Heisse Luft und schwarzer Rauch - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 15 Januar 2019
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EDITORIAL Das Schweizer Paradies einer tödlichen Branche «I believe nicotine is not addictive»: Diese wahrheitswidrige Aussage machten die Chefs der weltgrössten Zigarettenher- steller noch 1994 vor dem amerikanischen Kongress. Die so profitable wie tödliche Tabakbranche hintertrieb jahrzehnte- lang den Kampf gegen das Rauchen, indem sie die Risiken ihrer Produkte verschwieg. Und sie untergräbt bis heute alle Massnahmen zur Bekämpfung der Nikotinsucht und ihrer Schäden. Um ein günstiges Konsumklima für Zigaretten & Co. zu schaffen, schrecken die Unternehmen auch vor juristischen Winkelzügen und aggressivem Lobbying nicht zurück. Es gibt ein Land, in dem diese umstrittene Industrie auf die Unterstützung der Politik zählen kann, wenn es um die Wahrung ihrer Interessen und die Eroberung neuer Märkte geht: die Schweiz, in der nicht zufällig gleich drei globale Tabakkonzerne beheimatet sind. Unsere Behörden stellen wirtschaftliche Interessen über die öffentliche Gesundheit. Zum Beispiel indem sie sich weigern, neutrale Verpackun- Inhalt gen durchzusetzen oder Werbung für Jugendliche zu verbieten. Zudem ermöglicht die Schweizer Gesetzgebung Die Eroberung des marokkanischen faktisch die Herstellung und Ausfuhr von Zigaretten, die Marktes S. 5 schädlicher sind als die für den Konsum in der Schweiz zugelassenen. In der Europäischen Union sind die entspre- Drei Tabakriesen auf Schweizer chenden Bestimmungen wesentlich strenger. Boden S. 6 In ihrer mit aktuellem Datenmaterial untermauerten Recherche Ergebnisse unserer Analysen S. 9 belegt Marie Maurisse, dass die politische Schweiz regelrecht süchtig ist nach Doppelstandards, von denen die Tabakkon- Fehlende Kontrollen S. 11 zerne profitieren. Skrupellos werden die Lungen der Marokkane- rinnen und Marokkaner von Zigaretten «Made in Switzerland» Regulatorisches Paradies S. 11 geschädigt, die deutlich höhere Nikotin-, Teer- und Kohlenmon- oxidwerte aufweisen als auf dem Schweizer Markt oder inner- 150 Tabakproduzenten in der Schweiz S. 15 halb der EU gefunden. Dank ihrer intensiven Lobbyarbeit im Bundeshaus und der schwachen Regulierungen einiger afrikani- Schizophrene Haltung der Schweiz S. 17 scher Länder gelingt es Philip Morris International, British American Tobacco und Japan Tobacco International, ihre Investigation Award: Massenvernichtungsmittel dort an die (zumeist sehr jungen) ein Blick hinter die Kulissen S. 18 Leute zu bringen. Dass solche Praktiken in der Schweiz legal sind, gehört zu den besonders giftigen Aspekten dieses Skandals. Géraldine Viret, Public Eye PUBLIC EYE - MAGAZIN Sondernummer Nr 15 Januar 2019 PRODUKTIONSLEITUNG TITELBILD AUFLAGE D: 26 500 Ex. / F: 10 000 Ex. ISSN 2504-1266 Raphaël de Riedmatten Mathias Rhode / Alamy – – – – KONTAKT POSTKONTO MITARBEIT LAYOUT Public Eye, Dienerstrasse 12, 80-8885-4 Maxime Ferréol, Marc Guéniat, opak.cc Postfach, 8021 Zürich – Marie Maurisse, Melanie Nobs, – Tel. +41 (0) 44 2 777 999 Das Public Eye Magazin Théa Ollivier et Géraldine Viret DRUCK kontakt@publiceye.ch erscheint sechs Mal pro Jahr. Vogt-Schild Druck AG Cyclus Print & Leipa, FSC
SCHWEIZER TABAKINDUSTRIE 5 Für ihre Schokolade ist die Schweiz weltweit berühmt. Weniger bekannt ist, dass die Schweiz mehr Zigaretten exportiert als Schoggitafeln. Und dies mit äusserst dehnbaren Qualitätsstandards: Die in Afrika verkauften Zigaretten sind viel giftiger als die Zigaretten für den europäischen Markt. MARIE MAURISSE* Über der alten Medina von Casablanca geht langsam die zweig für die Schweizer Wirtschaft von Bedeutung. Eine Sonne auf. In den engen Gassen der marokkanischen Ende 2017 veröffentlichte Studie des Wirtschaftsprüfungs- Wirtschaftshauptstadt plaudern die Bewohner mitein- unternehmens KPMG hält fest: «Die Exporteinnahmen ander, Kinder spielen hinter den filigran geschnitzten aus Tabakprodukten im Jahr 2016 (561 Millionen Franken) Holztüren Verstecken. Vor seinem Kleiderladen raucht sind vergleichbar mit den Exporteinnahmen wichtiger Marwan eine Zigarette. Es ist nicht die erste und wird Schweizer Exportgüter wie etwa Käse (578 Millionen auch nicht die letzte dieses langen Tages sein. Sein Ge- Franken) oder Schokolade (785 Millionen Franken).» schäft schliesst Marwan erst wieder am Abend. Was Die wichtigste Exportdestination für Schweizer raucht er? «Winston», sagt er und zeigt uns die Zigaret- Zigaretten ist Japan. Auch die in der Schweiz ansässi- tenschachtel. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir ge Firma Japan Tobacco International (JTI) produziert die vertraute Angabe «Made in Switzerland». hierzulande. Ob und wie viele Zigaretten die Firma in Diesen Vermerk werden wir während unseres Auf- das Land der aufgehenden Sonne liefert, ist unbekannt. enthalts in Marokko Mitte Oktober 2018 überall antreffen. Das Unternehmen nimmt zu unserer entsprechenden In der alten Medina, in den Gymnasien, Cafés und Restau- Anfrage nicht detailliert Stellung. Marokko und Süd- rants der Stadt sehen wir Männer, Frauen und Jugendliche, afrika sind nach Japan die zweitwichtigsten Zielländer die Zigaretten aus Schweizer Produktion rauchen. Es sind für den Export von Schweizer Zigaretten. immer die gleichen Marken: Winston, Camel und Marlboro. Auf der Terrasse des Café «Le Noble» im Ein- kaufsviertel Maârif drückt Ibtissam ihren Zigaretten- stummel im Aschenbecher aus, bevor sie zur Arbeit DIE EROBERUNG DES MAROKKANISCHEN MARKTES aufbricht. «Ich habe mit zwölf Jahren angefangen und möchte nicht mit dem Rauchen aufhören», erklärt die Im Jahr 2017 wurden 2900 Tonnen Schweizer Ziga- junge Frau. «Für mich ist es ein Gefühl der Freiheit», retten nach Marokko exportiert – das sind rund 3,625 fügt sie hinzu. Weiss sie, dass sie Schweizer Zigaretten Milliarden Stück. In den Mini-Märkten des Landes raucht? «Natürlich. Für mich ist das eine Qualitätsga- kostet eine Packung 33 Dirham (CHF 3.50). Die ärms- rantie. Sie sind besser als marokkanische Zigaretten.» ten Raucherinnen und Raucher kaufen ihre Zigaretten einzeln, für zwei Dirham das Stück. Die Schachteln Uhren, Schokolade, Raucherhusten sind deklariert: Sie tragen einen Stempel mit Sicher- Die Schweiz rühmt sich, köstliche Schokolade und aus- heitsdruckfarben der Schweizer Firma SICPA. gefeilte Uhrwerke in die ganze Welt zu exportieren. Lange Zeit wurden in Marokko sämtliche Zigaret- Es gibt allerdings auch ein anderes, sehr erfolgreiches ten im Land selbst hergestellt, insbesondere durch die So- Exportprodukt, über das die Schweiz nicht so gerne ciété Marocaine des Tabacs. 2003 führte ein neu erlasse- spricht: Zigaretten. Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz nes Gesetz über Tabakwaren zu einer Liberalisierung des 34,6 Milliarden Zigaretten, also knapp zwei Milliarden Sektors. Bald darauf drängten internationale Konzerne Päckli, hergestellt. Etwa 25 Prozent davon waren für den auf den Markt. Heute werden 55 Prozent der in Marokko Binnenmarkt bestimmt. Fast 75 Prozent wurden expor- konsumierten Zigaretten importiert. Der grösste Posten tiert: genug für den Jahresverbrauch von mehr als vier kommt aus der Schweiz, der zweitgrösste aus der Türkei. Millionen Menschen, die täglich eine Schachtel rauchen. Die Zigaretten kommen per Schiff am Hafen Die Tendenz ist momentan rückläufig, seit 2011 ha- Tanger-Med, nordöstlich von Tangier, oder direkt in ben sich die Exportzahlen von Zigaretten aus der Schweiz Casablanca an. Unsere Gesprächspartner vor Ort ver- fast halbiert. Gemessen am Wert steht unser Land auch lediglich an 15. Stelle der Zigaretten exportierenden Län- der, weit hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten, *Unabhängige Forschungsjournalistin. In Zusammen Deutschland und Polen. Dennoch ist dieser Geschäfts- arbeit mit Théa Ollivier, Journalistin in Casablanca.
