Herz und Seele in Not - PSYCHOKARDIOLOGIE - Universitätsklinikum Leipzig
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connexiplus 6-2020 PSYCHOKARDIOLOGIE Herz und Seele in Not Ulrike Rudolph und Ulrich Laufs*, Leipzig © Panther Media GmbH/Alamy Stock Foto Die wechselseitigen Zusammenhänge von Herz und Psyche bei Entstehung, Krankheitsverlauf und Prognose von kardiovaskulären Erkrankungen werden seit ca. zwei Jahrzehnten zunehmend erforscht. Die Psycho- kardiologie als Schnittstelle zwischen kardiovaskulären und psychosomatischen Erkrankungen beschäftigt sich mit diesen Wechselbeziehungen und leitet daraus entsprechende Handlungsempfehlungen ab. Neben den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren, wie Rauchen, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Adipositas und Bewegungsmangel, sollten anamnestisch psychosoziale Risikofaktoren bei kardiologischen Patienten erfragt und berücksichtigt werden, um die kardiale Prognose zu verbessern. Zu psychosozialen Risikofaktoren für Herz-Kreis Fallbericht lauf-Erkrankungen gehören u. a. der sozioökono Ein 52-jähriger Automechaniker (BMI 28 kg/m², Rau- mische Status, Stress im Beruf und Familienleben cher mit 30 py) ohne bekannte Vorerkrankungen wird und überdauernde negative Affektivität wie Angst, am Arbeitsplatz reanimationspflichtig. Nach erfolg- Depressivität oder Ärger (Tabelle 1) [1−3]. Ungüns reicher Reanimation bei Kammerflimmern wird durch tige psychosoziale Faktoren erhöhen das Risiko den Notarzt ein Vorderwandinfarkt festgestellt. Im für eine kardiovaskuläre Erkrankung um ca. das Krankenhaus wird in der Herzkatheteruntersuchung connexiplus 1,5fache. Dies ist vergleichbar mit der durch das verschlossene Vorderwandgefäß (Ramus inter- erhöhte LDL-Cholesterinwerte oder Bewegungs ventricularis anterior) wiedereröffnet und ein Stent mangel einhergehenden Risikosteigerung [4]. implantiert. Die linksventrikuläre Pumpfunktion ist mit 40 % mittelgradig reduziert. Zudem fallen eine arterielle Hypertonie und eine Hyperlipidämie *Prof. Dr. med. Ulrich Laufs auf. Neurologisch sind keine akuten Folgeschäden 62
connexiplus 6-2020 ersichtlich. Er ist wach und kooperativ. Der Patient Tabelle 2: Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit relevanter wird in eine Rehabilitationsklinik entlassen. Nach psychosozialer Mitbeteiligung anfänglich erfolgreicher Rauchentwöhnung äußert arterielle Hypertonie, hypertensive Herzerkrankung er beim ambulanten Kontrolltermin Zweifel am Risi- Angina pectoris, koronare Herzerkrankung, Herzinfarkt kofaktor Rauchen. Er meidet Menschenmengen, ihm pAVK sei vieles zu laut. Die Tabletten nimmt er, aber es fällt Akute und chronische Herzinsuffizienz ihm schwer, manchmal würgt es ihn, ab und zu ver- Z. n. Aortokoronarer Bypass-Operation gisst er die abendliche Statineinnahme. Vor der beruf- tachykarde Herzrhythmusstörungen (supraventrikulär und lichen Wiedereingliederung hat er große Sorge, dass ventrikulär) er die Arbeit nicht mehr so schafft wie vorher. Er wirkt Z. n. kardiopulmonaler Reanimation sehr angespannt. Auf Nachfrage gibt er an, mehrfach Z. n. Implantation eines Defibrillators (ICD) Suizidgedanken gehabt zu haben … Versorgung mit einem Kunstherz-System (LV-AD, BiV-AD) Nach dem ersten Besuch ihres auf der Intensiv- Herztransplantation station liegenden Ehemannes ruft die Ehefrau aufgrund bei ihr aufgetretener pectanginöser Biopsychosoziale Stressoren Klassische kardiovaskuläre Beschwerden und Dyspnoe den Notarzt. Im Kran- (Depression, soziale Isolation; Risikofaktoren (z. B. Rauchen, kenhaus wird eine Tako-Tsubo-Kardiomyopathie s. a. Tabelle 1) Diabetes, Fehlernährung) (Stress-Kardiomyopathie) diagnostiziert. Tabelle 1: Psychosoziale Risikofaktoren Atherosklerose Stress im Beruf und