Lernplattformen, Roboter und KI - Marlies Ockenfeld* - De Gruyter
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Information. Wissenschaft & Praxis 2019; 70(5–6): 284–290 Tagungsbericht Marlies Ockenfeld* Lernplattformen, Roboter und KI Zukunftsdialog zur Digitalisierung in der Bildung beim DGI-Forum Wittenberg 2019 https://doi.org/10.1515/iwp-2019-2051 gitalisierte Inhalte und Prozesse spielen dabei zwar zu- nehmend eine Rolle, doch das Lernen in Schule, Beruf Im Wissenschaftsjahr 2019 Künstliche Intelligenz kommt und Freizeit muss auch in sozialen Zusammenhängen er- kaum eine Veranstaltung am Thema KI vorbei. So standen folgen, wenn nicht nur Wissen erlangt, sondern auch Bil- auch beim 4. DGI-Forum Wittenberg vom 16. bis 18. Sep- dung und Persönlichkeitsentwicklung erreicht werden tember Digitalisierung, Informationskompetenz (IK) und sollen. Nützliche Dienste können KI-gestützte Systeme Künstliche Intelligenz (KI) auf der Agenda, und zwar mit mittelfristig vermutlich in der Organisation von Bildungs- dem Fokus auf Bildungsforschung und -praxis. Das Tref- einrichtungen leisten, etwa bei Raumplanung, Stunden- fen unter dem Motto „KI macht Schule“ in der „kleinsten plan oder Einsatzplanung. Gesichtserkennungssysteme Großstadt Deutschlands“, wie Oberbürgermeister Torsten zur Anwesenheitskontrolle oder zur Identitätsprüfung bei Zugehör in seinem Grußwort zur Eröffnung die Luther- Klausuren dürften hierzulande derzeit noch auf geringe stadt charakterisierte, fand erneut im historischen Univer- Akzeptanz stoßen. sitätsgebäude Leucorea statt, wo das Tagen und Wohnen Stefan Holtel, Kurator für digitalen Wandel bei Price- unter einem Dach den intensiven Gedanken- und Mei- waterhouseCoopers, sprach sich in seinem Eröffnungsvor- nungsaustausch zwischen den Teilnehmerinnen und Teil- trag dafür aus, Problemlösungen im Sinne von Effectua- nehmern gewährleistet. Zum vielfältigen Programm tru- tion anzupacken, also nicht wie KI-Systeme Prognosen gen u. a. Bildungsforscher, Sprachwissenschaftler, Psy- auf Daten und Erfahrungen der Vergangenheit zu grün- chologen, Informatiker, Informationswissenschaftler und den, sondern die verfügbaren Ressourcen zu nutzen und Politiker bei. Waren es beim letzten DGI-Forum 2017 die Denken und Handeln unter Ungewissheit als Chance für Coffee Lectures, die Abwechslung in das Vortragspro- neue Lösungen zu begreifen: Agieren statt Vorhersagen. gramm brachten, so wurde die Abfolge aus Projektpräsen- Als Protagonisten verwies er auf Alan Musk, der mehrfach tationen und Fachvorträgen dieses Mal durch ein KI-Quiz, Unternehmen gegründet hat, um neuartige technologi- einen Workshop und eine Open-Table-Runde aufgelo- sche Lösungen auszuprobieren, und dabei immer wieder ckert. Beim Stadtrundgang am ersten Abend und der an- die eigene Haut riskierte. Der als Coach tätige Unterneh- schließenden Einkehr begannen in lockerer Runde beim mensberater („Als Coach braucht man keine Ahnung von gegenseitigen Kennenlernen bereits die ersten fachlichen Inhalten, nur zum Prozess“) plädierte dafür eine Haltung Gespräche. zur Digitalisierung zu entwickeln. Nicht die technische Infrastruktur sollte den Rahmen für Ausbildungs- und Lehrpläne bilden, stattdessen könnten DigiScouts die Ler- nenden beim systematischen Erreichen von Zielen unter- Gegen die Automation des stützen. Digitale Fähigkeiten erlaubten zu verstehen, was Entscheidens durch KI wiederkehrende Muster sind. Gebraucht würden Instru- mente, mit denen man nicht „im Detail herumkramt, Für die beiden Veranstalter DGI und Germanistisches In- sondern Zusammenhänge erkennt“. Schlüsselfaktor blie- stitut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ben auch in Zeiten der Digitalisierung mentale Fähigkei- (MLU) eröffneten Marlies Ockenfeld und Matthias Ballod ten. Eine Metakompetenz, die man jetzt brauche, sei es, die Tagung mit einer Rahmensetzung zu Anwendungsfel- ständig aus der Blase herauszuspringen. dern von KI im Bildungswesen. Wissensaneignung und Lernen finden ständig statt, organisiert oder beiläufig. Di- *Kontaktperson: Marlies Ockenfeld, Redaktion IWP, E-Mail: ockenfeld@dgi-info.de
Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI 285 Versteckte Botschaften nenden zu wecken, damit die sich tief in ein Thema ein- arbeiten, anstatt lediglich über das Internet MOOCs oder Eine KI-basierte Anwendung aus dem Bereich der Sprach- Videos zu rezipieren, die ihnen kurzfristig den Lösungs- wissenschaft präsentierte Matthias Hagen von der MLU weg einer gestellten Aufgabe zeigten. Social Media dien- Halle-Wittenberg. Mit Hilfe kombinierter Methoden der ten bewusst dem „Anfixen“, sie förderten nicht die Wiss- Computerlinguistik, der Heuristischen Suche und des Ma- begier. Die Schüler und Studenten dürften nicht mit Tech- schinellen Lernens lassen sich Botschaften in unverdäch- nik abgespeist werden, sondern es müsse der Wunsch in tigen Texten unterbringen, indem die ersten Buchstaben ihnen geweckt werden, wirklich etwas zu verstehen (need der Textzeilen von oben nach unten gelesen – wie zufäl- for cognition). Steil die provokante These des Professors lig – eine zweite Aussage ergeben und sich der Autor als für Ingenieurmathematik und technische Informatik, dass nicht verantwortlich herausreden kann. Man nennt eine Mathematik die erhoffte Einfallsschneise sei, um Digitali- solche in den Zeilenanfängen verborgene Botschaft ein sierung in die Schulen zu bringen, obgleich kaum jemand Akrostichon. Das automatische Textparaphrasieren, also in seinem Leben Mathematikkenntnisse brauche, die über die sinnerhaltende Umformulierung eines von Menschen das Lösen einer quadratischen Gleichung hinausgehen. geschriebenen Textes, so dass der algorithmisch erzeugte Ergebnistext bestimmte vorgegebene Eigenschaften besitzt, lässt sich aber auch zur Verschleierung von Auto- renschaften oder von wiederverwendeten Texten (vulgo Angepasste Mädchen und Plagiaten) einsetzen, indem typische Ausdruckweisen au- mundfaule Jungs tomatisiert durch anderslautende, aber inhaltlich gleich- artige ausgetauscht werden. Aber auch die Textverein- Fabian Zehner vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsfor- fachung zur besseren Verständlichkeit oder die Erhöhung schung und Bildungsinformation betonte, dass derzeit der Hörverständlichkeit durch Anpassung von Nachrich- zwar Methoden aus der KI-Forschung wie Maschinelles tentexten zum Vorlesen durch Menschen oder für sprach- Lernen, Sprachverarbeitung und Sensorik ihre Potenziale basierte maschinelle Dialogsysteme (Sprachassistenten) für spezifische Aufgaben im Bildungssektor beweisen, sind auf diese Weise möglich. Notwendig für die aufwen- und zwar vor allem für individuelles Lernen oder Prüfen dige und in erstaunlicher Geschwindigkeit erfolgende ma- im großen Umfang sowie bei der Bereitstellung von neuen schinell Paraphrasierung sind eine ganze Reihe linguisti- Informationsquellen für die Bildungsforschung. Es hande- scher Korpora, Wörterbücher und Regelsysteme. Dazu ge- le sich aber allenfalls um schwache KI, und das werde hören die Paraphrase Database PPDB mit 169 Millionen wohl so lange so bleiben, bis wir wissen, was Bewusstsein linguistischen Paraphrasierungsregeln, Netspeak mit 3,5 ist und wie wir das in Software umsetzen können. Zu den Milliarden Wort-2- bis -5-Grammen mit Angabe ihrer Anwendungen im Bildungsbereich, die mittels Techniken Häufigkeiten und einer Gebräuchlichkeitsprüfung im Kon- der natürlichen Sprachverarbeitung Lehrende und Ler- text, WordNet als Quelle für Synonyme, die TEX-Silben- nende unterstützen