Codas erkennen einander am Blick

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reze n sio n e n

                       Codas erkennen einander am Blick
                       Persönliche Reflexionen zu Helmut Oehrings Autobiografie „Mit anderen
                       Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten“

 Helmut Oehring:       Von regina leven                                          „Vom Kind gehörloser Eltern zum              sche Umsetzung seiner Ideen. Er und
  Mit anderen Au-                                                                 Komponisten“. Fangen wir von hin-           seine Mitstreiter leisten Pionierarbeit.
gen. Vom Kind ge-                                                                 ten an, mit dem Komponisten. Oeh-                Oehring versteht sich bei all dem
   hörloser Eltern                                                                ring ist inzwischen hochdekoriert,          als politisch engagierter Mensch,
  zum Komponis-                                                                   einer der bekanntesten Komponisten          wobei die von ihm betonte Aussa-
ten. München: btb                                                                 zeitgenössischer Musik mit einem            ge „Revolutionen haben bisher nur
Verlag 2011 • 256                                                                 umfangreichen Werk. Ausschnitte             in der Kunst stattgefunden“ (S. 23;
  Seiten • € 19,99 •                                                              seiner Werke habe ich nur im TV oder        Herv. i. Orig.) sicherlich etwas plaka-
  ISBN 978-3-442-                                                                 auf DVD gesehen. Und ich war fas-           tiv ist. Später schränkt er ein: „Nein,
          75296-6                                                                 ziniert! Da ich mich selbst aber als        ich glaube nicht, dass Musik die
                                                                                  unmusikalisch erachte und musika-           Welt verändern kann. [...] Musik hat
                                                                                  lisch ungebildet bin (vielleicht nicht      die Kraft und Stärke, einzelne Men-
                                                                                  zuletzt, weil meine Eltern mir den          schen zu verwandeln“ (S. 33 f.). Dafür
                                                                                  Zugang zu Musik weitgehend ver-             ist Oehring das beste Beispiel. Musik
                                                                                  wehrten, eine von meiner Oma ge-            hat ihn nicht nur verwandelt – wenn
218        DZ 90 12                                                               erbte Musiktruhe musste bei unserer         man ihm Glauben schenkt, hat Musik
                                                                                  Nachbarin unterkommen), kann ich            ihm das (emotionale und vielleicht
                                                                                  die Qualität seiner Musik nicht be-         auch physische) Überleben gesichert,
                                                                                  werten und ich verzichte auch darauf,       im Alter von 14 Jahren war es „Bohe-
                                                                                  in dieser Rezension die von Oehring         mian Rhapsody“ – „Freddie Mercury
                                                              Foto: btb Verlag

                                                                                  zwischendurch immer wieder einge-           war mein Beschützer“ (S. 39). Oehring
                                                                                  schobenen kleinen Erzählungen über          hat bei seinem Wirken immer auch
                                                                                  Komponisten, Dirigenten und Musi-           ein gesellschaftskritisches Anliegen,
                                                                                  ker (über alle Sparten hinweg) einzu-       er greift Tagesnachrichten auf, um
                                                                                  schätzen. Ich habe jedoch alle gerne        menschenverachtende Geschehnisse
                                                                                  gelesen, da ihm lebendige, spannen-         und Kommentare durch seine Musik
                                                                                  de und z.  T. gefühlsmäßig eindrückli-      anzuprangern, er widmete z. B. eine
                       Helmut Oehring übertreibt, wenn                            che Schilderungen gelungen sind! Er        Arbeit dem in einer Dessauer Polizei-
                       er sagt: „CODA-Kinder erkennen                             muss viele Biografien gelesen haben,        zelle verbrannten Oury Jalloh. Unge-
                       einander auf der Straße am Blick“                          scheint die unterschiedlichen Mu-           rechtigkeit bewegt ihn. Sein Selbst-
                       (S. 21), aber ich (selbst Coda1) beziehe                   sikschaffenden gut zu kennen und            verständnis und seine Verpflichtung:
                       aus diesem Zitat einfach mal die Be-                       präsentiert diese und andere Kultur-       „Ich werde nur nicht zulassen, dass
                       rechtigung, sein Buch ganz subjek-                         schaffende (Maler, Schriftsteller, Phi-     ich bei dem, was ich tue, egal was,
                       tiv zu rezensieren. Persönlich ken-                        losophen) durch Zitate bzw. Liedtex-        abgekoppelt bin von dem Leben und
                       ne ich Oehring nicht, aber seitdem er                      te. Man erfährt viel in Oehrings Buch       Sterben hier auf dieser Welt“ (S. 241).
                       1997 zu Gast bei Alfred Biolek (Bou-                       über Komponisten, ihre Werke und                 Mit 27 Jahren komponierte Oeh-
                       levard Bio in der ARD) war, habe ich                       deren Wirkung auf ihn und Inspira-          ring Musik auf ein Zitat von Franz Jo-
                       gelegentlich – immer freudig – et-                         tion für ihn. Auch bringt er dem Le-        sef Strauß: „Ein Volk, das diese wirt-
                       was von seiner (öffentlichen) Ent-                         ser/der Leserin die Musik, die er selbst    schaftlichen Leistungen vollbracht
                       wicklung und Wertschätzung – z. B.                         macht – Neue Musik – zur Kenntnis           hat, hat ein Recht darauf, von Ausch-
                       durch ihm verliehene Preise – wahr-                        und mehr als das. Oehring ist an-           witz nichts mehr hören zu wollen“
                       genommen. Auf so einen Coda ist                            spruchsvoll, bis hinein in die techni-      (S. 48). Er wirkt gegen das Vergessen.
                       man schließlich auch ein bisschen
                       stolz. Und nachdem mich meine                             1
                                                                                  „Coda“ ist eine Abkürzung aus dem Amerikanischen für Children of Deaf adults (Kinder
                       liebste Coda mit seiner Autobiogra-
                                                                                 gehörloser Eltern). Mehr zur CODA-Organisation erfährt man bei Dirk Tabbert in Das Zei-
                       fie überraschte, habe ich das Buch                        chen 89/2011: „COberlinDA 2011 oder: Warum gehe ich zu CODA?“ (602 ff.). (Erläuterung
                       gleich in zwei Tagen durchgelesen.                        zur Schreibweise: „Coda“ steht für die Menschen, „CODA“ für die Organisation.)

