Heute vom Gleis gegenüber
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Gesellschaft Bahn-Chef Grube VERKEHR Heute vom Gleis gegenüber Das Verhältnis zwischen der Bahn und ihren Kunden ist geprägt von endlosen Pannen und ewig schlechter Laune. Doch muss das so sein? Eine Expedition ins Reich der falschen Weichenstellungen 48 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3
Gesellschaft s ist nicht ganz einfach, den Bahn- Na, läuft heute alles gut bei Ihnen, Frau Unpünktlichkeit, sagt Grube, beein- E Chef zu finden. Der Zug, ein schö- ner weißer ICE 3, fährt an diesem kalten Montagmorgen auf Gleis 8 ein und soundso? flusst alles. Bei Unpünktlichkeit ist für Seit fast vier Jahren steht Grube an der viele Bahnfahrer auch das Essen mies, Spitze der Deutschen Bahn. In diese Zeit das Personal unfreundlich, sind die Toi- verlässt den Hamburger Hauptbahnhof fielen zwei kalte, schneereiche Winter letten schmutzig. pünktlich um sechs Minuten nach acht mit „Bahnchaos“, ein Sommer mit „Hitze- Das Seltsame dabei ist: Pünktlichkeit Richtung Berlin. chaos“, in dem in vielen ICE die Klima- erwarten alle vor allem von der Bahn. Aber wo ist Rüdiger Grube? anlagen ausfielen, dazu die historische Mit dem Auto kommt man auch zu spät, Im Speisewagen, sagt er am Handy. Berliner S-Bahn-Krise, die noch immer aber dann ist man nicht unpünktlich – Leider hat der Zug zwei Speisewagen anhält, und die epische Schlacht um das sondern steht im Stau. Beim Fliegen gibt und fährt heute in „geänderter Wagen- unbeliebte Projekt Stuttgart 21. Alles ech- es oft Verspätungen, aber man bleibt reihung“. Kaum jemand weiß deshalb, te Stimmungskiller. meist gelassen. Dreißig Minuten? Na wo sich die erste Klasse befindet oder die Grube will die Bahn besser machen, und? Fliegen ist noch immer ein techni- zweite Klasse oder einer der beiden Spei- sagt er, effizienter und wirtschaftlich er- sches Zauberwerk, das kaum jemand be- sewagen. Vorn, Mitte, hinten? folgreich. Vor allem aber will er sie wie- greift. Bahn-Chef Grube weiß es auch nicht. der beliebter machen. Die Bahn soll ein Bahnfahren aber ist einfach. Ein paar Auf dem Bahnsteig sind Menschen zu „sympathisches Unternehmen“ sein. Die Schienen, da stellt man den Zug drauf, weit entfernten Zugabteilen gehetzt. In Leute sollen das Wort „Bahn“ gern aus- und Stau gibt es auch keinen. Hat schon den Gängen des ICE gibt es lange Wan- sprechen. Voller Zuneigung, Wertschät- im Wilden Westen funktioniert. derungen auf der Suche nach dem ge- zung und Wohlwollen. buchten Sitzplatz. Es gibt Gedränge, Ge- Tja. Das wird schwer. „Verspätungsursache 85, fluche, und über allem hängt, wie schwe- Jetzt kommt erst mal der Osterverkehr, Fremdeinwirkung“ res Parfum, das deutsche Bahngefühl – die Züge sind so voll wie sonst nur in der Beschäftigt man sich aber einmal genauer eine Mischung aus enttäuschter Liebe, Weihnachtszeit, und die Bahn wird alles mit der Bahn-Pünktlichkeit, dann merkt Unverständnis und Ärger. aufbringen, um Verspätungen, Zugausfäl- man, was für ein logistischer Wahnsinn Einige der Bahnfahrer werden sicher le oder Triebwagenschäden zu vermei- dahintersteckt. Und was für eine anfällige Beschwerdebriefe schreiben. Die Post den. Aber es wird wohl nicht reichen, da- Maschine. könnte später auf dem Schreibtisch von mit alle Bahnfahrer zufrieden sind. Für die Pünktlichkeit braucht man zu- Rüdiger Grube landen, im Bahntower in Es reicht ja nie ganz. nächst Leute, die Tag und Nacht auf Bild- Berlin, 25. Stock, und Grube wird sie wo- Als Grube den knurrigen Bahn-Chef schirme schauen. In einem Raum in Ber- möglich lesen. Es ist auch nicht ausge- Hartmut Mehdorn ablöste, konnte man lin-Pankow sitzen Männer in Halbkreisen schlossen, dass sich Grube in seinen roten, die Bahn, rein image- und gefühlsmäßig, an Schreibtischen. Vor jedem stehen acht ledernen Schreibstuhl zurücklehnt, den gut mit einer bösen Schwiegermutter ver- große Flachbildschirme, in zwei Reihen er von Hartmut Mehdorn übernommen gleichen. Das fand ein Psychologe über übereinander. Über die Monitore laufen hat, und den Briefeschreiber anruft. die Bahn heraus, und es klang erstaunlich rote, blaue und grüne Linien. Es ist still „Wir bekommen täglich mehrere tau- schlüssig. hier drin wie im Ruheabteil eines ICE. send Briefe und E-Mails“, sagt Grube. Grube glaubt, dass das Bild heute bes- Der Raum gehört zur Betriebszentrale „Jeden Tag beantworte ich mindestens ser ist. „Aber wir sind noch lange nicht Ost der Deutschen Bahn in Berlin, 357 ein Dutzend Briefe persönlich. Oder ich dort, wo ich uns gern hätte.