Hallo Wodka, ich bin's, Chelsea - Chelsea Handler Leseprobe aus

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Leseprobe aus:

              Chelsea Handler

Hallo Wodka, ich bin's, Chelsea

      Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
A U F D E R S C H WA R Z E N L I S T E

     ines Morgens, ich war neun Jahre alt und brachte mich
E    gerade selbst zur Schule, hörte ich den unvertrauten
Klang einer präpubertären Jungenstimme, die meinen
Namen rief. Natürlich hatte ich schon zuvor gehört, wie
männliche Stimmen laut meinen Namen äußerten, aber
meist von einem meiner Brüder, meinem Vater oder einem
Lehrer, in der Regel gefolgt von einem Klaps auf den Hin-
terkopf.
   Ich drehte mich um und erblickte Jason Safirstein. Jason
war ein hinreißender Fünftklässler mit durchaus beacht-
lichem Unterleib, der auf derselben Straße wohnte wie ich.
Ich hatte noch nie ein Wort, ja, nicht mal einen Blick mit
Jason gewechselt, geschweige denn morgens den Schulweg
mit ihm zusammen zurückgelegt. Nachdem ich meinen
Ohrenwärmer halb hochgeschoben hatte, um ganz sicher-
zugehen, dass ich mich nicht verhört hatte, blieb ich stehen,
um auf ihn zu warten, wobei ich mir gleichzeitig nervös
am Hintern herumfummelte, um meine hochgerutschte
Unterhose nach unten zu zupfen. Ein aussichtsloses Un-
terfangen übrigens, da ich Fäustlinge von der Größe von
Autobatterien trug.
   «Ich hab gehört, du wirst in einem Film mit Goldie
Hawn mitspielen», schnaufte er ganz außer Atem.
   Verflucht. Genau so etwas hatte ich befürchtet. Am
Vortag hatte ich meine Hausaufgaben für Englisch ver-
gessen, und als die Lehrerin mich vor der gesamten Klasse

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zur Rede stellte und wissen wollte, warum ich sie nicht
gemacht hätte, erzählte ich ihr, ich hätte drei Tage am
Stück Meetings mit Goldie Hawn und Kurt Russell ge-
habt, um meinen Vertrag für meine Rolle als Tochter von
Goldie Hawn in der Fortsetzung von Schütze Benjamin
auszuhandeln.
   Dass zu Schütze Benjamin überhaupt keine Fortsetzung
geplant war und eine Drittklässlerin wohl auch kaum
selbst ihren Vertrag mit dem Star des Films und deren Le-
bensgefährten aushandeln würde, hatte ich dabei gar nicht
bedacht.
   «Äh, na ja, das war ein bisschen gelogen», druckste ich
und rettete diskret meinen linken Fäustling, der sich zwi-
schen meinen Pobacken verklemmt hatte.
   «Was?» Er schien fassungslos. «Du hast gelogen? Alle
reden von nichts anderem. Alle finden das so cool.»
   «Ach wirklich?», fragte ich und wechselte eilig die Tak-
tik, als mir aufging, was sich da Kolossales ereignet hatte.
Ich begriff sofort, das war die ideale Gelegenheit, mir den
Respekt zu verschaffen, der mir bislang, so meine Ver-
mutung, bei meinen Mitschülern versagt blieb, weil mein
Vater mich regelmäßig mit einem bananengelben Yugo,
Baujahr 1967, zur Schule brachte. Wir schrieben das Jahr
1984, und mein Vater hatte keine Ahnung und interes-
sierte sich auch nicht dafür, wie katastrophal sich seine
Uraltkarre auf meinen sozialen Status auswirkte. Er hatte
mich an ein paar richtig kalten Tagen zur Schule gefahren
und meine flehentlichen Bitten, mich ein Stück von der
Schule entfernt aussteigen zu lassen, mit der Begründung
abgeschmettert, ich könnte mir unterwegs eine Erkältung
holen.
   «Paps», wiederholte ich immer und immer wieder, «das