            Beitrag aus: DAS ZEICHEN 90/2012 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
rez ensi onen

Auch von seinen anderen Werken              ein Schlüsselerlebnis, als er das ers-     ist, Übersetzer geblieben“ (S. 21). Mit
(z. B. Koma) erfährt man, wodurch           te Mal Schönberg hört, er beschreibt       dem Unterschied, dass Oehring nicht
sie inspiriert wurden, oft durch tra-       sich als bis ins Innerste aufgewühlt.      mehr übersetzt, was Hörende zu Ge-
gische Ereignisse oder Kuriositäten,        Er gewann Zugang zu neuen Klän-            hörlosen oder Gehörlose zu Hörenden
von denen Oehring durch die Me-             gen und neuen Strukturen, die ihm          sagen. Sondern er setzt das, was er in
dien erfahren hat. Immer entdeckt           eine neue Welt bedeuteten. Noten-          seinem Inneren an Gebärdensprache
er einen tieferen Sinn, den er mit sei-     schrift zu lesen lernt er mit 25 Jah-      erkennt, nach allen Regeln der Kunst
ner Musik greift und vertieft, den er       ren. Amüsierend und anrührend ist          in Musik um.
in musikalische Form fasst und damit        die Szene zu lesen, in der er – noch Di-        „Es sind die Menschen selbst, die
transformiert. Es geht um Augenbli-         lettant – Professor André Asriel (Kom-     einander Hölle sind“ (S. 88), will er als
cke und ihre z. T. gravierenden Folgen,     ponist, für den jungen Oehring der         Komponist festhalten. Homo homini
um Existenz oder Nichtsein. „Wie sich      „Frankfurtertorprofessorweihnachts-         lupus. Hat dieses Weltbild etwas mit
das Leben von einer Sekunde auf die         mann“, S. 46) sein erstes unbedarft        seinen gehörlosen Eltern zu tun? Hat
andere verändern kann“ (S. 118). Es         geschriebenes Streichkonzert vorlegt.      er unter seinen gehörlosen Eltern ge-
geht ihm nicht um Schönheit, son-           Es klingt tatsächlich wie ein Weih-        litten? Darauf gibt es keine Hinwei-
dern um Verlusterfahrungen. Er lässt        nachtsmärchen, denn er wird von            se. Aber bei der Lektüre seines Buchs       DZ 90 12   219
sich von Trauer und Wut bestimmen           ihm an seinen späteren Lehrer Georg        gewinne ich den Eindruck, er ist einer
und baut dann eine überlebenswich-          Katzer vermittelt. Oehring dreht ir-       der Codas, die unter dem schwieri-
tige Distanz auf, indem er für diese        gendwann ein Musikvideo und am             gen (Nicht-)Miteinander der Gehörlo-
Gefühle einen eigenen Raum in der           Gehörlosenzentrum Schönhauser Al-          senkultur und der hörenden Umwelt
Musik schafft, sie sozusagen verpackt       lee in Berlin verbindet sich erstmalig     Schaden genommen haben: „Meine
(eine auch in der Psychotherapie an-        seine Musik mit der Gebärdenspra-          ganze Kindheit war indirekt von der
gewandte Methode). „Extremstes              che. „Es geht um nichts weniger, als       Behinderung betroffen. Auffälligkei-
Musizieren, existentiell hart dreckig       zum ersten Mal in der Geschichte der       ten und Helferundmittlersyndrom
verzweifelt eingeschlossen ausbre-          Musik und in der Geschichte der Ge-        prägten meinen sozialen Umgangs-
chend“ (S. 53). Oehring hat den Mut,        bärdensprachkultur ein gemeinsa-           horizont. Überall Scherben durch das
seine Welt selbst zu gestalten. Auch        mes Projekt auf die Bühne zu stellen“      lautlose Aufeinanderknallen der Hö-
wenn vieles ursprünglich eine Reak-         (S. 63 f.). Seinen arrogant anmuten-       renden und Nichthörenden“ (S. 185).
tion auf prägende Kindheitserlebnis-        den Unterton mag man ihm nachse-           Immer wieder spricht Oehring von
se gewesen sein mag, darüber ist er         hen: „Aber ich bin ja nicht blöd. Kein     den Ängsten und Phantasien, die
inzwischen weit hinaus, das ist of-         Gedanke daran, die Isolation dieser        seine Jugendzeit durchzogen haben
fensichtlich, wenn man sein jetziges        beiden Welten mit Kulturarbeit auf-        und von denen er trotz aller Erfolge
Eingebundensein in die – über Ber-          lösen zu können. Ist das Kunst? Oder       und eines beschaulichen Familien-
lin weit hinausgehende – Kultursze-         kann das schon weg?“ (S. 64). Was          lebens in der schönen Märkischen
ne betrachtet. Seine Begabung kam           meint er hier? Gebärdenlieder? Oder        Schweiz noch heute gelegentlich ein-
ihm zugute, seine Disziplin nötigt Re-      sollte er etwa zweifeln, ob seine eige-    geholt wird. Schonungslos berichtet
spekt ab.2                                  nen Werke den Anspruch an Kunst            er von selbstverletzendem Verhal-
     Musik war ihm nicht in die Wie-        erfüllen? Nicht nur an dieser Stelle       ten als Jugendlicher, um durch eige-
ge gelegt. Oehring schildert seine Ent-     bleibt er kryptisch. Seine Kompositio-     nes Tun die Angst und den Schmerz
deckung der Musik als Jugendlicher,         nen seien direkte Übersetzungen aus        der Verlassenheit und Nichtzugehö-
sein Fasziniertsein von ihm bis dato        der Gebärdensprache: „Ich bin, wie         rigkeit zu übertünchen. Selbst die Ag-
unbekannter Neuer Musik. Mehr als           es oft bei CODA-Kindern [...] der Fall     gressionen der anderen ihm gegen-
                                                                                       über brachten eine gewisse Erleich-
2
                                                                                       terung. So härtete er sich ab. Und lab-
 Auch die bemerkenswerte Vermarktung seiner Geschichte („Vom Kind gehörloser Eltern
                                                                                       te sich an Gewalt- und Rachephanta-
zum Komponisten“) gelingt, saß er doch nach Erscheinen seines Buches fast jede Woche
in einem anderen Fernsehstudio, und aufmerksame Kollegen legten diverse Zeitungsaus-   sien – sowie am genussvollen Töten
schnitte mit Besprechungen seines Buches in mein Hochschulfach.                        von Tieren. Für mich war es schwer