Familienleben Schicht-, Nacht- und exzessive Mehrarbeit Kardiovaskuläres Erstereignis niedriger sozioökonomischer Status (z. B. Angina pectoris, Herz mangelhafte soziale Unterstützung infarkt, Herzinsuffizienz) soziale Inhibition (Unfähigkeit, Emotionen in Beziehungen zu kommunizieren) Rezidivierende Überdauernde negative Affektivität (Depressivität/Angst/Ärger) kardiovaskuläre Ereignisse, Erschöpfung, Burnout, Schlaflosigkeit Krankenhausaufenthalte Feindseligkeit Abbildung 1: modifiziert nach [8]. andere psychische Erkrankungen Die biopsychosozialen Risikofaktoren – also Risikofaktoren berücksichtigen somatische, psychische und soziale Faktoren – tragen auch aufgrund ähnlicher pathophysiologi Unbestritten ist Rauchen mit fast dreifach scher Entstehungswege zu allen kardiovaskulären connexiplus erhöhtem Risiko für Folgeschäden der wichtigste Erkrankungen bei (Abbildung 1, Tabelle 2) und vermeidbare Risikofaktor. Auch das Vorliegen einer bedingen sich zum Teil gegenseitig. Als psycho Depression verdoppelt das Risiko für kardiovas soziale Schutzfaktoren gegen Entstehung und kuläre Todesfälle [4]. Die durch mentalen Stress ungünstige Verläufe einer koronaren Herzerkran induzierte myokardiale Ischämie ist häufiger als kung gelten gute soziale Unterstützung und das die belastungsinduzierte Ischämie. Zusammenleben in Ehe und Familie [5]. 63
connexiplus 6-2020 Psychosoziale Risikofaktoren wirken auch als Angehörige einbeziehen Barrieren gegen gesundheitsbewusstes Verhalten. Fehlernährung oder Rauchen haben zum einen Insbesondere nach Krankenhausaufenthalt, direkte physiologische Folgen, wie die Entwicklung Myokardinfarkt und bei koronarer Herzerkran eines metabolischen Syndroms und Vasokonstrik kung sind psychische Belastungen häufig. Je vital tion. Zum anderen interagieren sie mit psychophy bedrohlicher die Herzerkrankung erlebt wird, desto siologischen Prozessen in der Krankheitsentstehung mehr leidet die Psyche. Bei ca. 30 % der Patienten und -prognose. Wenn beispielsweise der Arzt dem mit Herzinsuffizienz, 40 % nach aortokoronarer Patienten gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er Bypass-Operation, 70−80 % vor Transplantation, Stress reduzieren müsse und der Patient zum Stress 30 % nach Transplantation und 90 % mit Kunst abbau raucht, befinden wir uns in einem circulus herzsystemen finden sich relevante psychische vitiosus, der für eine günstigere Prognose durchbro Beeinträchtigungen. chen werden sollte. Angst vor einer Überforderung Psychische Belastungen finden sich nicht nur des Herzens nach einem Herzinfarkt kann in einer bei den Patienten, sondern auch bei Ihren Ange Vermeidung von sportlicher Aktivität resultieren. hörigen. Auf die Diagnose und Therapie der Herz Frustessen dient kurzfristig der Emotionsregula erkrankung können akute Belastungsreaktionen tion, ist jedoch für die Reduktion von Übergewicht oder Anpassungsstörungen folgen. Unbehandelte kontraproduktiv. Sorge vor Medikamentenneben Anpassungsstörungen können chronifizieren und wirkungen kann zu Nonadhärenz gegenüber prog in Depression oder Angststörungen übergehen. nostisch günstigen Arzneimitteln führen. Zudem müssen posttraumatische Belastungs Akute Stresssituationen, z. B. Angst, Ärger oder störungen und Phobien, die im Gegensatz zu den Trauer, sind die häufigsten Akutauslöser von Myo diffusen Angststörungen an auslösende Reize/ kardinfarkten und tragen zu einer schlechteren Situationen gebunden sind, berücksichtigt werden. Prognose bei [6, 7]. Stellt sich ein Patient mit kardiovaskulären Psychische Symptome detektieren Symptomen (Angina pectoris, Belastungsdyspnoe, und behandeln Unterschenkelödeme, Herzrhythmusstörungen, Synkopen) und/oder Risikofaktoren beim Arzt vor, Eine komorbide Depression ist häufig, belastend