NEUE THERAPIEN BEI PÄDIATRISCHEN EPILEPSIEN

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Fortbildung

NEUE THERAPIEN BEI PÄDIATRISCHEN
EPILEPSIEN
Judith Kröll, Alexandre N. Datta

Einleitung                                                     Das Ziel jeder antiepileptischen oder anfallsprä-
Trotz der Entwicklung zahlreicher neuer Medikamente       ventiven Behandlung ist in erster Linie, weitere An-
in den letzten Jahrzehnten hat sich die Zahl der Pati-    fälle zu verhindern. Zusätzlich zu einer anfallspräven-
enten mit pharmakorefraktären Epilepsien kaum ver-        tiven Wirkung möchte man auch eine frühe sog.
ändert. Das zunehmend bessere Verständnis der Ätio-       antiepileptogene Wirkung erzielen, um eine Chronifi-
logie von Epilepsien, einschließlich genetischer und      zierung der Epilepsie zu verhindern. Obwohl dieser Ef-
struktureller Ursachen, ermöglicht es, bei einigen Pa-    fekt für einige AED (antiepileptic drugs) im Tiermodell
tienten spezifische molekulare Targets für Therapien      nachgewiesen wurde, konnte dies beim Menschen bis-
zu identifizieren, die über die Anfallshemmung hin-       her nicht repliziert werden. Neuroprotektion ist ein      Judith Kröll
ausgehen und die Behandlung der Ursache der Epi-          weiterer Effekt, den AED haben sollten, um einen ne-
lepsie ermöglichen. Die grösste Herausforderung wird      gativen Einfluss von wiederholten Anfällen oder kon-
es weiterhin sein, die Ursachen der Epilepsie frühzei-    tinuierlicher epileptischer Aktivität auf die Entwick-
                                                                                                                    https://doi.org/
tig zu identifizieren und so dem Patienten die beste      lung und Kognition zu verhindern. Der Nachweis die-
                                                                                                                    10.35190/d2021.3.3
Therapieoption zu ermöglichen.                            ses Therapieziels bleibt von vielen Confoundern
                                                          abhängig und ist daher schwierig.
     Die Rationale für die Auswahl von Antiepileptika
(AED) im Kindes- und Jugendalter sollte in Abhängig-         Die Auswahl der besten bzw. möglichst massge-
keit von deren Wirkmechanismen (Abbildung 1) so in-       schneiderten Therapie kann auf 3 Stufen erfolgen:
dividuell wie möglich gestaltet werden. Dabei werden
sowohl altersspezifische Aspekte der Pharmakokine-        • Anfallsspezifische Therapie (Auswahl des AED
tik und -dynamik als auch anfallsspezifische, ggf. Epi-     empirisch nach Anfallstyp, fokal, generalisiert
lepsiesyndrom spezifische Überlegungen berücksich-          oder unbekannt)
tigt, im Idealfall auch Überlegungen zur molekularge-
netischen und damit funktionellen Ursache der             • Epilepsiesyndrom-spezifische Therapie
Epilepsie auf Zellebene. Letzteres öffnet Perspektiven
für eine individualisierte Therapie, die neben den An-    • Genspezifische Therapie (individualisiert bzw.
fällen z.B. auch eine assoziierte Entwicklungsstörung       personalisierter Therapiezugang)
positiv beeinflussen kann.

                       INHIBITORY NEUROTRANSMITTER SYSTEM and antiepileptic drugs

                                                                      Synaptic vesicle

                                        GABA                          Succinic Semialdehyde
                                                          GABA
          Tiagabine     Neurotransmitter Reuptake                             GABA transaminase
                                                              GABA
                        pump (GABA transporter)
                                                                              Vigabatrin
                                                                              Valproate (+other modes of action)

                                           Barbiturate    Benzodiazepine, Topiramated (+ other modes of action)

                                                              GABA receptor

                                                                                                                    Korrespondenz:
                                                                                                                    judith.kroell@glkn.de

                    Vol. 32 | 3-2021                                                                                                   7
Fortbildung