     Beitrag aus: DAS ZEICHEN 90/2012 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
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                 zu ertragen, von seiner Tierquälerei      stoff“ meint, aber auf „Sauerkraut“         ersten Lesen fand ich es übrigens ein
                 zu lesen: Wie er mit einem Luftge-        beharrt. Es geht also wieder um Spra-       wenig befremdlich, dass Oehring in
                 wehr auf Tauben schießt, sie ins Hirn     che. Sonst schweigt er über sein Pri-       einem Buch für Hörende (ja, auch
                 trifft und dann seziert. Aus „Lange-      vatleben, geht ja auch niemanden            ich unterliege dieser zweigeteilten
                 weile“ und „Angst vor dem nächs-          etwas an. Außer, wenn es um sei-            Wahrnehmung) die Aussprache sei-
                 ten Tag“ (S. 162) schießt er dann mit     ne Herkunft geht, um sein Codasein.         ner gehörlosen Eltern schriftlich feil-
                 dem Luftgewehr auch auf Menschen.        Vieles davon kommt mir und ande-             bietet, doch gleich im nächsten Mo-
                 Dazu passt: „Hier in dieser Zwischen-     ren Codas natürlich bekannt vor. Ge-        ment entfaltet sich die befreiende
                 welt weiß jeder, dass ich ein Wolf im     radezu klassisch: deaf voice. Seine El-     Wirkung, besonders wenn Oehring
                 Hasen bin“ (S. 72). Lupus. Eine Phase     tern riefen ihn „Almune“, „Höolmue“         schreibt: „Eigentlich sind meine El-
                 des Drogenkonsums beendet Oehring         bzw. „Höolmune“, wunderbar! Oder,           tern Freaks. [...] Meine Vorbilder im
                 durch Willensstärke und Sport, Tri-       als er ein Mädchen mit nach Hause          Aufrechtsein“ (S. 21). Genau.
                 athlon, Boxen, er verehrt Tyson und       bringt: „Haaaaluw shoöen uton tg“               Aber es geht noch um anderes als
                 Clay. Und er macht Musik. Verstörter      (S. 18), für geübte Ohren unschwer          um Peinlichkeiten. Zum Beispiel da-
                 Junge komponiert verstörende Musik.       zu verstehen: Hallo, schönen guten          rum, als Dreijähriger zu spüren, wie
220   DZ 90 12   Das ist eine große Leistung. Nicht die    Tag. Es kümmert Oehring nicht, dass        Ärzte mit den Eltern nicht richtig
                 einzige: Oehring verweigert sich in       anderes für seine Leser, seine Leserin-     kommunizieren können. Dieses Ge-
                 der DDR dem Militärdienst. Total.         nen schwerer oder gar nicht zu ent-         fühl hat Oehring in der Oper WRONG
                      Kurze unterhaltsame Erzählun-        ziffern ist. Die gepressten Laute ste-      aufgenommen. Als grauenhaft emp-
                 gen wie über die „Kubaorange“ stel-       hen für sich. Er ist eben nicht der die-    findet er seinen Schulweg, auf dem er
                 len Zeitgeist und Atmosphäre in der       nende Dolmetscher. Von der Artiku-          von Mitschülern regelmäßig drang-
                 DDR vor. Aber Oehring zementiert          lation seiner Eltern gesteht er: „Mir       saliert wird, Helmi, der Looser, das
                 keine Vorurteile: „[O]b Kapitalismus      war das immer wahnsinnig peinlich“          Opfer. Er beschreibt die Demütigun-
