Hedwig Richter: Rechtsunsicherheit als Prinzip. Die Herrnhuter Brüdergemeine und wie der SED-Staat seine Untertanen in Schach hielt ...

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Hedwig Richter: Rechtsunsicherheit als Prinzip. Die Herrnhuter Brüdergemeine und wie der SED-Staat seine Untertanen in Schach hielt ...
Hedwig Richter: Rechtsunsicherheit
                 als Prinzip. Die Herrnhuter
                 Brüdergemeine und wie der SED-
                 Staat seine Untertanen in Schach
                 hielt.
                 In: Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane
                 Schütterle (Hg.): Die DDR im Blick. Ein
                 zeithistorisches Lesebuch.
                 Berlin: Metropol 2008, S. 77 – 85.

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HEDWIG RICHTER

Rechtsunsicherheit als Prinzip
Die Herrnhuter Brüdergemeine und wie der SED-Staat seine
Untertanen in Schach hielt

Preisgabe intimer Details, Durchleuchtung der Privatsphäre anderer, Denunzia-
tion von christlichen Jugendlichen, weitergeleitete Protokolle über vertrauliche
Gespräche, Bewertung der Mitmenschen nach real-sozialistischen Maßgaben,
Verrat, Erpressung – der Inhalt einer der unzähligen Stasi-Akten? Keineswegs:
Hier handelt es sich um die Informationsberichte der ostdeutschen CDU. Da
die SED der Christdemokratischen Partei die Rolle zugedacht hatte, die christ-
lichen Bürger an das System zu binden, fühlten sich die Funktionäre der Block-
partei verpflichtet, in ihren Berichten diese Klientel besonders in den Blick zu
nehmen. Ein Gegenstand des christdemokratischen Interesses war die protes-
tantische Freikirche der Herrnhuter Brüdergemeine, von deren Mitgliedern
etliche der CDU angehörten und die zur CDU-Spitze gute Beziehungen
unterhielt. Die Informationen landeten stets an der richtigen Stelle, egal ob bei
der Bezirksverwaltung in Dresden oder bei der SED-Abteilung für Kirchen-
fragen im Zentralkomitee in Berlin.1 Die Christdemokraten waren freilich nur

1   Die Berichte finden sich in den Beständen des Archivs Christlich-Demokratischer Par-
    teien (etwa ACDP II-VII), in den Akten des Rates des Bezirkes Dresden und des Krei-
    ses Löbau, der Volkspolizei, des Staatssekretariats für Kirchenfragen und des ZK (HStA
    Drd. 11430 oder SAPMO-BArch DY 30/IV, BArch DO 4). Vgl. allgemein zu den Berichten
    Ralph Jessen, Diktatorische Herrschaft als kommunikative Praxis. Überlegungen zum
    Zusammenhang von „Bürokratie“ und Sprachnormierung in der DDR-Geschichte, in: Alf
    Lüdtke/Peter Becker (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte Er-
    kundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 57–86; Alf Lüdtke, „… den Menschen
    vergessen“? – oder Das Maß der Sicherheit. Arbeiterverhalten der 1950er Jahre im Blick
    von MfS, SED, FDGB und staatlichen Leitungen, in: ebenda, S. 189–222, hier S. 189–192.
Rechtsunsicherheit als Prinzip                      79

Die allgegenwärtige Überwachung – Von der relativen Bedeutung
der Staatssicherheit

