschgletscher als grösster, in den
rhorn. Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA110005).                                kommenden Jahrzehnten jedoch wohl zu-
                                                                                             nehmend zerfallender Alpengletscher zen-
Die Nutzung von Gletscherseen für die         Ganz besonders gilt dies für kombinierte       traler Teil des UNESCO Welt-Naturerbes
Wasserkraft setzt die Erteilung von was-      Projekte hinsichtlich Hochwasserschutz,        Jungfrau-Aletsch ist. Eine Vergrösserung
serrechtlichen Konzessionen und einer ge-     Wasserkraft, Wasserversorgung und Tou-         des Gebidem-Stausees könnte allenfalls in
wässerschutzrechtlichen Bewilligung zur       rismus. Die bevorstehenden Neukonzessi-        Betracht gezogen werden, wobei die stark
Wasserentnahme (Restwassermengen)             onierungen im Bereich Wasserkraft bieten       zunehmende Sedimentzufuhr wie heute
voraus. Da viele bestehende Konzessionen      für derartige Überlegungen einen wich-         mit regelmässigen Spülungen zu bewäl-
in den kommenden Jahrzehnten ablaufen         tigen Rahmen.                                  tigen wäre.
werden, stellt sich die brisante Frage, ob            Am Rhonegletscher dürften sich im              Die Zunge des Allalingletschers
diese Konzessionen erneuert werden oder       Laufe der kommenden Jahrzehnte meh-            zieht sich aus der Steilzone zurück, aus der
ob die Werke z.B. infolge Heimfalls an die    rere Seen mit relativ flachen und deshalb      die Katastrophenlawine von 1965 abge-
Gemeinwesen übergehen werden.                 wenig gefährdeten Seitenflanken bilden.        gangen ist. Sie wird hinter einem Felsriegel
        Zahlreiche Gletschergebiete liegen    Der unterste See wächst bereits heute hin-     wahrscheinlich noch in der ersten Jahrhun-
im Schutzbereich von Landschaften von         ter einem Felsriegel mit wunderschönen         derthälfte eine Übertiefung mit möglicher
nationaler Bedeutung (BLN-Gebiete), von       Gletscherschliffen. Die entsprechende          Seebildung freigeben (Bild 11). Dieses
bundesrechtlich geschützten Auenland-         Landschaft ist ein attraktiver Ausgleich       Becken hätte ein Retentionspotenzial hin-
schaften, Mooren, Moorlandschaften,           für das schwindende Eis, hat aber auch         sichtlich eines Sees, der sich bei fortge-
Jagdbanngebieten. Zu erwähnen ist das         wasserwirtschaftliches Potenzial. Selbst       setztem Gletscherrückgang später direkt
UNESCO Welterbe Jungfrau – Aletsch,           mit einer kleinen Staumauer von weniger        am Fuss der Steilflanken am Allalinhorn bil-
wo mit der Zeit grosse Seen entstehen         als 20 m Höhe, welche zur Sicherung des        den könnte. Eine Nutzung mit einem Klein-
dürften. Auch kantonale oder kommu-           Sees gegen Schwallwellen ohnehin nötig         kraftwerk wäre denkbar. Zudem könnte
nale Schutzgebiete sind zu beachten.          wäre, könnte ein Stauvolumen von 40 bis        der See auch zur vermehrten Pistenbe-
Solche Schutzgebiete sind möglichst un-       60 Mio. m3 der Wasserkraftnutzung zu-          schneiung herangezogen werden.