                 Sozialismus Kommunismus: Immer            (S. 186) und „Meine Eltern kannten          gen und Schikanen, die er von Mit-
                 noch entscheiden Menschen über an-        das Angestarrtwerden ihr Leben lang.        schülern und Lehrern über sich er-
                 dere Menschen, die politisch, wirt-       Für mich als kleiner Junge war die-         gehen lassen musste, ohne sich zu
                 schaftlich und vor allem kulturell un-    ses ungewollt Immittelpunktstehen           wehren. Und: „Habe mit nieman-
                 gebildet sind“ (S. 155). Aus dem Un-      nicht gerade angenehm“ (S. 187). Das        dem gesprochen. Mit wem auch? Ich
                 gebildetsein hat Oehring sich her-        kann ich nachvollziehen, habe ich           kannte keine Gebärden dafür“ (S. 69).
                 ausgekämpft, aus anderen Widrig-          aus diesem Grund doch manchmal              Wie wahr, viele von uns Codas kön-
                 keiten auch: „Mittlerweile bin ich in     versucht, meine Eltern zu überzeu-          nen diese Hilflosigkeit nachempfin-
                 Ordnung. Und nett. Was fürs Auge“         gen, auch Hörenden gegenüber ohne           den. Unsere gehörlosen Eltern hatten
                 (S. 169). Rachegedanken hat er jetzt      Stimme zu gebärden. Aber das wäre           schließlich damals eher versucht, mit
                 nicht mehr nötig.                         ja auch komisch gewesen ... Schön           ihren hörenden Kindern zu sprechen,
                      Seine jetzige Familie lässt Oeh-     das Wort „Leum“ für Linoleum. Ach,          als konsequent mit ihnen in Gebär-
                 ring in seinem Buch weitgehend            wie viele wunderschöne Wörter ken-          densprache zu kommunizieren. Da-
                 außen vor. Man erfährt, dass der da-      nen wir Codas! Die machen uns heut-         bei ging vieles verloren. Frustrierend:
                 mals prominente Anwalt Schnur ihm         zutage Spaß. Damals habe ich mich          „Wie soll ich das alles meinen Eltern
                 im Zusammenhang mit seiner Mi-            geärgert, als ich mit „Orisee“ bei dem      gebärden?“ (S. 73).
                 litärdienstverweigerung riet, seine       Spiel „Stadt, Land, Fluss, Blume“ ge-           Die knappe Erzählung über den
                 Freundin Sabine zu heiraten. Oeh-         scheitert bin (dabei waren Orchideen        Tod seines Vaters geht zu Herzen. Be-
                 ring beschreibt es kurz und schmerz-      die Lieblingsblumen meiner Mut-             sonders ans Herz derjenigen, die Ähn-
                 los: „Aus Helmut Weber wurde Hel-         ter!). Das Sprechen mit Hörenden,           liches erlebt haben. Ohne Elternteil –
                 mut Oehring“ (S. 152). Liebevoll deu-     so glaubt Oehring, sei für Gehörlose        für das man eben noch dolmetschte,
                 tet er seine Beziehung zu seinen bei-    „reinste Schinderei und Pein“ (S. 79).       was der Arzt relativ Harmloses an-
                 den Kindern an und erzählt die Anek-      Ich erinnere mich: auch Pein für das        gekündigt hat – nur mit einer Tüte
                 dote über seine Tochter, die „Sauer-      hörende Kind gehörloser Eltern. Beim        voller Kleidung nach Hause zu fah-