Nicht nur die CDU, auch die anderen Blockparteien, Massenorganisationen,
Betriebe oder Verwaltung, Kirchen- und sonstige Referate in den Ämtern und
natürlich die SED selbst: Alle verfassten auf verschiedenen Ebenen eine Flut
an Berichten, in denen häufig auf Verdächtiges hingewiesen wurde, das an die
nächste Instanz und bei Bedarf an beliebig viele andere Stellen weiter gemeldet
wurde. Von den fünfziger Jahren bis Ende 1989 arbeitete die Rapport-Maschi-
nerie und gehörte damit zu den Konstanten der SED-Diktatur. Wie das Beispiel
der ländlichen Umgebung Herrnhuts in Sachsen zeigt, konnte der SED-Staat
hier auf eine Denunziationspraxis zurückgreifen, die bereits im NS-Staat weit
verbreitet gewesen war. Während sich das Ministerium für Staatssicherheit eher
auf die dezidierten „Republikfeinde“ konzentrierte, ermöglichte das allgemeine
Berichtswesen dem Staat, auch über die Mehrheit der angepassten Bevölke-
rung die Übersicht zu behalten. Diese Observation hatte den Vorteil, dass hier
jeder jederzeit jeden denunzieren konnte, ohne wie beim MfS zuvor irgendeine
Verpflichtung eingehen zu müssen. Und während die Staatssicherheit stets un-
geliebt blieb, hielt die Bevölkerung diese Berichte für legitim. Sie gehörten zum
offiziellen Verwaltungsrepertoire wie die Zensur, die Reisebeschränkungen, die
zentral gelenkte Ausbildungsplatz- und Wohnungsvergabe oder die Melde-
pflicht ausländischer Gäste.
     Obwohl die Berichte der Staatssicherheit über die Herrnhuter meist nur
belanglose Informationen enthielten, und sich in der Brüdergemeine nach
Aktenlage unter den rund 5000 Mitgliedern in der DDR nur wenige zum Spit-
zeldienst für das MfS bereit fanden, war die sozialistische Obrigkeit bestens
über die Brüdergemeine informiert. Statt von der Staatssicherheit schöpften
die zuständigen Instanzen – die Bezirksverwaltung in Dresden und das Staats-
sekretariat für Kirchenfragen in Berlin – ihr Wissen vor allem aus den „Infor-
mationsberichten“ des Kreises. Der Bezirk wusste dank dieser Meldungen über
die Brüdergemeine wesentlich besser Bescheid als die Staatssicherheit, zumal
Bezirks- und Kreisfunktionäre vor dem Schutz der Privatsphäre ebenso wenig
Respekt hatten wie MfS-Mitarbeiter. Es gab nichts, was in den Berichten einem
Tabu unterlegen hätte: die Gottesdienste in den Dorfkirchen, der Fortschritt
der Entkirchlichung im Kreis, Äußerungen der Pfarrer und Denunziationen,
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potenzielle Wehrdienstverweigerer, Bildungswege der Pfarrkinder, Tischgebet
einer Schülerin in der Schulmensa, der Literaturbestand in den Wohnzimmern
der Christen, die Hobbys der Pfarrfrauen etc. Neben den Rapporten der CDU
komplettierten Mitteilungen der Volkspolizei das Berichtswesen über die Frei-
kirche. Dabei kamen selbst Schulhofprügeleien und Teenager-Flirts ins Visier.
1956 etwa informierte die Polizei in gewohnt schlechtem Amts-Deutsch: „In
Herrnhut schlagen sich die Kinder in der Schule wegen dem Religions-
unterricht, und in Cunewalde kam dies bei der Schlittenfahrt vor, da die Re-
ligionslehrer den Kindern gesagt haben, sie sollen alle Kinder dazu zwingen“.
Die Dresdener Volkspolizei meldete, in Herrnhut werde ein Zettel folgenden
Inhalts verteilt: „Auf dem Hutberg [beliebtes Ausflugsziel in Herrnhut] man
schöne Mädchen sieht“. Bei den Dresdner Behörden der Bezirksverwaltung lag
neben diesen Berichten alles, was der Überwachung oder Erpressung dienlich
war: persönliche Informationen, Anschwärzungen, Anweisungen an Schul-
direktoren für das Abstrafen christlicher Schüler und immer wieder Daten über
das Verhalten der Pfarrer bei Wahlen. Das Staatssekretariat in Berlin erhielt wie
die Arbeitsgruppe für Kirchenfragen des ZK in Berlin monatliche Berichte und
Jahreseinschätzungen von den Kirchenreferaten der Bezirksverwaltungen. So
landeten auch in dieser Behörde vertrauliche Materialien aller Art.
     Doch die Berichte waren keine Einbahnstraße. Sie bezogen die Bürger in
vielfältiger Weise ein. Staatsnahe Theologen ergänzten in der ganzen Republik
Observationsrapporte ohne den Umweg über das MfS mit Denunziationen
ihrer Kollegen. Es war ein Geben und Nehmen. Bürger nutzten das Berichts-
wesen sogar, um Drohungen nach oben weiterzuleiten: So forderte etwa der
Herrnhuter Bürgermeister 1954 materielle Unterstützung für seine Stadt mit
einem Verweis auf drohende Schwierigkeiten bei den Volkskammerwahlen
am Ort. Da die Berichte auch von den Klagen der Einwohner erzählten, in-
formierten sie (ähnlich wie in anderen Diktaturen) die Machthaber über Pro-
bleme, von denen die Obrigkeit mangels Öffentlichkeit sonst nichts erfahren
konnte. Der Herrnhuter Bischof gab regelmäßig seinen Protest gegen die
Diskriminierung christlicher Jugendlicher oder seinen Spott über die „mar-
xistische Wissenschaft“ zu Protokoll. 1970 hieß es in einem Überwachungs-
bericht der Bezirksverwaltung, die Dresdner Pfarrer hätten erklärt, ohne sie
„würde der Staatsapparat ja von überhaupt niemandem die wahre Meinung
der Bevölkerung erfahren.“
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Die Aushandlungsprozesse – Der gnädige Staat und seine
willfährigen Untertanen