sollte zunächst eine kardiologische/somatische und gefährlich. Sie ist gekennzeichnet von körper Abklärung einschließlich der Erhebung der bio lichen Beschwerden und verändertem Verhalten. psychosozialen Risikofaktoren erfolgen (Tabelle 3). Somatische Symptome der Depression sind Vita litäts- und Energieverlust, Kraftlosigkeit, Konzen Tabelle 3: Kardiologische Abklärung bei Herzbeschwerden trationsstörungen, kognitive Leistungseinbußen, EKG, Blutdruckmessung, Auskultation Schlafstörungen, Reizbarkeit, innere Leere. Die connexiplus Herzultraschall Umgebung bemerkt evtl. den sozialen Rückzug und Labor (kleines Blutbild, Diabetesscreening, glomeruläre Verlust kommunikativer Fähigkeiten. Selbstschädi Filtrationsrate, TSH, Trop T) gende Verhaltensweisen wie Rauchen oder unge Langzeit-EKG, Langzeit-Blutdruck, Spiroergometrie sunde Ernährung treten gehäuft auf. Mangelnde (Bildgebender) Ischämienachweis Compliance führt zum Absetzen von kardial pro Koronarangiographie gnostisch relevanten Medikamenten. Im Arbeits 64
connexiplus 6-2020 PSYCHOKARDIOLOGIE Wie oft fühlten Sie sich im Verlauf der über- An An mehr Beinahe letzten zwei Wochen durch die folgenden haupt einzel- als der jeden Beschwerden beeinträchtigt? nicht nen Hälfte Tag Tagen der Tage Punkte 0 1 2 3 Wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätig leben kann es manchmal fast konträr wirken: Weil keiten 0 1 2 3 der Patient/die Patientin depressionsbedingt das Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Gefühl hat, für die Arbeit nicht mehr gut genug zu Hoffnungslosigkeit 0 1 2 3 sein und ein gesteigertes Misserfolgserleben hat, Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen kompensiert er/sie dieses durch Mehrarbeit, was oder vermehrter Schlaf 0 1 2 3 wiederum weniger Zeit zur Erholung zur Folge hat Müdigkeit oder Gefühl, keine Energie zu und in weiterer Überlastung mündet. haben 0 1 2 3 Eine Depression sollte mittels kurzer, gezielter Verminderter Appetit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen 0 1 2 3 Befragung geklärt werden. Zwei einfache Fragen helfen zum Erkennen depressiver Störungen: Schlechte Meinung von sich selbst; Gefühl, ein Versager zu sein oder die Familie ent 0 1 2 3 1. Haben Sie im letzten Monat oft unter Gefüh täuscht zu haben len von Niedergeschlagenheit, Depressionen oder Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzen Hoffnungslosigkeit gelitten? trieren, z. B. beim Zeitunglesen oder Fern 0 1 2 3 2. Haben Sie im letzten Monat oft unter geringem sehen Interesse oder Freudlosigkeit gelitten? Waren Ihre Bewegungen oder Ihre Sprache Beantwortet der Patient beide Fragen mit „nein“, so verlangsamt, dass es auch anderen auf 0 1 2 3 ist das Vorliegen einer Depression unwahrschein fallen würde? Oder waren Sie im Gegenteil lich. Lautet eine Antwort „ja“, liegt in der Hälfte „zappelig" oder ruhelos und hatten dadurch einen stärkeren Bewegungsdrang als sonst? der Fälle eine Depression vor. Eine erweiterte Befragung sollte sich anschließen. Werden die Gedanken, dass Sie lieber tot wären oder sich Leid zufügen möchten 0 1 2 3 psychischen Symptome einer Depression, wie Hoff Gesamtwert=Addition der Spaltensummen ______+ ______+ ______ nungslosigkeit, Suizidgedanken und Schuldgefühle nicht erfragt, kann die Depression beispielsweise Abbildung 2: PHQ-9 Fragebogen als zugrundeliegendes Problem für die einge Einschätzung: 9−11 Punkte: Depressive Episode im Zusammenhang mit einer vorliegenden schränkte Belastbarkeit eines herzinsuffizienten Herzerkrankung, ≥12 Punkte: Major-Depression. Patienten übersehen werden. Zum Screening auf das Vorliegen einer Depression kommt in unserer Klinik zudem regelhaft der PHQ-9-Fragebogen (verstörende Erinnerungen, Alpträume tagsüber/ (validierter