       Beitrag aus: DAS ZEICHEN 90/2012 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
rez ensi onen

 ren (ich weiß noch gut, wie ich mit       rigkeiten herausgedolmetscht hat.           Komplexität besteht darin, verletzt
 Stock und Hut ins Taxi stieg). Das Un-    Hörende im Fernsehstudio jauchzen           zu werden. Vor den Augen aller. Al-
 fassbare kann man nicht mit Worten        dann auf vor Belustigung, aber ich          lein zu sein“ (S. 104). Es steht der Re-
 beschreiben. Eingewebt in Kunst, in       lese das mit leisem Zweifel – als ob        zensentin keine Deutung zu, es bleibt
 dem Stück Spalt 7IEBEN, stelle ich mir    seine Eltern weder Mundbild noch            eine Frage: Sind es die Schuldgefüh-
 vor, Oehrings Mutter zu hören: „Fra-      Mimik hätten einschätzen und kei-           le, hörend zu sein und mehr Chan-
 ge: Was ist Todesursache? Oder was        nen Kontext interpretieren können …         cen als die gehörlosen Eltern zu ha-
 andere?“ (S. 139). Welche Gedanken        Beschreibt er doch selbst, „was für         ben, die ihn nach strafender Pein und
 treiben uns um? „Gehörlose gehen in       eine Beobachtungsleistung zu die-           (Selbst-)Verletzung drängen? Es ist
 einem Krankenhauskonzernbetrieb           sem Alltag gehört. Ständig wie ein          nicht einfach, gar bedrohlich, zu den
 unter wie ein Kieselstein im Atlan-       Adler oder ein Luchs auf die Lippen-        Hörenden zu gehören, wenn man in
 tik“ (S. 124). Das kann ich bestätigen.   bewegungen zu achten und sie zu             einer Zeit aufgewachsen ist, in der
 Gleichzeitig meine Gedanken, dass         entschlüsseln. Permanentes Scannen          Gehörlose von Hörenden nicht res-
 andere, d.h. hörende Patienten im         der Gesichtsausdrücke anderer, um           pektiert wurden, ihre Sprache unver-
 Krankenhausbetrieb auch oft unter-        darin zu lesen“ (S. 188). Ich wäre mit      standen war und geschmäht wurde.
 gehen. Doch vielleicht fühlen sich        einem solchen Schwindel bestimmt            Schließlich will man von den eige-         DZ 90 12   221
 deren Kinder dafür nicht so verant-       nicht durchgekommen, und etwas              nen Eltern nicht dem Feindeslager
 wortlich? Hätten wir nicht – wenn         so komplett anderes zu dolmet-              zugerechnet werden. Ich plädiere auf
 wir klüger, durchsetzungsfähiger,         schen, hätte ich – zu treudoof oder         unschuldig.
 eleganter gekleidet, anders aufgetre-     bereits als Kind einem bestimmten               In seinem Werk Der Spalt the-
 ten wären – das Unglaubliche verhin-      Ethos verpflichtet (allein „Du sollst       matisiert Oehring sein – wie er es
 dern können? Ist da nicht wieder der      nicht lügen!“) – eh nicht über mich         nennt – Aufwachsen in einem Riss
 Hauch des Schuldgefühls? Oder sind        gebracht. Aber in Folgendem trifft         „genau zwischen der hörenden und
 die Hörenden schuld, geben sie sich       Oehring auch mein Empfinden: „Im            der nichthörenden Welt [...]. Und ge-
 bei Gehörlosen nicht genug Mühe?          Grunde waren die meisten Zusam-             nau um diesen Riss geht es bei al-
Vielleicht nur die Fantasie der Trau-      mentreffen zwischen meinen Eltern           lem, was ich tue und lasse“ (S. 136).
 ernden, nicht nur Codas vorbehalten.      und den Hörenden wie [...] Gruppen-         Oehrings Kindheitserfahrungen, ver-
 Und dann kommt auch auf Oehring           sitzungen in der Nervenheilanstalt“         stärkt durch tausend Echos. Er deutet
 die Organisation der Beerdigung zu.       (S. 168). Und klar, wir sind stark, Coda    auch potenziell traumatisierende Si-
 Der Pflicht entkommt man nicht.           kann alles. Als Junge guckt Oehring         tuationen an: „Wie lange werde ich
     Oehring beschreibt den hören-         mit seinem Vater nachts Boxkämp-            geschrien haben, als Baby [...]. Ohne
 den Ehemann der tauben Künstle-           fe. Den siegreichen Cassius Clay (Mo-       dass mich meine Eltern hörten?“
 rin Christina Schönfeld, Uwe Schön-       hammed Ali) beobachtend und be-             (S. 138). Das war zu Zeiten, als es
 feld (ebenfalls Coda), als einen, der     wundernd, spürt er selbst den Hauch         noch keine Babyschrei-Lichtsignale
„in der Welt der Gehörlosen verwur-        der Unsterblichkeit. Wir gehören der        gab. Und ich glaube, hier weist Oeh-
 zelt bleibt, vielleicht aus Kummer        gleichen Generation an und so stell-        ring auf etwas Wichtiges hin: Das un-
 oder Trotz, vielleicht aus Kampfgeist     te ich mir damals als Mädchen vor,          gehörte Baby, das ungeschützte, das
 und Fürsorge oder aus Angst, aber         gegen Cassius Clay im Boxkampf zu           unbefriedigte, das von Todesangst
 ganz sicher aus Liebe“ (S. 127). Das      siegen. Mit Pippi Langstrumpf als           gepeinigte Baby fällt in diesen Spalt
 trifft nicht nur auf Uwe Schönfeld        Vorbild war das kein Problem! Ein-          des mangelnden (Selbst-)Vertrauens
 zu, unserer gibt es so einige. Und vie-   same Fantasien, unausgesprochen,           – und es ist ein weiter Weg heraus aus
 le von uns arbeiten als Dolmetscher.      wurden von den gehörlosen Eltern            diesem Spalt, bis man einigermaßen
 Oehring nicht. Aber er berichtet, wie     nicht korrigiert. Das ist nicht nur         vertrauensvoll auf eigenen Beinen
 er als Jugendlicher die Situation ge-     Größenwahn, das kann auch freie             steht. „Es dauert Jahrzehnte, bis ich
 nutzt hat und sich z. B. im Gespräch      Bahn schaffen, wie man am Beispiel          vertraue“ (S. 244). Hält Oehring an
 zwischen der Lehrerin und den El-         Oehring sieht. Aber Oehring geht in         Traumata fest, friert er das Trauma
 tern fein aus den heftigsten Schwie-      seinem Selbstzeugnis weiter: „Die           ein, um es kultivieren zu können?