“ Leute arbeiten hier, in drei Schichten, sie rufe an, drei bis fünf Kunden am Tag.“ Das Verhältnis zwischen den Deutschen überwachen die Linien auf den Bildschir- Bringt das denn was? und der Bahn ist kompliziert. Eine Hass- men: die roten sind Personenzüge, die „Ich hoffe, es spricht sich rum. Dass die liebe, und an diesem Morgen kann man blauen Güterzüge. Sie beobachten jeden Bahn sich kümmert.“ mit Grube über das deutsche Bahngefühl Zug, der durch den Nordosten Deutsch- Rüdiger Grube sitzt auf einer Leder- reden – diesen schwer zu fassenden, emo- lands fährt. Rund 4000 sind es täglich. bank im hinteren Speisewagen. Es ist tionalen Reizzustand. Es geht um die Frage, Auch der ICE aus Hamburg, in dem Rü- Viertel nach acht, aber Grube wirkt so warum der Kunde von der Bahn so oft ent- diger Grube sitzt. munter, als sei er schon seit Stunden auf täuscht ist. Von der Unpünktlichkeit, der Karsten Feske ist seit 38 Jahren bei der den Beinen, bereit, die Welt zu erobern. geänderten Wagenreihung, den fehlenden Bahn und leitet die Spätschicht in der Be- Sagt man jetzt zu ihm: „Guten Morgen, Zügen, den irren Bahnsteiganzeigen, den triebszentrale. Alle vier Stunden erfährt wie geht es Ihnen?“, dann sagt Grube: Toiletten, den Preisen, der Unternehmens- er, wie es gerade läuft in seinem Bereich. „Ich war heute Morgen schon joggen. 7,4 politik. Was erzählt das über die Bahn? Pünktlichkeitsmäßig. Feske klickt auf die Kilometer, einmal um die Alster.“ Und was über uns, die Bahnfahrer? Auswertung von zwölf Uhr: 82 Prozent Rüdiger Grube ist ein älterer Herr, 61 Die Zugfahrt mit dem Bahn-Chef dau- im Fernverkehr. Jahre alt, wird aber umweht von einer ert eine Stunde und 40 Minuten. Die Stre- Was für ein mieser Wert, denkt man. starken Energiewolke. Er bestellt eine cke zwischen Hamburg und Berlin gehört „Ein richtig guter Wert“, sagt Feske. Tasse bitteren Bahnkaffee und spricht je- zu Grubes Lieblingsstrecken. Wegen der Der aktuelle Pünktlichkeits-Zielwert den Mitarbeiter der Bahn, der vorbei- Schnelligkeit. Die Bahn schlägt hier zeit- der Bahn für den Fernverkehr liegt bei kommt, mit dem Namen an. mäßig das Auto und das Flugzeug. Wenn 80,1 Prozent. Das ist mehr oder weniger Grube liest die Namen blitzschnell von es keine Verspätungen gibt. das Machbare. den Namensschildern der Bahnuniformen „Die Leute ärgern sich am meisten über Der Pünktlichkeits-Zielwert der Bahn- ab. Es ist ein kleiner, wirkungsvoller Unpünktlichkeit“, sagt Grube. „Aber wir fahrer tendiert in Richtung 100 Prozent. Trick. Heute Morgen ist Doktor Grube transportieren an einem Tag rund 7,3 Mil- Das ist die Wunschvorstellung. persönlich heruntergestiegen. Von ganz lionen Menschen. Wenn da nur bei einem Meist siegt die Realität. 39 000 Züge CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL oben aus dem Bahntower. Der Herrscher Prozent Unpünktlichkeit entsteht, dann fahren täglich durch Deutschland. Nicht über das Bahnreich – über 34 000 Kilo- sind gleich 73 000 Menschen betroffen. alle gehören zur Deutschen Bahn, aber meter deutsches Streckennetz, über 253 Verteilt man diese 73 000 gleichmäßig alle Schienen, auf denen sie fahren. Das ICE, rund 1500 Reisezugwagen und über über Deutschland, dann haben Sie jeden Netz der Bahn ist fast dreimal so lang 300 000 Konzernmitarbeiter in 130 Län- Tag einen Haufen schlechte Geschichten wie alle deutschen Autobahnen zusam- dern – sitzt hier im Speisewagen und sagt: über die Bahn.“ men. Schnelle ICE, langsame Regional- d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3 49
CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL Betriebszentrale der Deutschen Bahn in Berlin: Der Pünktlichkeits-Zielwert liegt bei 80,1 Prozent bahnen und Güterzüge – alle fahren über Der Streckenkontrolleur benachrichtig- samte Fahrplan auch berechnet. Dass dieselben Gleise. te die Bundespolizei, dann, um 11.30 Uhr, aber der Winter kommt und die Züge Wenn sich ein Zug verspätet, kommt es die Leitzentrale in Berlin. Der Diebstahl manchmal nur 200 fahren, das ist im Fahr- zu Folgeverspätungen, wenn irgendein bekommt jetzt einen Namen und eine plan nicht vorgesehen. Bei der Bahn ist Zug im Bahnhof auf den Anschluss wartet, Nummer: „Störfall 59, Verspätungsursa- immer Sommer. verteilt sich der Ärger weiter ins Bahnnetz. che 85, Fremdeinwirkung.