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Grundlagen zu Trauma und Flucht und zum Umgang mit psychisch belasteten Geflüchteten Fachtagung Migration und Gesundheit Gesundheitsdepartement BS 02.09.2021 Dr. med. Serena Galli Transkulturelle Sprechstunde Zentrum für psychische Gesundheit Binningen
Übersicht 1. Trauma 2. Trauma und Flucht 3. Umgang mit psychisch belasteten Geflüchteten 4. Diskussion 2
Übersicht 1. Trauma 2. Trauma und Flucht 3. Umgang mit psychisch belasteten Geflüchteten 4. Diskussion 3
(I) Grundlagen Trauma (Psychologie) • Trauma als seelische Verletzung (altgriechisch Τραύμα, ‚Wunde‘) • Definition: • «[…] ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.» (Fischer & Riedesser 2020) • «Ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.» (ICD 10 Version 2019, WHO 1992) • Sexualisierte Gewalt u.a. gewalttätige Übergriffe, kriegerische Ereignisse, Genozid, Folter, Naturkatastrophe u.a. • Subjektive Bedeutung für Entwicklung traumatisierender Eigenschaft zentral (vgl. Wittmann 2020) • (Potentiell) traumatische Ereignisse vs. belastende Lebensereignisse (cave: inflationäre Begriffsverwendung!) 4
(I) Grundlagen Trauma (Psychologie) • Traumafolgestörung als Überbegriff für versch. psychische Erkrankungen, die ursächlich auf traumatische Erlebnisse zurückzuführen sind • Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), aber nicht nur! • somatoforme und Schmerzstörungen, affektive und Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen u.a. • Komorbiditäten häufig • PTBS: Häufigkeit der Entwicklung und Erkrankungsdauer abhängig von Art des traumatischen Ereignisses • Typ-I-Traumata: kurzdauernde, einmalige Ereignisse (Unfall; Vergewaltigung) • Typ-II-Traumata: lang anhaltende oder wiederholte Ereignisse (AKW-Unglück, Hungersnot; sexuelle Ausbeutung, Folter, Krieg) • akzidentiell vs. intendiert (zwischenmenschliche Gewalterfahrung) 5
(II) PTBS-Diagnostik • Diagnostische Kriterien nach ICD-10 (F43.1) • traumatisches Ereignis (vitale Bedrohung, direkte Exposition durch eigene Betroffenheit oder Bezeugung) • Wiederererinnern- und erleben des Traumas (intrusive Symptomatik: Nachhallerinnerungen, «Flashbacks», körperliche Intrusionen, szenische Albträume) • Vermeidungsverhalten (innere und äussere traumassoziierte Reize) • Entweder 1 oder 2: • 1. teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern (dissoziative Amnesie) • 2. Veränderungen des Erregungsniveaus (Anspannung, Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit, emotionale Betäubung) • Zeitlicher Faktor: Kriterien treten innerhalb von 6 Monaten nach Belastungsereignis auf (cave: in ca. 10% verzögerter Beginn; Spontanremissionen < 6 Monate) 6
(II) PTBS - Diagnostik • Ergänzungen nach DSM-V (APA, 2013) • Indirekte Traumaexposition: indirekte Konfrontation (man erfährt, dass nahestehende Person Opfer von Gewalt oder eines Unfalls wird) und berufliche Exposition (Ersthelfer*innen, Polizist*innen, Journalist*innen, die wiederholt oder extrem mit aversiven Details traumatischer Ereignisse konfrontiert sind) • Dissoziativer Subtyp • Anhaltende negative Veränderungen von Kognitionen und Stimmung (Gefühl der Entfremdung, anhaltende negative Emotionen wie Scham-/Schuldgefühle, Ärger und Wut, unangemessene negative Überzeugungen u.a.) 7
(III) Ausblick ICD 11 • Komplexe PTBS (6B41) • «länger anhaltende, sich wiederholende traumatische Ereignisse oder wiederholte unterschiedliche traumatische Ereignisse, […] aus welchen ein Entkommen schwierig oder gar unmöglich ist» • Kernsymptome der PTBS • Schwere Emotionsregulationsstörung • Anhaltend negatives Selbstkonzept (tiefgreifende Gefühle von Scham, Schuld) • Andauernde Schwierigkeiten in tragenden Beziehungen oder im Gefühl der Nähe zu andern • Dissoziative Identitätsstörung (6B65) 8