können, gehört z. B. AutoTutor. Diese trennung sowie Listen mit Tausenden von häufigen Tipp- intelligente tutorielle Software, die natürliche Sprache fehlern und Akronymen. verarbeiten kann, verfügt über mehrere tutorielle Strate- gien. Sie vergleicht zu erwartende richtige sowie falsche Begriffe mit Äußerungen der Lernenden, erkennt Fragen, Einfallsschneise Mathematik Feststellungen, meta-kognitive Äußerungen („keine Ah- nung“) und Kurzantworten und versucht über mehrere Skeptisch äußerte sich Jörn Loviscach von der Fachoch- Dialogschritte zur korrekten Antwort zu leiten. Hierzu er- schule Bielefeld zum Lehren und Lernen im Zeitalter der folgen negative, neutrale und positive Rückmeldungen Digitalisierung. Er beobachtet und befürchtet Anzeichen sowohl verbal als auch mimisch. eines „Solutionismus“, bei dem schlicht das, was verdatet Anhand der Software ReCo (Automatic Text Response werden kann, ausgewertet und zur Steuerung von Lern- Coder) demonstrierte Zehner schrittweise wie die Auswer- prozessen genutzt würde. Dabei werde häufig übersehen, tung von Kurztextantworten der viertausend deutschen dass die Maschine die Vorurteile der realen Welt lerne und 15-Jährigen in PISA-Tests erfolgte und zeigte so die Effi- in ihre Entscheidungen einbeziehe. Es werde mit tech- zienz der Methoden für eine ganz spezifische Anwendung. nischen Lösungen auf Probleme „eingedroschen“, anstatt Die Antworten werden mit computerlinguistischen Ver- die Probleme selbst zu analysieren und passende Lösun- fahren semantisch ausgewertet und nach einer Vielzahl gen zu erarbeiten. Zentral sei es, die Motivation der Ler- von Dimensionen automatisch geclustert. Die Auswertung
286 Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI ergab so z. B. Unterschiede zwischen prototypischen Jun- render der Bildungswissenschaften mit einer professionel- gen- und Mädchenantworten: prototypische Jungenant- len aktuellen „Wissensdomäne der Bildungswissen- worten sind sparsamer und weniger relevant, prototypi- schaft“ vergleichen und automatisches Feedback zum sche Mädchenantworten besser an die Fragestellung an- Schreibprozess geben. Inhaltliche und strukturelle Ver- gepasst. gleiche zwischen Texten von Novizen und Experten, zwi- schen Texten unterschiedlicher Personen oder auch zwi- schen Texten derselben Person zu unterschiedlichen Zeit- Wissenschafts-Comic aus Halle punkten sind ebenfalls möglich. Digital kompetent durch Fremdsprachenunterricht Olivetta Gentilin unterrichtet Deutsch als Fremdsprache in der gymnasialen Oberstufe einer italienischen Schule. Dort verbindet sie im Unterrichtsalltag das geisteswissen- schaftliche Fach Deutsch, in dem Effi Briest Pflichtlektüre ist, mit aus den MINT-Fächern stammenden computer- gestützten Verfahren der Textanalyse. Sie folgt damit der u. a. von der Europäischen Kommission geäußerten Forde- rung nach der Vermittlung digitaler Kompetenz in allen Schulfächern. Das Interagieren mit digitalen Medien för- dert Flexibilität und Selbständigkeit beim Lernen und Abbildung 1: Inga Kampmann erklärte komplizierte Zusammenhänge macht den Kindern Spaß. Eingesetzt wird das Software- im Comic-Stil. (Foto: Marlies Ockenfeld) paket Voyant Tools, mit dem zunächst für einzelne Kapitel des Romans Wordwolken erzeugt werden, die anschlie- Wie lässt sich mit linguistischen Verfahren aus einem Text ßend im Klassenverband vergleichend analysiert werden. eine Wissenslandkarte extrahieren, die das Wissen des Später werden die Beziehungen zwischen Mutter und Verfassers im betreffenden Fachgebiet repräsentiert? Und Tochter analysiert, Wortbäume und Frequenzdiagramme was lässt sich dann mit den Wissenslandkarten anstellen, angefertigt und daraus in Gruppengesprächen Schlussfol- um Studienergebnisse zu beurteilen, Lernunterstützung