© Mark Henley Der Hauptsitz von Philip Morris International in Lausanne. Japan Tobacco International (JTI) hat seinen Sitz in Genf, in einem funkelnagelneuen Gebäude. Die Fabrik von British American Tobacco in Boncourt im Kanton Jura. Drei Tabakriesen auf Schweizer Boden Das Unternehmen Philip Morris International (PMI) Industriellenfamilie Burrus abkaufte. An diesem hat seinen operativen Sitz in Lausanne. Die Firma Standort produziert der Konzern Zigaretten der betreibt zudem in Neuenburg ein Werk, das 2017 Marken Pall Mall, Gladstone, Dunhill, Lucky Strike, über 15 Milliarden Zigaretten und erhitzbare Tabak- Kent, Winfield, Vogue, Players, Parisienne und Alain einheiten produzierte, das sind 15 Prozent ihrer Delon. Der Umsatz für 2017 belief sich auf 26 Milliar- weltweiten Produktion. Die Produkte werden unter den Franken. Markennamen wie Iqos Heets, Marlboro, Chester- field oder L&M verkauft. Der Hauptsitz der Holding- Japan Tobacco International (JTI) hat seinen Sitz in gesellschaft Philip Morris Products AG befindet sich Genf, in einem funkelnagelneuen Gebäude. In der ebenfalls in Neuenburg. Ihr Umsatz betrug im Jahr Schweiz verfügt JTI zudem über ein grosses Werk im 2017 29 Milliarden Franken. luzernischen Dagmersellen. Im Jahr 2017 produzierte der japanische Konzern in dieser Fabrik 10,8 Milliarden Auch British American Tobacco (BAT) unterhält Zigaretten, die sich auf 16 Marken verteilen. Die bekann- Büros in Lausanne sowie eine Fabrik in Boncourt im testen unter ihnen sind Winston, Camel und Natural Kanton Jura, die der Konzern 1966 der jurassischen American Spirit. Umsatz 2017: 18 Milliarden Franken.
SCHWEIZER TABAKINDUSTRIE 7 sichern uns, die Ware werde von Zollbeamten kont- gen Beschwerde eingereicht. Der Fall liegt derzeit beim rolliert. Die Beamten öffneten die Container, wählten Obersten Gerichtshof Kenias. In Togo, Burkina Faso und nach dem Zufallsprinzip eine Kiste aus und überprüf- Äthiopien behauptete derselbe Zigarettenhersteller in of- ten dann, ob die Ladung den Deklarationen entspreche. fiziellen Briefen, eine neutrale Verpackung ohne Warn- In unserer Untersuchung stellten wir durchge- hinweise hätte keinen Einfluss auf den Tabakkonsum. hend fest, dass nur die Entrichtung von Abgaben kon- In Industrieländern wie der Schweiz äussern sich trolliert wird. Der Zoll ist somit das einzige Kontroll- die Hersteller ganz anders und thematisieren immer häu- organ für Tabakwaren. Die Inhaltsstoffe von Zigaretten figer auch von sich aus die schädlichen Auswirkungen oder deren Toxizität unterliegen keiner Überwachung. des Rauchens. Um die Menschen von seiner Ehrlichkeit Weltweit leben 80 Prozent der Raucherinnen und zu überzeugen, hat der PMI-Konzern sogar bei der Grün- Raucher in Ländern mit niedrigem und mittlerem Ein- dung der «Stiftung für eine rauchfreie Welt» mitgeholfen kommen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt und sich verpflichtet, zwölf Jahre lang 80 Millionen Dol- ihre Anzahl in Afrika auf 77 Millionen, was 6,5 Prozent der lar pro Jahr einzuschiessen. Dieser rhetorische Spagat Bevölkerung des Kontinents entspricht. Bis 2025 rechnet wird von der WHO kritisiert. In einem «Report über die die Organisation mit einer Zunahme um fast 40 Prozent globale Tabakepidemie» schreibt die Organisation 2017: gegenüber 2010. Das wäre der stärkste Anstieg an Rau- «Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Massnahmen wie cherinnen und Rauchern weltweit. Gemäss WHO wird Tabakbesteuerung, bebilderte Warnhinweise, ein voll- die «Tabakepidemie» bis 2030 zu einer Verdoppelung der ständiges Verbot von Werbung, Verkaufsförderung und tabakbedingten Todesfälle in Afrika führen. Sponsoring sowie Hilfe bei der Raucherentwöhnung die Marokko scheint für die Zigarettenfirmen ein her- Nachfrage nach Tabakerzeugnissen verringern.» vorragendes Tor zum afrikanischen Markt zu sein. Laut Das Forschungsteam kritisiert in dem Bericht, dass einer Studie des marokkanischen Gesundheitsministe- PMI umfassendes Lobbying betreibe und langwierige und riums sind 13 Prozent der Raucherinnen und Raucher kostspielige gerichtliche Klagen gegen evidenzbasierte unter 15 Jahre alt. Und der Anteil der rauchenden Mäd- Massnahmen zur Eindämmung des Tabakkonsums ein- chen gleicht sich zunehmend dem Anteil der Jungen an. reiche. Die WHO nennt insbesondere das Beispiel eines Schiedsverfahrens zwischen PMI und Uruguay. In diesem Kompensation für sinkende Erträge in Europa Land – mit einer Bevölkerung von weniger als vier Millionen In Europa läuft der Trend in eine andere Richtung. In den Menschen – gab der Tabakriese 24 Millionen Dollar aus, um letzten 20 Jahren ist der Tabakverkauf in der Schweiz Gesundheitswarnungen auf Zigarettenpackungen zu ver- dank Präventionskampagnen und Preiserhöhungen um hindern. Der Konzern verlor den sechsjährigen Rechtsstreit. 38 Prozent gesunken. Deshalb bewerben die Tabakkon- In Marokko wurde ein Gesetz verabschiedet, das zerne in Europa nun neue Geräte, sogenannte «risiko Rauchen in Bars und Restaurants verbietet. Es wird je- arme Produkte» für den Nikotinkonsum. Angeblich doch nicht durchgesetzt, was uns Fachpersonen bestäti- sollen diese ohne die Schadstoffe von Tabak auskom- gen. Präventionsprogramme in Schulen sind selten und men. Wie die Tageszeitung Le Temps kürzlich berichtete, werden von Verbänden durchgeführt, die nur über sehr macht das Geschäft mit dem Tabakerhitzer Iqos bei Phi- begrenzte Mittel verfügen. Im Jahr 2012 erliess Marokko lip Morris jedoch «trotz der beträchtlichen eingesetzten ein Gesetz zur Begrenzung des Teer-, Nikotin- und Koh- Mittel erst sechs Prozent des Produktionsvolumens der lenmonoxidgehalts in Zigaretten, entsprechend den Re- Gruppe oder zwölf Prozent des Umsatzes aus». gelungen in Europa. Die Vollzugsverordnung dazu wurde Bis Iqos und andere rauchfreie Rauchergeräte aber nie erlassen. Und kein Labor überprüft diese Werte. echte Erträge generieren – sollte dies jemals der Fall sein – müssen PMI und ihre Konkurrenz weiterhin Eine neuartige Rauchmaschine Zigaretten verkaufen. Und zwar in grossen Mengen. Wir wollten mehr über die Zusammensetzung der in Schwellenländer sind ein bevorzugtes Ziel. Und dies Marokko verkauften Zigaretten aus Schweizer Pro- aus einem einfachen Grund: Sie verfügen nicht über die duktion erfahren. Aus diesem Grund haben wir eine notwendigen Mittel für eine proaktive Gesundheits- Untersuchung veranlasst, die es unseres Wissens bis- politik. Die Zigarettenindustrie hat also freie Bahn. her noch nie gegeben hat: Wir verglichen den Teer-, Um junge und neue Kunden zu gewinnen und ihre Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt von Zigaretten, die Zigarettenpackungen zu positionieren, verfolgen die Ta- in Europa und in Marokko konsumiert werden. Das bakkonzerne in Afrika eine äusserst aggressive Geschäfts- ist nicht so einfach, da es keine öffentlichen Daten zu politik. In Kenia und Uganda versucht der BAT-Konzern, diesem Thema gibt. Zwar sind die Werte teils auf den staatliche Massnahmen zur Tabakprävention zu verhin- Zigarettenpackungen vermerkt. Aber werden sie von dern, wie die Zeitung The Guardian im Juli 2017 aufdeckte. den Herstellerfirmen auch wirklich eingehalten? Sind Die Kenya Tobacco Control Alliance (KETCA) hat dage- die Schweizer Zigaretten, die in Marokko geraucht wer-