(IV) PTBS - Neurobiologie • Überschreitung einer kritischen Stressschwelle in traumatischer Situation • Aktivierung sog. Verteidigungskaskade (Schauer & Elbert 2010) • Unterschiedliche Reaktionen je nach subjektiver Einschätzung der Lage: Flucht, Kampf (sympathisches Nervensystem) oder dissoziativer Shutdown (parasympathisches Nervensystem) 9
(IV) PTBS - Neurobiologie • PTBS als «Gedächtnisstörung» konzeptualisiert • Massive Ausschüttung von Stresshormonen mit Entwicklung eines «Traumagedächtnisses» • Erhöhte Aktivität der Amygdala mit neuronaler Informationsblockade («implizites» Gedächtnis) • Verminderte Aktivität im präfrontalen Kortex, hippocampale Dysfunktion • keine zeitliche und räumliche Kontextualisierung, kein kontrolliertes und verbalisierbares Abrufen der Erinnerungen / Integration in autobiographisches Gedächtnis möglich • Leichte Aktivierbarkeit durch Hinweisreize, posttraumatisches Wiedererleben als Hier- und Jetzt- Erfahrung 10
(V) PTBS - Psychodynamik • Überflutung des «Ichs» durch traumatische Aussenreize, Abwehr und zwanghaftes Wiederholen als dysfunktionale Bewältigungsstrategie • «Traumaschema» und «Traumakompensatorisches Schema» (vgl. Fischer & Riedesser 2020) • Prozesshaft-beziehungsorientiertes Traumaverständnis • Traumatisierung kein statischer Zustand, sondern variabler Prozess, welcher von individuellen, interpersonellen und kontextuellen Faktoren abhängig ist • «Zentrales konflikthaftes Beziehungsschema» (vgl. Barwinski 2016) • «Sequentielle Traumatisierung» nach Keilson (1979): • Sequenz traumatisierender Belastungsphasen, die stets in ihrer Gesamtheit betrachtet werden muss (nicht nur sog. Kerntrauma als auslösendes Moment, sondern auch darauffolgende Umweltbedingungen wie Flucht und Exilerfahrung für traumatische Pathogenese und Traumaverarbeitung relevant) • Negativer Einfluss des Traumas auf innere Bilder von sich selbst und anderen 11
(VI) PTBS – Risiko- und protektive Faktoren • Risikofaktoren • Psychische und körperliche Vorerkrankungen • Vorangehende potentiell traumatisierende Erlebnisse (Dosis-Effekt) • Mangelnde soziale Unterstützung, sozioökonomische Schwierigkeiten • Protektive Faktoren • Religiosität und Spiritualität (Kohärenzerleben) • Anerkennung der Betroffenen als Trauma«opfer» (durch Bezugspersonen und Therapeut*innen, auf gesellschaftspolitischer Ebene) • Resilienz 12
(VII) PTBS - Behandlungsansätze • Phasischer Verlauf mit Stabilisierung, Exposition und Integration (häufig zyklisch statt linear) • Traumakonfrontative Ansätze • Überführung der traumatischen Gedächtnisinhalte vom «heissen» impliziten ins «kalte» explizite Gedächtnis • Beziehungsorientiert-psychodynamische Ansätze • Posttraumatische Pathologie als Abwehr von Katastrophenängsten • Integration mangelhaft symbolisierter traumatischer Erfahrung in ein Lebensnarrativ über Aktualisierung und Bedeutungsgenerierung in einer «containenden» therapeutischen Beziehung • Traumatischer Prozess tritt ggü. einzelnen traumatischen Ereignissen in den Vordergrund 13
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(I) Flucht und Asyl: Zahlen 2020 • 82.4 Mio Flüchtlinge weltweit (UNHCR 2020) • Mehrheit Binnenflüchtlinge • 11’041 Asylgesuche in der Schweiz (SEM 2020) • tiefster Wert seit 2007 • Eritrea < Afghanistan < Türkei < Algerien < Syrien < Sri Lanka 15
