Helmut Zander und seine Geschichte der anthroposophischen Medizin
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Peter Selg über Helmut Zander Helmut Zander und seine Geschichte der anthroposophischen Medizin 1. Teil Denn es ist doch nur natürlich und könnte an dem Beispiel anderer ihm aufgrund taktischer Fähigkeiten, moralisch dubioser Wissenschaften gezeigt werden, dass man die Geschichte Praktiken und einer eigentümlich-autoritären Ausstrahlung irgendeiner Sache erst dann verstehen kann, wenn man die Sache auch gelang. Einer dieser Eroberungsbereiche war, so Zander, selber begriffen hat. die Medizin. Rudolf Steiner, 1.9.1910 (GA 123, S. 12) Der Wille zur medizinischen Macht und die «Karma-Erotik» I n seinem öffentlichkeitswirksam positionierten und in anthroposophischen Zeitschriften intensiv diskutierten Buch Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltan- Die umfangreichsten medizingeschichtlichen Ausführungen von Zanders (Habilitations-) Schrift gelten – soweit sie sich konkreten Personen und Therapieverfahren zuwenden – der schauung und gesellschaftliche Praxis. 1884 –1945 (Göttingen Farbtherapie Felix Peipers und den Heilmitteln Marie Ritters. 2007) schreibt Helmut Zander unter anderem über anthropo- Beide behandelt Zander als Beispiele dafür, dass im Umkreis sophische Medizin – auf über 120 Seiten und in einem Kapi- Rudolf Steiners medizinische Praktiken (ohne Steiners Mithil- tel, das den Anspruch erhebt, Rudolf Steiners «medizinische fe, so Zander) ausgebildet worden waren, die vom damaligen Vorstellungen» zu «rekonstruieren» und in ihren zeitge- Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen schichtlichen Kontext zu stellen, mithin einen zentralen Bei- Gesellschaft anschließend vereinnahmt werden konnten – trag zur Geschichtsschreibung der anthroposophischen Medi- Steiner, so Zander, musste nicht suchen oder gar «erforschen», zin zu leisten. Zander räumt zwar ein, dass seine «fehlende «was in der Rückschau als seine Erfindung oder zumindest medizinische Kompetenz» die Qualität seiner Analyse limi- von ihm geprägt erscheint» (S. 1478). «Steiner hat sicher viel tiere (S. 1456/1555), gibt sich jedoch im übrigen selbstsicher gelesen, aber vor allem lebte er von Informationen, die ihm und zeichnet eine spezifische und scharf konturierte Karika- zugetragen wurden. Er musste nicht groß auf die Suche nach tur dessen, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als geisteswis- «Erweiterungen» der Heilkunst gehen, nicht detektivisch senschaftliche Erweiterung der Medizin in Dornach und Ar- nach «esoterischen» Strömungen in der Medizin suchen, er lesheim konkret begonnen worden ist. In Helmut Zanders brauchte nicht einmal die frei flottierenden Informationen zu Arbeit, deren umfängliche (und doch außerordentlich selek- sammeln, er musste nur die Hinweise von Anhängern in den tive) Literaturbasis bereits an vielen Orten positiv hervorge- weltanschaulichen Horizont der Theosophie und späteren hoben wurde, wirkt – unschwer übersehbar – ein besonderes Anthroposophie einstellen.» (S. 1572) Von einem Menschen Interesse und ein gerichteter Wille. Dennoch findet seine Kri- wie der heilpflanzenkundigen Marie Ritter (die sich, nach tik an der «inneren Kanonisierung von Steiners Werk» (S. zahlreichen Vortragsbesuchen, 1908 an Rudolf Steiner ge- 1577) und an der «Binnenperspektive» nahezu der gesamten wandt und u.a. um Hilfestellungen zur Krebstherapie gebeten anthroposophischen Sekundärliteratur – als weitertradiertem hatte, die Mistel von ihm empfohlen bekam und wiederholt Ausdruck einer «semantischen Isolation» und «binnenplau- Patienten mit ihm sah) war Steiner in seinen medizinischen siblen Konstruktionslogik von Steiners Oeuvre» (S. 1571) – Expansionsbestreben nach Zander «abhängig» – ihre nach- auch in anthroposophischen Kreisen rangige Behandlung in der anthro- offene Ohren und wohlwollende Rezi- posophischen Geschichtsschreibung und pienten; die berechtigte Frage nach ei- Sekundärliteratur führt Zander auf eine nem zeitgemäßen Umgang mit Rudolf Umdeutung dieser Beziehungskonstel- Steiners Werk droht hier ganz offen- lation zurück, die auf der Basis eines sichtlich aus dem aufmerksamen Blick vorangegangenen Konkurrenzkampfes zu verlieren, welch eigentümlich ag- erfolgt sei («mutmaßlich hat sich Ritter gressive und destruktive, hämische und nicht (ganz?) auf Steiners Begründungs- höhnische Linie Zanders Ausarbeitung vorlagen eingelassen» S. 1487). Marie über weite Strecken eigen ist. Übersinn- Ritter war und ist für Helmut Zander liche Erkenntnisse, ja Erkenntnisse über- ein bezeichnendes Beispiel für «Steiners haupt – deren