                            EXCITATORY NEUROTRANSMITTER SYSTEM and antiepileptic drugs

     Carbamazepine/Oxcarbazapine                                                            High voltage CA
     Phenytoin                                                                              channel
     Lamotrigine                                                                            Topiramate (+ other modes
     Phenytoin                           Voltage                        Voltage             of action)
     Lacosamide (slow                    gated Na                       Gated Ca            Zonisaminde
     inactivation of voltage             channel                        channel             alpha2delta
     gated Na channel)                                                  (L-type)            subunit:
     Valproate (+ other modes of action)                                                    Pregabalin
                                                                                            Gabapentin
                                                                                            Synaptic vesicle

                                                                                            Synaptic vesicle protein 2A
                                            Glutamate            Glutamate
                                                                                                        Levetiracetam
                                                    Glutamate                                           Brivaracetam
                                    K+                                 K+          Topiramate
                              Perampanel                                K+             (+ other modes of action)

                                                     Ca ++, Na +                     Ca ++, Na +
                                                                                       Ca ++, Na +
                                                      NMDA
                                                      receptor
                                 AMPA receptor                          Kainate receptor

     Abbildung 1: Mögliche Wirkmechanismen antiepileptischer/anfallspräventiver Medikamente 15)

     A) Neue Epilepsiesyndrom-spezifische                        beachten, insbesondere kann der aktive Metabolit des
     Therapien                                                   Benzodiazepins Clobazam um bis zu 50% ansteigen,
     2020 bzw. 2021 wurden zwei sog. Orphan Drugs zur            so dass die Dosis für eine Sedierung reduziert werden
     Behandlung von seltenen pädiatrischen Epilepsiesyn-         muss.
     dromen in der Schweiz und/oder der EU zugelassen:
                                                                     In einer doppelblinden Placebo-kontrollierten Stu-
     1. Cannabidiol                                              die, die 120 Kinder, Jugendliche und junge Erwach-
     Ein anfallspräventiver Effekt des nicht-psychoaktiven       sene (Durchschnittsalter 9.8 Jahre, Range 2.3 bis 18.4
     Cannabinoids Cannabidiol (CBD) wird bereits seit vie-       Jahre) mit DS eingeschlossen hat, zeigten in der CBD-
     len Jahrzehnten beschrieben. Tierexperimentell konn-        Gruppe 43% eine mindestens 50%-ige Reduktion kon-
     ten zwischenzeitlich verschiedene molekulare Targets        vulsiver Anfälle vs. 27% in der Placebo-Gruppe, 3%
     identifiziert werden, über die CBD die neuronale Hy-        wurden anfallsfrei. Unter Berücksichtigung der Grun-
     perexzitabilität beeinflusst. Ein möglicher anfallsprä-     derkrankung, ist dieses Ergebnis für die Betroffenen
     ventiver Effekt der Substanz beruht u.a. darauf, dass       als positiv zu werten. Die häufigsten Nebenwirkungen
     der erregende Neurotransmitter Glutamat synaptisch          waren Müdigkeit und Durchfall 3).
     weniger ausgeschüttet wird (Antagonismus an einem
     G protein-gekoppelten-Rezeptor) 1).
                                                                   Das Dravet-Syndrom (DS) ist ein seltenes
          Nach Durchführung von mehreren doppelblinden
                                                                   pädiatrisches Epilepsiesyndrom, das 1/15.700
     und Placebo-kontrollierten Studien (RCTs) ist das
                                                                   bis 1/40.000 Kinder betrifft4). Beim klassischen
     Cannabidiol-Monopräparat Epidyolex® seit dem
                                                                   DS treten die ersten Anfälle typischerweise
     10.2.2021 als Zusatztherapie bei epileptischen An-
                                                                   zwischen dem 4. und 8. Lebensmonat auf.
     fällen bei Patienten mit Lennox-Gastaut-Syndrom
                                                                   Sie sind klonisch, generalisiert oder unilateral
     (LGS) oder dem Dravet-Syndrom (DS) ab dem Alter
                                                                   und es besteht ein hohes Risiko für prolon-
     von 2 Jahren in der Schweiz zugelassen und seit Au-
                                                                   gierte Anfälle oder Status epilepticus.
     gust 2021 erhältlich. Beide Epilepsiesyndrome sind
                                                                   Die Anfälle werden oft durch (leichtes) Fieber
     sehr selten und die Anfälle sind bei den meisten Be-
                                                                   ausgelöst. Im Alter von 2 bis 5 Jahren können
     troffenen pharmakorefraktär.
                                                                   myoklonische Anfälle, (atypische) Absencen
                                                                   und fokale Anfälle auftreten. Gleichzeitig
         Das Präparat ist eine ölige Lösung (100 mg/ml).
                                                                   verschlechtern sich die motorischen Funktionen
     CBD ist lipophil und zeigt bei oraler Einnahme einen
                                                                   und eine kognitive Einschränkung wird deutlich.
     hohen first-pass-Metabolismus in der Leber mit einer
     Bioverfügbarkeit von ca. 6%. Es interagiert mit meh-
                                                                   De novo-Mutationen im SCN1A-Gen werden bei
     reren Cytochrom P450-Enzymen (CYP) und hat eine
                                                                   75-85% der Patienten mit DS nachgewiesen.
     Halbwertszeit von 18-32 Stunden 2). Die Interaktion
     mit CYP-Enzymen ist bei Kombinationstherapien zu