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Wetter spielt keine Rolle dabei, ob man sich erkältet. Das
liegt am eigenen Immunsystem. Bitte lass mich das letzte
Stück zu Fuß gehen. Bitte!!!»
   «Red nicht solchen Unsinn», lautete darauf seine Ant-
wort. «Das wäre Kindesmisshandlung.»
   Zu gern hätte ich meinem Vater begreiflich gemacht,
dass es Kindesmisshandlung war, seine Tochter regelmäßig
zum Gespött zu machen, ohne sich über die Folgen nur
im Geringsten Gedanken zu machen. In der Schule hatte
sich im Nu herumgesprochen, was mein Vater für ein Auto
fuhr, und schon bald verfolgten mich die älteren Mädchen
aus der fünften Klasse in den Schulfluren und verhöhnten
mich als «arm» und «hässlich». Nach ein paar Monaten
legten sie noch eine Schippe drauf, bezeichneten mich als
«Hund» und bellten jedes Mal, wenn sie mir über den Weg
liefen.
   Arm war unsere Familie bestimmt nicht, aber wir lebten
in einer Stadt, wo Treuhandfonds, Ferien in teuren Som-
merlagern und Reisen nach Europa ebenso zum guten Ton
gehörten wie Nobelschlitten der Marke Mercedes, Jaguar
und BMW. Gar kein Vergleich zu meiner Welt, die von
platten Reifen, fehlenden Scheibenwischern und Fahrzeu-
gen, in denen am Armaturenbrett pausenlos die Anzeige
MOTOR PRÜFEN leuchtete, geprägt war.
   Warum ich hässlich sein oder wie ein Hund aussehen
sollte, weil ich in einer alten Schrottmühle zur Schule ge-
bracht wurde, war zu hoch für mich. Es wurmte mich
ungemein, dafür büßen zu müssen, dass mein Vater sich
für einen Gebrauchtwagenhändler hielt und darauf be-
stand, uns in den Karren durch die Gegend zu fahren,
für die er keine Käufer fand. Mir gefielen seine Autos
auch nicht, und ganz sicher gefiel es mir nicht, als Hund

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beschimpft zu werden. Unter Komplexen hatte ich bis
dahin nie gelitten, doch wenn man ein halbes Jahr lang
immer wieder denselben Schimpfnamen hört, fängt man
unwillkürlich an, beim Blick in den Spiegel gewisse Ähn-
lichkeiten zwischen sich und einem Dobermann fest-
zustellen.
   Hätte man mich nur dann und wann aufgezogen, wäre
ich damit vermutlich klargekommen, aber es war ein pau-
senloser Terror, der morgens anfing, wenn ich zur Schule
kam, und erst bei Schulschluss wieder aufhörte. Nach einer
Weile war es so weit, dass die meisten meiner Freundin-
nen aus der dritten Klasse sich nicht mehr mit mir in den
Schulfluren sehen lassen wollten, um nicht ebenfalls auf
der schwarzen Liste zu landen. Meine beste Freundin, Jodi
Sapperman, war die Einzige, die unterwegs zum Unterricht
nie von meiner Seite wich und mich in Schutz nahm, wenn
mittags in der Schulcafeteria Mädchen aus der Fünften an
unseren Tisch kamen und fragten, ob ich da Chappi auf
dem Teller hätte.
   «Nun, ich hätte wohl nicht ‹gelogen› sagen sollen, das
ist das falsche Wort», sagte ich zu Jason. «Es gibt noch
Probleme wegen meines Wohnwagens am Set. Goldie ist
da ziemlich locker, aber Kurt ist so schwierig. Er will nicht
einsehen, warum eine Neunjährige einen Jacuzzi und einen
Großbildfernseher braucht», erklärte ich mit einem bei-
läufigen Wedeln meines Fäustlings. «Genau diese Fragen
verschlingen immer viel Zeit.»
   «Du bekommst einen eigenen Wohnwagen?», fragte er.
   «Ja, du weißt schon, ein eigenes kleines Zuhause, wäh-
rend man dreht. Jeder Schauspieler kriegt einen. Bei Dreh-
arbeiten gibt es ja so viel Leerlauf, da braucht man einfach
ein Plätzchen, um seine Ruhe zu haben. Ich finde, meiner