“ Dann gibt es natürlich noch die rund Feskes Schicht beginnt heute mit einem Feske sperrt die Strecke für drei Stun- 800 Baustellen, die Verspätungen verur- toten Hund auf den Gleisen bei Rostock. den: 13.22 bis 16.25 Uhr. Feske organisiert sachen. Dazu die fehlenden Überholglei- Und mit Kupferdieben. einen Reparaturtrupp von der Bahn-Ab- se und Weichenheizungen – eingespart Wo ein Hund ist, tot oder lebendig, teilung für „Entstörung/Technik“, der so- unter Bahn-Chef Hartmut Mehdorn. könnte auch ein Hundehalter sein. Also fort ausrückt: elf Leute. Feske bestellt ei- Und die Suizide, sagt Grube. Er zieht müssen die Züge langsamer fahren. Zwi- nen „Busnotverkehr“ bei der Firma Re- im Speisewagen einen weißen Ordner schen Rademin und Salzwedel wurden gionalbus Braunschweig GmbH, zwei aus der Aktentasche und schlägt eine Sta- an den Strommasten die Kupferkabel ge- Busse sollen auf der Strecke pendeln. tistik auf. Vor kurzem waren es 25 Selbst- stohlen. Karsten Feske entscheidet, dass Um 16.21 Uhr hebt Feske die Strecken- morde pro Woche. Fast alle im Fern- die Strecke gesperrt wird. sperrung auf. Es dauert eine Stunde, bis verkehr. Nach einem Suizid wird die Stre- Rademin ist ein kleines Nest in Sach- die Züge wieder fahrplanmäßig fahren. cke gesperrt. Die Polizei wird gerufen, sen-Anhalt, rund 250 Einwohner. Die Am Ende verursacht „Störfall 59“ ins- Ermittlungen müssen abgewartet werden. Kreisstadt Salzwedel, knapp 20 Kilometer gesamt 215 Verspätungsminuten, zehn Re- Der Zug steht. Der Lokführer darf nicht entfernt, ist ein etwas größeres Nest an gionalzüge und drei Güterzüge fallen aus. weiterfahren. Ein Kollege muss ein- der Grenze zu Niedersachsen. Dazwi- Man sitzt hier bei Karsten Feske in der springen. schen fahren auf einer eingleisigen Stre- Leitzentrale und begreift eine schlichte Grube klappt den weißen Ordner zu. cke Regional- und Güterzüge. Vorwie- Wahrheit: Die Gleise kleben nicht auf einer Der ICE rauscht ruhig Richtung Berlin. gend Provinzverkehr also. Nur ein win- Modelleisenbahnplatte. Man kann nicht 34 Im Gesicht hat Grube eine erstaunliche ziger Abschnitt im riesigen Bahnreich. 000 Kilometer bewachen, vor Hunden, Die- Ähnlichkeit mit Ottmar Hitzfeld, dem Aber Feske muss reagieren. ben. Oder vor den Jahreszeiten. Was man immer etwas magensauren ehemaligen Bei einer Streckeninspektion bei Rade- allerdings tun könnte, ist besser planen. Trainer des FC Bayern München. min hatte ein Bahnmitarbeiter festgestellt, Der Himmel vor Feskes Fenster ist grau, Er schlafe nie viel, sagt Grube. Der Tag dass auf etwa drei Kilometer die „Mast- draußen sind ein paar Grad unter null, beginnt um sechs und endet nach Mitter- erden“ fehlen. Das sind Kupferkabel, die auf den Straßen liegt Schneematsch. nacht, wenn er zu Hause die Post durch- eine feste Verbindung zwischen Strom- Ganz normales deutsches Winterwetter. schaut. Seine Ehe hat das nicht überstan- mast und Erdreich herstellen sollen. Ohne „Außergewöhnliche Witterungsverhält- den. Zurzeit ist er mit der Fernsehköchin Masterden kann es zu Kurzschlüssen nisse“, heißt es bei der Bahn. So steht es Cornelia Poletto liiert, die er in einer Talk- kommen, die Stromversorgung der Ober- auf einer Weisung, die auf Feskes Schreib- show kennenlernte. Er müsse an seiner leitung kann gestört werden. Die Diebe tisch liegt. Die Züge dürfen heute nicht „Work-Life-Balance“ arbeiten, sagt Gru- stahlen 50 Masterden, 20 Schienenverbin- schneller als 200 Kilometer pro Stunde be. Es klingt wie ein Fahrplan. der, 20 Weichenerden – insgesamt 400 Ki- fahren. Eis könnte an den Wagen haften, Um die Pünktlichkeit zu erhöhen, sagt logramm Kupfer. Ein ordentlicher Beute- Schotter hochgewirbelt werden, etwas ka- Grube, hätte er gern mehr Züge. Im Mo- zug. Der Preis für eine Tonne Kupfer liegt puttmachen. ICE fahren sonst bis zu 300 ment stehen der Bahn 253 ICE zur Verfü- zurzeit bei 6000 Euro. Kilometer pro Stunde, und so ist der ge- gung. Aber die modernen Züge sind, ähn- 50 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3
