Haller Matthias/Ackermann Walter/Maas Peter "Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial Services"

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Haller Matthias/Ackermann Walter/Maas Peter "Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial Services"
Haller Matthias/Ackermann Walter/Maas Peter

„Customer Value in Versicherungswirtschaft und
Financial Services“

in: Christian Belz/Thomas Bieger (Hrsg.) Customer-Value – Kundenvorteile schaffen
Unternehmensvorteile, Verlag Thexis St. Gallen, 2004, S. 624 - 659

matthias.haller@unisg.ch
20 Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial
   Services

von Matthias Haller, Peter Maas und Walter Ackermann

Die Schaffung von Customer Value im Bereich von Versicherungswirtschaft und Financial Services kann auf
verschiedene bekannte Konzepte aus Marketing und Strategischem Management aufbauen, setzt aber
gleichsam die Berücksichtigung einer Reihe von Besonderheiten voraus. Ausgangpunkt des folgenden
Beitrages sind diejenigen Aufgaben eines Unternehmens, welche sich im Rahmen einer konsequenten
Kundenorientierung immer wieder von neuem stellen, wobei auf das bewährte Marketing-Konzept von
Haller zurückgegriffen wird (Abschnitt 20.1). In der Folge werden die Entwicklungen hin zu integrierten
Financial Services ergründet. Dem noch nicht abgeschlossenen Trend sollte im Zeichen von Customer Value
und nach Börsen- und e-Business-Hype wieder vermehrt Beachtung geschenkt werden (Abschnitt 20.2). Aus
Sicht der Versicherer sind gerade vor diesem Hintergrund sowohl die Grundfunktionen als auch die
erweiterten Funktionen zu klären, welche gegenüber Kundinnen und Kunden erbracht werden sollen
(Abschnitt 20.3). Für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden
werden die Funktionen und Rollen, welche die Kunden selber gegenüber dem Unternehmen wahr nehmen,
immer wichtiger. Die Ausführungen greifen die wichtigsten Erkenntnisse zu diesem Thema auf (Abschnitt
20.4). Im Anschluss daran werden auf Basis der derzeitigen Wettbewerbsentwicklungen (Abschnitt 20.5) die
strategischen Grundfragen für die Wertschöpfung im Bereich Financial Services diskutiert. Abschliessend
wird in Form eines Exkurses ein Einblick in den I.VW-Research Edge zum Thema ‚Customer Value‘
vermittelt und ein spezielles Modell für den Financial Services Bereich präsentiert.

20.1 Kundenorientierung – oder die Kunst, den Kunden zu verstehen
Mit Customer Value als zentralen Orientierungspunkt unternehmerischen Handelns erlebt der Begriff der
Kundenorientierung gewissermassen eine «Renaissance». Kundenorientierung bedeutet, dass Unternehmen
bei der Konzipierung und Erstellung von Leistungen stets die Wünsche und Erwartungen ihrer Kunden
berücksichtigen. Moderne Marketing-Konzepte zeigen auf, wie man durch entsprechende Marketing-
Prozesse der Anforderung nach Kundenorientierung gerecht wird. Allen Marketing-Konzepten gemeinsam
ist der Versuch, konsequent die Sichtweise der Kunden an den Anfang der Marketing-Prozesse zu stellen
und dort zu verankern. Das im Folgenden vorgestellte Vorgehen orientiert sich am Marketing-Konzept von
Haller (1986, 1999, 2000). Ausgehend von den Kundenbedürfnissen und Kundenerwartungen, stellt es die
Funktionen in den Vordergrund, welche beim Kunden durch das Unternehmen erfüllt werden bzw. erfüllt
werden sollten.
Kundenbedürfnisse und Kundenwünsche an den Anfang stellen
Ausgangpunkt des Marketing-Konzepts ist die Analyse der Kundenbedürfnisse (1a) und die Frage, welche
Funktionen die eigene Leistung beim Kunden erfüllen könnte und erfüllen sollte (1b). Danach steht die
Leistungskonzipierung im Vordergrund, welche konsequent nach adäquaten Problemlösungen für den
Kunden sucht (2 Problemorientierung), und erst im dritten Schritt geht es um die Leistungserstellung (3
Produktion und Verwaltung). Kundenorientierung als Konzept besagt nun zudem, dass der Marketing-
Prozess nicht mit der Leistungserstellung endet, sondern zirkulär immer wieder von vorne beginnt.
Kundenorientierung heisst damit dauernde Anpassung und Änderung, um verbesserte Problemlösungen für
Kundinnen und Kunden zu erreichen.

                                                                                                          1
2
                                     Welche Marktleistung

                                                                                           Welches
                                                                                           1a
                                                                                           Grundbedürfnis?
                                                                        können wir dabei
                                                                        erfüllen?

                                                                        Welche Funktion
                                                                        1b
       3
                                     benötigt der Kunde, um
       Produktion/
                                     sein Problem zu lösen?
       Verwaltung
       zur optimalen
       Erfüllung von                                                                                         Kunde
       1 und 2                      2a             2b
                                    Welches        Welche
                                    Produkt        Dienstleistung

    3 Produktion/                      2 Problemorientierung                1 Kundenbezogenheit
      Verwaltung

Abbildung 20.1: Marketing-Konzept – der Kunde im Fokus (Haller 2000, S. 274)
Der Kunde wird damit zum Dreh- und Angelpunkt des Marketing-Prozesses. Da sich auf vielen Märkten –
und gerade in den traditionellen Branchen – die Leistungen der Unternehmen immer mehr angeglichen
haben und grosse ”Innovationssprünge” selten geworden sind, können bereits kleine Verbesserungen der
Leistungen für Kunden von grossem Wert sein. Doch wie finden wir diese kleinen Feinheiten, welche
Kunden wertschätzen? Richtig verstandene Kundenorientierung ist heute keine leichte Aufgabe mehr,
sondern eher eine Kunst – die Kunst, den Kunden zu verstehen. Der Analyse von Bedürfnissen,
Kundenwünschen, Motiven und Kundenfunktionen kommt dabei eine erhöhte Bedeutung zu.
Analyse von Bedürfnissen und Kundenwünschen
Die Begriffe Bedürfnis und Wunsch stehen auf den konkreten Fall bezogen immer in direkter Abhängigkeit
zueinander: Während ein Bedürfnis den Ausdruck eines empfundenen Mangels beschreibt, wird unter einem
Wunsch das Verlangen nach konkreter Befriedigung von einem Bedürfnis – also des empfundenen Mangels
– verstanden. Ist die Gesamtheit der Bedürfnisse gering und relativ konstant, so erscheinen Wünsche von
Fall zu Fall und je nach Zeitpunkt unterschiedlich. Sie gestalten sich über die Zeit durch das Einwirken von
gesellschaftlichen Einflusskräften und Institutionen (Kotler 1995, S. 8).
Bedürfnisse sind zwar in ihren Ausprägungen konstant, gleichsam sind sie aber auch sehr abstrakt und
generell, und ihre Verbindung zu möglichen Kundenwünschen ist nicht selten diffus. Den Kunden richtig
verstehen heisst aber, dass unter anderem auch diese wichtigen Zusammenhänge zwischen Bedürfnissen und
Kundenwünschen geklärt werden.
Ein besseres Verständnis von Bedürfnissen und Kundenwünschen kann durch den Einbezug der
Erkenntnisse und die Anwendung der Kundenverhaltensforschung erreicht werden. Diese arbeitet mit
psychologischen und sozialpsychologischen Konstrukten der Emotionen, der Triebe, der Motivationen, der
Motive und der Werte. In Anlehnung an Kroeber-Riel/Weinberg (1999) werden unter Emotionen innere
Erregungen verstanden, die angenehm oder unangenehm, mehr oder weniger bewusst empfunden werden.
Beispiele dazu sind Angst, Glück, Eifersucht, Sympathie oder auch Sicherheit. Triebe sind grundlegende
Antriebskräfte, die beim Menschen biologisch verankert sind, wie Hunger, Durst oder Sexualität. Wie die
Beispiele zeigen, sind beide Konstrukte mit dem Begriff Bedürfnis verwandt bzw. überschneiden sich mit
diesem. Werden Emotionen oder Triebe verbunden mit einer bestimmten Zielausrichtung (etwa dem
Wunsch ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen), entsteht Motivation, welche das Handeln des Menschen
zu erklären versucht. Die Begriffe Motive und Werte sind sich inhaltlich sehr nahe. Sie beschreiben latente,
dauernd vorhandene Dispositionen, bestimmte wünschenswerte Dinge zu tun bzw. nicht wünschenswerte
Akte zu unterlassen. Damit sind sie, wie die Motivation, direkt verhaltenswirksam, aber im Gegensatz zu
dieser nicht auf eine konkrete Situation bezogen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 1999, S. 53ff.).
Um Kundinnen und Kunden wirklich zu verstehen, sind Unternehmen dazu angehalten, vermehrt die tiefer
liegenden Ursachen des Kundenverhaltens zu untersuchen. Die Möglichkeiten der Kundenverhaltens-
forschung sind noch stärker in die Marketing-Prozesse zu integrieren. Insbesondere gilt es, auch qualitative
Forschung (z.B. Einstellungs- und Motivforschung) einzusetzen (vgl. Fallbeispiel Psychonomics AG).