geschmälert zu erhalten. Schutzbauten,        geführt werden. Die energiewirtschaftlich              Seen dürften sich auch bilden,
Staudämme und Verkehrsinfrastrukturen         beste Lösung wäre, das Wasser mit einer        wenn die flache Zunge des Gornerglet-
sind dort nicht oder nur eingeschränkt rea-   Stufe direkt in den Räterichbodensee zu        schers abschmilzt. Am heutigen Gletscher-
lisierbar. Es ist zu bedenken, dass der Bau   turbinieren, allenfalls kombiniert mit einem   ende ist ein klassisches Beispiel für einen
von Infrastrukturen später meistens Folge-    Pumpspeicherwerk. Das Wasser könnte            von einer tiefen Schlucht durchschnit-
erschliessungen nach sich zieht. Eingriffe    dann in den nachfolgenden Kraftwerk-           tenen Felsriegel zu beobachten. Würde
im Gebirgsraum hinterlassen deutliche         stufen bis nach Innertkirchen mehrfach         diese Situation technisch genutzt, könnte
Spuren (Landschaftsbild, Boden, Gewäs-        genutzt werden. Für einen Transfer von         mit einer Fläche von ca. 4 km2 und einem
ser, Fauna, Flora). Nutzung und Schutz der    Wasser aus dem Rhonegebiet ins Aare-           Volumen von rund 350 Mio m3 eine der
Gletscherseen sind jeweils sorgfältig ab-     resp. Rheingebiet wären aber bedeutende        grössten Stauhaltungen der Alpen entste-
zuwägen, so dass schöne Hochgebirgs-          rechtliche und ökologische Hindernisse zu      hen (Bild 12). Entscheidend wäre dabei die
landschaften intakt erhalten bleiben.         überwinden.                                    Frage, wie man ein derart grosses Volu-
                                                      Der jetzt durch einen Felsstollen      men füllt, wie ein solches Projekt in das
6.     Perspektiven                           regulierte See am Unteren Grindelwald-         bestehende Kraftwerksnetz einzufügen
Die neuen Seen bieten ein weit offenes Feld   gletscher könnte sich in den kommenden         wäre und welche Funktionen hinsichtlich
für die Entwicklung optimaler Nutzung.        Jahren nach hinten an den Fuss gewaltiger      Hochwasserschutz und Trinkwasserver-

100                                                                   «Wasser Energie Luft» – 104. Jahrgang, 2012, Heft 2, CH-5401 Baden
Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
sorgung wahrgenommen werden könnten.                  mountain glaciers: a pilot study with the Euro-      G., Semino, P. and Tamburini, A. (2004): Gla-
Auf jeden Fall wäre ein solch grosser neuer           pean Alps. Annals of Glaciology 21: p. 206–212.      cier hazards at Belvedere glacier and the Monte
Stausee als strategische Wasserreserve in             Russian translation in: Data of Glaciological Stu-   Rosa east face, Italian Alps: Processes and miti-
der Schweiz für die Energienutzung will-              dies, Moscow, 82, 116–124.                           gation. In: Tenth International Symposium Inter-
kommen, aus restlilcher Sicht jedoch pro-             Haeberli, W. and Hohmann, R. (2008): Climate,        preavent 2004, Riva, Italy, 6–78.
blematisch.                                           glaciers and permafrost in the Swiss Alps 2050:      Kääb, A., Huggel, C., Fischer, L., Guex, S., Paul,
        Viele Fragen sind offen, und in man-          scenarios, consequences and recommenda-              F., Roer, I., Salzmann, N., Schlaefli, S., Schmutz,
chen Fällen sind sie wohl auch kontrovers             tions. In: Ninth International Conference on         K., Schneider, D., Strozzi, T. and Weidmann, Y.
zu diskutieren, so z.B. bezüglich Land-               Permafrost. Institute of Northern Engineering,       (2005a): Remote sensing of glacier- and per-
schafts- und Gewässerschutz. Gerade                   University of Alaska, Fairbanks, pp. 607–612.        mafrost-related hazards in high mountains: an
im Hochgebirge lassen die zunehmenden                 Haeberli, W., Clague, J.J., Huggel, C. and Kääb,     overview. Natural Hazards and Earth System
Veränderungen hochkomplexer natür-                    A. (2010): Hazards from lakes in high-mountain       Sciences 5 (4), 527–554.
licher und sozio-ökonomischer Systeme                 glacier and permafrost regions: Climate change       Kääb A., Reynolds, J. M. and Haeberli, W.
die Zeit für offenen Diskurs zu strittigen            effects and process interactions. In: Avances de     (2005b): Glacier and permafrost hazards in high
Fragen immer knapper werden. Projekte                 la Geomorphología en España, 2008–2010, XI           mountains. In: Huber, U. M., Burgmann, H. K. H.