8                                                                                   Vol. 32 | 3-2021
Fortbildung
                                                         langfristige Behandlungsoption für diese Patienten-
                                                         gruppen darstellt. Die mediane Behandlungsdauer be-
  Das SCN1A-Gen kodiert die α-Untereinheit des
                                                         trug 78,3 (Range 4,1-146,4) Wochen. Zwischen Woche
  wichtigsten spannungsabhängigen Typ-I-Natri-
                                                         12 und 96 lag die mediane add-on CBD-Dosis zwischen
  umkanals (NaV1.1) im Gehirn, der spezifisch in
                                                         21 und 25 mg/kg/Tag. Nach 12 Wochen reduzierte
  GABA-ergen, inhibitorischen Interneuronen
                                                         diese add-on Gabe von CBD die monatlichen motori-
  lokalisiert ist Krampfanfälle bei DS sind refrak-
                                                         schen Anfälle im Median um 50 % und die Gesamt-
  tär gegenüber konventionellen Antikonvulsiva.
                                                         zahl der Anfälle um 44 %, wobei die Anfallsreduktion
  Die Behandlung des DS kann daher lediglich
                                                         über 96 Wochen hinweg konstant blieb. 20% der LGS/
  auf die Reduktion der Anfallslast abzielen,
                                                         DS-Patienten setzen CBD wieder ab hauptsächlich we-
  insbesondere von prolongierten Anfällen und
                                                         gen mangelnder Wirksamkeit. 5, 6, 8)
  Status epilepticus, auf die Vermeidung negati-
  ver Nebenwirkungen der antikonvulsiven
                                                         2. Fenfluramin
  («Über»-) Behandlung, die Verringerung des
                                                         Fenfluramin ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der
  SUDEP (plötzlicher Tod bei Epilepsie) -Risikos
                                                         Amphetamine, der die Ausschüttung des Neurotrans-
  und die Verbesserung der Komorbiditäten.
                                                         mitters Serotonin erhöht. Ursprünglich wurde Fenflu-
                                                         ramin als Appetitzügler eingesetzt. Wegen schwerwie-
                                                         gender kardiovaskulärer Nebenwirkungen (pulmonale
     Bei Patienten mit LGS konnte in zwei randomisier-   arterielle Hypertonie, Verdickung der Herzklappen)
ten und kontrollierten Studien mit add-on CBD (10 und    wurde die Substanz 1997 vom Markt genommen. Wäh-
20 mg/kg/d während 14 Wochen im Vergleich mit Pla-       rend der Zeit der Zulassung als Appetitzügler wurde
cebo) gezeigt werden, dass sich die Zahl der Sturzan-    bei Epilepsie-Patienten die antiepileptische Wirkung
fälle (tonisch, atonisch oder unbekannt) reduzierte.     beobachtet.
Die mittlere prozentuale Reduktion der Anfallshäufig-
keit während des Behandlungszeitraums betrug 41,9            Das Medikament Fintepla® enthält eine orale Fen-
% in der 20-mg-CBD-Gruppe, 37,2 % in der 10-mg-          fluramin-Lösung (2,2 mg/ml). Das Medikament wurde
CBD-Gruppe und 17,2 % in der Placebo-Gruppe              am 18.12.2020 als sog. Orphan Drug zur Behandlung
(p=0,005 für die 20-mg-Cannabidiol-Gruppe) 5, 6).        des Dravet-Syndroms als add-on Therapie ab dem Al-
                                                         ter von 2 Jahren in der EU zugelassen.