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ist nicht annähernd groß genug, um drei Monate darin
zu leben, aber es ist meine erste größere Rolle, also bin
ich gewillt, mich mit etwas weniger als dem Besten vom
Besten zufriedenzugeben.»
   Dass ich mit neun Jahren so gut übers Filmgeschäft Be-
scheid wusste, lag daran, dass ich jede freie Minute vor
dem Fernseher verbrachte, mir Spielfilme anschaute und
jedes Buch über Der Frühstücksclub verschlang, das mir in
die Hände fiel. Wenn man in einem Haus aufwächst, des-
sen Auffahrt mit Gebrauchtwagen aus den vorangegan-
genen zwei Jahrzehnten zugeparkt ist und Eltern hat, die
eine Jeans für zehn Dollar im Jahr 1984 für zu teuer halten,
bleibt einem kaum etwas übrig, als sich in eine Welt zu
flüchten, in der Geld keine Rolle spielt.
   «Wie hast du die Rolle denn bekommen?», fragte Jason.
«Ich wusste gar nicht, dass du Schauspielerin bist.»
   «Woher auch», gab ich mich großmütig. «Die Sache ist
die, ich habe mit Meryl Streep zusammen an einer kleinen
Off-Broadway-Produkion mitgewirkt.» Hier verstummte
ich, um ihm Gelegenheit zum Nachhaken zu geben.
   «Meryl Streep?», fragte er. «Die aus Sophies Entschei-
dung?»
   «Gibt es noch eine andere?» Ich verdrehte die Augen
über seine Naivität. «Jedenfalls hat es zwischen ihr und
mir richtig Klick gemacht. Sie hat mich dem Regisseur die-
ses Films empfohlen; so geht das in Hollywood, eins führt
zum anderen, bla bla bla. Aber da gibt es noch jede Menge
kreative Zwistigkeiten, wer weiß also, ob überhaupt was
draus wird.»
   «Oh.»
   Jason war enttäuscht, das merkte ich, deshalb beeilte ich
mich, ihn bei der Stange zu halten, damit er nicht das In-

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teresse verlor. Etwas mit einem älteren Mann anzufangen
war immer schon mein heimlicher Traum gewesen, und
ich fand, dass Jason nicht nur das Zeug zu einem wunder-
baren Liebhaber hatte, sondern auch als liebevoller Vater
der schwarzen Zwillinge in Betracht kam, die ich später in
Äthiopien adoptieren wollte. «Natürlich wird etwas draus,
meine ich, aber es könnte noch Monate dauern. Vielleicht
kannst du mich ja mal am Set besuchen kommen.»
   «Wirklich?» Es hätte nicht viel gefehlt, und die Augen
wären ihm aus dem Kopf gesprungen.
   Mir fiel auf, dass ich ihm ein völlig haltloses Angebot
gemacht hatte, also musste ich mir rasch einen Rückzieher
einfallen lassen. Hastig ergänzte ich: «Na ja, falls deine
Eltern dich auf die Galapagos-Inseln fliegen lassen, meine
ich.»
   «Wohin?»
   «Auf die Galapagos-Inseln», wiederholte ich, während
ich angestrengt überlegte, warum genau man die Fortset-
zung von Schütze Benjamin inmitten von Riesenschildkrö-
ten drehen sollte. «Da gibt es massenhaft seltene Tierarten,
also wird sie sich diesmal mehr mit Quallen und Seepferd-
chen im Wasser tummeln. Der Film wird im Grunde ein
Zwischending aus Splash – Eine Jungfrau am Haken und
Schütze Benjamin.»
   «Splash fand ich genial!», kreischte Jason. «Mensch, ist
das cool!»
   «Daryl ist eine einzige Katastrophe», sagte ich unter
Kopfschütteln.
   «Daryl Hannah?»
   Ich schnaubte. «Sprich mich lieber nicht auf die an.»
   An der Schule angekommen, hielt ich den Ball flach, ver-
abschiedete mich lässig von Jason, der mich mit offenem

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Mund anstarrte, und ging meiner Wege. Es war ein tolles
Gefühl, bei Jason Beachtung zu finden. Selbst wenn wir
vom Sternzeichen her letzten Endes sexuell nicht zueinan-
derpassen sollten, sah er süß aus und war beliebt, und es
konnte auf keinen Fall schaden, mit ihm befreundet zu
sein. Er könnte sich als idealer Verbündeter entpuppen,
um die Giftspritzen aus der Fünften dazu zu bringen, mir
mit etwas mehr Achtung zu begegnen.
   Bis zum Mittag hatte mich fast jeder an der Schule auf
den Film angesprochen. Die Mädchen aus der Fünften sa-
hen nicht nur von ihren täglichen Schikanen ab, nein, eine
von ihnen sagte sogar im Vorbeigehen «Hallo» zu mir.
Den ganzen Tag über machte sich kein Mensch über mich
lustig oder bellte mich an. Jodi und ich hatten uns kaum
zum Essen an den Tisch gesetzt, als wir auch schon von
anderen Schülern umringt wurden.
   «Wie ist Goldie Hawn denn privat so?», wollte ein an-
derer Junge aus der Fünften von mir wissen.
   «Winzig», erwiderte ich. «Wir sind mehr oder weniger
gleich groß.»
   «Echt, in Filmen wirkt sie immer viel größer.»
   «Sie ist wie eine Mutter zu mir. Wir verstehen uns groß-
artig.»
   Als wir endlich eine Minute für uns hatten, stellte Jodi
mich zur Rede. Sie wusste ja nun ganz genau, dass ich nie
mit Meryl Streep auf der Bühne gestanden hatte, schon gar
nicht in einer Off-Broadway-Produktion der Sesamstraße,
die ich übermütig in «Sesam-Streep» umbenannt hatte.
   «Schon klar, Jodi, aber sieh es mal so: Das ist heute das
erste Mal seit Monaten, dass ich von denen aus der Fünf-
ten nicht als Hund oder als hässlich beschimpft worden
bin, und das fühlt sich ziemlich gut an, ehrlich gesagt.»