bei wachsender Unsicherheit sorgfältig                Reunión Nacional de Geomorphología. Sol-             and Reasoner, M. A. (eds.): Global Change and
abzuwägen wird deshalb immer schwie-                  sana, pp. 439–446.                                   Montain Regions (A State of Knowledge Over-
riger. Bei kumulativen Stresskombinati-               Haeberli, W., Wegmann, M. & Vonder Mühll, D.         view). Springer, Dordrecht, 225–234.
onen nehmen zudem die Freiheitsgrade für              (1997): Slope stability problems related to gla-     Künzler, M., Huggel, C., Linsbauer, A. and
lösungsorientierte Entscheidungen ab. Die             cier shrinkage and permafrost degradation in         Haeberli, W. (2010): Emerging risks related to
Arbeiten im Rahmen des Projektes NELAK                the Alps. Eclogae Geologicae Helvetiae, 90 (3),      new lakes in deglaciating areas of the Alps. In:
des NFP61 sollen frühzeitig mithelfen, sol-           407–414.                                             J.-P. Malet, T. Glade, N. Casagli (eds) Mountain
che Herausforderungen für das Phänomen                Haeberli, W., Paul, F. and Zemp., M. (im Druck):     Risks: Bringing Science to Society. Proceedings
der Bildung neuer Seen im Gletscherbe-                Vanishing glaciers in the European Alps. The         of the ‹Mountain Risk› International Conference,
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Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen
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         reservoirs. Natural Hazards and Earth System               WGMS (2008): Global Glacier Changes: Facts          Anschrift der Verfasser
         Sciences 9 (2), 353–364.                                   and Figures (Zemp, M., Roer, I., Kääb, A., Hoel-    Prof. Dr. Wilfried Haeberli,
         Schaub, Y., Haeberli, W., Huggel, C., Künzler,             zle, M., Paul, F. and Haeberli, W. eds.), UNEP,     Andreas Linsbauer, Matthias Künzler,
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         lakes in deglaciating areas: a risk management             Zurich, Switzerland.                                Winterthurerstrasse 190, CH-8057 Zurich
         framework. The Second World Lndslide Forum,                WGMS (2011): Glacier Mass Balance Bulle-            Phone +41 (0) 44 635 51 20
         Rome 2011, Proceedings.                                    tin No. 11 (2008-2009). (M. Zemp, S.U. Nuss-        wilfried.haeberli@geo.uzh.ch
         Schneider, D. (2011): On the characteristics and           baumer, I.Gärtner-Roer, M. Hoelzle, F. Paul
         flow dynamics of large rapid mass movements                and W. Haeberli, Eds.), Zurich, Switzerland:        Prof. Dr. Anton Schleiss
         in glacial environments. Dissertation Universi-            ICSU(WDS)/IUGG(IACS)/UNEP/UNESCO/                   Laboratoire de constructions hydrauliques
         tät Zürich, Schriftenreihe Physische Geographie            WMO, World Glacier Monitoring Service, Uni-         (LCH), Ecole polytechnique fédérale de Laus-
         – Glaziologie und Geomorphodynamik 61.                     versity of Zurich, Switzerland.                     anne (EPFL), Station 18, LCH - ENAC - EPFL
         Terrier, S., Jordan, F., Schleiss, A.J., Haeberli,         Zemp, M., Haeberli, W., Hoelzle, M. and Paul,       CH-1015 Lausanne
         W., Huggel, C. and Künzler, M. (2011): Opti-               F. (2006): Alpine glaciers to disappear within      Tel. +41 21 693 23 82, anton.schleiss@epfl.ch
         mized and adapted hydropower management                    decades? Geophysical Research Letters 33,
         considering glacier shrinkage scenarios in the             L13504. doi: 10.1029/2006 GL026319)                 Dr.iur., Rechtsanwalt Michael Bütler
         Swiss Alps. Proceedings of the International                                                                   Postfach 860, Gloriastr. 66, CH-8044 Zürich
         Symposium on Dams and Reservoirs under                     Weblinks                                            Tel. +41 (0)43 477 99 66
         Changing Challenges – 79th Annual Meeting of               1 http://www.nfp61.ch/D/projekte/cluster-hy-        michael.buetler@bergrecht.ch
         ICOLD, Swiss Committee on Dams, Lucerne,                     drologie/seen_schmelzende_gletscher/Sei-          www.bergrecht.ch

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