  Das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) ist eine                   In zwei RCTs konnte gezeigt werden, dass Fenflu-
  der schwersten epileptischen und entwick-              ramin die Häufigkeit von Anfällen bei Kindern und jun-
  lungsbedingten Enzephalopathien. Es macht              gen Erwachsenen mit Dravet-Syndrom, die mindes-
  1-10% aller Epilepsien im Kindesalter aus. Es          tens ein anderes Epilepsie-Medikament einnehmen,
  gibt mehrere gleichzeitig auftretende Anfallsty-       verringert. Bei insgesamt 206 Patienten mit Dra-
  pen einschließlich plötzlicher Sturzanfälle            vet-Syndrom (Studie 1 mit 119 Patienten und Studie 2
  (kurze tonische oder atonische Anfälle) mit            mit 87 Patienten) wurde als Hauptindikator für die
  hohem Verletzungsrisiko, atypische Absencen,           Wirksamkeit die Änderung der monatlichen Anzahl
  die in einen nicht konvulsiven Status epilepticus      von Anfällen beurteilt. In der ersten Studie reduzierte
  übergehen können, und andere Anfallstypen,             sich in der Gruppe mit einer täglichen Fenfluramin-Do-
  die fokal, generalisiert, tonisch-klonisch oder        sierung von 0,7 mg/kg die mittlere monatliche An-
  einseitig klonisch sind. Der vorherrschende            fallshäufigkeit der Baseline-Phase in der Erhaltungs-
  Anfallstyp kann sich im Laufe der Zeit ändern.         phase signifikant um 62,3% (95%-CI [47,7-72,8];
  Das LGS ist immer mit einem kognitiven Abbau,          p
Fortbildung
      sige echokardiographische Untersuchungen vorge-           involviert sind (MTOR, PIK3CA, TSC1, TSC2 und PTEN
      schrieben. Die Dosierung des Antikonvulsivums ist         Gene sowie die GATOR1-Komplex-Gene DEPDC5,
      deutlich niedriger verglichen mit dem Einsatz als Ap-     NPRL2 und NPRL3).
      petitzügler. In den oben aufgeführten Studien wurden
      keine kardiologischen Nebenwirkungen beobachtet.              Bei therapierefraktären Anfällen bei TSC ist eine
                                                                ätiologiebasierte Therapie bereits möglich. In der mul-
      B) Individualisierte molekulare                           tizentrischen EXIST 3 Studie konnte gezeigt werden,
      und Genspezifische Therapien                              dass die adjuvante Gabe des mTOR -Inhibitors Evero-
      Individualisierte molekulare und genspezifische           limus bei pädiatrischen TSC-Patienten mit therapie-
      Therapien ermöglichen eine personalisierte Medizin.       refraktären Anfällen zu einer anhaltenden Reduktion
      Mit der Identifikation von sog. Epilepsiegenen in den     der Anfallshäufigkeit nach 1 Jahr führte und gut ver-
      letzten Jahrzenten konnten zunehmend die moleku-          träglich war 13, 14).
      laren Mechanismen entschlüsselt werden, die dem kli-
      nischen Erscheinungsbild zugrunde liegen. So verbes-      Normalisierung der Leitfähigkeit
      serte sich nicht nur das Verständnis dieser Epilepsien,   von Ionenkanälen
      sondern es werden auch zielgerichtete Therapien           Bei den Epilepsien, die zu der Gruppe sog. Ionenka-
      möglich.                                                  nalerkrankungen gehören, d.h. vor allem Natrium- und
                                                                Kaliumkanalopathien, gibt es sowohl selbstlimitie-
          Drei Arten von zielgerichteten Therapien können       rende Epilepsien als auch epileptische Enzephalopa-