                                                                                                                     2
Fallbeispiel: psychonomics AG, Köln

                                                                                  www.psychonomics.de
Psychonomics (entstanden aus psychology/economics) wurde 1991 von Mitarbeitern der Universität zu
Köln gegründet und im Jahre 2001 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. In den letzten Jahren gehörte
das Unternehmen jeweils zu den wachstumsstärksten seiner Branche. Ein interdisziplinäres Team aus über
50 Ökonomen, Psychologen und Sozialwissenschaftern liefert heute verlässliche Planungsgrundlagen in
den Bereichen Marktforschung, Organisationsforschung und Beratung. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt
im Bereich der Assekuranz, wo langjährigen Datenreihen verwendet werden.
Die Philosophie von psychonomics AG lautet: "sehen - verstehen - handeln".
Die psychonomics AG geht davon aus, dass es im Wesentlichen Menschen und deren Wünsche, Motive,
Emotionen, Fähigkeiten, Ideen und Entscheidungen sind, die Märkte und Unternehmen ausmachen. Nur
wer die zu Grunde liegenden Prozesse versteht, kann somit auch überzeugend planen, effektiv handeln
und lebendig kommunizieren. Die psychonomics AG stellt den Menschen in seiner Komplexität in das
Zentrum der Betrachtung und zeigt somit den Unternehmen, welche konkreten Möglichkeiten und
Entwicklungschancen sie im Markt haben und hilft ihnen bei der Einführung und Umsetzung innovativer
Produkte und Geschäftsstrategien.
Das Unternehmen nennt seine Art der Marktforschung "Intelligente Marktforschung" und "Verstehende
Marktforschung". Es geht dabei um eine inhaltlich und methodisch Ermittlung von Marktpotenzialen und
relevanten Zielgruppen, d. h. in den einzelnen Märkten um ein tieferes Verständnis von Kunden,
Zusammenhängen und Motivstrukturen sowie um die fundierte Ableitung konkreter Massnahmen in den
Bereichen Marketing, Vertrieb, Produktentwicklung, Kommunikation und Strategie. Ziel ist es, den
Auftraggebern zu ermöglichen, die Zukunft ihrer Unternehmen im Markt aktiv und wirksam zu gestalten.
In der Organisationsforschung gilt für sie: "Stärke nach innen - Stärke im Markt!" Die Stärke von
Unternehmen im Markt und ihre Fähigkeit, Herausforderungen der Zukunft aktiv und erfolgreich zu
bewältigen, wird wesentlich von der Stärke im Inneren und der Leistungskraft, Leistungsbereitschaft und
Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter beeinflusst. Im Rahmen der Organisationsforschung und der
Mitarbeiterbefragungen von psychonomics geht es um ein tieferes Verständnis der Mitarbeiter, der
Organisationsbereiche und des Gesamtunternehmens, um somit konkrete Massnahmen für die Bereiche
Personal und Organisation abzuleiten.
Der letzte Punkt im Leistungsspektrum von psychonomics stellt die Strategie- und Umsetzungsberatung
dar. Die aus der Marktforschung resultierenden Ergebnisse werden von diesem Bereich systematisch
aufgegriffen: Zielführende Massnahmen werden praxisorientiert entwickelt und mit den Kunden
gemeinsam umgesetzt.
Abbildung 20.2: Fallbeispiel psychonomics AG

Über Funktionen-Denken die Kundenperspektive im Marketing integrieren
Der Analyse der grundlegenden Bedürfnisse und Wünsche von Kunden folgt gemäss dem skizzierten
Marketing-Konzept die Analyse der Funktionen, welche durch die Leistung beim Kunden erfüllt werden
bzw. erfüllt werden sollten. Als Arbeitsinstrument eignet sich dazu die Methodik des Funktionen-Denkens
(Haller 1986, 1999, 2000), welche in diesem Buch zu einem eigenständigen Ansatz für Customer Value
weiterentwickelt wurde (vgl. dazu Kapitel 24, S. ”Funktionen-Ansatz”). Der Ansatz soll hier in seinen
Grundzügen kurz erläutert werden; für die Vertiefung sei auf das erwähnte Buchkapitel verwiesen.
Unter Funktionen werden ganz generell Wirkungen verstanden, welche ein System A bei einem System B
auslöst. Angewendet auf die für das Marketing relevante Beziehung zwischen einem Unternehmen und
dessen Kunde, bildet das anbietende Unternehmen in der Regel das System A, während die Kundin oder der
Kunde das System B bildet.

Funktionen-Denken bedeutet nun, diese Wirkungen zu ergründen und anschliessend die Konsequenzen für
das Unternehmen abzuleiten. Bei der Analyse von Funktionen können verschiedene Eigenschafts-

                                                                                                          3
ausprägungen von Funktionen unterschieden werden. Bei einer einzelnen Funktion sind gleichzeitig folgende
Ausprägungen möglich:
1) psychologisch-sozial und/oder technisch-real und/oder ökonomisch-finanziell. – Die
   Ausprägungsformen beschreiben die ”inhaltlichen Dimensionen”, welche Funktionen einnehmen
   können. Die dahinter stehende Frage lautet: In welcher Dimension empfinden Kunden die Wirkungen,
   die Funktionen?
2) direkt oder indirekt. – Diese Ausprägungsarten nehmen darauf Bezug, dass Funktionen nicht nur durch
   die direkte Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen beim Kunden entstehen, sondern auch
   indirekt, über erweiterte Bezugsebenen entstehen, wie z.B. über andere Kunden,
   Konkurrenzunternehmen, Communities oder öffentliche Organisationen.
3) bewusst oder unbewusst. – Unternehmen wie auch Kunden sind sich der konkreten Funktionen nicht
   unbedingt bewusst. Unbewusste Funktionen sind schwieriger zu erkennen, können aber für die Kunden-
   Anbieter-Beziehung von grosser Bedeutung sein.
4) negativ oder positiv. – Funktionen können sowohl positiv als auch negativ sein. Gerade negative
   Funktionen werden von Unternehmen oft zu wenig berücksichtigt.

Funktionen sind damit sehr stark von der Wahrnehmung und der Interpretation des einzelnen Kunden
abhängig. Welche Funktionen ein Unternehmen im konkreten Fall bei einem Kunden erfüllt, bestimmt
letztlich dieser Kunde selber. Für die Unternehmen wiederum heisst dies, dass sie zwar Leistungen mit
bestimmten Funktionen konzipieren können, diese Funktionen werden jedoch nicht unbedingt jenen
Funktionen entsprechen, welche Kundinnen und Kunden primär wahrnehmen werden.

