HIRSCHBERG - ErinnErung Macht Zukunft nD-kongress 2018 in Dresden - ND Christsein.Heute

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HIRSCHBERG - ErinnErung Macht Zukunft nD-kongress 2018 in Dresden - ND Christsein.Heute
HIRSCHBERG
ISSN 1432-8305 | Jahrgang 71 | Ausgabe 07/08 | Juli - August 2018

Erinnerung Macht Zukunft
ND-Kongress 2018 in Dresden

                                                                    www.nd-netz.de
EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Bundesgeschwister,

warum nicht das Elbpanorama auf dem Titel?
Nun, Dresden ist mehr als sein Postkartenmo-
tiv. Wie Deutschland nicht Neuschwanstein
ist. Es geht ums Ganze, oder zumindest um
viele Facetten davon, die seine Konturen erah-
nen lassen. Selbstverständlich nimmt ein ein-
wöchiger ND-Kongress in Dresden mehr wahr
als ein Stück Uferpromenade. Und, man mag
es bedauern oder nicht, die gegenwärtige Zeit
lässt sich weder an alten noch neuen Barock-
fassaden betrachten. Also den Blick weiten
und zugleich genauer auf Details schauen,
Überlieferungen und Erinnerungen einbezie-
hen, Schönes und Hässliches registrieren, die
Zeit, die Umgebung, darin sich selbst besser
erkennen. Vielleicht lässt sich Zukunft dann
so vorbereiten, dass nicht noch einmal aus
Trümmern Schönes aufgebaut werden muss.

398 | HIRSCHBERG 07-08/18
INHALT

 EDITORIAL | Martin Merz ………………………………………………………………… 398
 Geistliches Wort
 Erinnerung 2 | Offenbarung 21,1 – 5a …………………………………………………… 401
 Erdgeschichte
 Was Staub und Radioaktivität über Vergangenheit und Zukunft verraten |
	Gerd Weckwerth …………………………………………………………………………… 404
 menschengeschichte
 Die Friedliche Revolution in Dresden | Herbert Wagner………………………………… 410
 Versöhnung und Freiheit – Perspektiven für Europa | Helmut Renöckl………………… 416
 Wirtschaft macht
 Nach uns die Sintflut? | Bartosz Bartkowski……………………………………………… 428
 Wirtschaft ohne Wachstum? | Markus Grimm …………………………………………… 433
 Nachhaltige Mobilitätsentwicklung – soll das etwas Neues sein? | Udo J. Becker…… 439
 Politik macht
 Populistische Kontinuitäten | Josef Becker, Maren Behrensen …………………………                 446
 Gibt es in Deutschland eine Leitkultur, sollte es sie geben, mit welchen Inhalten? |
 Ludwig Hecke ………………………………………………………………………………                                            455
 »Unsere Heimat ist im Himmel« | Gregor Buß ……………………………………………                           461
 Nächstenliebe – ein politisches Programm? | Bernhard Laux ……………………………                  474
 Glaube erinnert zukunft
 Neue Politische Theologie: Identität aus Gotteserfahrung? | Johannes Sabel ………… 480
 Politische Theologie in Sachsen | Inga Schütte …………………………………………… 492
 Hoffnung und Sehnsucht in den abrahamitischen Religionen | Hubertus Staudacher… 494
 Glaube macht zukunft
 Die Gemeinschaft Sant'Egidio und der Friede | Matthias Leineweber………………… 498
 Psychiatrieseelsorge und christliches Menschenbild | Christina Kumpmann …………… 503
 Macht Kirche zukunft
	Zuversicht ohne Gott ist Realität | Eberhard Tiefensee ………………………………… 508
	Radikaler Perspektivenwechsel zum Neuanfang des Kirche-Seins | Richard Hartmann… 516
 Zukünftiges
 Anzeige: 90 Jahre ND und KSJ auf der Marienburg……………………………………… 524
 PapperlaPub – JugeND macht Zu(sammen)kunft ………………………………………… 525
 Jubiläums-ND-Kongress 2019……………………………………………………………… 526