Eine Funktion der Observationsberichte war es, Erpressungsmaterial für
die Gespräche und Aushandlungsprozesse zu liefern, die neben den Berich-
ten ein weiteres zentrales Moment in der Kommunikation zwischen Staat
und Gesellschaft waren. Da es häufig keine rechtsstaatlichen Verfahren gab
(egal ob für die Einfuhr von Literatur, den Besuch der sterbenden Mutter
im Westen oder die Zulassung zur Oberschule), musste vieles verhandelt
werden. Wenn sich der SED-Staat dann gnädig erwies, hatten die Bürger das
mindestens mit Konformität zu bezahlen. Die Aushandlungspraxis überzog
den Alltag mit einem Schleier rechtlicher Unsicherheit, brachte die Bürger
in Abhängigkeit vom Staat und stärkte die emotionale Bindung. Ein Pfund,
das die Bürger ins Geschacher einbringen konnten, waren Informationen
über andere. So erwartete 1973 die Kreisverwaltung von einem Herrnhuter
„Auskünfte“ als Gegenleistung für einen Urlaubsplatz in Ungarn.2 Bereits
Anfang der fünfziger Jahre verzichtete die Brüdergemeine darauf, einen
Rechtsanwalt für ihre Belange zu engagieren. Rechtsnormen spielten kaum
noch eine Rolle, und besondere juristische Kenntnisse waren überflüssig
geworden. Führende Mitglieder übernahmen daher die Verhandlungen mit
dem Staat selbst.
     Beispielhaft für den Aushandlungsprozess einer Kirche mit dem SED-Staat
waren die Abmachungen rund um die 250-Jahrfeier Herrnhuts im Jahr 1972.
Die Brüdergemeine hatte hier eine gute Ausgangsposition für Verhandlungen,
da die weltweit auf rund 330 000 Mitglieder angewachsene Brüdergemeine und
die ökumenische Welt in diesem Jahr auf Herrnhut blicken würden. Die Be-
hörden des SED-Staats, der immer noch um seine diplomatische Anerkennung
im Ausland rang, waren sich dessen sehr wohl bewusst, denn zahlreiche Ob-
servationsberichte hatten sie auf die internationale Bedeutung der Freikirche
aufmerksam gemacht. Die zuständigen Funktionäre wussten, dass sie zu
außerordentlichen Zugeständnissen bereit sein mussten.