  Wahrnehmung/                                                                  Wahrnehmung/
                                         Funktionen
  Interpretation                                                                Interpretation
                   A                                                       B
                                           Leistung

          Unternehmen                                                    Kunde

   Funktionen als Wirkungen, welche ein System A bei einem System B in
   verschiedenen Dimensionen auslöst, direkt oder indirekt, positiv oder negativ,
   bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt.

Abbildung 20.3: Funktionen-Denken: Integration der Kundenperspektive

Geht es nun im dritten Schritt, den wir entlang des Marketing-Prozesses betrachten wollen, um die
problemorientierte Konzipierung von Leistungen, kann durch das Funktionen-Denken die
Kundenperspektive konsequent berücksichtigt werden. Die Beschreibung der für das Marketing relevanten
Funktionen ist in der Regel weit vielfältiger, als dies Unternehmen weitläufig und in ihren alltäglichen
Beziehungen zu Kundinnen und Kunden wahrnehmen. Im Bereich der Versicherungswirtschaft und der
Financial Services gewinnt die Funktionenorientierung eine besonders grosse Bedeutung: Während
Bankgeschäfte primär den bewussten, kognitiven Funktionen zuzuordnen sind, berührt das Phänomen
”Versicherung” eine Vielzahl von emotionalen Komponenten. Daraus resultieren indirekte und unbewusste
Funktionen (z.B. Verdrängung), welche vielfach mit negativen Aspekten verknüpft sind. Allein daraus
ergeben sich vielfältige Anforderungen an die Verknüpfung der Leistungen aus beiden Bereichen. Der sehr
begrenzte Erfolg von ”Allfinanz”-Konzepten ist zum grossen Teil auf Versäumnisse bei der Differenzierung
der entsprechenden Leistungsgestaltung zurückzuführen. Eine vertiefte Funktionen-Analyse ist mit der

                                                                                                         4
Chance verbunden, durch eine verstärkte Orientierung an den positiven Funktionen bzw. durch Vermeidung
und Überwindung der negativen Funktionen das Leistungsangebot gezielt zu verbessern oder sogar
Innovationen auszulösen. Zur Analyse und Konzeption von Leistungen als hilfreich erwiesen hat sich das 3-
Ebenen-Konzept (Haller 1986, 1999, 2000).

Das ”Produkt” aus Kundensicht
Das 3-Ebenen-Konzept – auch erweitertes ”Produkt”-Konzept genannt – teilt die Marktleistung des
anbietenden Unternehmens in drei Produktebenen auf. Während Ebene 1 einzig aus dem Kernprodukt
besteht und für die beim Kunden erfüllten Funktionen nur zu einem Teil verantwortlich ist, werden auf den
Ebenen 2 (Kernfunktionen) und 3 (erweiterte Funktionen) mit Blick auf die umfassende Kundenbeziehung
die Hauptwirkungen erzielt. Es sind gerade die erweiterten Funktionen dieser Ebenen (z.B. erfüllt durch
spezielle Service-Leistungen über die Zeit), welche das ”Produkt” aus Kundensicht letztlich ausmachen.

                                              soziale/psychologische Dimension

                                    technische/ökonomische Dimension
                                                                  Ebene 3
                                                          3 Erweiterte
                                                            Leistungen
                                                            (andere
                                                   Ebene 2 Funktionen)
                          2 Kern-                Kern-
                            Marktleistung        Funktion
                                       Ebene 1
                          1 Kern-
                            Produkt
                                                          Dienst-
                            (Versicherungs-
                                                          leistungen
                            schutz)                       rund um die
                                                          Problemlösung
                                                                             c M. Haller 1995
                                                                                 MH084RS.GRF

Abbildung 20.4: Erweiterter Produkt-Begriff (nach Haller 2000, S. 282)

Stellt man diese Vorstellung des ”Produkts” dem traditionellen Denken in den Unternehmen entgegen,
ergeben sich widersprüchliche Sichtweisen: Unternehmungen neigen dazu, ihre Leistungen von ”innen” nach
”aussen” (von Ebene 1 zu Ebene 3) zu konzipieren, während Kundinnen und Kunden dagegen die
Leistungen primär von ”aussen” nach ”innen” erleben und bewerten. Kunden rücken die Kundenbeziehung
in den Vordergrund und ein mangelloses Kernprodukt wird von ihnen als Selbstverständlichkeit
eingeschätzt. Damit einher geht auch die Feststellung, dass Unternehmen vielfach allein die rein sachlich-
rationalen Leistungsbestandteile (Funktionen der technisch-ökonomischen Dimension) konzipieren und die
Leistungsbestandteile, welche mit der Interaktion und der Kundenbeziehung verbunden sind (Funktionen
der psychologisch-sozialen Dimension) und deshalb für Kunden sehr bedeutsam sind, nicht selten
vernachlässigen.

                                                                                                            5
20.2 Von der Ver-Sicherung zu Financial Services
Bis in die siebziger und in den frühen achtziger Jahren werden Versicherungs- und Bankdienstleistungen fast
durchwegs autonom angeboten. Erst die Gründung von eigentlichen Finanzkonglomeraten in den USA
führt dazu, der Verknüpfung von Leistungen aus beiden Bereichen vermehrt Beachtung zu schenken und sie
in der Form von ”Finanzdienstleistungen” (Financial Services) systematisch zu konzipieren. Insbesondere
wird in jenen Jahren erstmals die Möglichkeit der Substitution zwischen Bank und Versicherung
wahrgenommen, z.B. im Bereich des Vorsorgesparens und der Kapitalanlage (Haller 1999, S. 11 ff. )

Die Nähe zwischen den beiden Branchen ergibt sich schon daraus, dass zwischen ihnen eine Reihe von
Gemeinsamkeiten besteht, so u.a.

−   die Abwicklung von Finanzgeschäften
−   die Tätigkeit im Dienstleistungsgewerbe
−   der Massengeschäftscharakter
−   die Wirkung als Kapitalsammelbecken
−   das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit
−   die Bedeutung des Vorsorgegedankens
−   die staatliche Beaufsichtigung

Führte diese Einsicht in einer ersten Phase zu einem Bedürfnis nach klarer Trennung und peinlicher
Respektierung der vorhandenen (Produkt-)Grenzen, so hat das Funktionendenken im Marketing nach und
nach eine Drucksituation zur Überschreitung der Grenzen bewirkt. Bis vor kurzem schien sich die
Konkurrenz nur in bestimmten Feldern und bezüglich konkreter Produkte (insbesondere Sparen im
Zusammenhang mit der sozialen Sicherung) zu vollziehen. Stellt man aber die Frage nach dem
massgebenden Grundbedürfnis und nach den wahrgenommenen Funktionen, so wird deutlich, dass sich seit
1970 die Funktionenüberlappung schrittweise verstärkt hat und dass sich mit der Einführung des Marketing
auch die Interpretation der einzelnen Finanzdienstleistungen verfeinert hat.

So lassen sich (nebst anderen Konzeptionen) sechs wesentliche Teilfunktionen unterscheiden, welche – mit
Blick auf Privatkunden – in verschiedener Intensität wahrgenommen und durch diverse Dienstleistungen
unterstützt werden können:

•   Einnehmen                              über Löhne, Zinsen, Geschenke, Erbschaften etc.;
•   Ausgeben                               für Lebensunterhalt, Investitionen, Ausbildung etc.;
•   Vermögensbildung/Sparen                zwecks Vorsorge, Freiheit, Unabhängigkeit;

Diese drei Grundfunktionen ziehen drei ergänzende Funktionen nach sich:

•   Anlegen                                im Zusammenhang mit der Vermögensbildung;
•   Schützen                               gegen Einkommensentgang, unerwartete Ausgaben,
                                           Vermögensverluste;
•   Verteilen                              Transaktionen im Zusammenhang mit Finanzen.