Gesellschaft lich wie Rennpferde, sehr anfällig. Es fehlt den Klimaanlagen, den Bremsen, dem Sicherheit hohe Anforderungen“, das sagt an einer Reserve, sagt Grube. Wasserabfluss im Bordrestaurant. Sie- Gerald Hörster, Präsident des Amtes. Warum kauft er dann keine neuen mens verschob die Lieferung um ein Jahr Brockmeyer, der Siemens-Ingenieur, Züge? „Haben wir ja“, sagt Grube. „Vor auf den Dezember 2012. Peter Löscher, sagt: „Wir haben Testfahrten gemacht. fünf Jahren bereits.“ Aber sie wurden bis der Vorstandsvorsitzende von Siemens, 250 000 Kilometer mit diesem Zug. Und heute nicht geliefert. gab Grube sein Wort. Aber bis heute hat die Lokführer konnten sehr gut damit um- Es lief so: Im Dezember 2008 bestellte Grube keine Züge. gehen.“ 250 000 Kilometer – das ist mehr die Bahn bei Siemens 15 Züge vom Typ „Wir wollten den Auftrag unbedingt ha- als sechsmal um die Erde. Velaro D. Gesamtwert: 495 Millionen ben. Aber wir haben uns wohl über- Aber es reichte nicht. Ein Gutachter Euro. Der Velaro ist ein Hochgeschwin- schätzt“, sagt Ansgar Brockmeyer. denkt in Wahrscheinlichkeiten. Im Un- digkeitszug, 320 Stundenkilometer schnell. Er sitzt im Siemens-Werk in Krefeld an glücksfall kann er für seine Entscheidung Er besteht aus über 40 000 Einzelteilen, einem Konferenztisch. Brockmeyer ist sogar strafrechtlich belangt werden. Das die Aluminiumhülle wird von rund 18 Kilo- mindestens zwei Meter groß, ein Inge- macht einen Gutachter mitunter sehr vor- meter Schweißnähten zusammengehalten. nieur mit der Statur eines Football-Spie- sichtig. Er fordert immer neue Unterlagen Allein die Software für das Zugsteuergerät lers. Die Geschichte des Zuges, die Brock- an, immer neue Sicherheitsnachweise. enthält mehr als zwei Millionen Zeilen meyer erzählt, ist wahnsinnig kompliziert. Es heißt, beim Eisenbahn-Bundesamt Programmcode. Die „Apollo 11“-Mond- Man kann in deutschen und europäischen gebe es nur sechs Leute, die Hochge- kapsel kam noch mit einigen 10 000 Zeilen Zulassungsvorschriften versinken wie in schwindigkeitszüge zulassen dürfen. aus. Der Velaro D, was klingt wie eine Treibsand. Grob vereinfacht ausgedrückt, Brockmeyer hatte vielleicht das Pech, an Schmerztablette, ist ein techni- einen Gutachter zu geraten, sches Wunderwerk. der zum ersten Mal einen Vor allem aber soll der Velaro Hochgeschwindigkeitszug zu- D ein Zug für Europa sein: der ließ. Brockmeyer spricht vom erste Hochgeschwindigkeitszug, „subjektiven Element“, und es der für Fahrten in mehreren klingt nach einer Sache, die Ländern tauglich ist. Ein Zug, nicht vorauszusehen war. Nach der von Deutschland bis nach Schicksal irgendwie. Marseille fahren kann. Oder ei- Fast alle Züge, die auf der nes Tages sogar durch den Eu- Welt im Einsatz sind, fahren rotunnel bis London. mit einer Bremsverzögerung, Im Moment fährt er gar nicht. sagt Brockmeyer. Beim Velaro Der Velaro ist ein Pannenzug. war das plötzlich ein Pro- Früher, als es den ICE noch blem. Möglich, dass ein ande- nicht gab, fuhr der Lokführer rer Gutachter die Bremse an- auf Sicht. Heute, da die Züge ders eingeschätzt hätte. schneller als 160 Kilometer pro Vielleicht war das Unglück Stunde fahren, reicht „Sicht“ von Eschede eine Art Wende- nicht aus. Man braucht Signal- punkt für die Gutachter des technik an der Strecke. Eisenbahn-Bundesamtes. Am Leider hat fast jedes europäi- 3. Juni 1998 zerschellte ein ICE CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL sche Land eine eigene Signal- an einem Brückenpfeiler. 101 technik. Ein Zug wie der Vela- Menschen starben. Wegen ei- ro D muss deshalb viele euro- nes Radreifenbruchs. Seit die- päische Signalsysteme erken- sem Tag stellt sich die Frage nen können. Vorn an der Lok, der Haftung noch dringlicher unter dem Triebkopf, und auf als früher. dem Dach sind deshalb An- Bahnreisende in Berlin: Falsch herum ins Nachtlager Für den Gutachter reicht heu- tennen angebracht, die die Si- te schon der Eindruck einer gnale aufnehmen. Innerhalb Deutsch- scheiterte man am Ende aber am Eisen- „abstrakten Gefahr“, um die Zulassung zu lands kommt der ICE noch mit 6 Anten- bahn-Bundesamt und den Bremsen. An verweigern. Könnte es eine Gefahr geben? nen aus. Dem „europäischen“ Velaro D 1,6 Sekunden. Und: Welche Belege hat der Zughersteller wurden 27 Antennen eingebaut. Das Hauptproblem des Velaro war die dafür, dass kein Unfall passieren kann? Die unterschiedlichen Signaltechnik- Bremsanlage. Der Velaro D hat drei ver- Aber das ist nicht mehr Brockmeyers systeme stammen von drei verschiedenen schiedene Bremsen. Bevor der Zug bremst, Problem. Er wird den Velaro D nicht wei- Herstellern. Also müssen Absprachen prüft er, welche davon er einsetzt. Im Zug terbauen. Seit kurzem wird für Brock- zwischen den Firmen Siemens, Bombar- ist dafür ein Rechner eingebaut, der eine meyer bei