Möglichkeit von ihm a Eigenständigkeitsanspruch angesichts priori in Abrede gestellt wird – hatte seiner faktischen Abhängigkeit» (S. Rudolf Steiner nach Zander in keiner 1488), sein kalkuliertes Vorgehen, «aus Weise und in keinem Bereich; Steiner den Erfahrungen Dritter Kapital zu rezipierte vielmehr in eklektizistischem schlagen» (S. 1493), und seine generelle Habitus Vorstellungen des 19. Jahrhun- Strategie, mit «Unterwerfungsgeboten» derts und drängte in der theosophi- (S. 1519) und einem «Überbietungsan- schen Subkultur gezielt zur Macht, was spruch» (S. 1521) zur Alleinherrschaft Tagebucheintrag von Marie Ritter (Ita Wegman Archiv) 20 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007
Peter Selg über Helmut Zander zumindest innerhalb der theosophisch-okkultistischen Strö- sen der übermächtigen Einflussnahme gewesen, denen sich mung zu streben. In medizingeschichtlicher und «historiogra- seine ärztlichen Mitarbeiter nicht entziehen konnten. phischer» Orientierung zeige sich, so Zander, durchweg, wie Wer angesichts dieses sozialdarwinistischen Abhängig- Steiner nach dem Motto «Akzeptanz durch Einverleibung» (S. keits- und Macht-Komplexes gespannt war, wie Zander eine 1521) vorgegangen sei, in seiner Instrumentalisierung und Persönlichkeit wie Ita Wegman in ihn einordnen würde, sah gleichzeitigen Abwertung der Homöopathie («im Kosmos der sich innerhalb des «historiographischen» Werkes akademi- Anthroposophie sollte es keine Ideenmacht mit eigener Legi- scher Ausrichtung plötzlich in die Sphäre reiner Emotionali- timationsbasis neben Steiners Vorstellungen geben.» S. 1521), tät versetzt. Ita Wegman, die – so Zander – «interessanteste ja im Aufgreifen aller möglichen Heilmittel und Heilverfah- Person» unter den Medizinerinnen und Medizinern in Stei- ren der naturheilkundlichen oder «alternativen» Szene, de- ners Umfeld» (S. 1531) habe sich Rudolf Steiner 1902 keines- nen Rudolf Steiner lediglich seine eigene «Erkenntnistheorie» falls «angeschlossen» und sei erst in den letzten Jahren auf der aufstülpte (S. 1569) und so seine historische Abhängigkeit in Basis einer «emotionalen Nähe» an seine Seite gerückt. Die eine – scheinbare – «geistige» Autonomie verkehrte («Steiner medizinische Zusammenarbeit Ita Wegmans mit Rudolf Stei- suchte nach Wegen, Alternativtherapien sowohl zu verein- ner, ihr gemeinsamer Aufbau der medizinischen Sektion am nahmen als auch sich von ihnen abzugrenzen und seiner Goetheanum – mit all den damit verbundenen Entwicklun- Medizin ein eigenes Gesicht zu geben.» S. 1502) Obwohl alle gen im Bereich der Ausbildung verschiedener therapeutischer geschichtlichen Dokumente dagegen sprechen, behauptete Berufsgruppen, der Heilmittelforschung und -fabrikation, der Zander dieses Vorgehen Steiners selbst für die entstehende Entwicklung von Therapieverfahren etc. – fand keinen Ein- Mistel-Therapie des Krebses, an der Ita Wegman nach Bera- gang in Zanders «wissenschaftliche» Studie zur Geschichte tung mit Rudolf Steiner und mit Unterstützung des Zürcher der anthroposophischen Medizin, wohl aber seine Unterstel- Apothekers Adolf Hauser in Zürich weiterarbeitete: «Bei der lung, es handle sich bei der Beziehung Rudolf Steiners zu Suche nach alternativmedizinischen Heilmitteln konnte man Ita Wegman um eine primäre und ausschließliche Liebesge- Glück haben und auf Arzneien stoßen, die auch außerhalb schichte. Nach Helmut Zander verdeckte Rudolf Steiner seine des anthroposophischen Erklärungshorizontes partiell Aner- «emotionale Nähe» zu Ita Wegman «in weltanschaulicher Ter- kennung fanden. Das wohl prominenteste Beispiel ist die minologie» (S. 1533) und ließ sich auch «durch die fortbeste- Krebstherapie durch Mistelgabe, die auf Marie Ritter und / henden Interventionen seiner Frau nicht von seiner neue Lie- oder Adolf Hauser zurückgehen dürfte.» (S. 1568) Nach Hel- be abbringen» (S. 1534), schrieb «schwärmerisch» geprägte mut Zanders – unbelegter – Behauptung «besitzen alle ‹an- «Liebesbriefe» (S. 1535) bzw. «Liebesgedichte» (S. 1537) für throposophischen› Heilmittel ihre Wurzeln in der außeran- Wegman – und «verkleidete» seine Leidenschaft «in medizini- throposophischen Praxis, nicht in Steiners Theorie.» (S. 1568) sche Dienstfragen», ohne sich zu seiner «erotischen Freund- – «Von spezifisch anthroposophischen Verfahren oder Mit- schaft» zu bekennen (ebd.). Zander hält für möglich, dass die teln kann man […] nicht sprechen.» (S. 1569). «erotische Freundschaft» Rudolf Steiners mit Ita Wegman Rudolf Steiner, so Zander in nahezu faschistoider Termino- «eventuell nicht in sexuelle Liebe umschlug» (S. 1535), ist logie und im realen Denkmodell eines