gerungen gezogen. zu bieten, den Lehrerfolg zu messen? Wie lässt sich eine Olivetta Gentilin zeigte, dass Sprachlernende durch Landkarte des Wissens, das nach der Teilnahme an einer die Arbeit mit digitalen Methoden außer linguistischen akademischen Lehrveranstaltung beherrscht werden soll- auch visuelle Kompetenzen (Visual Literacy) sowie die Fä- te, erzeugen? Die komplizierten Vorgänge der semanti- higkeit, Gedanken oder Argumentationen zielgerecht aus- schen Wissensmodellierung mit dem validierten Textana- zudrücken (Personal Literacy), Informationen zu interpre- lyseprogramm T-MITOCAR (Text-Model Inspection Trace tieren und zu evaluieren (Information Literacy) und of Concepts and Relations) sowie seiner Erweiterung Arte- schließlich Interaktionsfähigkeiten im persönlichen Aus- mis, mit der Wissenskarten ganzer Textkorpora zu einer tausch innerhalb der Lerngruppe und in Präsentationen Wissensdomänenlandkarte aggregiert werden können, vor der Klasse lernen. veranschaulichte Inga Kampmann aus dem Arbeits- bereich Pädagogische Psychologie der MLU mit selbst ge- zeichneten Comics. Bei der computerlinguistischen Ana- KI als minimaler Mensch lyse mittels T-MITOCAR wird natürliche Sprache ana- lysiert, graphentheoretisch aufbereitet und als Landkarte Wie menschlich dürfen oder müssen Softwaresysteme des Wissens so bereitgestellt, dass Menschen auf natürli- oder Roboter wirken, um von Menschen akzeptiert zu che Weise damit interagieren können. werden? Diese Frage erörterte Jürgen Buder vom Leibniz- So lassen sich mit Hilfe digitaler Technologien Lern- Institut für Wissensmedien Tübingen. Die derzeitigen prozesse Studierender an der MLU technologiegestützt Systeme verwenden entweder vorgegebene Regeln – und und individuell begleiten, selbst verfasste Texte Studie- können diese dann meist effizienter als Menschen anwen-
Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI 287 den – oder sie haben durch deep learning selbst Regeln Quiz Live aufgestellt, nach denen sie ihre Entscheidungen treffen. Diese bergen zum einen die in den ausgewerteten Daten vorhandenen Vorurteile ab und sind zum anderen un- durchschaubar und vom System nicht erklärbar. Sie ha- ben zudem Schwächen beim Alltagsverständnis und fol- gerichtig bei der Reaktion auf neue Situationen. Forschungsergebnisse zeigen, dass Lernleistungen unter Einsatz von computergestützten Systemen umso besser sind, je menschenähnlicher der Lernassistent aus- sieht, dass das Lob von einem Agenten stärker motiviert als ein Lob in Textform und dass eine menschliche Stim- me besonders stark wirkt. Eine KI muss nicht viel können, um wie ein Mensch behandelt zu werden, denn Menschen reagieren auf minimale soziale Reize. Auf physikalischer Abbildung 2: Das Quiz von Jutta Bertram bot eine lehrreiche Ebene reichen Blickbewegungen und Stimme eines Agen- Auflockerung. (Foto: Marlies Ockenfeld) ten oder Roboters, um als menschenähnlich empfunden zu werden. Auf psychologischer Ebene spielen die Inten- Für unterhaltsame und lehrreiche Abwechslung sorgte sität der Interaktivität mit dem System eine Rolle, ebenso Jutta Bertram von der Hochschule Hannover zweimal mit die Unvorhersagbarkeit der Reaktion des Systems und die einem von ihr erdachten und durchgeführten Quiz mit Personalisierung. Ob wir wirklich wollen, dass wir eine KI Fragen zur KI-Geschichte, zu maßgeblichen KI-Pionieren, als minimalen Menschen wahrnehmen, oder uns lieber so- mehr oder weniger bekannten Robotern sowie mit Schätz- wohl auf physikalischer wie auf psychologischer Ebene fragen zu den Ergebnissen von Umfragen. Zwei Team tra- stets deutlich bewusst bleiben wollen, dass wir es mit ei- ten jeweils in den Wettstreit, aber auch im Auditorium ner Maschine zu tun haben, ist auf alle Fälle eine Diskus- konnte jeder