Selbstauskunftsfragebogen für Patien nachts), Vermeiden von Gedanken und Gefühlen, ten, Abbildung 2) zum Einsatz. die an die auslösende Situation erinnern, negative Die Symptome einer posttraumatischen Belas Veränderungen in Kognition und Stimmung, Über tungsstörung könnten als Ausdruck einer norma erregung mit Herzrasen, Bluthochdruck und Schlaf len Reaktion eines normalen Menschen auf ein störungen. Die Symptome dauern über einen Monat schrecklich unnormales, existenziell erschüttern an und beeinträchtigen das Leben ernsthaft. connexiplus des, extrem belastendes oder lebensbedrohliches Wenn die Diagnose einer psychischen Begleit Ereignis verstanden werden. Eine Reanimation, der erkrankung bei Herzerkrankung gestellt wurde, Aufenthalt auf einer Intensivtherapiestation und sollte sie auch aus prognostischen Gründen behan selbst eine Herzkatheteruntersuchung können post delt werden. Dafür ist eine enge Kooperation zwi traumatische Belastungsstörungen nach sich zie schen Hausarzt, Kardiologe, Psychosomatiker/ hen. Charakteristische Symptome sind Intrusionen Psychotherapeut und Sozialdienst sinnvoll. 65
connexiplus 6-2020 PSYCHOKARDIOLOGIE sen Lebensinhalte und -ziele neu gesetzt werden (Trauerarbeit). Dem Patienten wird geholfen, aus seiner Lebenserfahrung heraus zu lernen, mit der Erkrankung umzugehen. Dabei hilft die Erinnerung an schwierige Situationen, die er/sie gemeistert hat. Für andere kann die Konzentration auf das Hier und Jetzt wichtig sein, also von Tag zu Tag zu leben. Entspannungs- und Imaginationsübungen sollten dem Patienten vorgestellt/eingeübt werden. Und schließlich, meist nur überbrückend, kann das psychische Gleichgewicht mit Hilfe von Medi kamenten unterstützt werden. Die gebräuchlichs ten sind Sertralin, Citalopram oder Mirtazapin. Um Dr. med. Ulrike Rudolph Wechselwirkungen mit den kardial notwendigen ulrike.rudolph@medizin.uni-leipzig.de Medikamenten zu vermeiden, sollte Citalopram mit maximal 10 mg dosiert werden. Bei Mirtazapin rei Kommunikation ist essenziell chen oft 15 mg abends. Sertralin kann mit 50 mg morgens oder abends verordnet werden. Wichtig ist zunächst, Patienten und ihrer Fami lie sowohl Informationen zur Herzerkrankung zu Fazit geben als auch den Zusammenhang zur psychischen Situation zu klären. Missverständnisse sollten aus Psychische, soziale und Verhaltensfaktoren tra geräumt werden. Wenn beispielsweise ein Patient gen zur Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankun während seiner Behandlung auf der Intensivstation gen bei. Die rechtzeitige Diagnostik und Therapie gehört hat, dass eine Erkrankung aussichtslos ist komorbider psychischer Erkrankungen (insbeson und dies auf sich bezieht, obwohl die Ärzte über dere Depression und Angststörungen) und mal die Therapie eines anderen Patienten beratschlagt adaptiver Verhaltensweisen verbessern die kardiale haben, hilft es, dieses zu verbalisieren und rich Prognose. tigzustellen. Bedeutet die Anzahl der Stents, die Literatur im Internet www.con-nexi.de/service-download.html implantiert wurden, dass man schwerer krank ist oder via QR-Code. als der Bekannte, der nur einen Stent hatte? Funk tioniert bei einer Pumpfunktion von 50 % die Hälfte des Herzens nicht mehr? Dramatisierungen, z. B. „da sind Sie dem Tod von der Schippe gesprungen“, connexiplus sollten vermieden werden. Gedanken, Gefühle oder Ängste sollten ausgesprochen werden. Manchmal brauchen Patienten oder Angehörige Hilfe, sich an Dr. med. Ulrike Rudolph durch die Herz-Kreislauf-Erkrankung bedingten Klinik und Poliklinik für Kardiologie veränderten Rollen in Beruf/Familie zu gewöhnen Universitätsklinikum Leipzig Liebigstraße 20, 04103 Leipzig und diese neu zu definieren. Möglicherweise müs 66
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