2   Die Unterlagen zu dem Aushandlungsprozess liegen in den Akten des Rates des Bezirkes
    Dresden (HStA Drd. 11377, 11430), der SED-Bezirksleitung Dresden (HStA Drd. 11857 u.
    11864) und in den Beständen des Staatssekretariats für Kirchenfragen und des ZK (oder
    SAPMO-BArch DY 30/IV, BArch DO 4).
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     Grundsätzlich aber müsse, wie die Bezirksverwaltung erklärte, „Klarheit
darüber geschaffen werden, dass eine Stadt in der sozialistischen DDR Jubiläum
feiert und im Grunde keine kirchliche Berechtigung besteht, Feiern abzu-
halten“ – um damit „die großzügige staatliche Entscheidung bei kirchlichen
Wünschen“ zu demonstrieren. Für die „großzügige“ Erlaubnis, die Feiern ab-
halten zu dürfen, forderte der Staat vor allem striktes Wohlverhalten: Die Brü-
dergemeine müsse die Gäste positiv über die Politik in der DDR informieren,
wie es in einem Gesprächsprotokoll der Bezirksverwaltung hieß, auch habe man
die Kirchenleitung nachdrücklich auf „diese ihre außenpolitische Verantwor-
tung hingewiesen, weil es sich bei diesem Jubiläum um eines der größten öku-
menischen Treffen auf dem Boden der DDR handle.“ Tatsächlich sollte man bei
dem Jubiläum keine kritischen Stimmen hören, und der angereiste Delegierte
des Ökumenischen Rates der Kirchen aus Genf meinte später, Herrnhut sei
wohl in der Versuchung gewesen, „sich für die zugestandene Bewegungsfreiheit
durch einen besonderen Grad von Loyalität dankbar zu erweisen.“
     Zu den staatlichen Zugeständnissen gehörte es, dass es im Zuge des Aus-
handlungsprozesses um das Jubiläum Ende der sechziger Jahre zu einem in der
DDR einmaligen Vorgang kam: Die DDR reprivatisierte Volkseigentum. Die
Stern-Fabrik, die den berühmten Herrnhuter Adventsstern herstellte und die
der Staat Anfang der fünfziger Jahre enteignet hatte, wurde aus einem „Volks-
eigenen Betrieb“ ausgegliedert und der Freikirche zurückgegeben. Doch das
war nur der Auftakt des kuriosen Feilschens um das Jubiläum. Der Staat geneh-
migte 1970 den Plan der Freikirche, eine der Ruinen im Ort wieder aufzubauen,
um darin ein Förderungsheim für behinderte Jugendliche einzurichten. Der
Obrigkeit kam dieser Plan entgegen, da er die Brüdergemeine in das für
die Kirchen vorgesehene Gehege führte: die Alten- und Behindertenbetreuung,
für die der sozialistische Staat kaum finanzielle Mittel bereitstellte. Dennoch
konnten die Machthaber im Jubiläums-Geschacher für das (mit kirchlichen
Geldern zu erbauende) Behindertenheim Gegenleistungen durchsetzen: Die
Brüdergemeine musste ihr Kinderheim in Herrnhut schließen. Damit wurde
der christliche Einfluss auf gesunde Kinder unterbunden, die dem Regime
mehr am Herzen lagen als behinderte Jugendliche.
     Wollte die DDR den Hunderten ausländischen und bundesrepublika-
nischen Gästen im Jahr 1972 nicht eine Stadt in Trümmern präsentieren,
musste sie neben dem Wiederaufbau der Ruine für das Förderungszentrum
Rechtsunsicherheit als Prinzip                    83