Siemens eine „neue Verwen- dier und Alstom getroffen werden, damit Plausibilitätsprüfung vornimmt. Die Prü- dung“ gesucht. die Geräte kompatibel sind. Eine Soft- fung führt zu einer Bremsverzögerung von Andere Ingenieure ringen jetzt darum, ware muss geschrieben, im Labor und im bis zu 1,6 Sekunden. Dem Eisenbahn- die Zeitspanne der Bremswirkung zu ver- Zug getestet und schließlich durch einen Bundesamt, das über die Zulassung des kürzen. Von 1,6 auf 0,6 Sekunden. Das Gutachter geprüft werden. Das heißt: Zuges entscheidet, war das zu lang. ist der Wert, der bislang für den ICE 3 zwei Jahre Entwicklungsaufwand. Das Eisenbahn-Bundesamt hat seinen galt. 0,6 Sekunden. Vielleicht reicht das. Sitz in Bonn. Ein Klotz aus grauem Beton, Sie werden bei Siemens wieder die Die Zukunft scheitert vorerst in dem 300 Leute arbeiten. Natürlich weiß Software ändern, Monate ziehen ins an 1,6 Sekunden man hier, dass jeder Lokführer es durch Land, und am Ende steht der Velaro D Ende 2011 sollte Siemens die ersten Züge Erfahrung ausgleichen kann, wenn eine vor einem neuen Gutachter und vor dem liefern. Aber bald war klar, dass der Zeit- Bremse verzögert reagiert. Die Frage ist Eisenbahn-Bundesamt. plan unrealistisch war. Zulieferer hielten nur: Wie sicher ist das? „Gerade der Hoch- Die ganze Geschichte des Superzuges Termine nicht ein, es gab Probleme mit geschwindigkeitsverkehr stellt an die Velaro D ist ein Wirrwarr aus Über- d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3 51
Gesellschaft forderung (Siemens), schlechter Zeitpla- einen Sparpreis, den es je nach Strecke Berlin. Leuschel ist 65 Jahre alt. Die Rei- nung (Bahn) und einer reformbedürfti- ab 29 Euro gibt. Dadurch liege der durch- sekommunikation ist seine letzte große gen Zulassungsbehörde (Eisenbahn-Bun- schnittliche Ticketpreis nur bei der Hälfte Aufgabe. desamt). Am Ende aber bleibt alles im- des Normalpreises. Leuschels Erklärung zum Thema „ge- mer nur an einem hängen: dem Bahn- In den vergangenen Monaten fiel zu- änderte Wagenreihung“ beginnt an der Chef. mindest das große Winterchaos aus. Da- Gare de Lyon in Paris, streift die Dampf- Rüdiger Grube sucht deshalb oft nach für kam das Thema „Stuttgart 21“ zurück. lokgeschichte, die Intercity-Reform der Stimmungsaufhellern. Heute Morgen, Das Projekt wird zwei Milliarden Euro Bahn aus dem Jahr 1979, Hochgeschwin- beim Zeitungslesen, wurde er fündig. teurer als bei Baubeginn geplant, es kos- digkeitszüge in China, die Logistik des Er habe sich, sagt Grube, sogar richtig tet jetzt mindestens 6,5 Milliarden Euro, Hamburger Hafens. Man notiert sich gefreut. Im Wirtschaftsteil sah Grube eine der Eröffnungstermin liegt bestenfalls ir- Sätze wie: „Der Kölner Hauptbahnhof neue Rangliste. Es wurden darin diejeni- gendwo im Jahr 2022. ist der Nullpunkt des europäischen Zug- gen Unternehmen aufgeführt, über die Grube holt kurz Luft. „Ich wundere verkehrs.“ 2012 besonders negativ oder positiv be- mich, dass Deutschland nicht wenigstens Leuschels Stimme schwingt durch die richtet wurde. Und? ein bisschen stolz ist auf die Bahn.“ Er DB Lounge im Berliner Hauptbahnhof. „Wir kamen nicht vor“, sagt Grube. We- sitzt im Speisewagen Richtung Berlin wie Leuschel sagt, übersetzt: In Deutschland der positiv noch negativ? ein abgewiesener Liebhaber. gibt es viele Kopfbahnhöfe. Hält ein Zug „Nein. Gar nicht. Gut, oder? Wir waren Man möchte Grube jetzt gern, zur Auf- an einem Kopfbahnhof, ändert sich seine ja sonst auf Platz eins, negativ gesehen.“ munterung, eine einfache Frage stellen. Fahrtrichtung – das ist eingeplant. Grube schaut wie jemand, Fällt der Halt aber aus, weil der gelobt werden will. Die der Zug verspätet ist oder um- Bahn ist jetzt neutral, könnte geleitet werden muss, fährt die- die Rangliste bedeuten. Unauf- ser Zug den Rest der Strecke fällig. Noch immer nicht be- falsch herum. Ein Zug, der am liebt, aber auf dem Weg nach Abend falsch herum ins Nacht- oben, weil man ja von ganz un- lager fährt, fährt am Morgen ten kommt. auch falsch herum raus. Grube hat auch drei große Es sei denn, jemand dreht Ziele. Sie klingen phantastisch, mit dem Zug wie mit einem in jeder Hinsicht. „Wir wollen Hund eine kleine Extrarunde. profitabler Marktführer sein. In Hamburg dauert eine „Dreh- Wir wollen Umweltvorreiter fahrt“ pro Zug aber eineinhalb werden. Wir wollen einer der Stunden. Top-10-Arbeitgeber sein. Ver- Die Wagenreihung ändert gangenes Jahr waren wir das sich auch, wenn Züge oder Tei- Unternehmen mit den meisten le eines Zugs kaputt sind und Einstellungen!