8 PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 15 Januar 2019 den, identisch mit denjenigen, die wir am Kiosk in der in der Schweiz oder in Frankreich zu kaufen sind. Schweiz oder in Frankreich kaufen können? Der einzige Die festgestellten Werte zeigen, dass hier mit einem Dop- Weg, dies herauszufinden, ist die Analyse von Proben. pelstandard gearbeitet wird. Die Menschen in Marokko Doch selbst in der Schweiz gibt es kein Labor rauchen Zigaretten, die schädlicher sind als die Zigaretten mehr, das über die notwendigen Geräte verfügt, um sol- für Europäerinnen und Europäer. Für jeden der drei ge- che Analysen vorzunehmen. Das bestätigte uns Adrien testeten Parameter wiesen die in Marokko konsumierten Kay, Mediensprecher des Bundesamts für Gesundheit Zigaretten höhere Werte auf als diejenigen in Frankreich. (BAG). Für die Schweiz – mit ihren internationalen Ta- Und das, obwohl die Zigaretten für alle drei Länder in der bakkonzernen und Zigarettenfabriken – ist dieser Fakt Schweiz hergestellt wurden. Eine Winston-Probe enthielt erstaunlich. Wir fanden schliesslich ein Labor, das sich beispielsweise über 16 Milligramm Gesamtpartikelmasse bereit erklärte, die Untersuchung durchzuführen: das pro Zigarette, während in Frankreich verkaufte Marlboro- Institut für Gesundheit am Arbeitsplatz in Lausanne, Rot-Zigaretten weniger als zehn Milligramm aufwiesen. das dem Universitätsspital CHUV angegliedert ist. Es In einigen Fällen waren die gemessenen Werte hö- ist ein von der WHO anerkanntes Laboratorium. her als die Angaben auf den Zigarettenpackungen. Dies Um unser Anliegen umzusetzen, musste der La- gilt insbesondere für die Nikotinwerte in Zigaretten für borchef Gregory Plateel gemeinsam mit dem Forscher den marokkanischen Markt: Winston-Zigaretten enthielten Nicolas Concha-Lozano zuerst eine Rauchmaschine 1,5 Milligramm Nikotin, obwohl die Packung 1 Milligramm bauen: drei Zigarettenhalter, eine Pumpe zum Saugen, angab. Laut dem in Paris und Lausanne tätigen Toxikologen ein Glasbehälter, in dem der konzentrierte Rauch ein- Ivan Berlin verstärkt eine höhere Dosis Nikotin auch das gefangen wird. Nichts wurde dem Zufall überlassen: Suchtpotenzial: «Ein stärkeres Suchtpotenzial bedeutet, Ein Computer steuerte die Maschine, die jede Minute dass es schwieriger ist, auf das Rauchen zu verzichten, was für zwei Sekunden einen Zug von 35 Milliliter Volumen wiederum eine höhere Toxizität mit sich bringt.» nahm. Um sicherzustellen, dass das Gerät richtig ein- Jacques Cornuz ist Direktor der medizinischen gestellt war, wurde es zunächst mit einer Referenz-Ziga- Universitätspoliklinik Lausanne, Epidemiologe und lei- rette namens 1R6F getestet. Diese markenfreie Zigarette tete von 2007 bis 2014 die Eidgenössische Kommission wird von der Universität von Kentucky zur Verfügung für Tabakprävention. An unseren Resultaten gibt es für gestellt und ist speziell für Forschungslabors konzipiert. ihn nichts zu beschönigen: «Das ist wie der Wechsel von Nachdem die Maschine die Zigarette fertig «ge- einem 20-Tonnen-LKW auf einen 40-Tonnen-LKW.» raucht» hatte, wurden Rauch und Filter analysiert, um JTI, der Hersteller der Winston- und Camel-Ziga- die Gesamtpartikelmasse – Teer, Nikotin und Kohlen- retten, antwortete auf unsere Fragen wie folgt: «Alle monoxid – zu bestimmen. Eine einzige Zigarette ist Tabakprodukte sind mit Gesundheitsrisiken behaftet.» natürlich nicht repräsentativ. Um gesicherte Daten zu Im Übrigen könne «keine standardisierte Methode die erhalten, wurde aus drei verschiedenen Packungen tatsächlichen Konsumgewohnheiten der Raucher nach- jeweils eine Zigarette gezogen und dann der Durch- ahmen.» Daher beurteilt die Firma unsere Ergebnisse als schnitt ermittelt. Diese Arbeiten beschäftigten das For- ungenau. Darüber hinaus könne «niemand sagen, eine schungsteam über mehrere Wochen. Zigarette sei weniger giftig als die andere, zum Beispiel anhand des Geschmacks.» Warum aber sind ihre Ziga- Gefährlicher Doppelstandard retten für den marokkanischen Markt stärker als die Gregory Plateel und Nicolas Concha-Lozano untersuch- anderen? Auf diese Frage erhielten wir keine Antwort. ten nicht weniger als 30 Zigarettenschachteln aus Marok- Der Mediendienst von PMI weist darauf hin, dass ko, Frankreich und der Schweiz, die wir im September «Konsumenten auf der ganzen Welt unterschiedliche angeliefert hatten. Die Methodik entspricht den ISO-Nor- Präferenzen» hätten. «Aufgrund dieser Präferenzen wird men, die für Forschende bei solchen Tests als Standard- der Tabak nach spezifischen Mischungen und Blattgra- referenzen dienen. In der Schweiz wie auch in Europa gilt den ausgewählt, um Konsistenz und Eigenschaften je- die Norm 10-1-10, d.h. 10 mg Teer, 1 mg Nikotin und 10 mg der Marke, wie z.B. Marlboro Rot, zu wahren.» Kohlenmonoxid. Das sind die Maximalwerte dieser Stof- Warum enthalten die in Marokko verkauf- fe, die eine auf dem schweizerischen oder europäischen ten Marlboro-Produkte aber mehr Teer als die in der Markt verkaufte Zigarette enthalten darf. Schweiz gerauchten? «Wir raten davon ab, sich lediglich Diese Norm wurde als Referenz für die Ana- auf Teerwerte zu konzentrieren», sagt PMI. Es bestehe lyse unserer Proben verwendet. Die Ergebnisse sind ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Teer kein eindeutig: Zigaretten, die auf Schweizer Boden her- genauer Indikator für Risiken oder mögliche Gesund- gestellt, aber in Marokko verkauft werden, sind viel heitsschäden sei, und dass die Angabe von Messwerten stärker, haben ein wesentlich höheres Suchtpotenzial zu Teer für die Konsumierenden irreführend sei. Zu und sind zudem deutlich giftiger als Zigaretten, die den Ergebnissen betreffend Nikotin, die höher sind
GVA Camel Ergebnisse unserer Analysen Duty Free 12,49 1,10 10,42 Camel Filters 9,83 0,93 6,81 In der Schweiz und in Europa darf eine Zigarette Marlboro Red höchstens 10 mg Teer, 1 mg Nikotin und 10 mg Kohlenmonoxid enthalten. 9,45 0,79 7,98 Winston Blue 9,20 0,85 8,06 Camel 14,10 1,28 10,65 Camel light Referenz-Zigarette (1R6F) JTI 10,69 0,95 9,05 Kohlenmonoxid PMI Winston Blue 10,32 (mg/Zig) Nikotin 10,82 0,90 9,62 0,84 mg/Zig Winston Xstyle Gold Teer* 11,25 0,97 10,53 9,60 mg/Zig Winston Filter 16,31 1,41 10,65 Marlboro Soft 13,36 1,12 9,75 * Anzahl der Teer enthaltenden Partikel © Marie Maurisse Die Ergebnisse des Instituts für Gesundheit am Arbeitsplatz in Lausanne sind eindeutig: Zigaretten, die auf Schweizer Boden hergestellt, aber in Marokko verkauft werden, sind viel stärker, haben ein wesentlich höheres Suchtpotenzial und sind zudem deutlich giftiger als Zigaretten, die in der Schweiz zu kaufen sind.