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reze n sio n e n

                     Was erfahren wir noch? Der äl-       gessen allein in der Wohnung. Ge-            genten Roland Kluttig sagt „[T]oll, wie
                 tere Halbbruder Alexander ist gehör-     schichten, wie sie auch von meinen           selbstverständlich er als Dirigent mit
                 los. Oehring zählt die typischen My-     Eltern und anderen Gehörlosen die-           gehörlosen Solisten umging“ (S. 66)?
                 then gehörloser Familien (auch ihrer     ser Generation immer wieder erzählt          Oder in Umbrien: „Unsere drei gehör-
                 hörenden Verwandten) auf, die in der     wurden. Gerade noch dem Tode ent-            losen Solistinnen verstehen sich mit
                 Zeit vor der Gehörlosenemanzipa-         kommen, rechts und links die Lei-            allen Italienern blendend. [...] Da ist
                 tion bzw. während der Nazizeit leb-      chen. Oehring weiß um die von einer          einfach gar kein Unterschied [...] zwi-
                 ten und z. T. selbst wieder gehörlose    Generation zur nächsten weitergege-          schen Hörenden und Gehörlosen. Ich
                 Kinder bekamen: vom Tisch gefallen,      benen Traumata. Er musste sich mit           sitze einfach nur da und staune: Wie
                 an Scharlach oder Röteln erkrankt        vielem auseinandersetzen.                    einfach alles sein kann“ (S. 127).
                 etc. Ich vermute, es ist nicht nur so,       Oehring benutzt die Welten-Me-                Manches lese ich mit Skepsis, z. B.
                 dass in diesen Fällen tatsächlich nie-   tapher (Welt der Gehörlosen, Welt der        dass seine Eltern nicht die Vibratio-
                 mand die jeweilige wahre Ursache         Hörenden), wobei er von „sich aus-           nen spürten, als ein ganzer Schrank
                 der Gehörlosigkeit kannte, sondern       schließenden Welten“ (S. 22) spricht.        umstürzte und angeblich alle im Um-
                 dass man sie auch nicht kennen durf-     Er bringt in seiner Kunst diese bei-         kreis von 1.500 Metern dies hören
222   DZ 90 12   te, wenn es Hinweise auf erblich be-     den Welten zusammen, ohne sie in             konnten. Typisch ist das nicht, aber
                 dingte Gehörlosigkeit gab. Diese Le-     ihrem Innern zusammenbringen zu              im Einzelfall kann es ja mal so ge-
                 genden waren überlebenswichtig –         wollen. Oehring sagt es schlicht: „Ich       wesen sein. Und dass er erst mit vier
                 sonst wären vielleicht weder Oehring     möchte nicht, dass als Ergebnis einer        bis fünf Jahren Kontakt zu Hörenden
                 noch ich geboren worden. Oehring         Arbeit herauskommt, dass Hörende             hatte und dann erstmalig der Laut-
                 beschreibt seinen Bruder als selbst-     und Gehörlose zusammengehören                sprache ausgesetzt war? Ich denke, er
                 bewussten schönen, tauben König. Ja,     und alles irgendwie geht. Sondern            ist in Berlin aufgewachsen? Aber so
                 es gibt Menschen mit einem bewun-        ich will zeigen, dass es nicht geht [...].   klingt es eben ein bisschen geheim-
                 dernswerten Naturell, die sich nicht     Für mich gibt es kaum etwas Verlet-          nisumwitterter: „Heute erscheint mir
                 mit selbstzerstörerischem Leiden ab-     zenderes, als wenn Taube plötzlich           die Lautsprache wie eine interessan-
                 geben. Doch trotz aller Kraft meint es   beginnen zu sprechen. Oder Hören-            te, in meinem damaligen Kulturkreis
                 das Schicksal nicht gut mit Alexander.   de gebärden. Ich suche nach genau            der Gehörlosen ausgestorbene exo-
                 Er, der Mutige, verunglückt tödlich.     dieser Sprache, die das Leiden weder         tische Vogelart, deren Semantik mir
                 Wie überwindet man die Schuld des        glättet noch mildert“ (S. 25). Und des-      verborgen bleibt“ (S. 37). Vielleicht
                 Lebens, wenn die Nächsten sterben?       halb müssen seine Solisten und Cho-          hat er auch einen Hang zur Übertrei-
                 Mit Arbeit, Engagement und Fleiß?        risten genau das tun: Hörende gebär-         bung, wenn er den Geräuschpegel
                 Wenn es doch nur so einfach wäre.        den, Gehörlose sprechen/singen. Eine         im Alltag Gehörloser „brutal“ (S. 38)
                 Oehring stellt keine direkten Zusam-     starke Idee und ein für mich nach-           nennt. Aber er erhebt ja auch an kei-
                 menhänge her. Die Komplexität des        vollziehbares Empfinden. Es steht die        ner Stelle den Anspruch, sachliche In-
                 Erlebten spiegelt sich in der Komple-    Frage im Raum: Verstehen Hörende             formationen vermitteln zu wollen.
                 xität seiner Werke wider.                und (kulturell) Gehörlose einander?               Oehring schildert sein Inners-
                     Und es geht weiter: Oehrings Va-     Ermöglichen Dolmetscher/Überset-             tes aus Kindheits- und Jugendtagen
                 ter Gottfried hatte einen jüngeren       zer Verstehen oder legen sie gar mit         schonungslos: „Hätte ich Schusswaf-
                 hörenden Bruder (namens Helmut),         ihren Bemühungen das Nichtverste-            fen besessen, wäre ich zum Amok­
                 der während eines Fußballspiels,         hen bloß? Man könnte diese Grübe-            terroristen geworden. Massaker woll-
                 bei dem Gottfried im Tor stand, in       leien letztlich auf die philosophische       te ich in die katholischen Kindergär-
                 der Elbe ertrank. Das muss für den       Frage reduzieren, ob je ein Mensch           ten und Friedrichshainer Oberschulen
                 jungen gehörlosen Gottfried trau-        den anderen versteht. Müßig.                 tragen. [...] Blutbäche [...] Ich musste
                 matisch gewesen sein. Und es steht           Aber dann doch Licht am Hori-            euch Hackfressen jahrelang ertra-
                 Oehrings gehörlose Mutter Annema-        zont. Sieht Oehring nicht selbst ein         gen“ (S. 12). Auch an späteren Stel-
                 rie vor unserem geistigen Auge, wäh-     Aufbrechen der Isolation dieser bei-         len schont er sich nicht: Kotzen und
                 rend eines Bombenangriffs fast ver-      den Welten, wenn er von dem Diri-            Nasenbluten. Gelegentlich scheint er