“, sagt Grube. ausgetauscht werden müssen. Er ruft es fast. Das passiert etwa achtzigmal Dazu kommt noch der Fahr- am Tag. gastrekord im Jahr 2012. Rund Man könnte das Durcheinan- CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL „zwei Milliarden Zugreisende“, der durch Drehfahrten wieder ruft Grube, außerdem der „Re- korrigieren. Aber dazu brauch- kordgewinn“ der Bahn AG mit te man einen geeigneten End- 1,5 Milliarden Euro. bahnhof, wo das möglich ist, Das ist Grubes frohe Bot- ausreichend Zeit bis zum schaft. nächsten Einsatz des Zuges, Aber es ist nicht sicher, ob Abteil-Reinigungskraft im ICE: „Bleiben Sie ein Freund der Bahn“ eine freie Strecke für die Dreh- sie im Land ankommt. Den fahrt und zusätzliches Personal. Bahnfahrer interessieren keine Unterneh- Irgendwas, wo Grube sagen kann: Das lö- An irgendeiner dieser vier Vorausset- mensziele. Und viel Gewinn macht miss- sen wir ganz leicht. Zum Beispiel die Sa- zungen fehlt es dann oft. Und so fährt trauisch. Weil sich die Frage anschließt, che mit der geänderten Wagenreihung. auch Grubes Zug, der ICE 1709, in einer warum trotz der 1,5 Milliarden Euro im Warum gab es heute in Hamburg wieder Wagenreihung, die den Bahnfahrer dazu Dezember wieder die Bahnpreise erhöht so ein Durcheinander? zwingt, sich selbst zurechtzufinden und wurden. Die Fahrkarten sind jetzt im „Falsche Wagenreihung, das ist ein The- seinen Sitzplatz zu suchen wie ein ver- Schnitt 2,8 Prozent teurer. ma, das wir oben auf unserer Agenda ha- stecktes Osterei. Als Ende 2004 die Schnellverbindung ben“, sagt Grube. Die Reisekommunika- Das wäre kein großes Problem, gäbe zwischen Hamburg und Berlin eröffnet tion müsse verbessert werden. Bis 2014 es Informationen. Dafür sind die Anzei- wurde, kostete das normale Zweite-Klas- wolle man Lösungen finden. gen und Durchsagen auf dem Bahnsteig se-Ticket noch 55 Euro. Heute sind es 76 Bis 2014. Wahnsinn. da. Und hier kommt wieder Ingulf Leu- Euro. Für weniger Geld kann man, mit schel ins Spiel. Der Informationschef. Glück, gleich fünfmal so weit fliegen: Bei Das Geheimnis der „umgekehrten Er läuft durch den Berliner Hauptbahn- Easyjet kostet ein Flug von Berlin nach Wagenreihung“ hof, um zu zeigen, wie weit sie schon Barcelona 74,99 Euro. Für die Reisekommunikation ist Ingulf sind. An Gleis 8, wo die Züge nach Ham- Die Bahn sagt dazu: Die Kosten für Leuschel zuständig. Ein Mann mit zer- burg abfahren, bleibt Leuschel unter dem Energie und Personal sind gestiegen. Die furchtem Gesicht, seit 47 Jahren bei der blauen Anzeigekasten stehen – der Bahn sagt: Es gebe bei den Preisen leider Bahn. Leuschels erster Job war Fahrkar- „Fahrgastinformationsanlage“. Leuschel ein „Wahrnehmungsproblem“. tenverkäufer in Hamburg-Altona. Später zeigt auf eine „Innovation“: Das weiße Die Hälfte aller Bahnfahrer habe eine ging er für die Bahn nach New York. Seit Band, das oben durch die Anzeige läuft. BahnCard. Und ein Drittel besorge sich sieben Jahren ist er der Bahn-Chef von Da können wir reinschreiben, was wir 52 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3
KARSTEN SCHÖNE / DER SPIEGEL 3-D-Simulation von Sanitäranlagen für den neuen Zug Velaro D bei Siemens in Krefeld: „Warum ist Deutschland nicht ein bisschen stolz?“ wollen, sagt Ingulf Leuschel. Informatio- Auch die Politik hat natürlich Ansprü- Dann fällt im Bordrestaurant wieder nen also. che. Jeder Landtagsabgeordnete würde die Kühlung aus, und ein Speisewagen- Zurzeit steht dort: „Zug fällt aus – etwa am liebsten einen ICE-Halt in der Provinz mitarbeiter zieht mit einem wackligen 60 Minuten später – Zug fällt aus“. Leu- durchsetzen – weil Bahnfahrer auch Wäh- Wagen voller Schokoriegel und Pump- schel starrt auf das Band. Dann macht er ler sind. So kommt es, dass Schnellzüge kannen mit Kaffee durch die Zugabteile. hektisch ein paar Anrufe. Was soll der in Orten wie Verden (Aller), Riesa oder Aber was ist überhaupt ein realistischer Unsinn?!, ruft er ins Handy. Neustrelitz halten. Das Rührei jedenfalls Anspruch an die Bahn? Wie sähe ein Bild Noch schlimmer ist eigentlich nur die ist wieder da. Es ist nur ein Beispiel, aber der Bahn aus, auf das sich Bahnfahrer Häppchen-Information. Ein Zug hat Ver- es zeigt, was die Kunden heute von der und Bahn einigen könnten? spätung, und die Anzeige zeigt: „Zug Bahn erwarten. Wie eine Anspruchshal- Grube antwortet lange. Es ist eine fährt 20 Minuten später“. Anschließend tung wächst. Wer sitzt in einem Flugzeug Rede, in der Pünktlichkeits-Zielwerte, der werden „40 Minuten später“ angezeigt, der Lufthansa und ruft: „Rührei!