okkulten Militarismus sich jedoch sicher, dass Rudolf Steiner seine Karma-Vorträge – «exekutierte» sein «Deutungsmonopol» (S. 1471) in allen Fel- lediglich hielt, um seiner «neuen Liebe» eine metaphysische dern, und verwirklichte durch Einverleibung und Ausbeutung Rechtfertigung vor den prüden Mitgliedern der anthroposo- den «Erfolg» einer anthroposophischen Medizin, die die Heil- phischen Gesellschaft zu verschaffen («Die öffentliche Bear- mittelproduktion «als Geldmaschine» (S. 1571) zum Einsatz beitung dieses Verhältnisses bedurfte, da freie Liebe nicht zu brachte. Wo Mediziner in Steiners näherem Umfeld kritische den lebensreformerischen Zielen unter Anthroposophen Einwände erhoben, wurden sie abgedrängt und der Verges- zählte, eines Überbaus, und der hieß in der theosophischen senheit anheim gestellt. Selbst Rudolf Steiners «Versuch», am Tradition Karma.» S. 1537). Helmut Zander spricht von einer Ende seines Lebens «die ganz überzeugten Ärzte in einer eso- «karma-erotischem Gemengelage» (S. 1536), die – als Refugi- terischen Gemeinschaft zu sammeln» (S. 1493), thematisiert um der Emotion – Teil von Rudolf Steiners medizinischem Helmut Zander in diesem (Macht-) Kontext, unter Ausblen- Herrschaftssystem war, seinen Abhängigkeits- und Macht- dung aller Motive und Intentionen, die mit der Entstehung strukturen. des «esoterischen Kerns der Medizinischen Sektion» realiter verbunden waren – und in den letzten Jahren in geschichtli- Die versuchte «Rekonstruktion» der «medizinischen chen Monographien aufgearbeitet und sukzessive veröffent- Vorstellungen Steiners» licht werden konnten. Obwohl Rudolf Steiner nach Zander Zu Beginn seines Kapitels zur Medizin behauptet Zander, er «bei den Ärzten mit einer Personengruppe konfrontiert wur- wolle die medizinischen Vorstellungen Rudolf Steiners «re- de, in der viele Menschen mit hohem Selbstbewusstsein und konstruieren» und kontextuell diskutieren – Steiners «Kon- als Fachleute ihm auch Widerstand entgegensetzen konnten» struktionsprozesse» seien ohne eine solche historische Kon- (S. 1493), änderte dies nichts an seinem entschiedenen Vor- textualisierung keinesfalls hinreichend erkennbar (S. 1455). gehen; er behandelte nach Zander vielmehr als vollkomme- Angesichts von Zanders agnostischen Grundannahmen und ner medizinischer Laie und mit hoher Autorität selbst Hun- seinem usurpatorischen Steiner-Bild vermögen die «Ergebnis- derte von Patienten – Steiners von anthroposophischer Seite se» seines Rekonstruktions-und Kontextualisierungs-Prozesses so genannten «Beratungen» seien, so Zander, tatsächlich Wei- keinesfalls zu überraschen. Obwohl er keine einzige von Ru- Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007 21
Peter Selg über Helmut Zander dolf Steiners medizinischen Ideenbildungen wirklich als sol- Lindenberg von einer nur vordergründigen, «scheinbaren» che thematisieren und in annähernd wiedererkennbarer Wei- Systemlosigkeit Rudolf Steiners gesprochen hatte und inso- se zur Darstellung bringen konnte, postuliert Zander in seiner fern als Fußnotenreferenz nicht in Frage kam –, wurde an Arbeit im großen Stil – und unter Umgehung inhaltlicher Her- anderer Stelle von Zanders Habilitationsarbeit als eine gezielt leitungen und Begründungen –, Steiner habe erfolgreich ver- unternommene Text-Fälschung erkennbar. Helmut Zander sucht, «esoterische Traditionen zu beerben» und eine Vielzahl wurde in den allgemeinen Ausführungen seiner Studie, aber von «Deutungsmustern» anderer Autoren «übernommen» (S. auch in Interviews und Artikeln nicht müde, den «Anthropo- 1561). Dem «Wissenstand seiner Jugend und der Anschau- sophen» vorzuhalten, sie seien aufgrund ihrer geschlossenen lichkeit der älteren medizinischen Deutungsmodelle» bis an «Binnenhermeneutik» nicht zu «kontextuellen» Betrachtun- sein Lebensende verhaftet (S. 1562), sei Steiner über Haeckel – gen bereit und in der Lage; sein eigener «wissenschaftlicher» den er zeitlebens als «wissenschaftliche Autorität» verehrt Umgang mit «Texten» und «Kontexten» aber erscheint mehr habe – und seine goetheanistische Prägung nie hinausgekom- als fragwürdig. men, habe jedoch in geschickter Weise vermocht, populär- Auf S. 1468 seiner Studie problematisiert Helmut Zander wissenschaftliche Denkformen des 19. Jahrhunderts im theo- Rudolf Steiners Bestreben, mit empirisch-naturwissenschaftli- sophischen Milieu und unter Verwischung seiner (bis heute, chen Forschungsergebnissen ideeller Ansätze an die Öffent- so Zander, unaufgedeckten) Quellen wiederzubeleben. Hel- lichkeit zu treten. Zander versucht darzulegen, dass die natur- mut Zander versuchte sich an Rudolf Steiners medizinischen