SCHWEIZER TABAKINDUSTRIE 11 als auf der Packung angegeben, hält die Firma fest, abriken, um sicherzustellen, dass die Inhaltsstoffe gesetz- F dass «die Anforderungen der ISO 8243-Norm erfüllt lich zugelassen sind, wie es manchmal bei Lebensmitteln werden, da sie eine gewisse Abweichung zulässt». vorkommt? «Nach unserem Kenntnisstand werden die Angaben auf den Packungen in der Schweiz nicht über- prüft», hält Adrien Kay, Mediensprecher des BAG, dazu fest. Er hatte uns gegenüber ja schon bestätigt, dass es in FEHLENDE KONTROLLEN der Schweiz auch keine entsprechenden Messgeräte gibt. Was passiert, wenn die Ergebnisse für die Zigaret- Ausgehend von Marokko versuchten wir, die Produk- ten von Kochs Marke «Heimat» höher sind als die vorge- tionskette der Tabakindustrie zurückzuverfolgen. Wir schriebenen Werte? Der Laborbericht wird nicht an die wollten herausfinden, wie Herstellungsprozesse ab- Behörden geschickt, sondern an verschiedene Kunden, laufen, warum die Tabakkonzerne überhaupt in der z.B. an Coop. Es gäbe aber keinerlei Sanktionen. «Es liegt Schweiz angesiedelt sind und wie es dazu kommen an uns, etwas zu ändern», sagt Roger Koch. Die einzige konnte, dass die Schweiz minderwertige Zigaretten in Möglichkeit bestünde darin, die Tabakmischung ein we- Schwellen- und Entwicklungsländer liefert. nig anzupassen. Es gebe keinen einfachen Weg, um die Wir besuchten die einzige Zigarettenfabrik der Werte zu ändern. «Man kann den Tabak zwar mit Wasser Schweiz, deren Geschäftsleitung bereit war, uns zu emp- waschen, aber dies würde die Qualität beeinträchtigen. fangen: die Koch & Gsell AG in Steinach. Das in einem Indu Oder die Filter können perforiert werden, sodass zu- striegebiet am Rande von St. Gallen gelegene Unternehmen sammen mit dem Rauch mehr Luft aufgenommen wird. wurde 2015 von Roger Koch gegründet, einem 40-jährigen Aber das ist Trickserei, so etwas machen wir nicht.» Deutschschweizer, der zuvor ein Übersetzungsbüro besass. Seinen Zigaretten dürfte Roger Koch im Prinzip Er empfängt uns inmitten von Rauchschwaden. Dutzende von Produkten beimischen, wie die entspre- chende Liste auf der Webseite des BAG zeigt. Er tut es Grosse Freiheit aber nicht. Denn er möchte seine Heimat-Zigaretten Heute produziert er 30 000 Zigarettenpackungen pro künftig auch in der EU verkaufen, dort gelte diese Frei- Woche. Die meisten seiner Zigaretten werden in der heit nicht. Deshalb plant Roger Koch auch den Bau Schweiz konsumiert. Gelegentlich hat Koch Kontakt einer Fabrik im grenznahen Deutschland, nur wenige zu den Behörden: Die Sicherheit der Maschinen und Kilometer von Steinach entfernt. die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden wird von verschiedenen kantonalen Stellen inspiziert, ebenso die Umweltverträglichkeit seiner Produktion. Auch Zollbehörden sind involviert, die bestätigen, dass die REGULATORISCHES PARADIES Produkte korrekt deklariert sind und dass alle Abgaben auf den Rappen genau entrichtet wurden. Der Bund hat grosse Vorbehalte gegenüber einer allfälligen Wird auch die Zusammensetzung der Zigaretten Verschärfung der Tabakregulierung. Die Präsenz von Ta- kontrolliert? «Das war nie der Fall, bis letzten Oktober», bakkonzernen auf Schweizer Boden spielt für die Haltung sagt Roger Koch. «Die Lebensmittelkontrolle hat eini- der Behörden offensichtlich eine Rolle. Ein KPMG-Bericht ge unserer Proben zur Analyse mitgenommen. Wir ha- vom Oktober 2017 schätzt den Beitrag der Tabakindustrie ben keine Rückmeldung erhalten, ich schätze, sie haben zur Schweizer Wirtschaft insgesamt auf 6,3 Milliarden hauptsächlich den CBD-Gehalt getestet.» Ein Teil der Franken pro Jahr oder auf knapp ein Prozent des Schweizer Produktion von Roger Koch beinhaltet dieses Cannabis- Bruttoinlandprodukts. Der Sektor beschäftigt laut KPMG Derivat. Im Übrigen schickt er jeden Monat etwa hundert rund 11 500 Menschen. Hinzu kommen Arbeitsplätze, die Zigaretten an das deutsche Labor ASL, das den Gehalt mit der Tabakindustrie verbunden sind, zum Beispiel im von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid nach der von den Tabakanbau. Die anfallenden Steuereinnahmen sind nicht Bundesbehörden festgelegten Norm 10-1-10 prüft. unerheblich. Genaue Zahlen dazu sind nicht zu erfahren. In Neuenburg wird jedoch gemunkelt, dass die von PMI Nachlässige Behörden geleisteten Steuern die Hälfte der kantonalen Einnahmen Die Tabakwarenverordnung schreibt vor, dass die vor- aus Unternehmenssteuern ausmachen. her erwähnten Grenzwerte eingehalten werden müssen: Die Schweiz bietet Zigarettenherstellern viele «Wer Zigaretten in Verkehr bringt, muss nachweisen Vorteile. Ihr wichtigster Trumpf ist wohl das besonders können, dass diese die Anforderungen erfüllen.» Für die flexible regulatorische Umfeld. Die Zigaretten und deren Einhaltung dieser Bestimmung sind grundsätzlich die Zusammensetzung werden in der Tabakverordnung ge- Kantone verantwortlich. Analysieren diese jemals die in regelt. Erlaubte Inhaltsstoffe sind alle für Lebensmittel Umlauf befindlichen Zigaretten? Intervenieren sie bei den zugelassenen Aromen, Zucker, Honig, Gewürze und
© Louis Witter fast sämtliche synthetischen Süssungsmittel. Zigaret- zum Rauchen verführt werden, wenn Zigaretten nach ten können eine ganze Reihe von Feuchthaltemitteln, Kaugummi oder Halsbonbons schmecken. Bleichmitteln für die Asche, Verbrennungsbeschleu- nigern, Konservierungsstoffen sowie von Klebe- und Zeder und Zitronengras Bindemitteln enthalten. «Solche Inhaltsstoffe sind Wohl in Vorwegnahme dieser Massnahme produziert grundsätzlich nicht dafür gedacht, verbrannt und dann PMI nun einen Teil seiner Menthol-Zigaretten in der inhaliert zu werden», sagt Pascal Diethelm, Präsident des Schweiz. Diese Zigaretten werden unter anderem von Anti-Tabak-Vereins OxyRomandie. Bei der Verbrennung jungen Marokkanerinnen und Marokkanern in Casa- entstünden oft giftige oder gar krebserregende Stoffe. blanca und Rabat geraucht. PMI listet die bei der Ziga- Die Verordnung formuliert ausserdem keinerlei rettenproduktion verwendeten Inhaltsstoffe nach Ver- Anforderungen im Bereich Gesundheitsschutz für die brauchsland auf. Einmal angenommen, dass diese Liste Konsumierenden, sondern hält lediglich fest: «Beizu korrekt ist – was nicht nachprüfbar ist – fällt auf, dass fügen sind die toxikologischen Angaben der verwen- Zigaretten aus Schweizer Produktion unterschiedliche deten Stoffe in verbrannter und unverbrannter Form, Inhaltsstoffe aufweisen, je nachdem, ob sie für den Schwei- soweit sie der meldepflichtigen Person bekannt sind.» zer oder für den französischen Markt bestimmt sind. Pascal Diethelm versteht die Verordnung so, dass die Auf der Liste für den Schweizer Markt von 2016 meldepflichtige Person einfach behaupten kann, die führt PMI nicht weniger als 167 Zusatzstoffe auf. Einige toxikologischen Angaben nicht zu kennen, um die Pro- wecken eher positive Assoziationen, wie z.B. Zedern- oder duktionsgenehmigung zu erhalten. Zitronengrasöl. Andere klingen weniger ansprechend, wie Im Vergleich dazu sind die europäischen Vor- z.B. Glycerin. Auf der Liste für den französischen Markt, schriften viel strenger. Als vorrangiges Ziel legt die die 2015 aktualisiert wurde, gibt es nur 123 Zusatzstoffe. Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments In der Schweiz ist die Kontrolle der Inhaltsstof- und des Rats vom 3. April 2014 den Schutz der Gesund- fe von Zigaretten kein Thema. Wir fragten Emmanuelle heit und der Konsumentinnen und Konsumenten fest. Cognard, die zweite Stellvertreterin des Genfer Kantons- Artikel 7 Absatz 6 listet die verbotenen Zusatzstoffe chemikers. «In den drei Jahre, seit ich hier arbeite, hatte ich konkret auf. Dabei handelt es sich um Vitamine, Kof- keine Kenntnis von irgendwelchen Kontrollen im Bereich fein oder Taurin, alle Farbstoffe sowie Zusatzstoffe, Zigaretten», sagt die Spezialistin. «Wir sind bereits gut welche die Aufnahme von Nikotin fördern. ausgelastet mit den Lebensmittelkontrollen. Die Leute, die Artikel 7 Absatz 1 verbietet den Vertrieb von Zigaretten kaufen, wissen ja, dass Rauchen gefährlich ist.» Tabakerzeugnissen mit charakteristischen Aro- Dieses Argument wird oft vorgebracht. Da Zigaret- men. Menthol-Zigaretten dürfen ab Mai 2020 in den ten bekanntlich giftig sind, sei es sinnlos, die Kontrollen EU-Ländern nicht mehr hergestellt werden. Dies stellt zu verstärken. Eine fragwürdige Argumentation, wie wir ein Problem für Marken dar, die mit diesem Produkt finden. Auch Diesel ist zum Beispiel ein umweltschädli- Konsumentinnen und Konsumenten anlocken, die eher cher Rohstoff. Dennoch gibt es Normen, die den Schwefel-
© Louis Witter gehalt begrenzen, und deren Einhaltung sehr wichtig ist. geschuldeten Abgaben ordnungsgemäss bezahlt wurden. Genauso müssten Zigarettenhersteller die Gesetze zum Marokko ist kein Einzelfall: Nur wenige Länder verfügen Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten einhalten. über ein Labor, das importierte Zigaretten systematisch untersucht. Laut WHO ist Burkina Faso das einzige Land Exporte werden nicht kontrolliert in Afrika, das eine solche Überprüfung vornimmt. Die Schweiz kontrolliert also die von ihrer Bevölkerung Selbst wenn es Kontrollen gibt, werden die gerauchten Zigaretten nicht, und genauso wenig inte- Testverfahren teils ausgetrickst. In Frankreich hat das ressiert sie sich für exportierte Zigaretten aus Schwei- nationale Anti-Tabak-Komitee kürzlich Beschwerde zer Produktion, wie die Eidgenössische Zollverwaltung gegen Zigarettenfirmen eingereicht. Der Vorwurf lau- (EZV) bestätigt. In diesem Fall gelten nämlich nicht die tet, dass Filter mit mikroskopischen Löchern eingesetzt Schweizer Normen, sondern die Vorgaben des Ziellandes. werden, welche die Testresultate verfälschen. Dabei In der Europäischen Union wäre eine solche saugt die Maschine mehr Luft und folglich kleinere Differenzierung nicht möglich, denn dort schreibt die Mengen an Schadstoffen ein, als dies der Fall ist, wenn Richtlinie 2001/37/EG auch für exportierte Zigaretten jemand beim Ziehen an der Zigarette den Filter gleichzei- Höchstwerte für den Teer-, Nikotin- und Kohlenmon- tig mit den Fingern zusammendrückt. Das ist der Trick, oxidgehalt vor. Die Schweiz hat hier also einen Vorteil: den der Fabrikant der Heimat-Zigaretten, Roger Koch, Sie ist das einzige Land auf dem europäischen Kontinent, uns gegenüber erwähnt hatte. Dieses Vorgehen erinnert das giftigere Zigaretten produziert, als sie für die eigene an den Abgas-Skandal bei Volkswagen, der mittlerweile Bevölkerung erlaubt. Der Bund fördert somit Doppel- zu ersten Prozessen in Deutschland geführt hat. Volks- standards. Er profitiert von dieser Ungleichbehandlung wagen hatte zur Umgehung von Abgastests einen Ab- und nimmt dabei in Kauf, dass sich Probleme der öffent- schaltmechanismus in der Motorsteuerung eingerichtet. lichen Gesundheit in den Importländern verschlimmern. Auf Anfrage erklärt das Bundesamt für Gesundheit, Starke Lobby im Schweizer Parlament dass die fehlende Exportkontrolle Ausdruck des «Willens Die Zigarettenkonzerne arbeiten intensiv daran, die des Parlaments» sei. Im Jahr 2012 forderte eine Motion des Bereitschaft von Regierungen zum Erlass von Regu- Neuenburger Freisinnigen Laurent Favre, der unterdessen lierungen im Bereich Tabak zu untergraben. Auch in Regierungsrat des Kantons geworden ist, dass der «Export der Schweiz laufen entsprechende Bemühungen. In von in der Schweiz hergestellten Zigaretten in Nicht-EU-Mit- unserem kleinen Land gibt es enge Verbindungen zwi- gliedstaaten ohne Einschränkungen weiterhin» ermöglicht schen Unternehmen und Politikerinnen und Politikern. werden müsse. Die Motion wurde angenommen. Ein aktueller Dokumentarfilm der Westschweizer Sen- Wie wir in Casablanca feststellen konnten, kon- dung Temps Présent zeigt, wie der Verband «Allianz trolliert Marokko die Inhaltsstoffe der aus der Schweiz der Wirtschaft für eine massvolle Präventionspolitik» importierten Zigaretten der Marken Winston und Camel (AWMP) gegen strengere Tabakregulierungen kämpft. nicht. Die Zollbehörden stellen lediglich sicher, dass die Dem Verband gehören derzeit zwölf Mitglieder des
© Louis Witter