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«Verstehe ich», sagte sie, «aber was willst du tun, wenn
die dahinterkommen, dass du lügst?»
   «Das wird in Vergessenheit geraten», erwiderte ich, be-
flügelt von der allgemeinen Aufmerksamkeit. «Ich sage
einfach, dass die Dreharbeiten im Sommer stattfinden, und
wenn nach den Ferien das neue Schuljahr anfängt, haben
die das längst vergessen. Außerdem wechseln die Fünft-
klässler dann in die Mittelstufe, also können die mich
mal.»
   «Ja, aber was ist mit allen anderen?», ließ Jodi nicht
locker. «Könntest du nicht irgendwie versuchen, Goldie
Hawn persönlich zu treffen und dich wenigstens mit ihr
zusammen fotografieren lassen?»
   «Sehr gute Idee», antwortete ich, während ich meine
Pausenbrotdose mit dem Ms. Pac Man-Dekor aufklappte
und ein Brot mit Erdnussbutter und Frischkäse vorfand.
«Was soll das denn sein, verdammt?», fragte ich beim
Auswickeln und pfefferte das Brot auf den Tisch. «Meine
Eltern sind doch echt das Letzte.»
   Diese Art kleiner Missgeschicke kannte Jodi schon seit
unseren gemeinsamen Kindergartentagen. Meine Mutter
war zwar die Liebe und Güte in Person, hatte aber un-
gefähr so viel Organisationstalent wie ein Seelöwe, des-
halb vergaß sie immer, mir ein Brot für die Mittagspause
zu machen. Also musste ich jeden Morgen meinen Vater
bitten, mir ein Brot zu machen. Er wiederum hatte so viel
kulinarisches Geschick wie ein Seelöwe, und ganz gleich,
wie oft ich ihm vorbetete «Erdnussbutter und Marmela-
de», er schaffte es jedes Mal, die Sache irgendwie zu ver-
patzen.
   «Möchtest du die Hälfte von meinem Brot abhaben?»,
fragte Jodi und hielt mir eine mit Schinken und Käse be-

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legte Brothälfte entgegen. Die ich ihr auch bestimmt aus
der Hand gerissen hätte, wenn ich mich nicht schon die
gesamte dritte Klasse über koscher ernährt hätte.
   «Nein, lass mal», sagte ich, ließ das Brot ganz aus und
biss direkt in einen meiner Schokomuffins.
   Der Tag wurde immer verrückter, immer neue Mitschü-
ler sprachen mich an, um mir zu gratulieren, sich als Fans
zu outen und mir genauere Informationen zu entlocken.
Ein Erstklässler bat mich sogar um ein Autogramm. Am
Ende des Schultags drehten wir nicht nur auf den Gala-
pagos, sondern Soleil Moon Fry, alias Punky Brewster,
würde in dem Film meine Schwester spielen. Weil sie mit
ihren dunklen Haaren und Sommersprossen aber so völ-
lig anders aussah als ich mit meinen blonden Haaren und
blauen Augen, änderte ich dies schnell in Stiefschwester.
   Bei Schulschluss war ich im Nu umringt von allen, die
bei mir in der Siedlung wohnten und sich Chancen auf
einen vertraulichen Plausch ausrechneten, und so legte ich
den Heimweg zusammen mit einem achtköpfigen Pulk zu-
rück. Dass sich vor allem ältere Schüler für mich interes-
sierten, war ein zusätzliches Plus, da ich in ihnen stets
meine eigentliche Zielgruppe gesehen hatte. Schon immer
kam ich mir älter vor als meine Altersgenossen, und es
frustrierte mich, wenn die anderen Drittklässler null Inter-
esse daran zeigten, mit mir zu erörtern, was sich während
der Nixon-Regierung zehn Jahre zuvor wirklich abgespielt
hatte. Dieses Gefühl hat mich schon sehr früh beschlichen,
von meinem zweiten Tag im Kindergarten an. Damals
wurde mir klar, dass meine Altersgenossen zwar prima
dazu in der Lage waren, Steck-dem-Esel-den-Schwanz-an
zu spielen, aber keinen Schimmer davon hatten, wie man
ein Entschuldigungsschreiben der Eltern fälschte.

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