wissenschaftlichen Nachweisverfahren und -bemühungen Vortragskursen vor Ärzten, fand in ihnen jedoch nur einen dabei ganz offensichtlich übereilt und unprofessionell durch- «amorphen Bestand» (S. 1494) «divergierender Konzepte» (S. geführt wurden, was Rudolf Steiner jedoch nicht an ihrer 1498), einen «freien kombinatorischen Umgang [Steiners] mit machtvollen Binnenvertretung (mit erhobenem akademi- Systemvorstellungen» (S. 1514) und «Modellen» anderer Au- schem Anspruch) hinderte: «Steiner ließ jedenfalls Lili Kolis- toren. In seinem herrschaftlichen Bestreben, sich selbst und ko 1923 demonstrativ vor Anthroposophen und Anthroposo- seiner Lehre einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen phen [sic!] über ihre Arbeiten referieren (GA 260, 212f.), und zugleich als Spiritualist aufzutreten, habe Steiner in op- letztlich weil er ihre empirische Qualität für ausreichend portunistischer Weise Divergentestes amalgamiert – und sei hielt: «Unsere Abhandlungen können bestehen vor den gegenwär- dabei auch immer wieder dem «krassen Materialismus» ver- tigen klinischen Anforderungen» (ebd., S. 278). Hier wäre zu fra- fallen (so in seinen Vorschlägen zur organischen Behandlung gen, wie viele von Zanders wissenschaftlichen Gutachtern die psychiatrischer Krankheitsbilder …). Von modernen sozial- Belegstelle in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe nachschla- psychologischen Ansätzen aufgrund seiner theosophischen gen konnten und wollten – um dort zu bemerken, was Rudolf Binnenorientierung und ihrer Prämissen getrennt, habe Stei- Steiner im Kontext des zitierten Weihnachtstagungsvortrages ner zeitgemäße humanistische Entwicklungen versäumt wirklich gesagt hatte: «Wenn wir dasjenige, was auf unserem («Beispielsweise fallen milieubedingte Krankheiten oder kör- Boden medizinisch erwächst, so beschreiben, dass wir den perliche Reaktionen auf soziale Bedingungen durch die Fixie- Ehrgeiz haben:Unsere Abhandlungen können bestehen vor den rung auf die gesellschaftstranszendente ‹Geistigkeit› seines gegenwärtigen klinischen Anforderungen – dann, dann werden Ansatzes weitgehend aus.» S. 1570) und sei selbst dem 19. wir niemals mit den Dingen, die wir eigentlich als Aufgabe Jahrhundert und dem «sozialdarwinistischen Weltbild» (S. haben, zu einem bestimmten Ziele kommen, denn dann wer- 1461) verpflichtet geblieben. Insgesamt habe Steiner über kei- den die anderen Menschen sagen: Nun ja, das ist ein neues nerlei konsistentes Denken im Bereich der Medizin verfügt – Mittel; wir haben auch schon andere neue Mittel gemacht.» und seinen Ärztekursen würden selbst Anthroposophen Um zu belegen, dass Rudolf Steiner veralteten wissen- «ganz unsystematisch» erscheinen, so Zander mit Hinweis auf schaftlichen Auffassungen nachhing und moderne Entwick- Christoph Lindenberg (S. 1455). Daran hätten auch Steiners lungen ignorierte oder verwarf, führte Zander Steiners Sicht, farbige Wandtafelzeichnungen mit ihrer «Plausibilisierungs- das Herz sei keine «Pumpe», sondern ein «Stauapparat», an (in funktion» (S. 1456) nichts zu ändern vermocht. durchgängiger Verkürzung und Verfremdung des tragenden ideellen Gehaltes, aber vielleicht ohne Wissen darum, wie rea- «Aber der Teufel steckt im Detail» (H. Zander) – liter «modern» Rudolf Steiners hämodynamische Gesichts- vom exemplarischen Umgang mit Texten und Kontexten punkte nach neuesten naturwissenschaftlichen Gesichts- Christoph Lindenberg aber hatte in seinen biographischen punkten sind); diese «Idee» des «Stauapparats» habe Rudolf Ausführungen zum ersten Ärztekurs geschrieben: «In der Tat Steiner, so Zander, von dem österreichischen Arzt Karl Schmid sprach Rudolf Steiner, nach der Einleitung, aus einer leben- «übernommen» – wie von ihm selbst eingeräumt worden sei. digen inneren Anschauung, scheinbar ganz unsystematisch.» Um Rudolf Steiners entsprechendes Geständnis quellentext- (Rudolf Steiner. Eine Biographie. Band 2. 1915 –1925. Stuttgart lich zu belegen («wie Rudolf Steiner selbst zugab»), führte Hel- 1997, S. 738) Was hier, im Bereich des gezielt verdrehten und mut Zander einen Seitenverweis auf eine Fragenbeantwor- instrumentalisierten Zitats («bis heute können sie [die Ärzte- tung nach dem öffentlichen medizinischen Vortrag Rudolf kurse Steiners] Anthroposophen als ‹ganz unsystematisch› Steiners vom 16.11.1923 in Den Haag an (GA 319, S. 134), in erscheinen»; Zander mit Fußnotenverweis auf Lindenberg der Rudolf Steiner (wie auch in dem vorausgegangenen Vor- [Buchtitel und Seitenzahl] S. 1455), noch harmlos «erschei- trag) weder über das Herz, noch über die genannte Thematik nen» konnte – wobei textimmanent offensichtlich ist, dass sprach. Tatsächlich hatte Rudolf Steiner am 17.11.1910 in 22 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007