© Mark Henley Fabrice Bersier, Landwirt in Vesin, in der Region Broye, und Präsident des Verbands der Tabakproduzenten SwissTabac. 150 Tabakproduzenten in der Schweiz Um eine liberale Präventionspolitik und die Präsenz von Bersier. «Deshalb muss er so neutral wie möglich Zigarettenunternehmen auf Schweizer Boden zu rechtferti- schmecken.» Steckt in Schweizer Zigaretten überhaupt gen, verweisen Parlamentarierinnen und Parlamentarier oft Schweizer Tabak? «Schweizer Tabak macht vier Prozent auf die Tradition des Tabakanbaus seit Anfang des 18. Jahr- des Gesamtbedarfs der hiesigen Branche aus», antwor- hunderts in der Schweiz. Inwieweit ist dieser Gründungsmy- tet der Landwirt, der selber Nichtraucher ist. «In den thos noch relevant? Während des Zweiten Weltkriegs Rotterdamer Lagerhallen wird Schweizer Tabak mit wurden Zigaretten für Soldaten an die Front geliefert, die anderen Tabaksorten vermischt. Wenn Schweizer Nachfrage nach Tabak war entsprechend hoch. Damals Zigaretten einheimischen Tabak enthalten, ist es sicher- produzierten in der Schweiz 6000 Tabakanbauer auf 1500 lich nur wenig.» Dies gilt auch für Schweizer Zigaretten, Hektaren. Heute pflanzen noch 150 Bauernbetriebe auf die für den marokkanischen Markt produziert werden. knapp 420 Hektaren Tabak an an. Wir besuchen Fabrice Das Schweizerische an diesen Zigaretten ist also nicht Bersier, Landwirt in Vesin, in der Region Broye, und Präsi- der Tabak, sondern der Herstellungsprozess. dent des Verbands der Tabakproduzenten SwissTabac. Dass die Schweizer Gesetzgebung die Herstellung von Bersier übernahm den Familienbetrieb im Jahr 1998. Zum stärkeren Zigaretten für den Export erlaubt, stellt für Hof gehören 100 Hektar Land, davon wird auf sieben Fabrice Bersier kein ethisches Problem dar. «Damit Hektaren Tabak angebaut. Während unseres Besuchs im wurden unsere Arbeitsplätze gerettet», meint er. «Wenn September wird gerade geerntet. Danach werden die man die Schweizer Tabakproduktion abschafft, wird das Tabakblätter getrocknet und verballt. Um den Absatz der keine Auswirkungen auf das Rauchen haben. Nur werde Ware, die er von Ende August bis Februar liefert, braucht ich dann nicht mehr als Landwirt arbeiten können.» sich Bersier keine Sorgen zu machen. Die in der Schweizer Einkaufsgenossenschaft für Inlandtabak (SOTA) zusam- Wenn die Zigarettenfabriken Tabak bei Fabrice Bersier mengeschlossenen Zigarettenfirmen sind verpflichtet, einkaufen, zahlen sie nur ein Drittel des Kilopreises. Die ihm den Tabak abzunehmen. restlichen zwei Drittel werden durch eine Abgabe finanziert, die im Preis der Zigarettenpackung inbegriffen Dann schickt er seine Ballen an Fermenta, ein in ist. Deshalb ist Schweizer Tabak trotz hoher Produk- Payerne ansässiges Familienunternehmen, das die tionskosten für Philip Morris oder BAT wettbewerbsfähig. Blätter schneidet und sortiert, den Preis einschätzt und Der Fonds, der aus diesen Abgaben finanziert wird, die Ware nach Rotterdam schickt, wo die Tabakunter- unterstützt nicht nur die Schweizer Bauernbetriebe. Die nehmen ihre Vorräte lagern. Von dort aus werden die Gelder fliessen auch in die Anti-Tabak-Programme Schweizer Zigarettenfabriken beliefert. «Schweizer zahlreicher öffentlicher Institutionen und Verbände und Tabak wird als Fülltabak verwendet», erklärt Fabrice finanzieren zudem sechs Prozent der AHV-Ausgaben.
SCHWEIZER TABAKINDUSTRIE 17 Ständerats und 40 des Nationalrats an, also ein Viertel aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Etliche von ihnen scheuen sich nicht, den Stand- punkt der Tabakunternehmen einzunehmen. Einige sind allgemein dafür bekannt, z.B. Gregor Rutz, SVP-Natio- nalrat und Präsident der Vereinigung des schweizeri- schen Tabakwarenhandels. Andere haben nur indirek- te Verbindungen zum Sektor, wehren sich aber gegen eine Stärkung der Präventionspolitik in diesem Bereich, wie Hans-Ulrich Bigler, Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands. Ehemalige Parlamentsmitglieder nehmen Jobangebote der Zigarettenkonzerne an, wie z.B. Sylvie Perrinjaquet aus Neuenburg, die sich auf ihrer Website rühmt, Beraterin bei PMI zu sein, und ein Badge mit Zutrittsrecht zum Parlament besitzt. Im Kanton Neuenburg befinden sich der Haupt- sitz und die Fabrik von PMI. Wir erinnern uns: Dessen heutiger Regierungsratspräsident Laurent Favre hatte 2012, noch als Mitglied des Schweizer Parlaments in Bern, gegen die Übernahme der 10-1-10-Grenzwerte der Europäischen Union durch die Schweiz geworben. Heute lehnt er unsere Interviewanfrage unter dem Vor- wand ab, es handle sich um ein «altes Mandat». Schizophrene Haltung der Schweiz Im vergangenen Oktober fand die «Achte Tagung der Konferenz der Vertragsparteien des WHO-Rahmen abkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums» statt. Dieses Treffen, das als COP8 bekannt ist, hatte zum Ziel, die Kontrolle und Rückverfolgbarkeit in der Tabakindus- trie zu stärken und auch die Werbung für Tabakprodukte zu verbieten. Die Schweizer Delegation zeigte sich vor Ort kleinlaut: Bern hat das Abkommen nicht ratifiziert und ist zu keinerlei Kompromissen bereit. Doch die WHO-Zahlen sind erdrückend: Tabak tötet jeden zweiten Raucher, jede zweite Raucherin. Jedes Jahr sterben sieben Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Es liegt am Parlament, dies zu ändern. Die Parlamentsmitglieder beraten derzeit über das neue Tabakproduktegesetz, das die Zigarettenwerbung ein- schränken soll. Gemäss unseren Informationen könnte jedoch das Gegenteil eintreten. Neutrale Verpackungen sind anscheinend kein Thema mehr, und auch auf die Einschränkung der Werbung soll verzichtet werden. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen diesen Entwurf versenken: Es darf nicht so wei- tergehen, dass die Schweiz 1,7 Milliarden Franken pro Jahr für die Behandlung von Tabakkrankheiten ausgibt und gleichzeitig diesem tödlichen Industriezweig den roten Teppich auslegt. Die gleiche schizophrene Haltung zeigt sich auch darin, dass die Schweiz Anti-Tabak-Pro- gramme in Tansania finanziert, aber den Konzernen PMI, BAT und JTI ermöglicht, hierzulande hochgiftige Zigaretten für den tansanischen Markt zu produzieren. � © Mark Henley