(II) Psychische Gesundheit Geflüchteter • Höhere Prävalenzrate psychischer Erkrankungen in Population von Menschen mit Fluchtgeschichte • PTBS ca. 30% (Müller et al. 2018; Li et al. 2016), ähnlich wie Depression (Steel et al. 2009); häufig komorbid • Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Asylsuchenden in CH schätzungsweise 50-60%, wovon in Deutschschweiz < 10% Behandlung erhalten (Müller et al. 2018) • Versorgungslücke in Bezug auf spezialisierte Therapieangebote (Oetterli et al. 2013) • Vielfältige Zugangsbarrieren (fehlende Deckung Dolmetscher*innenkosten durch Krankenkasse u.a.) • Diagnose von Traumafolgestörungen oft erst nach Jahren mit Chronifizierung und Generierung hoher gesellschaftlicher Folgekosten (Heiniger & Kaiser 2013) 16
(III) „der traumatisierte Flüchtling“? • Häufig reflexartige Verschränkung von «Trauma» und Flucht • Gefahr eines simplizistischen Verständnisses der Geflüchtetenerfahrung als «traumabezogenes Problem» (Varvin 2018) «Das ,Trauma’ ist in unserem Zusammenhang nicht so sehr ein theoretisches Konzept als vielmehr ein Objekt, das stärkste menschliche Ängste und Bilder einer zutiefst erschreckenden Gewalt in sich schliesst. Tendenziell wandelt es sich damit nicht nur im politischen, sondern in gewissem Umfang auch im klinischen Diskurs zum unheimlichen Objekt. […] Der Terminus ,Trauma’ wird dann nämlich zu einem Ort, an dem sich sternenfern anmutende und nicht zu tolerierende Elemente ablegen lassen, sodass dem Unheimlichen, wie es in der Gegenübertragung geweckt wird, so etwas wie eine Bedeutung zugeordnet werden kann.» • Kontext von Dehumanisierung (Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland und auf Fluchtroute) und Exil zu wenig berücksichtigt (Varvin 2021) 17
(IV) Kritik am PTBS-Konzept (Becker 1997) • «Post»traumatische Belastungsstörung? (andauernder traumatischer Stress statt zeitlich begrenztes, abgeschlossenes Ereignis) • Medikalisierung von «Opfern» politischer Unterdrückung («normale» Reaktion auf «abnormale» Belastung) bei gl.zeitiger Vernachlässigung des gesellschaftspolitischen Kontextes (potentiell traumatogene Exilerfahrung) • Bedarf an gesellschaftlicher Anerkennung des geschehenen Unrechts und sozialer Reparation (vgl. Ansatz der «restaurative justice») • Pendeln zw. Zugang zu individuellen Leidensprozessen und Anerkennung des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhangs 18
(V) Komplexität der Geflüchtetenerfahrung 19
(V) Komplexität der Geflüchtetenerfahrung • Charakteristika der «refugee experience»: Gewalt, Krieg, Verfolgung mit weitreichenden Folgen auf psychisches Wohlbefinden • Unfreiwillige Flucht bzw. Migrationsprozess als zusätzlicher Belastungsfaktor einer bereits vulnerablen Population • Trennung und Verlust, Entwurzelung, Identitätsschwierigkeiten und Rollenverluste, Belastungen während Fluchterfahrung (Menschenrechtsverletzungen), sprachlich-kulturelle Verständigungsschwierigkeiten, Diskriminierung, innerfamiliäre u. Generationenkonflikte u.a. • Psychologische Phasen des Migrationsprozesses von internen (individuelle Vorstellungen, Ressourcen, Vorerfahrungen) und externen (Integrationsbedingungen des Aufnahmelandes, kollektive Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen) Faktoren abhängig 20
(V) Komplexität der Geflüchtetenerfahrung • Erfahrungen und Lebensrealitäten im Ankunftsland für posttraumatische Prozesse prognostisch wichtig (Li et al. 2016) • Gesellschaftspolitische Haltung ggü. Geflüchteten relevant (Varvin 2017) • Negativer Einfluss auf Gesundheit durch gesetzlichen Status von Migrant*innen jenseits des sozioökonomischen Status (Sardadvar 2015) und durch erlebte Diskriminierung (Elias & Paradies 2016) • Stabile und hilfreiche Beziehungserfahrungen wichtiger protektiver Faktor (vgl. Keilson 1979) 21