“? Buntmetalldiebstahl und eine Flugreise dann „60 Minuten später“ und kurz dar- Die Eier im Speisewagen stammen so- nach Hongkong auftauchen. Grube weiß auf: „Zug fällt aus“. gar aus Bodenhaltung. Jetzt, im März, es also auch nicht. Momentan arbeitet Ingulf Leuschel gibt es neue Gerichte, die sich der Fern- In seinem Büro im Bahntower hängt an einem Wort. Er zeigt wieder auf die sehkoch Horst Lichter ausgedacht hat. ein gerahmtes „Leitbild“ der Deutschen Fahrgastinformationsanlage. Dort unten Alles schön bio. Die Zulieferer der Bahn Bahn, eine Eigendefinition. Das Leitbild rechts, vor dem kleinen Zugsymbol, das sollen auch ohne Konservierungsstoffe beginnt mit einer Frage: „Wer sind wir?“ die Wagenreihung anzeigt, soll das Wort kochen, vor drei Jahren hatte sich die Aus Sicht der meisten Bahnfahrer lau- „Heute“ erscheinen. Leuschel möchte, Verbraucherorganisation Foodwatch be- tet die Antwort vermutlich: unsere schö- dass der Kunde erkennen kann, dass es schwert. Seitdem steckt in den Speise- ne deutsche Eisenbahn. Ein zuverlässiges sich um die aktuelle Wagenreihung han- karten im Bordrestaurant die Broschüre Transportmittel. delt. „Zutaten und Allergene des aktuellen Aus Sicht der Bahn war man jahrzehn- „Noch in diesem Jahr könnte es so weit Speiseangebots“. Die Apfelschorle telang ein Staatsbetrieb mit Beamten. sein“, sagt Leuschel. Könnte. Das klingt kommt von einem kirchlichen Unterneh- Dann kam 1994 die Bahnreform, die Bahn nach Monaten, vielen Monaten. men, das seine Gewinne spendet. Den wurde privatisiert. Sie ist heute eine Ak- Die Deutsche Bahn ist die Nummer Wein hat das Deutsche Weininstitut mit- tiengesellschaft und kein Staatsbetrieb eins in Europa, hat Rüdiger Grube gesagt. ausgesucht. Es gibt, selbstverständlich, mehr, aber irgendwie doch, weil der Staat Gleichzeitig beißen sie sich an dem Wort nur deutschen Wein. Schon wegen der der alleinige Eigentümer ist. „Heute“ ewig die Zähne aus. Umweltbilanz. Eine Zeitlang sollte die Bahn dann an Die Bahn beschäftigt 2500 Leute in den die Börse gehen. Es gab Entlassungen und Die Eier im Speisewagen stammen Speisewagen, 500 in der Logistik. Ware Einsparungen, mehr als 7500 Kilometer aus Bodenhaltung muss rangeschafft werden, Kühlketten Bahnstrecken wurden abgebaut und Tau- Vor einiger Zeit, erzählt Rüdiger Grube, dürfen nicht unterbrochen werden. Am sende Kilometer von Überholgleisen, au- schaffte die Bahn im Speisewagen das Ende isst aber nur ein Prozent aller Rei- ßerdem Weichen und Servicepersonal. morgendliche Rührei ab. Man strich das senden ein Hauptgericht. Heute ist „Börse“ ein verbotenes Wort, Ei von der Karte. Anschließend brach ein Beim Speisewagen geht es vor allem und es gibt wieder Einstellungen und In- Sturm der Entrüstung los, auf Grubes um die Möglichkeit. Darum, unser Bild vestitionen ins Schienennetz, in Bahnhö- Schreibtisch sammelten sich die Protest- von Service und Komfort zu befriedigen. fe und Züge. Eine Zeitlang, während der briefe. Und manchmal erstickt die Bahn daran. Mehdorn-Jahre, wollte man die traditio- d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3 53
Gesellschaft die das gereizte Bahngefühl entspannen sollen. So wie auch das Rührei, die neuen Superzüge, die irgendwann kommen sol- len oder das Wort „Heute“ in den Anzei- genkästen. Der Zug hält in Berlin-Spandau. Rüdi- ger Grube, der Bahn-Chef, steckt den wei- ßen Ordner in die Aktentasche, greift nach seinem Mantel. Kurz darauf, am Hauptbahnhof, steigt Grube aus, und ein kleiner Wettlauf beginnt. Mit Riesen- schritten nimmt Grube die Treppenstufen, immer zwei auf einmal. Er hetzt durch den gläsernen Bahnhof vom Unterge- schoss bis ins Obergeschoss, wo die S- Bahn fährt. Der Bodyguard und der Pres- sesprecher sind abgehängt. Rüdiger Gru- be ist für einen Moment ganz allein, der König durchschreitet sein Reich. Als er in seinem Büro im Bahntower am Potsdamer Platz ankommt, lässt sich CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL Grube in seinen knallroten Ledersessel fallen, schaut auf einen Stapel mit Be- schwerdebriefen und E-Mails und sagt: „So, wen rufe ich an?“ Die Bahn hat natürlich Leute, die den millionenfachen Bahnärger dämpfen sol- Glasdach des Berliner Hauptbahnhofs: „Wer sind wir?