Es fällt auf, dass sich die ”Belegung” der Funktionenfelder seit den siebziger Jahren merklich verschoben hat
(vgl. Abbildung 20.5). Aus der Perspektive des Versicherers beschrieben, beschränkt sich dieser vorerst auf
den Risikotransfer und stösst bloss mit dem Keil der finanziellen Vorsorge in den Sparbereich der Banken
vor. Findet hier im Risk Management somit noch eine Konzentration auf das Insurance Management statt,
erweitert sich der Funktionsbereich des Versicherers in der nächsten Phase auf alle güterlichen (Risk control)
und finanziellen (Risk financing/captives) Schutzfunktionen. Die anschliessende Phase steht im Zeichen des
”Gegenzugs” der Banken: Sei es, dass sie Versicherungstöchter gründen, sei es, dass Allfinanzkonzerne
geschaffen werden, stossen sie in den Funktionenbereich des ”Schützens” vor, während die Versicherer, wie
bereits erwähnt, ihre Leistungen im Bereich der (nun integrierten) Financial Services nach Kundensegmenten
arrondieren.

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Abbildung 20.5: Verschiebung der Funktionenfelder - aus der Perspektive der Assekuranz

Die Situation um die Jahrtausendwende ist vom Börsen- und e-Business-Hype sowie von einer generellen
Übernahmeeuphorie überlagert. So fällt es schwer, diese Phase überhaupt noch unter dem Blickwinkel
integrierter ”Financial Services” zu analysieren. Weder war manche Unternehmenszusammenführung unter
dem Schlagwort ”Allfinanz” als sorgfältiger Prozess konzipiert noch konnte eine differenzierte
Leistungsentwicklung Platz greifen, bis dann – in der Folge des Börsensturzes 2001 bis 2003 – der schiere
Kapitalmangel und die drohende Unterdeckung der eingegangen Verpflichtungen eine Reihe von
Unternehmungen dazu zwang, die eingegangenen Verbindungen aufzulösen bzw. Kapitalbindungen durch
Verkauf von Unternehmensteilen zu erleichtern. Mit der Lösung der dringlichsten Finanzprobleme ist seit
2004 erneut Gelegenheit geboten, auf die strategischen Grundfragen zurückzugreifen, die Kundenfunktionen
neu zu interpretieren und – last but not least – den Stellenwert der Dienstleistungen von Versicherungen,
Banken und anderen Finanzdienstleistern neu zu positionieren. So gibt das oft zitierte Stichwort ”Back-to-
the roots” Anlass, die Grundfunktionen der Versicherung zunächst vertieft zu betrachten.

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20.3 Die Funktionen der ”Ver-Sicherung”
Welches sind nun konkret die Funktionen der Assekuranz ? Wie oben bereits erörtert, verkörpern die
Funktionen des Risikotransfers und der Anlageaktivität die Kernfunktionen der Versicherung.
In ihnen kommt – im Sinne des 3-Ebenen-Produktkonzepts – das Kernprodukt zum Ausdruck.
Um aber tatsächlich der umfassenden Funktion des Ver-”Sicherns” gerecht zu werden, müssen auf der
zweiten und auf der dritten Produktebene (Problemlösung und erweitete Dienstleistungen) all jene
Aktivitäten zum Ausdruck kommen, welche letztlich neben der finanziellen Sicherung den Kundinnen und
Kunden in umfassenderer Form ”Sicherheit” vermitteln. Konsequenterweise setzt deshalb die Begründung
von Customer Value voraus, dass bei den Versicherern ein vertieftes Verständnis von ”Sicherheit” gegeben
ist.
Wunsch nach Sicherheit in risikobehafteten Lebenslagen
Sicherheit kann allgemein definiert werden als erstrebenswerter Zustand, der sich durch die Abwesenheit von
Gefahr kennzeichnet. Ursachen einer solchen Abwesenheit sind Schutz und Befestigung, Vertrauen,
Gewissheit oder auch Zuverlässigkeit (Kaufmann 1973, S. 50). Sicherheit ist aber nicht nur ein objektiv
feststellbarer Zustand, sondern auch ein Gefühl (bzw. eine Emotion). So fühlt sich sicher, wer keine Gefahr
wahr nimmt oder glaubt, der Gefahr gewachsen zu sein. Sicher fühlt sich auch der entschlossene und
gefestigte oder der von seinen Fähigkeiten überzeugte Mensch, weil er sich nicht durch Ungewissheit und
Zweifel gefährdet sieht (Kaufmann 1973, S. 151). Für Sicherheit als Ganzes hat sich die Unterscheidung
zwischen ”äusserer Sicherheit” und ”innerer Sicherheit” bewährt (vgl. Haller/Ackermann 1992, S. 5). Das
Gefühl oder der Zustand der äusseren Sicherheit kommt zustande über verschiedene Schutzkomponenten,
die Sicherheit von aussen her herbeiführen, wie z. B. die finanzielle Sicherheit und Vorsorge, die
Verkehrssicherheit oder die Rechtssicherheit. Das Gefühl oder der Zustand der ”inneren Sicherheit” entsteht
über Gefühle und Emotionen, welche ihrerseits sichernde Funktionen haben, wie z. B. Ordnung und
Orientierung, das seelische Gleichgewicht oder das Gefühl von Schutz und Geborgenheit.

Ist Ver-Sicherung ein System zur Sicherung, ergeben sich die zu lösenden Kundenprobleme aus der
Abwesenheit von Sicherheit als Gefühl oder als Zustand. In den Vordergrund rücken damit die Konstrukte
Verunsicherung, Unsicherheit und Risiko. Verunsicherung und Unsicherheit können synonym betrachtet
werden, weshalb in der Folge nur noch vom Begriff der Unsicherheit gesprochen wird. Unsicherheit ist
allgemein als Gegenpol zu Sicherheit zu verstehen. Dies heisst jedoch nicht, dass Unsicherheit nur negativ
sein muss. Unsicherheit kann durchaus auch mit positiven Komponenten verbunden sein, wie etwa dem
Reiz von neuen Erfahrungen oder der Herausforderung, mögliche Probleme zu meistern. Durch solche oder
ähnliche innere Prozesse befindet sich der Mensch laufend auf einem Pfad zwischen negativer und positiver
Unsicherheit auf der einen Seite und Sicherheit als Zustand auf der anderen Seite (so genannte
”Sicherheitsbilanz” vgl. Haller/Ackermann 1992, S. 8). Das Konstrukt Risiko kommt ins Spiel, wenn
menschliches Denken, Planen und Handeln zum Tragen kommen und aufgrund eines Wahlakts Ziele
angestrebt werden. ”Risiko” manifestiert sich dann durch die Möglichkeit, dass im Rahmen der
Zielerreichungsprozesse – auf Grund von Erfolgs- wie Störgrössen – das Ergebnis von den im Vorfeld
gebildeten Erwartungen (positiv wie negativ) abweicht (Haller 1999, S. 77 f.). Damit verbindet der Risiko-
Begriff Lebenssituationen des Kunden mit dem immerwährend vorhandenen Prozess der Unsicherheit, dem
sich der Kunde ausgesetzt sieht. Damit legt ”Risiko” die Problemsituation von Kundinnen und Kunden
offen und bildet für Versicherer den Anknüpfungspunkt und Grundstein für seine Funktion als Ver-
Sicherer.
Emotionale Besonderheiten des Produkts ”Sicherheit”
Zur Bestimmung der Funktionen eines Versicherers sind einige emotionale Besonderheiten des Produkts
”Sicherheit” zu beachten. Im Zentrum stehen dabei die Widersprüche zwischen den Motiven der Kunden,
sich versichern zu lassen und den Fähigkeiten der Ver-Sicherers, diesen Motiven bzw. Ansprüchen gerecht
zu werden. Basierend auf den Grundaussagen der Wiener Forschergemeinschaft rund um Arnold,
Pesendorfer und Schwarz, welche die Motive der Versicherungsnehmer seit über 30 Jahren untersuchen,
seien die wichtigsten Erkenntnisse dazu zusammengefasst (vgl. Pesendorfer 2003).
Menschen haben gemäss Pesendorfer aus dem Durchleiden schmerzlicher Gefahrensituationen gelernt,
Angst zu entwickeln, wenn neuerlich Gefahr droht. Diese Angst treibt sie, rechtzeitig etwas zur Abwendung