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sich in diesen Schilderungen zu suh-          men. Ich tippe bei Folgendem auf sei-        der Schilderung einer Friedhofsszene.
len. Mit kathartischer Wirkung? Sein          ne Mutter: „Vielen Dank, leider habe         Er selbst hat das Grab nicht tief genug
Lamento über Politiker, die u. a. nichts      ich gestern Nachmittag sehr Kopf-            ausgehoben: „Die Witwe verzwei-
von neu komponierten Opern wis-               schmerzen, wegen kein gutes Wetter,          felt. Ihr Mann will nicht weg“ (S. 123).
sen, oder sein Spott über politisch           jetzt fühle mich sehr wohl gut und           Oehring gelingt es durch seine z. T. la-
unambitionierte Menschen wirkt                ja, es regnet wieder viel, ach immer         konische Erzählweise sehr gut, Bilder
für einen Fünfzigjährigen etwas pu-           wird viel Regen, es ist garnicht schön,      im Kopf des Lesers zu erzeugen, z. B.
bertär-idealistisch. Vielleicht kann          ach Siebenschläfer, was alles machen,        das Bild, wie er bei der Westberliner
man Oehring aber einfach zugute-              bitte ja was alles lassen und viel Ner-      Premiere seines Gitarrenduos alleine
halten, dass er sich ein Unrechtsbe-          venruhe, viele Menschen müssen               auf der ostdeutschen Seite der Mauer
wusstsein bewahrt hat und sich nicht          langsam laufen. POLAROIDS. Melo-             stand. Und schön, wie er seine eige-
scheut, es z. B. auf diese Weise auszu-       dram“ (S. 158; Herv. i. Orig.). Vielleicht   ne englische Aussprache in phoneti-
drücken: „Ein Prosit der Gemütlich-           ein bisschen mit fremden Federn ge-          scher Schrift darstellt, ähnlich, wie
keit. [...] kein Kindersterben keine Na-      schmückt? Nein, es ist schließlich die       ich es meinen Eltern vor ihrem USA-
zis kein Öl im Ozean kein Artenster-          Muttersprache, seine Muttersprache.          Besuch aufgeschrieben hatte, meine
ben kein Giftmüll [...]. Idylle. Sieben-     Auch in Spalt findet man den typi-            Mutter hat es damit versucht: mai          DZ 90 12   223
hunderttausend verkaufte Exempla-             schen schriftsprachlichen Ausdruck           hasbänd.
re vom Gartenundgemüseblatt Land-             Gehörloser (ohne dass Oehring direkt              Oehrings Vortrag ist nicht chro-
lust. [...] Gurkenphilosophie“ (S. 156 f.;    darauf hinweist): „Ach, dass schon zu        nologisch. Es ist ein Danach und Da-
Herv. i. Orig.). Naja, Philosophie ist        Frühherbstwetter [...]. Aber bitte al-       vor und dazwischen gibt es genau
auch nicht gerade seine Stärke. Trotz-        les wieder vorbei. [...] Und das Büch-       datierte Ereignisse. Wie lange hat er
dem: Oehring wägt nicht alles ab bis          lein andere Seite Fremdsprache. Viel-        auf dem Bau gearbeitet? Wie lange
zur Sprachlosigkeit. Bemüht sich              leicht Romsprache? [...] Aber beiden         war er obdachlos? Wie lange nahm
nicht um alle möglichen Perspektiven,         sehr Hartkämpfe“ (S. 137). Als könnte        er Drogen und Neuroleptika? Wie
bis es ihm den Mund verschließt. Er           ich meine eigene Mutter hören oder           lange hat er als Friedhofsgärtner ge-
reflektiert Ereignisse oder Sätze nicht       als sei es ein Brief von ihr. Schriftspra-   arbeitet? Aber vermutlich kommt es
intellektuell, sondern in seiner Mu-          che Gehörloser geht unter die Haut.          ihm nicht auf Quantitäten an, son-
sik, und nicht zuletzt, indem er in sei-     Von Gehörlosen oft als Makel emp-             dern darauf, dass er es überhaupt ge-
nem Buch ohne Filter spricht. Oehring         funden, von Hörenden als Zeichen             tan hat, dass es ihm widerfahren ist.
macht was draus, bleibt keine Mario-          von Minderbegabung interpretiert,            Und dass er sich daraus befreit hat.
nette, gestaltet selbst.                      können wir Codas kreativ davon pro-          Ebenfalls wird klar, wie sehr Oeh-
     Oehring besticht auch durch eine         fitieren. Wohltuende Heimatklänge.           ring sich in seinem Leben an (über-
unerschütterliche, mitunter – um sein         Codasprache.                                 wiegend männlichen) Vorbildern
Vokabular zu benutzen – „scheiße­                  Oehring ist ein geschickter Kons-       orientiert hat und wie empfänglich
krasse“ Sprache, mit einer Tendenz            trukteur sowohl in seiner Neuen Mu-          er für deren Worte und Erfahrungen
zu kurzen (Halb-)Sätzen. Man muss             sik als auch in seinen Geschichten.          ist. Denn das ist etwas, was Oehring
aufpassen, sich von seiner Sprache            Dabei springt er von zurückliegen-           – auch bei seinen Fernsehauftritten –
nicht anstecken zu lassen. Kostpro-           den Lebensereignissen über erhal-            deutlich macht: Es waren immer wie-
ben seiner Dichtkünste, oft frei assozi-      tene Preise und Ehrungen zu aktuel-          der Menschen, die in entscheiden-
iert wirkende Aneinanderreihungen,            len Gedanken, manchmal scheint es,           den Momenten bzw. Phasen unvor-
sagen nicht jedem etwas, sind auch            er würde frei assoziieren („fällt mir        eingenommenes Zutrauen zu ihm
nicht unbedingt verständlich, müs-            gerade ein“, S. 13), mit einer Sprache,      hatten und es ihm damit ermöglich-
sen sie ja auch nicht. Bei manchem            die der Mündlichkeit verhaftet bleibt        ten, ungeahnte Potenziale zu entwi-
könnte ich wetten, Oehring hat sei-           bzw. die er sich als spontane Rede er-       ckeln: „Nach meinen fünfzig Jahren
ne Dichtung nahezu eins zu eins (ab-          hält. Oft spricht er den Leser direkt an:    liest es sich ab und an so, als hätte
gesehen von der Interpunktion) dem           „naja Sie wissen schon“ (S. 14). Sinn         mich da immer jemand mit Sinn für
Geschriebenen Gehörloser entnom-              für Humor beweist Oehring u. a. bei          skurrilen Humor und poetische Satire