“ len. Ein Wutzentrum. Es heißt „DB Dia- log“ und beschäftigt 1400 Mitarbeiter, die nelle Rolle als „Eisenbahn“ am liebsten ausfallen. So, wie sah das in der vergan- auch auf Facebook und Twitter aktiv sind. loswerden und nur ein Global Player sein, genen Woche aus?“, sagt Grube und Zwölf Millionen „Kundenkontakte“ kom- ein Logistik-Riese. Heute, sagt Grube, schaut durch die Klo-Tabellen. „Knapp men im Jahr zustande. Allein 1,2 Millio- müsse man sich wieder auf das „Brot-und zwei Prozent Ausfälle. Guter Wert.“ nen Mal geht es dabei um „Fahrgastrech- Butter-Geschäft“ konzentrieren. Schwer zu sagen, wie man bei der te“ – Entschädigungen für stark verspä- Grube war früher Verwaltungsratschef Bahn ausgerechnet auf den Richtwert von tete Züge. beim Airbus-Mutterkonzern EADS. Er drei Prozent Toilettenausfälle kam. Sie Am besten ist es aber immer noch, war Vorstandsmitglied bei Daimler. Aber haben aber auch eine Arbeitsgruppe ge- wenn der Chef anruft. Glaubt Onkel die Bahn ist vermutlich das am schwie- bildet, bestehend aus fünf Fachleuten für Grube. rigsten zu führende deutsche Unter- Technik und Instandsetzung. Intern heißt „Nicht durchstellen lassen, sondern nehmen. die Gruppe: „Soko Klo“. Sie soll die Toi- gleich selbst am Apparat sein. Das ist Am 7. Dezember 1835, um neun Uhr, lettensituation verbessern. ganz wichtig“, sagt Grube. fuhr der erste deutsche Eisenbahnzug zwi- Die Soko-Leute haben Formeln für alle Er wählt eine Nummer. Ein Hotel- schen Nürnberg und Fürth. Eine Strecke möglichen Probleme; was sich berechnen besitzer hat sich beschwert. „Hallo, hier von 6,1 Kilometern. Höchstgeschwindig- lässt, lässt sich auch lösen. Die Frisch- ist Rüdiger Grube von der Deutschen keit: 23 Kilometer pro Stunde. Was später wasser-Formel beispielsweise sieht so aus: Bahn.“ daraus wurde, ist nicht nur ein Unterneh- „Ja?“, sagt eine Frauenstimme. men, sondern eine Art deutsches Allge- ∑ni=1tanki „Ist denn der Chef zu sprechen?“, fragt meingut. Unsere Eisenbahn. RF = Sp Bahn-Chef Grube. „Nee, der hat Urlaub. * aF * wF * nK * vK Rufen Sie am besten in zwei Wochen wie- Die „Soko Klo“ soll die Toiletten- RF drückt die Reichweite des Frisch- der an. Wie war noch mal Ihr Name?“ situation verbessern wassers in Tagen aus, aF steht für „Aus- Grube versucht die Nummer eines an- Jeder hat eine Meinung zur Bahn, eine lastungsfaktor“, wF für „Wochentagsfak- deren Bahnkunden. Ein Mann hebt ab. persönliche Geschichte und oft eine er- tor“ und nK für „Nutzungskonstante“. Nach ein paar Minuten sagt Grube: „Ich höhte Erregungsbereitschaft. Alles, was Eine Menge Variablen für ein überschau- entschuldige mich bei Ihnen, dass Sie funktioniert bei der Bahn, ist normal. Al- bares Problem. nicht zufrieden sind. Ich kümmere mich les, was nicht funktioniert, ein Skandal. Was kann man sonst tun? Die Bahn persönlich um Ihre BahnCard. Ich habe Am Ende müssen im Fernverkehr nur hat den „Unterwegsreiniger“ eingeführt. nur eine Bitte: Bleiben Sie ein Freund der einige der 3300 Klimaanlagen ausfallen. Jemand, der den Müll einsammelt, die Deutschen Bahn, okay?“ Oder einige der 6000 Toiletten. Klos sauber macht. Sie haben über eine Hinter Grubes Kopf hängt das ge- Grube zieht wieder den weißen Zah- „Beduftung“ der Toiletten nachgedacht. rahmte Leitbild der Deutschen Bahn an lenordner aus der Aktentasche hervor. Vielleicht werden sie bald Putzprotokolle der Wand. Wer sind wir? „Wir überzeu- Toiletten sind ein Riesenthema, sagt Gru- an die Klo-Türen kleben, so wie auf der gen Kunden, Mitarbeiter und Eigen - be. Viele Bahnfahrer beschweren sich, Autobahnraststätte. Bei Siemens, wo die tümer.“ weil die Zugtoiletten schmutzig sind, ver- Zugtoiletten gebaut werden, laufen Tests, Rüdiger Grube nimmt die Briefe und stopft oder außer Betrieb. um die Spülkraft der Toiletten weiter zu legt sie auf einen kleinen Haufen. Wie „Wir schauen uns das in jeder Vor- verbessern. Man testet dort mit einem jemand, der tatsächlich ein Problem ge- standssitzung an“, sagt Grube. „Es dürfen, Gemisch aus Hundefutter und Senf. löst hat. das ist unsere Zielstellung, nicht mehr als Es wird wahrscheinlich alles nicht viel Sven Böll, Hauke Goos, rund drei Prozent Toiletten pro Woche bringen. Es sind Besserungsversprechen, Jochen-Martin Gutsch, Wiebke Hollersen 54 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 1 3
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