für sich mit raten und bei der Auflösung von sion wert. der Quizmasterin etwas lernen, z. B. dass das 2015 in Tokio eröffnete weltweit erste Roboterhotel einen Teil der Robo- ter bald wieder abschaffte, weil sie ihren menschlichen Auswertung der Umfrage zur KI Kolleginnen und Kollegen mehr Arbeit machten, anstatt sie zu entlasten, und schnarchende Gäste mit einem höfli- Matthias Ballod stellte erstmals die Ergebnisse der Online- chen „Ich habe sie leider nicht verstanden“ weckten. Dass Umfrage „Künstliche Intelligenz – was kann sie für die das Quiz als Lehr- und Lernformat gut funktioniert, ob Bildung leisten?“ vor, die im Vorfeld des DGI-Forums Wit- analog oder digital, wurde so noch einmal offensichtlich. tenberg von April bis August 2019 über die Tagungs- Homepage erreichbar war. Sie umfasste zehn Fragen und war 320mal ausgefüllt worden. Wenn auch die Stichprobe Projekte nicht repräsentativ war, so zeichnet sie doch ein differen- ziertes Stimmungsbild. Die meisten Teilnehmer stehen der Joachim Griesbaum von der Universität Hildesheim stellte KI offen oder sehr offen gegenüber, sind an ihrer Entwick- das multidisziplinäres Projekt „Zukunftsdiskurse – Infor- lung interessiert und schätzen die Potenziale hoch oder mationskompetenz und Demokratie (IDE): Bürger, Such- sehr hoch ein. Auf die vier offenen Fragen zum Nutzen, verfahren und Analyse-Algorithmen in der politischen den Gefahren, dem konkreten Bedarf sowie den drängen- Meinungsbildung“ vor, bei dem es darum geht, die Infor- den Fragen zu KI im Bildungssektor gab es erfreulich viele mationskompetenz der Bürger vor dem Hintergrund der aussagekräftige Antworten. Da ein ausführlicher Bericht Digitalisierung öffentlich zu diskutieren, Lösungsansätze über die Umfrage-Ergebnisse in der nächsten IWP erschei- zu eruieren, z. B. Orientierungsfähigkeit in Wissensräu- nen wird, sollen hier nur zwei exemplarische Antworten men, Such- und Bewertungskompetenzen oder Medien- wiedergegeben werden: „Software ist aber kein Ersatz für disziplin, sowie Akteursgruppen zusammenzubringen. Kompetenz, Leidenschaft, Fleiß und Interesse bei Lehrern (Lehrende, Lernende, Bürger; Fachwelt). Für November und Schülern.“ sowie „Die Verantwortung für das Lernen 2019 bis Mai 2020 ist ein Online-Diskurs geplant, die Ab- liegt immer bei den Menschen, den Lehrenden und Ler- schlussveranstaltung findet voraussichtlich am 1. und nenden – ob mit oder ohne KI.“ 2. Juni 2020 statt.
288 Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI Bettina Gierke vom FID Buch-, Bibliotheks- und Infor- Technologien in Verbindung mit Wiki-Technologien im Be- mationswissenschaft erläuterteden Entwicklungsstand des reich der Bildungsforschung auf. So wurde das Semantic Fachinformationsdienstes und gab einen kurzen Einblick MediaWiki als virtuelle Forschungsumgebung zur Auswer- in den Katalog (https://katalog.fid-bbi.de/). Bisher werden tung deutscher Abituraufsätze von 1882 bis 1972 eingesetzt schwerpunktmäßig eBooks gekauft, ansonsten konzen- oder für die Bereitstellung und Kommentierung einer digi- triert sich der FID derzeit auf Open-Access-Publikationen, talisierten Fassung des „Schulbuch für Kinder“ von F.J. Ber- weil bisher keine Lizenzen erworben worden sind. Über den tuch aus dem 18. Jahrhundert, das 45.000 Seiten mit FID ist angeblich der unentgeltliche Zugriff auf aktuelle 19.000 Bildern umfasst. Hierbei können interessierte Laien Zeitschriftenausgaben wie z. B. der IWP uneingeschränkt mitwirken (Citizen Science) und die einzelnen Bilder verlin- möglich. Für die Digitalisierung einzelner Publikationen ken, indexieren oder kommentieren. Einige Aufgaben sind stehen begrenzte Mittel zur Verfügung. Vertreter der Infor- vorgegeben, man kann aber auch eigene Forschungsfragen mationswissenschaft im