noch weitere Bauarbeiten bewilligen. Herrnhuts barocker Stadtkern lag seit
1945 in Schutt und Asche. Der fromme Ort war in seinem Aufbau systema-
tisch benachteiligt worden. 1969 noch hatte die SED-Bezirksleitung befohlen,
der Brüdergemeine keine Baumaterialien zu genehmigen. 1970 dann hieß es in
einem Planungspapier des Bezirkes über Herrnhut: „Die Konzeption für den
Teilwiederaufbau des Stadtkerns muss davon ausgehen, dass der sozialistische
Charakter unserer Gesellschaft städtebaulich zu gestalten ist und dass dadurch
sozialistische Lebens- und Verhaltensweisen gefördert werden“. Immerhin wa-
ren nach den Informationsberichten noch 83 Prozent der Einwohner religiös.
Die Verantwortlichen des Bezirkes entwarfen daraufhin einen Masterplan für
ein Herrnhut mit sozialistischem Antlitz, dessen Kernstück ein Schulneubau
für das gesamte Umland war. Die Schule sollte „sichtbares Symbol für Leistun-
gen des werktätigen Volkes“ sein und als gewaltiger Plattenbau im Zentrum
der Stadt erstehen.
     Hier widersprachen sich die Interessen von Brüdergemeine und Behörden
diametral. Denn die traditionsbewussten Herrnhuter wollten einen denkmal-
schutzgerechten Aufbau ihrer Stadt. Zudem hatte der Schulstandort ein nicht
zu leugnendes Problem: Er war zu klein und lag an einer stark frequentierten
Fernverkehrsstraße. Die Brüdergemeine bot als Alternative ein größeres,
günstig gelegenes Landstück am Stadtrand aus ihrem Grundbesitz an. Doch
die Gemeine zog den Kürzeren, die Schule wurde im Zentrum gebaut. Die
Funktionäre aber erledigten mit dem Neubau zugleich eine zweite Aufga-
be, nämlich die „wesentliche politisch-ideologische und soziale Verbesserung
der Zusammensetzung der Schülerschaft an dieser Schule, verglichen mit dem
bisherigen Zustand in Herrnhut“, wie die Bezirksverwaltung erklärte. Dank
der Schulkinder, die nun aus der ganzen Umgegend nach Herrnhut gebracht
wurden, blieben christliche Schüler in der Minderheit. Dem Staat genügte das
noch nicht: Im Stadtzentrum entstanden große Beton-Wohnblocks, in die staat-
streue Bewohner oder Ortsfremde – häufig Mitglieder der Offiziershochschule
Löbau – einzogen. Bald bildete die Brüdergemeine nur noch ein Viertel der Ein-
wohnerschaft. So brach der SED-Staat zum 250. Geburtstag die Dominanz des
frommen Milieus in Herrnhut, und das barocke Flair der kleinen Stadt stand
nach den Aufbauarbeiten im Schatten der sozialistischen Architektur.
     Dennoch waren die Verantwortlichen der Brüdergemeine mit dem Ver-
handlungsergebnis um das Jubiläum nicht unzufrieden. Da das Behinderten-
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heim vielen Jugendlichen hervorragende medizinische Betreuung und
Förderung bot, stand sein Wert über allen staatlichen Ränkespielen. Die Auf-
gaben, die die Brüdergemeine hier übernahm, machten ihr alle Ehre, und die
Opfer, die sie dafür brachte, waren für die kleine Freikirche enorm.
     Dennoch war der ganze Vorgang an Absurdität kaum zu überbieten.
Obwohl in der DDR rund 20 000 Heimplätze für Behinderte fehlten, ließ der
sozialistische Staat nicht nur diese Arbeit weitgehend von den Kirchen finan-
zieren, er behinderte sie auch, indem er die Bauarbeiten verzögerte, den Mit-
arbeitern keine Wohnungen zur Verfügung stellte und Gegenleistungen von
der Freikirche forderte. Schließlich nutzten die Funktionäre das Herrnhuter
Behindertenheim zu Propagandazwecken und als Beweis staatlicher Toleranz
gegenüber den Kirchen:

     „Die sozialistische Gesellschaft bietet erstmalig auch den Herrnhutern
     die Chance, nicht nur den Menschen zu helfen, die von der Ausbeuterge-
     sellschaft physisch oder psychisch geschädigt wurden, sondern in ge-
     meinsamer humanistischer Verantwortung mit allen Bürgern an einer
     sozialistischen Gesellschaft mitzubauen, die solche unmenschlichen
     Schädigungen gar nicht erst zulässt“,