                                                                                                           8
des Schadens zu tun. Die Versicherung nun ist insofern ein Geschäft mit der Angst, denn ohne Bewusstsein
von Gefahr und ohne Angst vor der drohenden Hilflosigkeit im Schadenfall schliesst niemand eine
Versicherung ab. Wenn Menschen Sicherheit wollen, wünschen sie sich gefühlsmässig die primäre Sicherheit,
dass nämlich Schäden von ihnen abgewendet werden und erst in zweiter Linie, dass ihnen irgendwelche
Schäden finanziell kompensiert werden (sekundäre Sicherheit). Daraus folgt, dass die Kunden – auf einer
emotionalen Ebene – die Versicherung als Vorsichtsmassnahme erleben, die gegen einen Schicksalsschlag
gerichtet ist: Ich lasse mich gegen Feuer versichern und hoffe, dass es nicht brennt – auch wenn ich rational
weiss, dass die Versicherung nur die Folgen eines Unfalls mildern kann und dass dies nur möglich ist, weil
andere eine Prämie bezahlt und keinen Unfall gehabt haben (Pesendorfer 2003, S. 2). Diese Motivdifferenz
hat Folgen für die Gefühle, Emotionen, Einstellungen und Handlungen der Versicherungsnehmer
(Abbildung 20.6).

Primäre Gefahr             Primärer Schaden             Primäre Sicherheit        Motivlage
                                                                                  Unmittelbar und
Drohendes Unheil,          Eingetretene Krankheit,      Sicher vor Gefahren,      direkt betroffen,
Krankheit, Tod…            der Unfall, der Tod          kann sorglos sein         meist unbewusst,
                                                                                  unversicherbar

Sekundäre Gefahr           Sekundärer Schaden           Sekundäre Sicherheit      Motivlage

                                                                                  Mittelbar, "nur" die
                           Materielle Folgen des        Finanziell gegenüber
Angst vor Hilflosigkeit                                                           Finanziellen Folgen
                           Schadens, Hilflosigkeit in   den materiellen Folgen
in der Bewältigung                                                                Betreffend, "rational",
                           der Bewältigung des          eines Schadens
der Gefahr                                                                        enttäuschend, aber
                           Schadens                     abgesichert               versicherbar

Abbildung 20.6: Was der Kunde "wirklich" will (Pesendorfer, 2003)

Da die Motivlage der Menschen so ist, dass sie emotional etwas wollen, was es nicht gibt, selbst wenn sie es
rational wissen, müssen sie früher oder später mit Enttäuschungen rechnen. Diese notwendigen Ent-
Täuschungen befreien uns jedoch von einer (Selbst-)Täuschung, es gäbe wirklich Sicherheit, zudem helfen
sie uns zu realisieren, dass wir uns besser mit Ersatz-Sicherheit und brauchbaren Kompensationen abfinden.
Die Versicherung ihrerseits sollte darauf verzichten, die Illusion zu schüren, sie verkaufe Sicherheit. Sie sollte
vielmehr durch seriöse Beratung das Bewusstsein der Menschen stärken, dass sie nur einen Teil ihrer Sorgen
(die finanzielle Entschädigung im Schadenfall) an die Versicherung delegieren können. Denn versichern
lassen sich nur die in Geld übersetzbaren Sicherheiten wie das Eigentum. Wer nicht nur weiss, sondern auch
akzeptiert angesichts von Gefahr und Tod leben zu müssen, wird auch in Zeiten ohne Schaden den
beschränkten Schutz geniessen und schätzen. Denn er hat zumindest finanziell vorgesorgt und muss sich
nicht Tag und Nacht vor möglichen Unglücksfällen fürchten (Pesendorfer 2003, S. 4).
Fazit: Hohe Bedeutung der ”Non-financials”
Die vertiefte Auseinandersetzung mit Ver-Sicherung erlaubt es, den Dienstleistungen der Assekuranz im
Rahmen der ”Financial Services” eine ganz spezifische Funktion zuzuordnen: Zum einen reiht sich die
Versicherung in jene Dienstleistungen ein, welche sich mit Finanz-Leistungen rund um Kundinnen und
Kunden gruppieren (in diesem ersten Sinne lässt sich Versicherung leicht in die umfassenden
Finanzdienstleistungen einordnen.) Zum anderen aber verkörpert Ver-Sicherung stets auch den emotionalen
Umgang mit Unsicherheit und Risiko, hat also mit psychischen und sozialen Faktoren umzugehen, welche
sich deutlich von jenen der Bankgeschäfte unterscheiden. Solche ”Non-Financials” sind im Rahmen der
Kundenbeziehung – und vor allem im Zusammenhang mit der Schadenabwicklung – derart zentral, dass
oberflächlich integrierte Finanzdienstleistungen in vielen Fällen im Markt erfolglos blieben. ”Versicherung”
ist somit nur zu einem Teil mit den übrigen Finanzdienstleistungen auf eine Reihe zu bringen: Umfassendes
materielles Risiko-Management (im Industriegeschäft) und die ganze Palette von Betreuungsleistungen – so
genanntes ”Care” – (im Privatkundengeschäft) weisen den nicht-finanziellen Dienstleistungen einen
Stellenwert zu, mit dem sich der Versicherer deutlich profiliert (Abbildung 20.7).

                                                                                                                 9
(RM)

                  Risiken
                  optimieren

                                             Care                            herkömmliche
                                                                             Versicherung

                                                           non-financials

                                                                      Finanzen
                     Versicherung
                                                                      optimieren
                                                                             FDL

Abbildung 20.7: Dienstleistungen mit "Versicherung": Die Bedeutung von "Non-financials" im
Funktionenraum (Haller 2000, S. 293)

20.3 Die neuen Funktionen und Rollen der Kunden
Der Wandel der Kundenbedürfnisse und des Kundenverhaltens geht einher mit einem sich verändernden
Rollenverständnis der Kunden. So lässt sich der Kunde von heute nicht mehr auf seine Funktion als
Konsument und Nachfrager reduzieren (vgl. für einen aktuellen Überblick: Maas/Graf 2004). Ausgelöst
durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird er immer mehr in die Lage versetzt
bzw. er fordert geradezu im Zuge des gesellschaftlichen und technologischen Wandels, weitere Funktionen
zu übernehmen.
Übernahme neuer Funktionen durch den Kunden
Insbesondere im Dienstleistungsbereich ergeben sich für die Kunden Möglichkeiten – sei es alleine oder in
Form von Communities – sich verstärkt in die Wertschöpfung einzubringen und diese mitzugestalten.
Gemäss Lehmann (2001) kann der Kunde folgende Funktionen übernehmen, die sowohl für ihn als auch für
die Unternehmen neue Nutzenfelder generieren (Abbildung 20.8):

                                                                                                       10
Nachfrager
        Marketing-
      und Qualitäts-                                                            Co-Produzent
        sicherungs-
        resource
                                                Kunde

            Substitute for                                                Ertrags- und
             Leadership                                                   Kostenfaktor
Abbildung 20.8: Funktionen von Kunden (in Anlehnung an Lehmann 2001, S. 93)