Peter Selg über Helmut Zander Berlin und am 21.3.1920 in Dornach im Kontext umfangrei- Jahrhunderts für die Gewinnung anthropologischer Grundka- cher Ausführungen zur menschlichen Herztätigkeit auf die tegorien benötigt. Helmut Zander mag das in seiner grenzen- Arbeit von Schmid hingewiesen, die einen Aspekt des hämo- losen Steiner-Verkennung tatsächlich für möglich halten; den dynamischen Problems unter mechanischen Gesichtspunk- «dokumentarischen» Textnachweis aber blieb er auch hier ten wenigstens anfänglich thematisiere: «Es ist nicht sehr viel schuldig – und arbeitete mit Scheinbelegen. noch in dieser Abhandlung enthalten, aber man muss sich sa- Wo Helmut Zander im zweiten Teil seines Medizin-Kapitels gen, dass wenigstens da einmal jemand aus seiner medizini- den Aufbau der anthroposophischen Kliniken – in aller Kürze schen Praxis heraus bemerkt hat, dass man es nicht zu tun hat – skizziert, schreibt er über die Begründung des Klinisch- mit einem Herzen als mit einer gewöhnlichen Pumpe, son- therapeutischen Instituts in Arlesheim u.a.: «Steiner hat die dern mit dem Herzen als einem Stauapparat.» (GA 312, S. 37) Konzeption des Hauses esoterisch aufgeladen und geglaubt, hier Vom Eingeständnis einer «Übernahme» der Schmid’schen ‹enthüllen sich die Mysterien› (GA 319, 242).» (S. 1548). Tat- Idee («wie Rudolf Steiner selbst zugab»), war in dem Vortrags- sächlich verfasste Rudolf Steiner für Ita Wegman einen ausge- text keine Rede – und wie hätte Rudolf Steiner auch von ihr sprochen nüchternen und sachlichen Ankündigungstext der sprechen können? Kennt man den Umfang und die anthro- neuen Klinik und besprach mit ihr zahlreiche Patienten- und pologischen Implikationen und Konsequenzen von Rudolf Therapiegeschichten – in historisch gut dokumentierter Wei- Steiners hochdifferenzierter und komplexer Herzlehre – wie se. Ita Wegman selbst sehnte sich nach einer Erneuerung des sie bereits 1910 und in weiter ausgeführter Weise 1920 vorlag medizinischen Mysterienwesens («Intensives Arbeiten mit und von ihm in eindrucksvoller Weise thematisiert wurde – Dr. Steiner, viele Patienten / Medicamenten Ausarbeitung La- sowie den Artikel von Karl Schmid aus dem Jahre 1891, so boratorium Schmiedel / immer die Sehnsucht noch nach ei- kann von einer «kontextuellen» Übernahme von Ideen ner tieferen / Beschäftigung mit den Mysterien», Notizbuch schwerlich die Rede sein. Wegman). Von einer «esoterischen Aufladung» der soeben ge- Rudolf Steiner, so Zander weiter, habe die salutogenetische gründeten Klinik durch Rudolf Steiner und von Steiners (und nicht primär pathogenetische) Orientierung seines me- «Glauben», in der Arlesheimer Klinik würden sich die Myste- dizinischen Denkens an der zeitgenössischen Naturheilbewe- rien «enthüllen», kann in einer wirklichen Geschichtsschrei- gung «kennen gelernt» – und habe dies 1909 selbst «doku- bung nicht die Rede sein. Zanders Textbeleg dazu «(GA 319, mentiert». Zander verwies an dieser Stelle, die wiederum 242)», der in der Tat Rudolf Steiner Worte «so enthüllen sich Steiners grundlegende Abhängigkeit vom zeitgenössischen die Mysterien» enthält, handelte in Wirklichkeit überhaupt Denkstilen erweisen sollte, auf «GA 57, 189». Tatsächlich nicht vom Arlesheimer Klinisch-therapeutischen Institut, sprach Rudolf Steiner in seinem Berliner Vortrag vom sondern von den wirksamen Phosphorkräften, dem mensch- 14.1.1909 über Gesundheit und Krankheit – über die zeitge- lichen Uterus und der Rachitiserkrankung. In einer medizini- nössische Naturheilkunde und über die spezifische Aufgabe schen Ausführung hierzu sagte Rudolf Steiner am 29. August der Geisteswissenschaft in der Auseinandersetzung von Allo- 1924 vor Ärzten in London (GA 319, 242): «Da kommt man pathie und Homöopathie. Innerhalb seiner – kritischen – dazu, zu studieren, wie der Mensch in der Embryonalzeit he- Charakterisierung der Naturheilkundebewegung sagte Steiner reintritt aus der geistigen Welt in die physische Welt, und da u.a.: «Dann haben aber auch weite Kreise Zutrauen gefunden findet man, daß eine besondere Relation besteht zwischen zu dem, was man Naturheilkunde nennt, die vielfach eine den Kräften, die im Phosphor oder in Phosphorverbindungen andere Auffassung über Krankheit und Gesundheit hat und vorhanden sind, und denjenigen Kräften, die im Uterus vor- nicht nur das empfiehlt, was auf den kranken Menschen handen sind und im Uterus sich entgegenstellen der Embryo- Bezug hat, sondern auch das, was als richtig gehalten wird nalentwickelung. Wären diese