      in der Behandlung von Epilepsien unterschieden wer-       thien mit katastrophalen Verläufen.
      den: erstens Substitutionstherapien, zweitens Thera-
      pien, die Signalwege blockieren, und drittens Thera-          Spannungsabhängige Natriumkanäle vermitteln
      pien, die die Leitfähigkeit von Ionenkanälen normali-     die Entstehung und Propagation von Aktionspotenti-
      sieren 11).                                               alen. Viele konventionelle Antikonvulsiva antagonisie-
                                                                ren diese Funktion. Von Mutationen, die eine Epilep-
          Substitutionstherapien spielen bei den metabo-        sie verursachen, sind in absteigender Häufigkeit die
      lischen Epilepsien und Enzephalopathien eine Rolle.       Natriumkanalgene SCN1A, SCN2A und SCN8A betrof-
      Beispiele sind der Einsatz der ketogenen Diät bei dem     fen Die Aktivierung von Kaliumkanälen reduziert die
      sog. Glukose-Transporter-Defekt-Typ 1 oder die Be-        neuronale Erregbarkeit, so dass die Kaliumkanal-as-
      handlung der Pyridoxin und Pyridoxal-phosphat-ab-         soziierten Epilepsien meist mit loss-of-function-Muta-
      hängigen Epilepsien (weitere Erkrankungen s. auch         tionen assoziiert sind (s. Tabelle 1).
      Tabelle). Die frühe Diagnose und gezielte Substituti-
      onsbehandlung ist mehr als nur eine Anfallsbehand-            Exemplarisch werden nachfolgend SCN1A- und SC-
      lung, sondern sie soll auch die Entwicklungsprognose      N2A-assoziierte Epilepsien vorgestellt. Heterozygote
      der betroffenen Kinder verbessern.                        loss-of-function Mutationen im SCN1A-Gen finden sich
                                                                beim sog. klassischen Dravet-Syndrom (s. oben). Es
          Für die spät-infantile neuronale Zeroidlipofuszi-     kommt zu einem Ungleichgewicht zwischen Inhibition
      nose Typ 2 (CLN2, Beginn mit 2-4 Jahren, Mutation         und Exzitation, was zu einer erhöhten Anfallsbereit-
      im TPP1 Gen), einer lysosomalen Erkrankung, die auch      schaft führt. Da die loss-of-function Mutation vorwie-
      als kindliche Demenz bezeichnet wird und die typi-        gend die inhibitorischen Interneurone betrifft, kann
      scherweise im Kleinkindalter mit Anfällen beginnt und     man es sich gut vorstellen, dass die Gabe typischer
      mit einer raschen kognitiven und motorischen Ent-         Natriumkanalblocker wie Carbamazepin, Oxcarbazepin
      wicklungsregression einhergeht, wurde eine Enzymer-       oder Phenytoin die Anfallskontrolle verschlechtert.
      satztherapie entwickelt. Cerliponase Alpha (Bri-
      neura®), ein rekombinantes Proenzym der menschli-             Das SCN2A-Gen kodiert ebenfalls für einen span-
      chen Tripeptidyltranferase 1 wird als intraventrikuläre   nungsabhängigen Natriumkanal. SCN2A-assoziierte
      Infusion alle 2 Wochen appliziert. Bei 23 behandelten     Erkrankungen kann man in 3 Gruppen unterteilen:
      Kindern im Alter von 3-16 Jahren konnte gezeigt wer-
      den, dass durch die Behandlung die Verschlechterung       1) Frühkindliche epileptische Enzephalopathie (mit ei-
      der motorischen und Sprachfunktionen verlangsamt             nem Auftreten der ersten Anfälle meist bereits in-
      wird im Vergleich mit historischen Kontrollen. Die Be-       nerhalb der ersten 3 Lebensmonate gefolgt von ei-
      handlung ist spezialisierten Kliniken vorbehalten 12).       ner schweren Entwicklungsstörung.