Neben den traditionellen und aus Unternehmenssicht dominierenden Kunden-Funktionen – die des
Nachfragers und des Ertags- und Kostenfaktors – können Kunden in ihrer Beziehung zu einem
Unternehmen noch weitere Funktionen einnehmen, die für diese auch zunehmend an Bedeutung gewinnen:
•   Funktion ‚Co-Produzent‘: Die Beteiligung des Kunden am Leistungserstellungsprozess kann nach
    Aktivitäts- und Intensitätsgrad differenziert werden. Dies kann von einer fast vollständigen aktiven
    Eigenerstellung bis hin zur nahezu völlig passiven Bereitstellung von Informationen und Objekten zur
    Initialisierung von Leistungsprozessen reichen. Das individuelle Prosumer-Verhalten kann beispielsweise
    in Zurverfügungstellung von Zeit bestehen oder in Übernahme einzelner Teilbereiche des
    Leistungserstellungsprozesses. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Betriebssystem Linux, bei dem
    Kunden bzw. ganze Communities die Neu- und Weiterentwicklung der Software übernehmen und
    vorantreiben.
•   Funktion ‚Substitute for Leadership‘: Bei Dienstleistungsformen mit besonders intensiven und
    personenbezogenen Kontakten übernimmt der Kunde gegenüber Mitarbeitern – meist unbewusst –
    durch seine direkten Rückmeldungen aus der Kundeninteraktion die Rolle eines ”Substitute for
    Leadership”. Dadurch wird in vielen Situationen der unmittelbare Einfluss und das Verhalten des
    Vorgesetzten nahezu inexistent. Der Mitarbeiter richtet sein Verhalten stark auf die Kundenerwartungen
    aus.
•   Funktion ‚Marketing- und Qualitätssicherungsressource‘: Bestehende Kunden übernehmen eine
    wichtige Marketingfunktion, wenn sie durch persönliche Mund-zu-Mund-Kommunikation, basierend auf
    ihren konkreten (positiven oder negativen) Erfahrungen, die Erwartungsbildung potenzieller (Neu-)
    Kunden beeinflussen. So gehört z. B. die Internetseite von www.vault.com, auf der Mitarbeiter und
    Bewerber für eine neue Stelle ihre Meinung und Urteil über die jeweiligen Unternehmen abgeben, zu
    einer der meist besuchten Internetseiten in den USA, mit entsprechender Wirkung auf die bewerteten
    Unternehmen. Gleichzeitig können Kunden entscheidend zur Sicherung der Leistungsqualität beitragen,
    wenn ihre Kompetenz und Erfahrung vor, während und nach Abschluss der eigentlichen
    Dienstleistungsinteraktion genutzt wird, sei es durch das Miteinbeziehen von Lead-Usern oder der
    Möglichkeit von Feedback-Prozessen in Form von Beschwerde- und Kundenreklamations-Management.
Diese erweiterten Kundenfunktionen haben zur Folge, dass Kunden immer stärker in die Rolle eines
Partners von Unternehmen hinein wachsen und als solche auch gesehen und behandelt werden möchten.
Kunden mit einem solchen Selbstverständnis gehen mit anderen, höheren Ansprüchen und Erwartungen auf
Unternehmen zu, woraus sich für diese neue Herausforderungen, aber auch Chancen ergeben (Maas/Graf
2003).

                                                                                                         11
Kunden-Evolution und -Transformation
Als Folge der Erweiterung der Funktionen, welche Kunden gegenüber dem Unternehmen wahrnehmen
können, muss das einem Geschäftsmodell zugrunde liegende Kundenbild ständig auf den Prüfstand gestellt,
hinterfragt, angepasst und im Idealfall die zukünftigen Entwicklungen antizipieren. Durch die Erweiterung
der Funktionen haben sich auch die Rollen, welche Kunden für ein Unternehmen einnehmen können oder
einfordern, in den letzten Jahrzehnten entschieden gewandelt, wie Abbildung 20.9 verdeutlicht. Aus
Unternehmenssicht hat sich der Kunde vom passiven Empfänger und Zuhörer zum aktiven Spieler, Mit-
Wertschöpfer oder gar Mit-Wettbewerber entwickelt, der völlig neue Erwartungen bzw. Anforderungen an
die Interaktion und die Kommunikation mit den Unternehmen stellt. Dieser ”aktive” Kunde und die
umfassende Beschleunigung und Innovationsdynamik der neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien fordern die Unternehmen sowie ganze Branchen insbesondere im
Dienstleistungsbereich, das Bild des Kunden ständig neu zu definieren.

                  ...passive Empfänger/Zuhörer                        Kunden als...                        ... aktive Spieler
                 Überreden bestimmter            Austausch/Transaktion           Lebenslange Bindung        Gemeinsame
                 Gruppen von                     mit individuellen               mit individuellen          W ertschöpfung
                 Käufern                         Käufern                         Käufern                    mit Kunden

 Rolle                                                                                                      Teil eines erweiterten
 des                                                                                                        Netzwerkes:
 Kunden                                                                                                     - Mit-Entwickler
                                  Passive Käufer mit definierter Konsumenten-Rolle                          - Mit-W ertschöpfer
                                                                                                            - Mit-Arbeiter
                                                                                                            - W ettbewerber

                 Statistische Durch-             Individuelle statistische       Person: Aufbau von         Teil eines emergenten
 Haltung des     schnittsgrösse:                 Grösse in einer Trans-          Beziehungen und Ver-       sozialen und kulturel-
 Manage-         Unternehmen definiert           aktion                          trauen                     len Gefüges
 ments:          Gruppen
 Kunden als...
                 Traditionelle Marktfor-         - Vom Verkauf zur Hilfe         - Vertiefte Analyse der    Gemeinsame Rollen:
                 schung und Produktent-             via Call Center, Help          Kunden-Bedürfnisse       - Einbringen persönlicher
 Interaktion     wicklung                           Desk etc.                    - Neue Problemlösungen       Erfahrungen
 Kunde -                                         - Produktredesign auf-                                     - Lernen
 Unternehmen
                                                   grund von Feedbacks                                      - Akzeptanz schaffen für
                                                                                                              Produkte/Services

                 Einweg: - Zugang finden         Zweiweg: Database-              Zweiweg: Relationship-     Aktiver Dialog:
                         - Vorbestimmte          Marketing                       Marketing                  - Gemeinsame
  Kommuni-
                           Zielgruppen                                                                        Erwartungsgestaltung
  kation
                                                                                                            - Zugang und Kommuni-
                                                                                                              kation auf allen Ebenen

                 1970                      1980                              1990                          2000

Abbildung 20.9: Kunden-Evolution und -Transformation (Prahalad/Ramaswamy 2000, S. 80)

20.4 Konsolidierungsphasen deregulierter Finanzdienstleistungsmärkte und das
      Verhalten der Unternehmen

Bevor im nächsten Abschnitt 20.5 die bisherigen Erkenntnisse auf die strategischen Grundfragen für die
Wertschöpfung im Bereich der Financial Services angewandt werden, sollen zunächst die (beobachtbaren)
Verhaltensweisen von Unternehmen Strategien entlang der Konsolidierungsphasen deregulierter
Finanzdienstleistungsmärkte im Zentrum der Betrachtung stehen.
Versicherungsmärkte haben sich in der Vergangenheit vor allem durch Stabilität und Kontinuität und
weniger durch Dynamik und Innovationen ausgezeichnet. Das Bild einer Wirtschaftsbranche mit hoher
Stabilität hat sich in den letzten Jahren indessen grundlegend verändert. Die Auslöser dieses Strukturwandels
lassen sich mit den Schlagworten Deregulierung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Druck der
Kapitalmärkte, qualitative und quantitative Veränderung der Nachfrage sowie massive Zunahme der
Wettbewerbsintensität zusammen fassen. Die Folgen zeigen sich u. a. in einem spürbaren Anstieg der
Marktkonzentration, in fundamentalen Veränderungen im Bereich der Angebotsstrukturen oder auch in
grundlegend neuen Marktleistungen und Methoden des Risikotransfers.