Kräfte im Uterus nicht vorhan- für den gesunden Menschen, damit er sich stark und kräftig den, so würde einfach bei jedem Menschen Rachitis eintreten. erhält. Alles ist gefärbt von dieser oder jener Seite, von der Der Uterus ist zu gleicher Zeit ein fortwährender Arzt gegen schulmedizinischen oder von der mehr der Naturheilkunde die Rachitis, indem er Kräfte in sich enthält, die im Organis- zuneigenden Richtung.» (GA 57, 189f.) Entgegen Zanders mus von derselben Art sind wie die Kräfte, die in der äußeren «historiographischer» Behauptung, Rudolf Steiner habe mit dieser Textstelle «dokumentiert», sein «Gesundheits»-Denken an der Naturheilkunde «kennen gelernt» zu haben, spricht die referierte Passage und der gesamte Vortrag vom 14.1.1909 vom spezifischen Duktus dessen, was Rudolf Steiner als zukunftsfähiges anthropologisches und medizinisch-patholo- gisches Denken ansah. Studiert man Rudolf Steiners differen- ziertes Denken über den Leib des Menschen in Physiologie und Pathologie und wird man gewahr, wie intensiv sich Rudolf Steiner schon zur Zeit seiner goetheanistischen Natur- studien in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit entsprechenden Fragestellungen auseinandersetzte, so er- scheint die Behauptung hochgradig naiv bis maligne, Steiner habe die populäre Naturheilbewegung des beginnenden 20. Von Rudolf Steiner entworfenes Signet Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007 23
Peter Selg über Helmut Zander Natur in der Mineralsubstanz Phosphor oder bert Sieweke studieren müssen – und ver- in Phosphorverbindungen vorhanden sind. schiedene Abhandlungen, die im Anschluss – So enthüllen sich die Mysterien, so dass, wenn an Sieweke Steiners Physiologie-, Pathologie man nun dem Menschen, der rachitisch ge- und Therapiezugänge näher untersuchten, worden ist, eine Phosphorbehandlung ange- in monographisch-«konsistenter» Weise ver- deihen lässt, man die mangelnde Phosphor- öffentlicht wurden (vgl. z.B. Peter Selg: wirkung des Uterus in der Außenwelt nach Krankheit-, Heilung und Schicksal des Men- der Geburt nachholt.» schen. Über Rudolf Steiners geisteswissenschaft- In seiner Thematisierung der «Liebesbe- liches Pathologie- und Therapieverständnis. ziehung» Rudolf Steiners zu Ita Wegman Dornach 2004) oder Eingang in konkrete schreibt Helmut Zander schließlich, dass Ru- medizinische Fachbeiträge fanden. Sofern dolf Steiner Ita Wegman im Unterschied zu man jedoch von vornherein behaupten und Marie Steiner innerhalb seines neuen Liebes- «beweisen» möchte, Rudolf Steiner habe oh- verhältnisses dazu ermächtigt habe, anthro- ne eigenes Erkenntnisfundament «amorphe» posophischen Medizinern «Meditationen» Modelle zum Besten gegeben, die er von An- zu geben, d.h. offensichtlich einen Teil sei- deren okkupierend übernahm und gewinn- ner esoterischen Oberhoheit an sie mit «Auszeichnung» dele- trächtig zum Machterwerb gebrauchte, ist eine solche ideen- gierte: «Am 11. März erschien der erste und einzige Rundbrief zentrierte Auseinandersetzung mit den Vorträgen und für Ärzte. Er war von Steiner und Wegman unterzeichnet Schriften Rudolf Steiners sowie der entsprechenden Sekundär- (GA 316, 229), und Steiner verkündete, dass Wegman nun literatur gänzlich überflüssig. Auch ist es ganz offensichtlich «Meditationen» gab (ebd., 224) – eine Auszeichnung, die in «wissenschaftlicher» Orientierung problemlos möglich, oh- Marie Steiner nie zuteil wurde.» Wie in einer bereits vor drei ne jede Beweisführung zu behaupten, alle Heilmittel und Jahren publizierten Monographie über die – von Rudolf Stei- Therapieverfahren der anthroposophischen Medizin seien ner stammende – «Wärme-Meditation» eindeutig nachgewie- unabhängig vom Ideengut der Anthroposophie anderen The- sen wurde, ging es in dem Mediziner-Rundbrief von Stei- rapierichtungen entnommen worden – und dabei nicht zu- ner/Wegman um die weitere Verteilung dieser medizinischen letzt ganze medizinische Tätigkeitsbereiche wie die anthropo- Schulungs-Übung durch Wegman als Sektionsleiterin. Eigene sophische Heileurythmie und Heilpädagogik vollständig zu Meditationen verfasste Ita Wegman – entgegen Helmut Zan- übergehen, deren anthropologisches Fundament von Rudolf ders Behauptung – nie; eine entsprechende «Verkündigung» Steiner detailliert, in spezifischen Vortragskursen und metho- durch Rudolf Steiner fand in der geschichtlichen Wirklichkeit disch innovativer Weise ausgearbeitet worden war. Es ist niemals statt. «Solche Dinge gibt es auf Schritt und Tritt, und es möglich, zu postulieren, «milieubedingte Krankheiten oder ist nützlich, wenn sich die Anthroposophen kümmern um das körperliche Reaktionen auf soziale