          Beispiel für die Blockade eines Signalwegs ist        2) Benigne/selbstlimitierende (familiäre) neonatale
      der Einsatz von Everolimus zur Blockade des sog.             oder infantile Anfälle, charakterisiert durch Auftre-
      mTOR-Pathway.                                                ten von Anfällen im Neonatalalter oder vor dem 12.
                                                                   Lebensmonat, die Epilepsie verläuft bis zum Alter
          Der mTOR-Pathway spielt u.a. eine Schlüsselfunk-         von 2 Jahren selbstlimitierend ohne erkennbare
      tion in der Hirnentwicklung. Seine Hyperexpression           Langzeitfolgen.
      führt zu Störungen der Entwicklung des zerebralen
      Kortex bei Tuberöse Sklerose Komplex (TSC), aber          3) Autismus-Spektrum-Störung/intellektuelle Behin-
      auch bei fokalen kortikalen Dysplasien oder der He-          derung (ASD/ID) mit oder ohne Epilepsie. Die ear-
      mimegalenzephalie. Mittlerweile sind zahlreiche Muta-        ly-onset-Gruppe kann von dem Einsatz von Natri-
      tionen in Genen identifiziert, die in diesem Signalweg       umkanalblockern profitieren. Es gibt Hinweise, dass

10                                                                                 Vol. 32 | 3-2021
Fortbildung

 Epilepsiesyndrom                                         Gen                                  Treatment

                                                          Veränderungen in Natriumkanälen      Vermeide Natriumkanalblocker:
 Dravet Syndrome, GEFS+                                   SCN1A                                CBZ, OXC, PHT, LTG
 BFNE, BFNIE                                              SCN2A                                CBZ, OXC, PHT, (LTG)
 BFNE, BFNIE                                              SCN8A                                CBZ, OXC, PHT, (LTG)
                                                          Veränderungen in Kaliumkanälen
 BFNE                                                     KCNQ2                                CBZ, OXC, PHT, (LTG)
 BFNE                                                     KCNQ3                                CBZ, OXC, PHT, (LTG)

 BFNIE                                                    PRTT2                                CBZ, OXC, PHT, (LTG)

                                                          Veränderungen in Natriumkanälen
 DEE, Epilepsy in infancy with migrating focal s.         SCN2A                                CBZ, OXC, PHT, LTG
 DEE, Epilepsy in infancy with migrating focal s.         SCN8A                                CBZ, OXC, PHT, LTG
                                                          Veränderungen in Kaliumkanälen
 DEE                                                      KCNQ2, KCNQ3                         CBZ, OXC, PHT, LTG; Retigabin (LoF)
 DEE, Epilepsy in infancy with migrating focal s.         KCNT1                                Quinidin (GoF), Brom
 DEE, Epilepsy in infancy with migrating focal s.         KCNT2                                Quinidin (GoF), Brom

 Idiopathisch generalisierte Epilepsie,                   Veränderungen in Kalziumkanälen
 DEE, West-Syndrom                                        CACNA1A                              ETX, LTG (GoF)
 GEFS+, DEE                                               HCN1 LoF                             LTG, GBP
 GEFS+, DEE                                               HCN1 GoF                             Ketamin, Propofol

 VPA-assoziiertes Leberversagen                           POLG1                                kein Valproat
 Carbamazepin und Steven Johnson Syndrom                  HLAB*1502                            kein Carbamazepin /Oxcarbazepin

 Glucose-Transporter 1 Defizienz                          SLC2A1                               ketogene Diät (KD)
 Pyridoxin-abhängige Epilepsie                            ALDH7A1, ALDH7A                      Pyridoxin
 Pyridoxal-5 Phospate abhängige Epilepsie                 PNPO                                 Pyridoxal-5 Phosphat
 Folinsäure-responsive Anfälle                            FOLR1                                Folinsäure
 Cerebrales Kreatin Defizienz-Syndrom 1                   SLC6A8                               Kreatin + L-Arginine and L-Glyzin
 Cerebrales Kreatin Defizienz-Syndrom 2                   GAMT                                 Kreatin
 Cerebrales Kreatin Defizienz-Syndrom 3                   AGAT                                 Kreatin
 CAD Defizienz, Pyrimidin-Synthese-Defizienz              CAD                                  Uridin-Monophosphat
 Molybdän-Kofaktor Mangel (MOCOD)                         MOCS1                                Cyclic pyranopterin monophosphate
 Spätinfantile Zeroidlipofuszinose CLN2                   TPP1                                 Cerliponase Alpha