                                                                                                                                        12
Im Rahmen des Deregulierungsprozesses lassen sich verschiedene Stufen des Wettbewerbs bzw. Phasen der
Marktkonsolidierung erkennen (vgl. Abbildung 20.10):
       Der Wettbewerb setzt im Übergang von regulierten zu deregulierten Marktbedingungen zuerst auf
        der Service- und Qualitätsebene ein. Folglich reagiert die Mehrheit der Anbieter durch eine
        verstärkte Service- und Qualitätsorientierung.
       Bei einem anhaltenden Markt- und Konkurrenzdruck versuchen die Anbieter in einer zweiten Phase,
        sich mehrheitlich über lineare Produktinnovationen als kundenorientierte Problemlöser zu
        positionieren.
       Bei weiterhin steigenden Effizienzanforderungen sind zunehmend Strategien zur Fokussierung auf
        ertragreichere Wertschöpfungsschritte erkennbar.
       In einer nächsten Konsolidierungsphase der Märkte erfolgt der Versuch, über den Aufbau neuer
        Geschäftsmodelle einen neuen Marktzyklus zu begründen oder in einen ertragreicheren zu gelangen.
                                 Wettbewerb
                                  Hyper-
         Wettbewerbsintensität

                                                                               neue W er t-
                                                       PPhase III              schöpfungs-
                                                                                 strategie
                                 Wettbewerb

                                                    O ptimierung
                                 dynamischer

                                                 der Fer tigungstiefe                                   Phase IV
                                                                                                innovative Geschäfts-
                                                                    Phase II                          modelle
                                                            Lineare Produkt-
                                                               innovation
                                                                                    Phase I
                                                                               Ser vice- und
                                 Wettbewerb
                                  statischer

                                                tr aditionelle                  Q ualitäts-
                                               Wer tschöpfungs-
                                                   strategie                   or ientier ung      regulier te
                                                                                                    Märkte

                                                           Er trag- / Gewinnpotentiale

Abbildung 20.10: Strategien und Konsolidierungsphasen in deregulierten Finanzdienstleistungsmärkten
(Ackermann 2001, S. 71)

Diese Entwicklungslogik der Märkte lässt sich mit den I.VW-Forschungsergebnissen im Rahmen von
”Assekuranz 2000/A.2007” belegen. Dabei ergeben sich folgende Erkenntnisse:
       Die Mehrheit der Versicherungsunternehmen durchschreitet diese Entwicklungs- und
        Konsolidierungsphasen der Finanzdienstleistungsmärkte in der skizzierten Abfolge. Unternehmen,
        welche in der Lage waren (sind), besonders schnell zu reagieren bzw. einzelne Entwicklungsphasen
        zu überspringen, werden von den Kapitalmärkten tendenziell überdurchschnittlich belohnt (First-
        Mover-Effekt). Organisationen, welche nicht oder sehr verspätet auf die erhöhten
        Effizienzanforderungen reagieren, scheiden in der Regel aus.
       Die Unternehmen richten ihr Verhalten nicht ausschliesslich auf die Bedingungen einer
        Konsolidierungsphase aus. Vielmehr ist es so, dass Stärken und Fähigkeiten, die in einer Phase
        entwickelt wurden (z. B. eine Service- und Qualitätsorientierung), auch in einer nächsten
        Konsolidierungsphase beibehalten werden. Die strategische Ausrichtung der Unternehmen enthält

                                                                                                                        13
in der Regel jedoch klare Hinweise, in welcher Entwicklungsphase (aus Sicht der Unternehmung)
        bzw. Konsolidierungsphase (aus Sicht der Märkte) sich eine Organisation tendenziell befindet.
        Offensichtlich besteht die strategische Herausforderung weniger im Auffinden neuer strategischer
        Optionen; Schwierigkeiten verursacht die Beantwortung der Frage, was in Zukunft nicht mehr getan
        werden soll (Verzicht auf die Bearbeitung einzelner Märkte oder Kundensegmente, die Straffung des
        Produktesortiments, die Auslagerung einzelner Geschäftsprozesse usw.).
       Das strategische Verhalten mancher Unternehmen ist stark deterministisch angelegt und geprägt von
        Vergangenheitserfahrungen (Wettbewerb findet in sauber abgegrenzten Branchen statt, Markt- und
        Konkurrenzanalysen konzentrieren sich im Rahmen traditioneller Marktanalysen auf bekannte
        Märkte usw.). In Zeiten des ”digitalen Kapitalismus” (Glotz 2000, S. 5) scheint es fraglich, ob sich
        dadurch nachhaltige Wettbewerbsvorteile erzielen lassen. Untersuchungen zeigen, dass in Zeiten
        grösserer Strukturbrüche, in denen die Spielregeln der Märkte neu definiert werden, die
        erfolgreichsten Konkurrenten mehrheitlich der Gruppe der ”Newcomer” angehören (Hamel 2000,
        S. 12). Die Bedürfnisse und Motive eines sich ständig wandelnden Kunden und somit einer
        Fokussierung auf den Customer Value werden stärker in den Vordergrund rücken und von zentraler
        Bedeutung für Geschäftsmodelle von Morgen zur Generierung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile.

20.5 Strategische Grundfragen für die Wertschöpfung im Bereich
     Financial Services
In dynamischen Märkten werden austauschbare generische Strategien Porter’scher Prägung, die sich auf die
Identifikation und Auswahl attraktiver Produkt-/Marktkombinationen stützen (Market based View; MbV),
zunehmend obsolet, gehen sie doch von relativ stabilen, abgrenzbaren Wettbewerbsstrukturen und analytisch
erfassbaren Märkten aus. Dadurch bieten sie kaum eine ausreichende Grundlage für eine nachhaltig
eigenständige Positionierung in Risiko- und Finanzdienstleistungsmärkten, die einer steigenden
Umweltdynamik, neuen Spielregeln und immer rascheren Veränderungen unterworfen sind.

Kernkompetenz-Ansatz zur Integration von Markt- und Ressourcenperspektive

Aufgrund der beschriebenen Mängel der bislang vorherrschenden, ausschliesslich marktorientierten
Strategien wurden in letzter Zeit die Ressourcen des Unternehmens als innere Quellen des Erfolgs für das
strategische Management wieder entdeckt (Resource based View; RbV). Zeitgemässe strategische
Managementansätze haben es sich seither zur Aufgabe gemacht, beide Sichten, also sowohl die Ressourcen-
als auch die Marktperspektive, zu integrieren. Einen solchen Ansatz stellt das Konzept der
Kernkompetenzen dar, welches postuliert, dass die Wettbewerbsvorteile eines Unternehmens auf dessen
einzigartigen, kundennutzenstiftenden Fähigkeiten beruhen. Durch die Integration von marktorientierten
(Kundennutzen) und ressourcenorientierten (Fähigkeiten) Kriterien wird eine umfassende Beurteilung der
strategischen Ausgangssituation bzw. Alternativen möglich, die den Ansätzen des MbV verschlossen bleibt.
Im Gegensatz zum MbV verhaftet der Kernkompetenz-Ansatz nicht in einem Produkt-/Markt-Denken,
sondern stellt die Frage, wie mit den vorhandenen und erschliessbaren Kompetenzen Problemlösungen für
die Kunden geschaffen werden können. Dementsprechend ist das strategische Management auf die
Beantwortung der Frage nach den Funktionen, die ein Unternehmen wahrnehmen kann, auszudehnen. Diese
stringente Fortführung des Funktionendenkens leitet nahtlos in eine kernkompetenz-orientierte
Betrachtungsweise über. Ausgehend von den Kundenbedürfnissen werden aufgrund der Kernkompetenzen
eines Unternehmens die erfüllbaren Kundenfunktionen festgelegt, die letztlich in konkreten Marktleistungen
bzw. Produkten münden. Die Produktebene als Denkrahmen wird somit verlassen und die
Kundenbedürfnisse als Orientierungsgrösse ins Zentrum der Betrachtungen gestellt (vgl. Abbildung 20.11).

                                                                                                         14
Markt-
          Kernkompetenzen                      leistungen                Kundenbedürfnisse
          des Versicherungs-                                             rund um die
          Unternehmens                                                   Sicherheit
          (heutige & künftige)                  erfüllbare
                                                Funktionen

     "what business are we capable of?"                          "what business are we really in?"