Bedingungen» spielten in Wurmstichige dessen, was hinter dem steht, was so oft der Anthro- der von Rudolf Steiner inaugurierten und praktizierten Medi- posophie entgegengehalten wird. – Aber gehen wir weiter.» (Rudolf zin keine Rolle – und de facto eine Geschichte der anthropo- Steiner, 9.9.1910; GA 123, 173). sophischen Medizin zu schreiben, ohne die Steinerschen Ärz- tekurse genauer gelesen und ohne sich mit den realen Die ungeschriebene Geschichte und das Krankengeschichten der in Arlesheim behandelten Patienten «historiographische» Defizit der Anthroposophie auseinandergesetzt zu haben, obwohl diese Dokumente archi- Es ist ein nahezu grenzenloses – und sinnloses – Unterfangen, viert und in öffentlicher Weise zugänglich sind. Es ist mög- die unzähligen Vorurteile und verzerrten Urteilsformen, die lich, die ganze innere Geschichte der anthroposophischen Vereinfachungen und Verdrehungen, bewussten Entstellun- Medizin, die zur Ausbildung der Medizinischen Sektion gen, Verfremdungen und Fälschungen, die methodischen am Goetheanum und der medizinischen Hochschulkurse Grundprobleme, defizienten Voraussetzungen und haarsträu- Rudolf Steiners führte, auszublenden – und all die Literatur, benden Folgerungen auch nur des medizinischen Kapitels die zu diesen Vorgängen in den letzten Jahren vom Ita Weg- von Helmut Zanders Buch richtigzustellen (von Rudolf Stei- man Institut veröffentlicht wurde. Es ist möglich, vollständig ners wertschätzender und positiv unterstützender Arbeitsbe- außer Acht zu lassen, dass Rudolf Steiners Ärztekurse tat- ziehung zu Ärzten und Heilkundigen – wie Felix Peipers und sächliche Schulungskurse für den Erwerb individueller Marie Ritter – bis hin zur Person und Relation mit Ita Weg- Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeiten für medizinische man) – all das von Zander absichtlich bizarr Beschriebene, Problemstellungen waren – und dass anthroposophische aber auch all das von ihm bewusst nicht Beschriebene, all die Ärzte bis zum heutigen Tag mit diesem methodischen Instru- nicht berücksichtigten und sachlich weiterführenden Ent- mentarium (statt mit «amorphen» Modellen) erfolgreich ar- wicklungen – auch all die Schriften der Sekundärliteratur, beiten. Auch stellt es wissenschafts- und sozialgeschichtlich die von ihm außer Acht gelassen wurden. Wenn es Helmut offensichtlich kein Problem dar, in einer sich sozialkritisch ge- Zander im Zuge seiner ideellen «Rekonstruktion» der «medizi- benden geschichtlichen Analyse (Theosophische Weltanschau- nischen Vorstellungen» Rudolf Steiners ein tatsächliches Er- ung und gesellschaftliche Praxis. 1884 –1945) einer hochran- kenntnisanliegen gewesen wäre, die entsprechenden Ideen- gigen akademischen Arbeit den Widerstands-Einsatz der bildungen Steiners begrifflich aufzuarbeiten, so hätte er Her- anthroposophischen Heilpädagogik – als Teil der anthroposo- 24 Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007
Peter Selg über Helmut Zander phisch-medizinischen Bewegung – im Nationalsozialismus stellung, Rudolf Steiner habe sich an allem bereichert, ohne unthematisiert zu lassen, damit aber all die konkreten inhalt- selbst etwas Eigenes mitgebracht zu haben – hebt die Berech- lichen Verbindungen, die zwischen der von Rudolf Steiner er- tigung und den Sinn jeder «kontextuellen Betrachtung» auf. öffneten Anthropologie und Therapeutik christlich-anthro- Zanders Vorgehen ist darin kein neues; seit der Positivismus posophischer Ausrichtung und der konkreten Praxis der sich der Geschichtsforschung – und nicht nur der Naturwis- Heime, Institute und Kliniken selbst in schwierigsten Zeiten senschaft – bemächtigte, ist jede «geisteswissenschaftliche» bestanden. Die sogenannte «Ethik» der «Anthroposophen», Studie in erster Linie motiv- und ideengeschichtlich orientiert die häufig als Sonderposten zugestanden wird – in anerken- – im Sinne der «übernommenen» Systeme, Gedanken und Bil- nender Herablassung –, ist mit der medizinischen Anthropo- der vorangegangener Zeiten. Der radikale Positivismus kennt logie geisteswissenschaftlicher Ausrichtung immanent ver- kein erkennendes Ich, daher auch keine ursprüngliche Er- bunden, was einem belesenen Menschen wie Helmut Zander kenntnisarbeit – keine individuell-kreativen Leistungen und auch in ideenzentrierter Weise hinlänglich deutlich sein keine Neuanfänge der Kultur aus der schöpferischen Aktivität muss. Indem Zander die reale Anthropologie Rudolf Steiners der menschlichen Individualität. Er kennt nur – «wissen- verkennt und willentlich entstellt, die auf der Basis individu- schaftlich» zu beschreibende – Abhängigkeiten und Übernah- eller Erkenntnisarbeit