     so die Bezirksfunktionäre. Bei der Einweihung 1977, als das Heim für
rund 60 Jugendliche seine Barocktore öffnete, drängten sich viele Staatsgäste
ins Rampenlicht, darunter der Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger. Die
DDR-Presse jubelte mit deutlicher Spitze gegen das Christentum: „Unsere
Gesellschaft nimmt ihn [den Aufwand für Behinderte] auf sich, nicht aus
Samaritergeist, sondern aus selbstverständlicher Anerkennung der vollen
Menschenrechte ihrer behinderten Mitbürger“. Die Herrnhuter ihrerseits wa-
ren wie auch die anderen Kirchen zunehmend stolz darauf, dass der Staat ihre
diakonische Arbeit würdigte.
     Überwachung, Bestechung und Geschacher gab es in dieser Form überall
in der DDR und durchdrang selbst die Lebenswelt im abgeschotteten Milieu
der frommen Kleinstadt Herrnhut. Schon in den fünfziger Jahren wurde deut-
lich, dass große Teile der Bevölkerung diesen Zustand der Rechtsunsicherheit
gegenüber einer quasifeudalen Obrigkeit als ordnungsgemäß empfanden. Die
Gewöhnung der Gesellschaft aber an die allgegenwärtige Überwachung
Rechtsunsicherheit als Prinzip                     85

und die Erpressung – die auch ohne direkte Beteiligung der Staatssicherheit
funktionieren konnte – und deren weitgehende Akzeptanz als Normalität,
gehört zu den eindrucksvollsten Aspekten der DDR-Geschichte. Sie sind ein
Teil der Erklärung dafür, warum der Arbeiter-und-Bauern-Staat 40 Jahre Be-
stand haben konnte. Dabei lässt sich die Gesellschaft nicht einfach in Herrscher
und Beherrschte aufteilen. Das ganze System der Überwachung, Bespitzelung
und Erpressung konnte so gut funktionieren, weil es eine gesamtgesellschaft-
liche Praxis war, eine Interaktion zwischen oben und unten, bei der sich die
Grenzen verwischten.
Die DDR im Blick
Ein zeithistorisches Lesebuch

Herausgeben von
Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane Schütterle

im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
ISBN 978-3-940938-04-6

© 2008 Metropol Verlag
Ansbacher Str. 70 · 10777 Berlin
www.metropol-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Aalexx Druck, Großburgwedel
Inhalt

Einleitung
von Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane Schütterle                                                                               .........................................   11

Herrschaft im Alltag – Alltag der Herrschaft ....................................................... 17

MICHAEL BIENERT
     Wie demokratisch muss es aussehen?
     Die SED und die Inszenierung der „Volkswahlen“ 1950
     in der DDR .................................................................................................................................................................. 19

MICHAEL PL OENUS
     Zweifelnde Hasen im ideologischen Pfeffer
     Anmerkungen zum Pflichtstudium des Marxismus-Leninismus,
     seiner Tiefenwirkung und seinen Verfechtern ..................................................................... 29

TILMANN SIEBENEICHNER
     Vom Mythos einer kämpferischen Klasse
     Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse und „der Schutz der
     sozialistischen Errungenschaften“ ..................................................................................................... 39

JULIANE SCHÜ T TERLE
     Die toten Helden der Arbeit
     Das Grubenunglück auf Schacht 250 im Uranerzbergbau Wismut
     am 16. Juli 1955 ..................................................................................................................................................... 51
Inhalt

RALPH KASCHKA
        Oberbaukrise!
        Die SED, die Deutsche Reichsbahn und das Gleisnetz der DDR
        in den fünfziger Jahren .................................................................................................................................. 59

MICHAEL HEINZ
        Die Geschichte der individuellen Kuh
        Private landwirtschaftliche Produktion in der DDR                                                           ...................................................   69

HEDWIG RICHTER
        Rechtsunsicherheit als Prinzip
        Die Herrnhuter Brüdergemeine und wie der SED-Staat seine
        Untertanen in Schach hielt ........................................................................................................................ 77

D OROTHÉE B ORES
        „Wenn man ihn kalt stellt und ihn echt isoliert“.
        Wolf Biermann als Mitglied des DDR-PEN ........................................................................... 87

Aufbrüche und Ausbrüche ................................................................................................................... 97

FABIAN KL ABUNDE
        Überreden als Strategie
        Die Mauer war nicht genug ...................................................................................................................... 99