 Familiäre fokale Epilepsie mit variablen Foci,           DEPDC5, GATOR1                       Rapamycin und Rapamycin-Derivate
 familiäre mesiale Temporallappenepilepsie,               Komplex-Untereinheit                 (z.B. Everolimus, Sirolimus,
 West Syndrom                                                                                  Temsirolimus, Ridaforolimus

 Familiäre fokale Epilepsie mit variablen Foci            NPRL2 and 3, GATOR1                  Rapamycin und Rapamycin-Derivate
                                                          Komplex-Untereinheit

 Tuberöse Sklerose Komplex,                               TSC1, TSC2                           Rapamycin und Rapamycin-
 fokale kortikale Dysplasie                                                                    Derivate, VGB, KD

GEFS+: Generalized epilepsy with febrile seizures +
BFNE: self-limiting (benign) neonatal epilepsy
BFNIE: self-limiting (benign) neonatal infantile epilepsy
DEE: Developmental and epileptic encephalopathy
LoF: Loss of function Mutation
GoF: Gain of function Mutation
CBZ = Carbamazepin, ETX = Ethosuximid, GBP = Gabapentin, LTG = Lamotrigin, OXC = Oxcarbazepin, PHT = Phenytoin,
VPA = Valproat, VGB = Vigabatrin
Tabelle 1: Gen-spezifische Therapien bei Epilepsien 15)

   es sich hierbei um gain-of-function-Mutationen           Ausblick
   handelt. Bei den später auftretenden Epilepsien          Neue Substanzen wie Eslicarbazepin 16) und Cenoba-
   (Gruppe 3) handelt es sich eher um loss-of functi-       mate 17) werden in Zukunft auch bei Kindern durch
   on-Mutationen, so dass AED wie Levetiracetam,            erweiterte Wirkmechanismen die Verträglichkeit
   Benzodiazepine und Valproat zu bevorzugen sind,          verbessern, resp. auch therapeutische Optionen ver-
   die keine Natriumkanalblockade bewirken.                 grössern.

                     Vol. 32 | 3-2021                                                                                            11
Fortbildung
         Für monogenetische Epilepsien werden im Tier-
     modell sog. antisense oligonucleotide (ASO)-Thera-
     pien getestet. Bei SCN1A-loss-of-function, SC-
     N8A-gain-of-function oder KCNT1-gain of functi-
     on-Mutationen gibt es erste positive Ergebnisse aus
     Mausmodellen. Diese neuen Therapien zielen darauf
     ab, die Ionenkanalfunktion wiederherzustellen, so
     dass nicht nur die Anfälle besser kontrolliert, sondern
     auch die Komorbiditäten wie z.B. die kognitive Ent-
     wicklungsstörung, positiv beeinflusst werden. Weiter
     gibt es auch erste ermutigende Ansätze für Genthe-
     rapien mittels Vektoren in einem Mausmodell mit Dra-
     vet-Syndrom 18), Angelman Syndrom 19) und anderen
     genetischen Epilepsien.

         Zusammengefasst ist die Identifizierung der Ur-
     sache und damit der zugrundeliegenden Funktions-
     störungen der Epilepsien nicht nur entscheidend für
     Diagnose und Prognose, sondern auch die Vorausset-
     zung für einen möglichst individualisierten Thera-
     pieansatz.

     Für das Literaturverzeichnis verweisen wir auf
     unsere Online Version des Artikels.

     Autoren

     Dr. med. Judith Kröll, Sozialpädiatrisches Zentrum Konstanz
     Dr. med. Alexandre N. Datta, Abteilung Neuro- und Entwicklungspädiatrie, Universitätskinderspital beider
     Basel (UKBB), Basel und Consultant für die Firmen Neurocrine, Idorsia und Epilog und in Advisory Boards
     von Eisai und Idorsia

     Interessenkonflikt: 01-2021 Teilnahme an der online Arbeitskreistagung «Ketogene Ernahrungstherapie»
     der Fa. Nutricia; Interessenkonflikt: 02-2021 Teilnahme an einem online Advisory Board GWPharmaceuticals.

12                                                                             Vol. 32 | 3-2021
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