Abbildung 20.11: Gegenseitige Ergänzung des Funktionen- und des Kernkompetenzdenkens (Maas 2001, S.
52)

Das Funktionendenken und die Orientierung an Kernkompetenzen ergänzen sich somit gegenseitig. Die
Analyse der Kundenbedürfnisse öffnet den Fokus der potenziellen Unternehmensleistungen (”what business
are we really in?”) und die Kernkompetenz-Orientierung betrachtet auf dieser Grundlage die
Kombinationsmöglichkeiten der Fähigkeiten des Unternehmens zur Entwicklung neuartiger Produkte und
Dienstleistungen (”What business are we capable of?”). Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen wird
deutlich, welche potenziellen Leistungen durch bestehende Kernkompetenzen abgedeckt werden und wo
durch Eigenaufbau oder Kooperationen neue Kernkompetenzen erschlossen werden können und müssen.
Übertragen auf die Versicherungswirtschaft, bedeuten die obigen Aussagen zum einen, dass die
Kernkompetenzen der Versicherer keineswegs ausschliesslich im Bereich des Kernprodukts
Versicherungsschutz liegen müssen, sondern ebenso in den ergänzenden (Nichtversicherungs-)Leistungen
angesiedelt sein können. Damit verschieben sich möglicherweise auch die relevanten Erfolgsfaktoren des
Geschäfts mit Versicherungen. Je weiter sich die Leistungen vom blossen finanziellen Risikoschutz
entfernen, desto stärker müssen die Versicherungsgesellschaften Kompetenzen gewichten, die nicht
traditionell mit ihrem Kerngeschäft verhaftet sind. Zum anderen können aber auch Nichtversicherer durch
den Einsatz bestehender oder die Entwicklung neuer Kernkompetenzen Versicherungsfunktionen
wahrnehmen (vgl. dazu auch Abschnitt 20.2).

Von der traditionellen Wertschöpfungskette hin zu Wertschöpfungs-Netzwerken
Die traditionellen Grenzen zwischen verschiedenen Branchen geraten in Bewegung. Im Zeichen von
Multimedia wachsen z. B. Telekommunikation, Film-, Fernseh-, Computerindustrie zusammen; ähnliche
Entwicklungen lassen sich auch in anderen Bereichen beobachten. Wo fängt beispielsweise die
Finanzdienstleistungsbranche an und wo hört sie auf? In den USA kann man eine Hypothek von General
Electric Capital bekommen, ein Scheckbuch von Merril Lynch, ein Pensionskonto von Fidelity Investment
und eine Kreditkarte von General Motors (vgl. Hamel/Prahalad 1996, S. 240). Europa liegt in dieser
Entwicklung noch etwas zurück, doch sprechen vielfältige Kooperationen zwischen Banken und
Versicherungen eine deutliche Sprache. Neben dem strategischen Aspekt der Unternehmensgrösse geht es
bei diesen Allianzen auch um eine Zusammenführung von Know-how, das bei Finanzdienstleistungen für
die gesamte Wertschöpfungskette zum Kunden vorzuhalten ist. Auch hier stehen nicht spezielle Produkte im
Vordergrund, sondern die Entwicklung von Kernkompetenzen, aus denen nachhaltige Wettbewerbsvorteile
im Markt generiert werden können. Dabei entsteht ein ”Netzwerk von Wertschöpfungs-Komponenten”
(vgl. Haller/Maas 1997, S. 290), aus dem sich neue Unternehmensidentitäten mit spezifischem Kundenmix
heraus bilden.

                                                                                                          15
1 Kundengruppen mit
                                                                                                                                                                                                    andere
   spezifischen Bedürftnissen                      A                 B                   C                    D
   - Sicherheit (operationell und finanziell)         rivate            etail        z.B. erbe                    strie
                                                 z.B.P NWI         z.B.R                                      Indu                1
   - Vermögenswachstum (Investition)                  H                               Gew Z               z.B. ppe X
   - Care                                         Typ                                   Typ                  Gru
   - Kommunikation                                                                                 Captives

                                                                                                                                            verschiedene Unterstützungsnetzwerke: IT, Know-How, …
   bekommen eine
                                                                                                    (ART I)
 2 individuelle Problemlösung
                                                                                                                                 2
   und werden von
   unterschiedlichen
 3 Kontaktstellen
   - Aussendienst/ Broker/ Berater
   - Telephondienste                                                                                                             3
                                                  Agenten            Telephon-           Berater              Internet-

                                                                                                                               E-Business
   - Internetzugang                                                  dienste                                  zugang
   betreut und durch

 4 Service-Centers                                                   Call-Center             Bank                 E-Platform
                                                   persönliche
   - direkt/indirekt                                Beratung             CTI             pers./Schalter             www
   - lokal/regional                                                                                                              4
   mit diversen
   Kommunikationsmitteln,
   insbesondere www unterstützt
                                             Versicherung A      Versicherung B     VersicherungC         Versicherung X         5
 5 Versicherungsschutz
   wird weitgehend modular                         z.B. Kooperationen
   in “Fabriken” produziert
                                                    traditionelle
                                                  Rückversicherung
 6 und auf verschiedenen
   Risikomärkten fein verteilt                                              Investoren                                           6
                                                                                                        andere
                                                                                  Banken
                                                  Retro                                              Intermediäre
                                                                                             (ART II)

  Matthias Haller, Universität St. Gallen

Abbildung 20.12: Vision 2.007: Ein Netzwerk von Wertschöpfungs-Komponenten (Haller 1999, S. 43)

Die Grundannahme eines solchen Netzwerk-Modells besteht in der Ausdifferenzierung der Risiko- und
Finanzdienstleistungsmärkte. Das Netzwerk kann gedanklich in fünf Ebenen aufgegliedert werden, die
ausgehend vom Markt bzw. den verschiedenen Kundensegmenten sämtliche Wertschöpfungsstufen bis hin
zur Feinverteilung der Risiken (z. B. mittels Rückversicherung) umfassen (vgl. Abbildung 20.12):
    (1) Die Kundengruppen mit spezifischen Bedürfnissen (z. B. Privatkunden, Gewerbe, Industrie etc.)
        bilden die erste Ebene im Netzwerk. Sie werden anhand ihrer Bedürfnisse in Segmente gegliedert
        und erfahren durch kompetente Dienstleistungseinheiten eine Rundum-Betreuung.
    (2) Auf der zweiten Ebene beraten Dienstleistungseinheiten (DLE) ihre entsprechenden
        Kundengruppen umfassend im Sinne echter Problemlösungen. Die Leistungen können auf
        verschiedenartigsten Wegen erbracht werden. Denkbar sind bspw. die Betreuung der Kunden über
        firmengebundene Aussendienste, Mehrfachagenten, Makler, Telefon, Internet und andere mehr.
        Prägend für die DLE ist eine tendenzielle Verselbständigung, unabhängig davon, ob sie rechtlich
        und wirtschaftlich gänzlich autonom oder Teil eines Risiko- bzw. Finanzkonzerns sind.
    (3) Die Service-Center auf der dritten Ebene unterstützen einerseits die DLE mit Back-Office-
        Leistungen, können aber gegebenenfalls auch direkte Dienste für die Kunden erbringen (z. B.
        Helplines). Sie befinden sich an zentralen Standorten und sind informations- und
        kommunikationstechnisch eng mit den DLE verknüpft. Auch die Funktionsbereiche auf dieser
        Ebene entwickeln mehr und mehr eine Selbständigkeit, indem sie ihre Dienste verschiedenen
        Institutionen anbieten.
    (4) Auf Ebene vier wird der Versicherungsschutz von nachgelagerten Geschäftseinheiten entworfen,
        organisiert und den DLE in Rechnung gestellt.
    (5) Die Risiken werden schliesslich in Ebene 5 auf verschiedene Risikomärkte feinverteilt. Zum
        traditionellen partiellen Transfer der Risiken auf unabhängige Rückversicherungsgesellschaften
        durch die Erstversicherer gelangen neu alternative Risiko-Transfer Instrumente (ART), die eine
        Kombination der Kernkompetenzen verschiedenster Unternehmen bzw. Unternehmensarten (z. B.
        Versicherer, Banken, Fondsgesellschaften, Captives) fördern.

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