(VI) Postmigrationsstressoren (Li et al. 2016) • Postmigrationsstressoren sind mit schlechteren Outcomes psychischer Gesundheit assoziiert und vergleichsweise untererforscht • Sozioökonomische Stressoren (finanzielle Schwierigkeiten bei eingeschränktem Zugang zu Arbeitsmarkt; instabile Wohnsituation) • Soziale und zwischenmenschliche Stressoren (fortwährende Trennung von Familie; Soziale Isolation; Diskriminierung; Verlust der sozialen Identität) • Stressoren in Zusammenhang mit Asylprozess und Migrationspolitik (Tendenz zu restriktiverer Asylpolitik; «vorläufige» Aufenthaltsstatus) • Negativer Einfluss postmigratorischer Faktoren auf psychische Gesundheit grösser als derjenige prämigratorischer Faktoren (!) 22
(VI) Postmigrationsstressoren «I am not crazy, I don’t need to go to a psychiatrist. He keeps asking me about torture and my long stay in prison. The torture was bad, okay, but I had my companions in the prison and we were supporting each other, so I could handle it. My situation here is much worse. I cannot take care of my family. I just sit around and there ist nothing to do. […] I am not even able to […] continue with my political work without the possibility to move to other countries legally. […] I am a broken man. The doctor tells me to talk about all this stuff, and that it would help. But instead, it makes me sick even more, if I recall my desperate situation twice a week. And the general practitioner at the camp finds one diseas after antoher. Eventually they will tell me that I will die.» (Gross 2004) 23
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(I) Kulturverständnis im historischen Wandel • Kultur mehrheitlich implizit: Durchs Hineinwachsen sind Massstäbe für das «richtige» Tun und Denken grösstenteils unbewusst, selbstverständlich und «normal» - deshalb einer Reflektion schwer zugänglich • Individualismus vs. Kollektivismus; Kurz- vs. Langzeitorientiertheit; Unsicherheitsvermeidung vs. Risikofreudigkeit; Gemischtgeschlechtlicher vs. Geschlechterhomogener Kontext u.a. (vgl. Kulturdimensionen nach Hofstede 2001) • Klassisches Kulturverständnis geprägt von Homogenität und Abgrenzung, kulturelle und nationale Zugehörigkeit meist miteinander einhergehend (vgl. statisches «Kugelmodell» nach Herder) • Kritik: «Reinheitsdenken», fehlende Berücksichtigung gruppeninterner Differenzen, transnationaler Diskurse und weiterer Aspekte der kulturellen Identität 25
(I) Kulturverständnis im historischen Wandel • Modernes Kulturverständnis dynamisch und am Konzept der «Transkulturalität» orientiert - geteilte Bedeutungsräume • Fokus auf übergeordneten Eigenschaften von Kultur («trans»-) statt Einschluss-/Abgrenzungskriterien • kulturelle Identitäten konstituieren sich durch Vermischung (Welsch 1997) und in Interaktion: «Kultur wird […] vor allem als Prozess verstanden, bei dem es nicht nur um die Wiederholung von Traditionen geht, sondern um die Schaffung von Bedeutungsräumen. Damit sind Orte, Sprachen oder Erlebnisse gemeint, die Menschen gemeinsam haben. Solche Bedeutungsräume bilden in der Summe ein selbst gesponnenes Bedeutungsgewebe, das die Kultur eines Menschen ausmacht.» (Geertz 1987) • Kultur als «transkultureller dritten Raum», in welchem kulturelle Zeichen und Bedeutungen stets neu verhandelt werden müssen (Bhabha 2000) • «Hybride Identitäten» in der postmigrantischen Gesellschaft (vgl. Foroutan 2018) 26