ANDREAS STIRN
        Mit dem Rollschinken nach Utopia
        Die „Fritz Heckert“ als sozialistisches Traumschiff und
        realsozialistischer Albtraum .................................................................................................................... 109

ANNA PELKA
        Wie der Pop in den Osten kam
        Mode in der DDR und in Polen in den sechziger Jahren ......................................... 119
Inhalt

PETER WURSCHI
        „Mir ist so langweilig!“
        Jugend, Alltag und die sozialistische Provinz                                             .......................................................................   129

ANGELIKA Z AHN
        Die Ruine der Dresdner Frauenkirche im Widerstreit
        der DDR-Öffentlichkeit .............................................................................................................................. 139

DANIEL SCHWANE
        Eine Geschichte des Scheiterns im Kalten Krieg
        Das „Berliner Wirtschafts-Blatt“ und der West-Ost-Handel .............................. 149

Grenzüberschreitungen ............................................................................................................................. 157

SUSANNE MUHLE
        Mit „Blitz“ und „Donner“ gegen den Klassenfeind
        Kriminelle im speziellen Westeinsatz des
        Ministeriums für Staatssicherheit ..................................................................................................... 159

SVEN SCHULTZE
        Auftrag „Grüne Woche“
        Die Landwirtschaftsausstellung als Angelegenheit
        deutsch-deutscher Systemkonkurrenz .......................................................................................... 169

PATRICIA F. ZECKERT
        „Eine Versammlung von Sehnsucht“
        Die Internationale Leipziger Buchmesse und die Leser in der DDR                                                                                        ..........   179

JENS NIEDERHU T
        „… das geistige Symbol der Einheit des deutschen Volkes“
        1964 kamen in Weimar Wissenschaftler aus beiden Teilen
        Deutschlands zusammen ............................................................................................................................ 189
Inhalt

U TA ANDREA BALBIER
      „Flaggen, Hymnen und Medaillen“
      Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft und die
      kulturelle Dimension der Deutschlandpolitik ..................................................................... 201

SUSANNE TIMM
      Vorherrschaft statt Solidarität
      Das Kinderheim Bellin für namibische Flüchtlingskinder
      von 1979 bis 1990 ................................................................................................................................................ 211

Reflexionen und Wahrnehmungen ....................................................................................... 219

JENS HÜ T TMANN
      So sah die DDR im Jahr 2000 einmal aus
      Mutmaßungen über die Zukunft der SED-Diktatur
      in der Bundesrepublik vor 1989 .......................................................................................................... 221

DANIEL FRIEDRICH STURM
      Mailand statt Magdeburg
      Viele Westdeutsche zeigten wenig Interesse an der DDR. Von einer
      staatlichen Einheit mochte die Politik nicht einmal mehr träumen ........... 229

KATHLEEN SCHRÖTER
      „… reif für eine West-Mission“
      Bildende Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik Deutschland                                                                                                     ............   239

JAN SCHEUNEMANN
      „Laßt die Finger weg von der Parteigeschichte“
      Zur Darstellung der Arbeiterbewegung in den Heimatmuseen
      der frühen DDR ..................................................................................................................................................... 249

CHIARA MARMUGI
      Wolf Biermann und sein Meister Brecht                                                         ...............................................................................   261
Inhalt

UD O GRASHOFF
           Selbsttötung oder durch die Staatssicherheit verschleierter Mord?
           Vier Beispiele aus den achtziger Jahren ...................................................................................... 269

BET TINA GREINER
           Der Preis der Anerkennung
           Zur Erinnerungsliteratur über die Speziallagerhaft                                                                                             .....................................................    281

NINA LEONHARD
           Gewinner und Verlierer der Vereinigung
           Berufsbiografische Bilanzen zweier ehemaliger NVA-Offiziere ...................... 291

Essay               ............................................................................................................................................................................................   301

RALPH JESSEN
           Eine Vorschau auf die Rückschau                                                                  ...................................................................................................    303

Abkürzungsverzeichnis ...........................................................................................................................................                                                  311
Register ........................................................................................................................................................................................                  315
Danksagung ...........................................................................................................................................................................                             319
Die Autorinnen und Autoren ...........................................................................................................................                                                             321
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