erwuchs, ja das gesamte Erkenntnisfun- men, Traditionslinien und Einflüsse – sowie emotionale Po- dament der Anthroposophie negiert – und Rudolf Steiner zu tentiale. In positivistischer Weise über Rudolf Steiner zu einem esoterischen Diktator und Scharlatan mit «amorphen» schreiben, mag eine intellektuelle Herausforderung im Sinne Konzepten werden lässt –, schreibt er eine «historiographi- der gezielt intendierten und lustvoll realisierten Demontage sche» Studie über etwas, das es so nie gab. Niemals erhob bedeuten – mit der ausgesprochen ernsten Realität dessen, Rudolf Steiner und niemals erhoben anthroposophische Me- was in Rudolf Steiner lebte, in wessen Geist er handelte und diziner den Anspruch, vollkommen neue und bisher gänzlich was von ihm im 20. Jahrhundert ermöglicht wurde, hat dies unbekannte Natursubstanzen gefunden und den Schöpfungs- jedoch nichts zu tun. prozess auf eine neue Stufe gehoben zu haben; wohl aber war Wenn angesichts dieser Gesamtsituation von anthroposo- mit der geisteswissenschaftlich erweiterten Medizin anthro- phischer Seite in den vergangenen acht oder neun Jahrzehn- posophischer Ausrichtung von Anfang an die Intention ver- ten – neben der praktischen Arbeit in wichtigen Zivilisations- bunden, Diagnostik und Therapie in den Bereich der indivi- gebieten – Studien zum inneren Gehalt der Anthroposophie duellen menschlichen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit herein- der eindeutige Vorzug vor «kontextuellen» und «historiogra- zuholen bzw. auf der Basis einer vertieften Erkenntnisarbeit in phischen» Betrachtungen gegeben wurde (darunter auch von nachvollziehbarer Rationalität neu zu begründen. Hier lag ihr Anthroposophen, denen es wahrlich nicht an kultureller Bil- geschichtlicher Ausgangspunkt und ihre Differenz zur natur- dung und geistigem Horizont fehlte), so war dies nicht ledig- heilkundlichen, homöopathischen und allopathischen Bewe- lich im elitären Hochmut einer «begnadeten» Gruppierung gung – wie Helmut Zander sehr wohl bekannt ist. Rudolf Stei- begründet, sondern hatte etwas nachdrücklich Berechtigtes. ner hat weder die Arnika noch die Mistelpflanze erfunden; er Ehe man die Anthroposophie und das innovative Werk Ru- vermochte jedoch, sie in ihrer Wesensgestalt und in ihrem dolf Steiner nicht wirklich ideell durchdrungen und zumin- physiologischen wie therapeutischen Bezug zum menschli- dest in Teilsegmenten inhaltlich aufgearbeitet hat, bleiben chen Leib in einer Weise zu erkennen, die für die Medizin viele kontextuelle «Brückenschläge» oberflächlich und sub- wirkliches Neuland bedeutete und zu bedeutenden Entwick- stanzlos – wofür Zanders Arbeit eine Überfülle (selbstprodu- lungen führte – in pharmazeutischer und praktisch-medizini- zierter) Beispiele aufzuweisen vermag. Die werkimmanente scher Hinsicht. Arbeit an der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners stellt eigene Zanders wiederkehrende Klagen, «Anthroposophen» hät- hermeneutische Aufgaben von weiterführendem Charakter, ten viel zu wenig über dasjenige geforscht, was Rudolf Steiner die in ihrer wissenschaftlichen Besonderheit gesehen und res- in seiner Zeit vorfand und womit er sich auseinandersetzte, pektiert – und nicht vorschnell mit der Apostrophierung sind berechtigt. Rudolf Steiner lebte in intensiver Weise in sei- «Binnenperspektive» diskredititiert werden sollten. Dass darü- ner zeitgenössischen Gegenwart und rezipierte wissenschaftli- ber hinaus in Zukunft noch weiteres wünschbar und nötig ist, che Neuerscheinungen, aber auch soziale, geschichtliche und in ideengeschichtlicher Orientierung und im zeitkontextuel- künstlerische Entwicklungen bis in die letzten Tage seines Le- len Bezug, liegt auf der Hand – auch wenn Zanders aggressive bens. Man erkennt die spezifische Kontur der Anthroposo- Studie nicht dazu angetan ist, entsprechende Bemühungen zu phie und ihren besonderen Beitrag zur Kultur tatsächlich ge- fördern. Darin liegt eine Tragik, auch im Hinblick auf Helmut nauer, wenn man sich nachhaltig mit der Zeit Rudolf Steiners, Zander selbst. mit ihren Denkformen und Sozialprozessen, Fragen, Proble- men und Diskussionen auseinandersetzt – mit der Zeit, in der Peter Selg die Anthroposophie ihre Wirksamkeit begann, als neuer Impuls im Alten, als Aufbruch im Abbruch und Umbruch. Helmut Zanders Verfahren jedoch, Rudolf Steiners Werk als solches a priori aufzulösen, ihm jeglichen Eigenwert abzu- sprechen und nach oberflächlichen Bezügen zur jeweiligen Umwelt Ausschau zu halten – in der durchgängigen Unter- 2. Teil folgt Der Europäer Jg. 12 / Nr. 1 / November 2007 25
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