(II) Transkulturelle Kompetenz • Definition: • Fähigkeit, effektiv mit Menschen, die über andere kulturelle Hintergründe verfügen umzugehen und zusammenzuarbeiten, um eine beidseits als gelungen erlebte Kommunikation zu ermöglichen • Ziel: • Gestaltung einer haltgebenden und Entwicklung ermöglichenden (therapeutischen) Beziehung • Haltung: • Kultursensitivität als Zustand erhöhter Reflexionsbereitschaft bei gleichzeitiger Offenheit ggü. dem «Fremden» 27
(II) Transkulturelle Kompetenz • Wissen über übergeordnete Konzepte und Prinzipien wichtig, bedeutet aber nicht, alles über die andere Kultur wissen zu müssen! (Gefahr der Kulturalisierung; gemeinsame Konstruktion der Bedeutung der Erlebnisse als beteiligte Beobachter*innen) • Fähigkeit zu Perspektivenwechsel, Ambiguitätstoleranz, proaktiver Umgang mit Nicht-Wissen (von Lersner & Kizilhan 2017) • «Kompetenzlosigkeitskompetenz» mit Ziel, in einer von Dominanzverhältnissen geprägten Migrationsgesellschaft den Subjektstatus Anderer zu ermöglichen (Mecheril 2009) • Reflektion eigener Privilegien und Machtstrukturen • Bewusster Umgang mit Vorurteilen statt Farbenblindheit! (vgl. Konzept der «aversiven Voreingenommenheit» n. Brown 2011) 28
(III) Diversity-Ansatz • Diversity-Merkmale • Alter, Geschlecht, Geschlechtsidentiät, sexuelle Orientierung, Befähigung und Behinderung, Religion, soziokultureller Hintergrund u.a.) • Subjektive Erfahrung durch kontextabhängige Verschränkung versch. Differenzkategorien • Pendeln zw. Universalität (menschl. Gleichwertigkeit) und Partikularität (individuelle oder gruppenbezogene Unterschiede) • Ermöglicht differenziertere Wahrnehmung der geflüchteten Person (Verschiebungen? - Thematisierung von Ressourcen, die in postmigrantischer Lebensrealität untergehen) • Reflektion eigener Privilegien, Erkennen von Machtasymmetrien • Unterschiede und Gemeinsamkeiten als Anknüpfungspunkte für Beziehungsgestaltung • Fremdheit durch soziales Milieu statt regionale Herkunft? 29
(IV) Kenntnis kulturspezifischer Aspekte (von Lersner & Kizilhan 2017) • Konzeptionen des Selbst • Erklärungsmodelle psychischer Erkrankungen • Wahrnehmung psychischer Symptome und Ursachenzuschreibungen variabel (bspw. Tendenz zur somatischen oder externalen Ursachenattribution bei Stigmatisierung psychischer Erkrankungen; monistische vs. dualistische Leib-Seele-Wahrnehmung) • Fehlinterpretation kulturspezifischer Symptomschilderungen (Scham/Tabu; Gefahr der Überdiagnostizierung von Somatisierungsstörungen wenn psychisches Leiden stärker auf somatischer Ebene erlebt / verbalisiert wird; Halo-Effekt: Übersehen einer Depression bei freundlich lächelnder Patientin; Kulturalisierung eines psychischen Problems) • DSM-V: Systematische Erhebung von Erklärungsmodellen im Cultural Formulation Interview und Formen kulturell gebundener Leidenskonzepte (kulturelle Syndrome wie «ataque de nervios»); kulturelle Leidensbegriffe («ein gebrochenes Herz haben»); kulturelle Erklärungen und wahrgenommene Ursachen («böser Blick», Verwünschung / Verhexung) 30
(IV) Kenntnis kulturspezifischer Aspekte (von Lersner & Kizilhan 2017) • Kommunikation im transkulturellen Setting • Erwartungsklärung (Behandlungserwartung, Rollen- und Heilvorstellungen; ggf. vermehrter Einbezug der Angehörigen; ) • Kulturspezifische Normen der Kommunikation • Orientierung an Beziehungs- vs. Sachebene • Dimensionen nonverbaler Kommunikation (High vs. Low context communication) • Parasprache (Sprechpausen, Lautstärke) • Kinesik (Blickkontakt, Lächeln, Begrüssung • Intensität des Emotionsausdrucks • Raumverständnis • Einsatz von Sprachmittler*innen 31