     Beitrag aus: DAS ZEICHEN 90/2012 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
reze n sio n e n

                                                                                                                      lich können sie ja hören ...). Verste-
                                                                                                                      hende, erklärende und schützende
                                                                                                                      Dritte können dann nahezu überle-
                                                                                                                      benswichtig sein.

                                                                                                                      Ich kann dieses Buch jedem empfeh-
                                                                                                                      len, der sich auf ein unglattes, weit-
                                                                                                                      gehend ohne aufklärerischen Duk-
                                                                                                                      tus, manchmal atemlos geschriebe-
                                                                                                                      nes Buch einlassen möchte. Und ich
                                                                                                                      werde alles daran setzen, endlich
                                                                                                                      eine von Oehrings nächsten Auf-
                                                                                                                      führungen zu besuchen! Und ich bin
                                                                                                                      sicher, ja, Oehring, um deine Frage

                                                                                                 Foto: Regina Leven
                                                                                                                      auf S. 203 zu beantworten, dein Va-
224   DZ 90 12                                                                                                        ter wäre stolz auf dich! Und noch ein
                                                                                                                      Letztes für heute: Ein Werk von Oeh-
                                                                                                                      ring, VERLORENWASSER, wurde ins-
                                                                                                                      piriert durch den gleichnamigen Ort,
                 operativ gelenkt“ (S. 13). Tierhändler    le. Selbstredend eine wichtige Erfah-                      der als Mittelpunkt der DDR ermit-
                 Mürke vertraut ihm, gibt ihm Kraft,       rung, ernst genommen, als Person ge-                       telt wurde. Ich bin vor einigen Mona-
                 Rückendeckung und Selbstvertrau-          achtet zu werden! Und Schutz zu er-                        ten mit einer anderen Coda hingera-
                 en, mutet ihm Verantwortung zu: „Er       halten. Das Gefühl der Schutzlosig-                        delt. Und was haben wir dort, in einer
                 sprach mit mir wie niemals jemand         keit vieler Gehörloser, welches sich                       Hütte am Mittelpunkt der ehema-
                 vor ihm“ (S. 82). So auch Schwimm-        auf ihre Kinder überträgt. Wer sich                        ligen DDR, gelesen? Herbstein wur-
                 lehrerin Rosendhal und später Pfar-       selbst einer undurchschaubaren Ge-                         de als Mittelpunkt der alten BRD er-
                 rer Bauer. In der 10. Klasse ein neuer    sellschaft ausgeliefert fühlt, kann                        mittelt – und dort, hallo Helmut, fan-
                 Klassenlehrer, der ihm Achtung und        anderen nur begrenzt Schutz geben.                         den schon einige Coda-Treffen statt!
                 Vertrauen entgegenbringt – und Oeh-       Nicht von ungefähr versuchen Codas                         Komm doch auch mal zu einem unse-
                 ring schwänzt nicht mehr die Schu-        oft, ihre Eltern zu schützen (schließ-                     rer Treffen, da triffst du noch auf an-
                                                                                                                      dere Kreative. Coda äxklußiff!

                                                                                                                          i
                                                                                                                            Prof. Dr. Regina Leven ist stu-
                                                                                                                            dierte Sonderpädagogin, ap-
                                                                                                                            probierte Psychotherapeutin,
                                                                                                                            gerichtliche Gutachterin und
                                                                                                                            arbeitet seit 1997 als Professo-
                                                                                                                            rin für Gebärdensprachdolmet-
                                                                                                                            schen an der Hochschule Mag-
                                                                                                                            deburg-Stendal.

                                                                                                                            E-Mail: regina.leven@hs-
                                                                                                                            magdeburg.de

       Beitrag aus: DAS ZEICHEN 90/2012 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
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