Beirat des FID ist derzeit Jürgen bearbeiten (https://interlinking.bbf.dipf.de). Neher. Werner Povoden Leiter des AKI RP/Eifel stellte die App Sue-Ann Bäsler und Felix Sasaki vom Cornelsen Ver- CSP-MEDI-Plan vor, die derzeit im Unterschied zu den un- lag, der auf dem Weg zu einem „datengetriebenen Unter- zähligen Gesundheits-Apps, die weltweit im Umlauf sind, nehmen“ ist, erörterten die Bedeutung von KI in diesem das Zulassungsverfahren als registriertes Medizinprodukt Transformationsprozess und erklärten, was für sie in die- durchläuft. Der Medikationsplan ist in Bezug auf den funk- sem Zusammenhang adaptive Produktgestaltung mittels tionalen Umfang nicht nur eine Informations-App, sondern KI heißt. Aus Sicht der Prozesse unterschieden sie sym- auch (lt. § 20 SGB V) eine Präventions-App für pharmazeu- bolische KI (z. B. die Erarbeitung einer Klassifikation und tische Betreuung und für die chronischen Krankheiten von Klassifizierungsregeln durch Menschen) von daten- Bluthochdruck und Adipositas. Es sind eine Reihe von In- getriebener KI, bei der Muster in großen Datenmengen formationsquellen eingebunden, die es ermöglichen, dass durch maschinelles Lernen erkannt werden. Die Heraus- Algorithmen beim Einlesen des Medikationsplans oder forderungen für einen Verlag für Bildungsmedien sind eines neu verschriebenen Präparats unmittelbar Wechsel- vielfältig. Lernende erwarten, dass sie unter Beachtung wirkungen zwischen Wirkstoffen in den Medikamenten des Datenschutzes individuell bedient werden, Lehrkräfte markieren. Die App enthält außerdem ein interaktives Blut- werden zunehmend das Lernen begleiten, anstatt Lehr- drucktagebuch und unterstützt mit den bereitgestellten inhalte zu vermitteln, selbst reguliertes Lernen gewinnt an Informationen, wie etwa dem zeitlichen Verlauf der Medi- Bedeutung, die gewohnten Buchstrukturen lösen sich zu- kamentenwirkung, sowohl Patienten als auch die behan- gunsten kleiner Lernhäppchen (Learning Nuggets) auf, delnden Ärzte oder das Pflegepersonal. Die App wurde in die adaptiv genutzt werden können. Ziel ist der Aufbau enger Zusammenarbeit mit Patienten entwickelt und soll einer Lernplattform, auf der es unterschiedliche Lehr- und um weitere Funktionen wie eine Körperstrukturanalyse Lernangebote gibt, von Lernkarteisystemen und Sprach- erweitert werden. Sie ist für 24,99 Euro im Jahr nutzbar. lern-Apps mit Vokabellisten und regelbasierten Wieder- holungsübungen bis hin zu Plattformen für kuratierte Lerninhalte sowie adaptive Lernplattformen mit intelli- Nachrichtenquellen genten tutoriellen Komponenten , die sich an den indivi- duellen aktuellen Lernbedarf anpassen. Zu ausgewählten Lehrwerken sind auch Augmented Reality-Erweiterungen und Simulationen denkbar, außerdem könnte die Diagno- se von Lernschwierigkeiten angeboten werden. Wie Studi- en gezeigt haben, sind die Lehrkräfte einerseits offen gegenüber solchen neuen KI-gestützten Bildungsmedien, andererseits aber auch skeptisch. Erwartet werde, dass die Begeisterung der Schüler auf die Lehrer überspringt. Die Rahmenpläne enthalten genügend Freiraum, um neue Methoden auszuprobieren, allerdings wäre aus Verlags- sicht eine größere Standardisierung wünschenswert. Julian Hocker vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungs- Abbildung 3: Engagiert und kontrovers diskutiert wurde im forschung und Bildungsinformation zeigte anhand ver- D-3-Workshop über die Qualität verschiedener schiedener Projekte die Möglichkeiten von Semantic Web- Nachrichtenaggregatoren. (Foto: Marlies Ockenfeld)
Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI 289 „Wer entscheidet, welche Nachrichten mich interessie- ren?“ lautete die Frage, mit der sich die Tagungsgäste am Nachmittag des zweiten Tages in Arbeitsgruppen aus- einandersetzen mussten. Unter der Leitung von Bernhard Franke vom Projekt D-3 Deutsch Didaktik Digital der MLU konnten die Teilnehmer auf bereit gestellten iPads eine Reihe von Nachrichten-Apps und Newsdienste nutzen, sich anschließend in ihrer Gruppe über die Ergebnisse Abbildung 4: Sue-Ann Bäsler erläutert die Ergebnisse des Open Table austauschen und ihren Ersteindruck über Funktionsweise KI in der Wissenschaft. (Foto: Luzian Weisel) und Probleme der Nachrichtenaggregatoren mit einem Padlet festhalten. Den Konflikt zwischen Chronologie und Relevanz bei der Anzeige von Nachrichten erläuterte In der Abschlussdiskussion stellte Matthias Ballod als Mo- Bernhard Franke am Beispiel Facebook in einer einge- derator seinen vier Gästen fünf Fragen: schobenen Präsentation. Anschließend wurden aus der 1.) Welchen Nutzen könnte KI für den Lerner / für den Sicht unterschiedlicher Interessen- und Berufsgruppen Lehrer haben? Kriterienkataloge für die Beurteilung der Relevanz von 2.) Bei welchen Herausforderungen im Bildungsbereich Nachrichten erarbeitet und im Plenum vorgestellt. könnten KI-Technologien helfen? Passend zum Thema geprüfte Qualitätsinformationen 3.) Wie sollten KI-Entwicklungen im Bildungsbereich be- aus verlässlichen Quellen stellte Petra Wagner am folgen gleitet werden? Tag GENIOS SCHULE vor, eine Rechercheplattform spe- 4.) Wenn Sie einen Aktionsplan aufstellen dürfte: Was ziell für den Einsatz an Schulen, die für einen Jahresbei- wären Ihre nächsten Schritte? trag von knapp tausend Euro Zugriff auf ausgewählte 5.) Was haben Sie von dieser Veranstaltung mitgenom- Quellen des GENIOS-Datenbankangebotes, wie Bücher, men? Fachpresse, Firmeninformationen, Literaturnachweise, Marktdaten, Personeninformationen, Tages- und Wochen- Einigkeit bestand, dass Schülerinnen und Schüler auf presse bietet. Das breite Informationsangebot unterstützt möglichst unterhaltsame Weise schnell ihr Lernziel errei- Lehrer und Schüler bei der Vorbereitung und Erarbeitung chen wollen. Lehrkräfte wünschen sich durch KI Unter- von Facharbeiten, Projekten, Referaten und Planspielen. stützung bei der Gestaltung von Unterrichtseinheiten und Die thematische Vielfalt der Datenbanken bietet Lehrplänen. Jürgen Neher, Professor für Webtechnologie Nutzungsmöglichkeiten in vielen Fächern (Sprachen, Po- und Semantic Web an der FH Potsdam, schätzt, dass viel- litik, Sozialkunde, Erdkunde, aber auch Betriebs- und leicht zehn bis fünfzehn Prozent der Studierenden wirk- Volkswirtschaftslehre u. v. m.). GENIOS SCHULE beinhal- lich neugierig seien. Die Mehrzahl wolle tatsächlich mög- tet darüber hinaus eine Archiv-Funktion für die Recher- lichst bequem und schnell den erforderlichen „Schein“. KI cheergebnisse. Der Zugang erfolgt über IP-Freischaltung, könnte Selbsttests unterstützen und den Dozenten Feed- so dass das Angebot in der gesamten Schule genutzt wer- back darüber geben, ob die Lernziele erreicht wurden. den kann. Auch KI-basierte Studienwahlassistenten seien denkbar und wünschenswert. Sue-Ann Bäsler sieht das Potenzial vor allem darin, trotz großer Klassen die individuelle För- Macht KI tatsächlich Schule? derung einzelner Kinder zu ermöglichen. Das Thema KI müsse aber auch als Lerngegenstand Eingang in die Lehr- Am Ende des Vortragsprogramms fanden sich die Ta- pläne finden. gungsteilnehmer unter der Moderation von Tamara Heck Stefan Luther, im BMBF zuständig für die erst im in drei Open Table-Runden zusammen, um in kleineren Herbst 2018 eingerichtete Unterabteilung Allgemeine Bil- Runden offen gebliebene Fragen zu besprechen, nament- dung, betonte, dass die Verkündigung des Digitalpakts im lich KI in der Wissenschaft, Gesundheitskompetenz und Herbst 2016 mit seinem Volumen von fünf Milliarden Euro Anpassung der Studiengänge hinsichtlich KI-Themen. für Investitionen in die Infrastruktur eine Welle lostreten und inhaltliche Debatten über neue Formen in der Schul- bildung befeuern sollte, was auch geglückt sei. Der Schwung müsse erhalten bleiben und die Länder müssten sich jetzt auf die entsprechende Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte konzentrieren und sich um die Weiter-