18 Investigation Award: ein Blick hinter die Kulissen Letztes Jahr feierten wir unser 50-Jahr-Jubiläum: Ein halbes Jahrhundert Geschichte(n), in deren Verlauf die Erklärung von Bern zuletzt zu Public Eye geworden ist. Aus diesem Anlass haben wir zwei externe journalistische Rechercheprojekte zu den Machenschaften von Schweizer Konzernen in Entwicklungs- oder Schwellenländern ermöglicht. Ein Rückblick auf den Pro- zess eines Preises, der auf grosses Echo gestossen ist und von engagierten Leserinnen und Lesern unterstützt wurde. GÉRALDINE VIRET ckenen, gründlichen und professionellen Journalismus pagne. Diese erforderte eine intensive Vorbereitung. hervorheben, unabhängig davon, ob dieser nun von Re- Die Gewinnerin und die beiden Gewinner präsentier- portern klassischer Medien, freien Journalistinnen oder ten ihre Projekte in einem Video, das mit Unterstützung journalistisch arbeitenden NGOs geleistet wird. des Filmprofis Emanuel Büchler produziert wurde. Das Zur Ermilung unserer Gewinnerprojekte setzten erste Crowdnding von Public Eye auf der führenden wir eine Jury ein, die aus Mitarbeitenden von Public Eye, Plaform «we make it» war ein voller Erfolg: In nur vor allem aber aus renommierten Investigativ-Profis be- fünf Wochen halfen uns 325 Spenderinnen und Spen- stand, die ungeachtet der aktuellen Medienkrise weiter der, über 30 000 Franken zu sammeln. starke und kluge Recherchen betreiben. Mit dabei waren Dank dieser grossen Unterstützung konnten die Anya Schiffrin, Publizistik-Professorin an der New Yor- Recherchen von Marie Maurisse, Gie Goris und Nicola PUBLIC EYE – MAGAZIN ker Columbia Universi, Will Fitzgibbon, Senior Repor- Mulinaris realisiert werden. Marie reiste nach Marokko ter beim International Consortium of Investigative Jour- und Gie nach Indien. In der Schweiz stiessen sie trotz Nr 15 nalists (ICIJ) und der Co-Leiter des Recherche-Desks von mehrmaliger Anfragen auf die übliche Mauer des Schwei- Tamedia, Oliver Zihlmann, der ebenfalls ICIJ-Mitglied ist. gens. Oder sie erhielten nichtssagende Stellungnahmen Die Aufdeckung verborgener Fakten kann die Welt ver- Nach diversen Spe-Calls zwischen Zürich, Lausanne, der Firmen, die direkt der Rubrik «Corporate Social Re- ändern: Aus dieser Überzeugung hat sich Public Eye dazu New York und Niamey im Niger, wo Will sich gerade be- sponsibili» ihrer Webseiten entnommen waren. Januar 2019 entschlossen, zum 50. Geburtstag einen «Investigation fand, wurden zwei Rechercheprojekte ausgewählt. Die drei Recherchierenden mussten einiges leis- Award» zu schaffen. Dieser Preis für investigativen Jour- «Sind Zigareen, die Schweizer Tabakkonzerne ten: beispielsweise ein Labor davon überzeugen, eine nalismus soll die Arbeit von Journalistinnen und Jour- in Afrika verkaufen, schädlicher als Zigareen für den spezielle Maschine zur Analyse von Zigareen zu bauen, nalisten sowie von NGOs unterstützen, die das Treiben europäischen Markt?» fragte sich Marie Maurisse, freie die aus Casablanca mitgebracht wurden. Oder in hart-
von Schweizer Unternehmen in benachteiligten Ländern Journalistin und Mitgründerin der Medienagentur Ves- näckiger Kleinarbeit Datenbanken zum Frachtgeschä und dessen Folgen untersuchen – sei es im Hinblick auf per in Lausanne. Sie wollte eine Branche durchleuchten, durchsuchen, um Schiffe zu verfolgen und zu zählen. Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden. Das die seit Jahrzehnten alles unternimmt, um den Kampf Projekt nimmt die Gegenwart ins Visier, spiegelt aber gegen das Rauchen zu sabotieren. Hinter den Kulissen auch eine lange Tradition der Organisation wider: Unsere In Brüssel planten Gie Goris vom flämischen Ma- Das Crowdnding führte auch zu wertvollen Begegnun- Kampagnen- und Lobbyarbeit stützte sich schon immer gazin MO* und Nicola Mulinaris von der NGO Shipbreak- gen, insbesondere bei «Open House»-Abenden in unseren auf das o schwierige Dokumentieren illegitimer oder ing Platform gemeinsam eine Reportage über die Schiffs- Büros in Lausanne und Zürich. Diese Anlässe wurden letz- illegaler Machenschaen, um ein Problembewusstsein abwrackung an den Stränden Indiens, Bangladeschs und ten Herbst für Spenderinnen und Spender organisiert, die zu schaffen und Handlungsbedarf deutlich zu machen. Pakistans. Dort verschroen auch diskrete Schweizer einen grösseren Beitrag geleistet haen. Mitglieder von Reedereien ihre ausrangierten Frachtschiffe. Die beiden Public Eye nahmen daran teil, aber auch Menschen, die Gesucht: anwaltschalicher Journalismus Journalisten wollten vor allem den Opfern dieses «gii- bis anhin noch nichts von unserer Organisation gewusst Die Ausschreibung im Herbst 2017 war ein grosser Erfolg, gen Kolonialismus» mit seinen erschreckenden sozialen haen. Für unsere Expertinnen und Experten war es die der weit über unseren Erwartungen lag. In zwei Monaten und ökologischen Folgen eine Stimme geben. Gelegenheit, mit Enthusiasmus über ihre Arbeit und ihre erhielten wir 55 Bewerbungen aus 22 Ländern, darunter Erfahrungen zu sprechen. Dadurch erhielten wir wertvol- Sambia, Mexiko, Indien und Belgien. Alle Projekte haen Gesucht: grosszügige Spenden les Feedback zu unseren Kampagnen und Publikationen. zum Ziel, verantwortungsloses Konzernhandeln aufzu- Um die beiden Vorhaben zu finanzieren, baten wir die Der Austausch wurde beiderseits überaus geschätzt. decken, um Debaen und nötige Veränderungen anzu- künige Leserscha dieser Geschichten um Unter- stossen. Solche Recherchen erfordern neben Beharrlich- stützung. Damit setzte Public Eye zum ersten Mal auf Danke! keit aber auch zeitliche und finanzielle Ressourcen, die Crowdnding. Die Zeit war knapp. Nach der Dossi- Nochmals ein grosses Dankeschön an alle, die durch viele Journalistinnen und Journalisten nicht mehr haben. er-Auswahl durch die Jury haen wir nur wenige Wo- ihre Unterstützung die Durchführung dieses ersten Deshalb wollte Public Eye die Bedeutung eines unerschro- chen Zeit bis zum Start unserer Crowdnding-Kam- Award-Projekts ermöglicht haben. • Gie Goris vom flämischen MO* Magazin in Alang (Indien), 2018. Marie Maurisse, freie Journalistin aus Lausanne. Kommen Sie diesen Montagabend ins Kosmos! Der Abschlussanlass unseres Jubiläumsjahrs findet diesen Montag, 21. Januar 2019 um 20 Uhr in der Reihe «Kosmos- politics» des Zürcher Kulturhauses Kosmos statt. Gie Goris und Marie Maurisse werden mit der Präsentation ihrer Recherche-Resultate den Auftakt liefern für eine Ver- anstaltung zum Thema «Journaktivismus: An der Schnitt- stelle von Medien und NGOs». Nach der Eröffnungsrede des renommierten US-Investigativjournalisten Mark Lee Hunter diskutiert dieser unter der Leitung von Nicoletta Cimmino (Radio SRF) mit Catherine Boss (Tamedia), Sylke MAGAZIN Gruhnwald (Republik), Marie Maurisse (freie Journalistin) und Gie Goris vom Mo* Magazin über die Trends und Tricks 19 beim Grenzgang zwischen Politik und Publizistik. © Sébastien Monachon
PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 15 Januar 2019 Wo Schiffe sich zum Sterben verstecken