(V) Kulturfallen nach Auernheimer (2005) • Fehlattribution von Kommunikationsschwierigkeiten auf Faktor Kultur • Machtasymmetrien (Sprachbarriere, Ungleichheit des rechtlichen und sozialen Status bzw. Privilegien, diskursive Macht u.a.) • Kollektiverfahrungen • Fremdbilder • Differente Kulturmuster (Begrüssungsrituale, Umgang mit Autorität u.a.) 32
(VI) Beziehungsdynamik im transkulturellen Setting • Spannungsfeld zw. «technischer Neutralität» und Arbeit in einem politisierten Raum • Anerkennung des geschehenen Unrechts; Aspekt der Zeug*innenschaft • Emotionen wie Schuld, Unbehagen und Ärger im transkulturellen Setting häufiger (Özbek & Wohlfart 2006) • Konzept der «survivor guilt» (Niederland 1968) • Reflektion traumaassoziierter Gegenübertragungsreaktionen und gute Nähe-Distanz-Regulation • Rettungsimpulse oder Handlungsdruck als Abwehr von Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen • Zu grosse Nähe bei unreflektierten Schuldgefühlen oder Überidentifikation mit «Opferanteilen» • Konfrontation mit heftigen Affekten vs. Empathielosigkeit (Identifikation mit emotionaler Betäubung) • Gefahr einer Reinszenierung ohnmächtig machender Rahmenbedingungen 33
(VII) Praktische Implikationen • Eigene Funktion und deren Grenzen klären • Anerkennung der psychosozialen Schwierigkeiten im Hier und Jetzt (Postmigrationsstressoren, Exilkontext) • Ansonsten Gefahr einer Wiederholung des traumatischen Kernerlebnisses bzw. von Gefühlen von Unwirklichkeit und Fragmentierung (Varvin 2013) • Ermöglichung einer sicheren und empathischen Beziehung • Interesse für Lebensumstände / Ressourcen auch prämigratorisch (cave: Beginn der Biographie nicht erst mit Trauma!) • Zuhören, Ernstnehmen, Gespräch anbieten • Gespräch als Raum, um Vergangenes und Gegenwärtiges zur Sprache zu bringen, aber auch über Zukunft nachdenken zu können (fehlende Zukunftsperspektive aufenthaltsrechtlich und posttraumatisch!) (vgl. Varvin 2021) • Zuordnung traumaassoziierter Verhaltensweisen (Dissoziation u.a.) 34
(VII) Praktische Implikationen • Abbau Zugangsbarrieren • Bedarfsweise Weiterverweisung professionelle Fachstellen / niederschwellige psychosoziale Angebote • Vernetzung, interdisziplinäre Zusammenarbeit • Dolmetscher*innengestützte Arbeit (cave: kein Dolmetschen durch Kinder, Angehörige und Bekannte; Passung hinsichtlich Ethnie / Geschlecht u.a.; Arbeit mit professionell geschulten Dolmetschenden) • Infomaterial in versch. Sprachen (https://www.migesplus.ch/publikationen/wenn-das-vergessen-nicht- gelingt) • Ermöglichung von Kontrolle und Selbstermächtigung (Trauma = Kontrollverlust!) • Klarheit und Transparenz, Orientierung und Sicherheit (Beruhigung des posttraumatisch überaktivierten Angst-Bindungssystems) • Verständnisüberprüfung (nachfragen!) • Information (Vermittlung «psychoedukativer» Elemente) • Realistische Zielsetzungen mit konkreten Hilfestellungen • Förderung brachliegender Ressourcen, Ermöglichung sinnstiftender Tätigkeiten 35
(VIII) Halt den Haltgebenden! • Reflektion eigener Motive für geleistete Unterstützung (cave: Helfer*innensyndrom, altruistisches Ausagieren) • Erkennen eigener Wünsche, Bedürfnisse, Grenzen (Überlastungssymptome)? • «Psychohygiene», Ausgleich • Schaffung haltgebender Strukturen (Supervision, Austausch) • Interdisziplinäre Vernetzung 36
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Serena Galli Psychiatrie Baselland serena.galli@pbl.ch www.pbl.ch 38
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