290 Marlies Ockenfeld, Lernplattformen, Roboter und KI ler Kompetenz und Selbstbestimmung vermittelt und ein Verständnis für die Funktionsweise und die Beschränkt- heit der vielen Helferlein entwickelt wird, die sich in unse- ren Alltag einschleichen – KI ist strohdumm, das wurde mehrfach verdeutlicht. Die informationswissenschaftlichen Studiengänge sind gefordert, sich weiter zu modernisieren und in inter- disziplinären Projekten an der Entwicklung automatisierter Verfahren zur Unterstützung der klassischen intellektuel- len Informationstätigkeiten mitzuwirken. Wie wäre es mit einer KI, die selbstständig und verlässlich Vorschläge zur Abbildung 5: Podiumsdiskussion mit (v.l.n.r.) Prof. Dr. Matthias Ballod, Dr. Olivetta Gentilin, Prof. Dr. Jürgen Neher, Dr. Sue-Ann Dokumentationswürdigkeit machen kann? Bäsler und Dr. Stefan Luther. (Foto: Margarita Reibel-Felten) Die Vorträge des DGI-Forums Wittenberg 2019 wurden von Sebastian Schubert aufgenommen und sind als Videos unter https://dgi-info.de/dgi-forum-wittenberg-2019-pro entwicklung von Lehrinhalten und Curricula kümmern. gramm/ verfügbar. Unser Dank gilt der MLU für die großzü- Der Einsatz von Learning Analytics könne Entscheidungs- gige personelle und sächliche Unterstützung. Ebenso dan- grundlagen für eine bessere Bildung liefern. Vermieden ken wir unseren Sponsoren GBI-Genios und dem FIZ Karls- werden müsse jedoch, dass durch adaptive KI und Indivi- ruhe. Ausgewählte Beiträge der Tagung werden in den dualisierung des Lernens die Heterogenität zunehme und nächsten Ausgaben dieser Zeitschrift veröffentlicht wer- es zu einer weiteren ungerechten Spreizung komme. Die den. Entwicklung müsse klug gestaltet und das rechte Maß ge- funden werden. Gelernt habe er, dass man die Entwick- Deskriptoren: Tagung, DGI-Forum Wittenberg 2019, , Bil- lung nüchtern beobachten, und sich nicht vom Hype um dungspolitik, Computerlinguistik, Digitalisierung, Künst- KI besoffen machen solle. liche Intelligenz, KI, Schule, Ausbildung, Weiterbildung, Den Wunsch nach Lehrerfortbildung und Öffnung der Informationswissenschaft, Projekt Curricula für KI äußerte auch Olivetta Gentilin aus der Schulpraxis heraus. Gleichzeitig empfindet sie die unter- Marlies Ockenfeld schiedliche Ausstattung der Schulen als ungerecht. Jürgen Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen e.V. Neher regte zunächst einmal großangelegte Studien zum Windmühlstraße 3 adaptiven Lernen an. Mit den in derzeitigen KI-Anwen- 60329 Frankfurt am Main dungen durch maschinelles Lernen abgebildeten Stereo- ockenfeld@dgi-info.de typen sei der Abbau von Ungerechtigkeit schwer vorstell- bar. KI ist strohdumm Als Fazit lässt sich feststellen, dass KI in der Schule – viel- leicht glücklicherweise – noch nicht angekommen ist. Im Bildungsbereich besteht zwischen Digitalisierung einer- seits und KI-Anwendungen andererseits noch eine breite Kluft. Die derzeit in Aus-, Fort- und Weiterbildungs- einrichtungen eingesetzte Software stammt vorwiegend aus der Computerlinguistik. Maschinelle Lernverfahren werden vereinzelt eingesetzt, sie sind jedoch bisher vor allem Instrumente in der Bildungsforschung.. Dies bietet die Chance, noch gestaltend mitzuwirken. Aufgerufen da- zu ist die Gesellschaft insgesamt. Information Professio- nals müssen sich dafür einsetzen, dass in allen Ausbil- dungsgängen ein breit angelegtes Konzept informationel-
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