EDITORIAL Globale Schiffsmüllhalde mit Schweizer Spuren Vier von fünf ausgemusterten Ozeanriesen werden nicht in fachgerecht ausgerüsteten Docks entsorgt, sondern an flachen Küstenstreifen des indischen Subkontinents auf Grund gefahren und dann von Zehntausenden Tagelöhnern zerlegt. Und zwar in Handarbeit und unter Lebensgefahr, sei es durch fallende Rumpfteile oder asbestverseuchte Innenausstattungen. Fracht- und Containerschiffe sind nämlich schwimmender Sondermüll. So werden einige südasiatische Strände zu Friedhöfen – für jährlich an die tausend solcher «Dampfmaschinen der Globali- sierung», aber auch für Männer wie Bhuddabhai. Dessen traurige und zugleich exemplarische Geschichte erzählt der belgische Reporter Gie Goris. Bei seinen Nachforschungen im indischen Alang, einem Zentrum des Schiffsrecyclings, traf er auf arrogante Werftinhaber, zornige Gewerkschafter und entrechtete Arbeiter, die unter mittelalterlichen Bedingungen moderne Stahlkolosse abwracken. Die aktuellen Daten und Dank Ihnen! wirtschaftspolitischen Hintergründe zu dieser in Grauzonen operierenden Industrie lieferte ihm Nicola Mulinaris von der NGO Die Reportagen und Analysen in unserem Magazin und die Recherchen, auf denen diese beruhen, sind Shipbreaking Platform, der ebenfalls in Brüssel domizilierten nur dank der Unterstützung unserer Mitglieder Co-Preisträgerin unseres ersten «Investigation Award». möglich. Sie sind bereits Mitglied? Herzlichen Dank! Und doppelten Dank, falls Sie jemandem eine Die beiden Rechercheure zeigen auch, dass und wie Schweizer Mitgliedschaft verschenken. Reedereien von diesem gesetzlich geduldeten Giftmüllexport profitie- Sie sind noch nicht Mitglied? Für 75 Franken pro Jahr werden Sie es und erhalten regelmässig ren. Und welche Widersprüche beim Genfer Branchenprimus MSC unser Magazin. Oder lernen Sie uns erst kennen und bestellen Sie gratis ein Testa bonnement. zwischen Nachhaltigkeitsanspruch und Geschäftsrealität klaffen. Wie Wir freuen uns, von Ihnen zu bei manch anderer in diesem Heft publizierten Enthüllung gilt also hören – per Antwortkarte oder auf auch hier: Der eigentliche Skandal ist, dass die in Alang herrschenden www.publiceye.ch/mitglieder Zustände kein Skandal sind. Und daran können wohl nur so bewe- gende Berichte wie jener von Gie und Nicola etwas ändern. Oliver Classen, Public Eye PUBLIC EYE - MAGAZIN Sondernummer Nr 15 Januar 2019 PRODUKTIONSLEITUNG TITELBILD KONTAKT Das Public Eye Magazin Raphaël de Riedmatten Pradee Shukla / Abwrackwerft Public Eye, Dienerstrasse 12, erscheint sechs Mal pro Jahr. – in Alang, India (2015). Postfach, 8021 Zürich MITARBEIT – – Oliver Classen, Gie Goris LAYOUT Tel. +41 (0) 44 2 777 999 (MO* magazine), Alice Kohli, opak.cc kontakt@publiceye.ch – und Melanie Nobs. – ISSN 2504-1266 Auf den Abwrackwerften Südasiens – DRUCK – arbeiten nur Männer, weshalb im AUFLAGE Vogt-Schild Druck AG POSTKONTO folgenden Artikel auf die weibliche D: 26 500 Ex. / F: 10 000 Ex. Cyclus Print & Leipa, FSC 80-8885-4 Schreibweise verzichtet wird.
MAGAZIN 22 Investigation Award Schwimmender Sondermüll und Schweizer Fahnenflucht © Pradee Shukla
23 PUBLIC EYE – MAGAZIN Nr 15 Januar 2019 Am Abwrack-Strand von Alang.
ABWRACKEN VON SCHIFFEN 5 Wenn Hochseekreuzer ausgedient haben, gelten sie als Giftmüll. Ihre Entsorgung ist aufwendig und teuer, wenn man Menschen und Umwelt schützen will. Mit ein paar Tricks lassen sich Schiffe aber auch an südasiatischen Stränden abwracken, wo sie das Meer verpesten und Werft- arbeiter gefährden. Auch Schweizer Firmen sparen so viel Geld. GIE GORIS* Die Strasse nach Alang ist gesäumt von Läden und La- gerhäusern, in denen Gegenstände verkauft werden, die einst über die Ozeane segelten. Eichenpulte, künstli- che Kristalllüster, Schwimmwesten und Rettungsboote, Seile, elektrische Kabel und Schalter, Ledersessel, Ge- mälde, riesige Generatoren und Motoren – alles steht hier zum Verkauf. Es ist Schiffsrecycling im wahrs- ten Sinne des Wortes, auch wenn all diese Güter in Wirklichkeit nur Zusatzprodukte sind. Der eigentliche Grund, warum riesige Schiffe an der Küste von Alang gestrandet werden, sind ihre metallenen Rümpfe und Innenrahmen. Stahl ist hier die wahre Profitquelle. Vor ein paar Jahren noch waren Alang und das benachbarte Sosiya vergessene Fischerdörfer an der Nordwestküste Indiens. Heute sind sie berühmt – oder berüchtigt – wegen der zahlreichen Abwrackwerften, die sich kilometerlang über den Strand des Golfs von Khambhat erstrecken, da, wo das Arabische Meer tief in den Bundesstaat Gujarat dringt. Malerische Strände wurden hier zu riesigen Schiffsfriedhöfen. Nur wenige Tage vor unserer Ankunft in Alang Anfang September 2018 starben zwei Männer bei einem Unfall auf einer Abwrackwerft namens «Honey», die von der auf dieses Geschäft spezialisierten RKB-Gruppe betrieben wird. Bhuddabhai Kudesha aus Alang und Ali Ahmed aus Jharkhand wurden Opfer einer Industrie, deren Arbeiter laut der International Labor Organisa- tion (ILO) «den gefährlichsten Job der Welt» verrichten. Kein Jahr zuvor wurde die gleiche Abwrackwerft von der Schweizer Firma MSC genutzt, um ihr Kreuzfahrt- schiff MSC Alice abzuwracken. Doch mehr dazu später. *Journalist und Chefredaktor des MO* magazine in Brüssel. © Amit Dave
25 PUBLIC EYE – MAGAZIN Nr 15 Januar 2019 © Amit Dave Beim Abwracken der MV Ocean Gala verlor Bhuddabhai am 31. August 2018 sein Leben. Betreten verboten! Die beeindruckenden Bilder von Ozeanriesen an Zugangsbeschränkungen verbunden. Ohne das grüne asiatischen Stränden könnten den Eindruck erwecken, Licht aus Gandhinagar wurden wir beim ersten Versuch, dass die Abwrackwerften leicht zugänglich sind. Doch Alang zu besuchen, sofort gestoppt. Das «Gujarat der Schein trügt. Bei der Ankunft in Alang begrüsst den Maritime Board» erlaubte uns dann zwar, vom Dach Besucher zwar ein grosses blaues Banner der ihres Gebäudes aus die Werft zu betrachten. Doch «Alang-Sosiya Ship Recycling Yard», aber es ist ein selbst ein gut getarnter Selfie-Versuch hatte keine Willkommen, das sich schnell als sehr bedingt erweist. Chance: «No pictures, Sir!» Man muss also erfinderisch Medienschaffende, Wissenschaftlerinnen und Auslän- sein, um entweder den Kontrollpunkt des Gujarat der dürfen das Werftgelände nur mit einer Genehmi- Maritime Board zu umgehen, von einem Werftbesitzer gung der Verwaltung in Gandhinagar, der Hauptstadt Zugang gewährt zu bekommen oder sich von einer sehr Gujarats, betreten. Das kann Monate oder länger gut vernetzten Kontaktperson einschleusen zu lassen. dauern. Und in den seltenen Fällen, in denen tatsächlich Wir haben alle drei Optionen getestet, um uns die eine Genehmigung erteilt wird, ist sie mit vielen Abwrackwerften näher anschauen zu können.
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