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POLITIK MACHT

Populistische Kontinuitäten

Auf dem Bundeskongress des ND hatten             den kann (eine Frage, die unsere Studie weder
wir im Rahmen einer Podiumsdiskussion            beantworten kann noch will). Auf der anderen
zum Thema »Christen und der Rechtspopu-          Seite haben diejenigen Verunsicherungen, mit
lismus« die Gelegenheit, die am Institut für     denen die AfD Stimmung macht, auch inner-
Christliche Sozialwissenschaften an der Uni-     halb vieler Kirchengemeinden eine Wirkung.
versität in Münster angefertigte Studie zum      So erregen zum Beispiel Meldungen über die
Vergleich von Katholischer Soziallehre und       ›weltanschaulich neutrale‹ Umbenennung
AfD-Programmatik vorzustellen.1 Die Studie       christlicher Feste in Schulen und Kindertages-
belegt grundlegende Differenzen sowohl auf       stätten Besorgnis bei Menschen, die eigentlich
der Ebene einzelner Politikfelder (Migration,    den Politikstil der AfD ablehnen würden.
Europa, Wirtschafts- und Sozialpolitik, öko-
logische Frage) als auch auf der Ebene der         »Die für die Katholische Soziallehre
zugrundeliegenden Weltanschauung. Die für          grundlegenden Prinzipien Personalität
die Katholische Soziallehre grundlegenden          und Solidarität kommen als Begriffe
Prinzipien Personalität und Solidarität kom-       im AfD-Programm gar nicht, das
men als Begriffe im AfD-Programm gar nicht,        Subsidiaritätsprinzip nur in polemischer
das Subsidiaritätsprinzip nur in polemischer       Abgrenzung zum EU-Zentralismus vor.«
Abgrenzung zum EU-Zentralismus vor. Auch
angesichts der fortschreitenden ›rechten           Josef Becker
Häutungen‹ der AfD kann über die funda-
                                                   Maren Behrensen
mentale Unvereinbarkeit auf inhaltlicher
Ebene kein Zweifel bestehen. Allerdings be-
deutet dies nicht, dass sich das katholische     Umgekehrt setzen viele rechte Bewegungen
Christentum der ›populistischen Versuchung‹      auf Strategien, die ihre Forderungen auch im
entziehen kann.                                  konservativen »Mainstream« anschlussfä-
                                                 hig machen sollen. »Gender« und »Lebens-
                                                 schutz« funktionieren inzwischen seit gut
Dies wurde uns bei der Vorstellung der Studie    zehn Jahren als Brückenthemen, mit denen
noch einmal besonders deutlich: Auf der einen    sich Populisten und Extremisten auch in
Seite scheinen diejenigen Katholik*innen, die    kirchlichen Kreisen Gehör verschaffen – ohne
durch das Erstarken der AfD verunsichert sind,   dabei nationalistisch oder »rechts« auftreten
die Frage umzutreiben, ob und wie man mit        zu müssen.2 Ähnliches gilt zunehmend auch
AfD-Mitgliedern in den eigenen Gemeinden re-     für die Themenfelder Flucht und Migration:

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Hier werden Positionen, die noch vor Jahren      in Princeton lehrende Politikwissenschaftler
oder Monaten allein von der AfD vertreten        Jan Werner Müller mit dem Essay »Was ist
wurden, inzwischen von der so oft beschwo-       Populismus?« vorgelegt. Er macht folgende
renen ›gesellschaftlichen Mitte‹ akzeptiert.     zentrale Merkmale von Populismus aus: Anti-
                                                 Establishment-Haltung, Antipluralismus und
  »Positionen, die noch vor Jahren oder          moralischer Alleinvertretungsanspruch des
  Monaten allein von der AfD vertreten           Volkes.3 Das Volk erscheint dabei als eine mit
  wurden, werden inzwischen von der so           einer homogenen Identität ausgestattete Grö-
  oft beschworenen ›gesellschaftlichen           ße mit einheitlichem Willen, den es zu erken-
  Mitte‹ akzeptiert.«                            nen und umzusetzen gelte. Worin die homo-
                                                 gene Identität bestehen soll, lässt sich trotz
Damit wird Populismus zu einem Problem,          Schlagwörtern wie »deutsche Leitkultur«
mit dem sich die Kirche auch intern ausein-      oder »christliches Abendland« nur via ini-
andersetzen muss – und dabei lässt sich das      mica bestimmen; sie basiert auf Abgrenzung
Phänomen Populismus nicht auf die AfD (und       nach außen und kann über religiöse (gegen
noch weiter rechts stehende Gruppierungen)       den Islam), kulturelle (gegen ›rückständige‹
beschränken. Populismus hat inzwischen           Kulturen oder ›Multikulti‹) oder gesellschafts-
eine gesellschaftliche Wirkungsmacht entwi-      politische (gegen die ›68er‹) Vehikel erfolgen.
ckelt, die Parteigrenzen weit überschreitet.     Eine besonders erfolgreiche Strategie ist da-
Diese These wollen wir im Folgenden näher        bei die Besetzung von Themen »mit hohem
erläutern.                                       Erregungspotenzial«4, verbunden mit einer
                                                 Rhetorik des ›gesunden Menschenverstands‹,
  Schwierigkeiten mit                            die die Forderung nach Maßnahmen im Sin-
dem Populismusbegriff                            ne des behaupteten ›Volkswillens‹ unterfüt-
                                                 tert. Dabei erinnert die Faszination für eine in
Das Problem mit dem Populismus ist sein          Erregung und Bewegung versetzte Masse an
diffuser Charakter. Weil er auf den ersten       faschistisches Denken5 – nicht grundlos sind
Blick nicht auf einer starken Weltanschau-       etwa Donald Trumps öffentliche Auftritte bei
ung basiert, ist er für unterschiedliche poli-   Massenveranstaltungen mit der Propaganda
tische Programmatiken anschlussfähig. Dass       der 1930er Jahre verglichen worden.
der Begriff eher (polemische oder wissen-
schaftliche) Fremdzuschreibung als Selbst-       Die AfD hat vorgeführt, wie mit Populismus
bezeichnung ist, macht die Abgrenzung des        Wahlerfolge erzielt werden können. Sie konn-
Phänomens ›Populismus‹ schwierig. Eine           te sich aber auch an einer Vielzahl an Vorbil-
vielbeachtete Begriffsbestimmung hat der         dern orientieren.

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POLITIK MACHT

Dazu zählen etwa die Schill-Partei (PRO)        die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen
in Hamburg und auf europäischer Ebene           die Leiterin der Behörde sowie fünf weitere
Parteien wie die FPÖ in Österreich oder der     Beschuldigte auf. Nach und nach wurde pu-
Front National in Frankreich. Hinzu kommt,      blik, dass sowohl in der Nürnberger Zentrale
dass die AfD auch an Begriffsbildungen          des BAMF wie auch im Bundesinnenminis-
anschließen kann, die von Vertretern des        terium Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in
demokratischen Parteienspektrums forciert       Bremen eingegangen waren. Schnell wurde
wurden: etwa die Debatten darüber, ob ›der      daraus ein bundesweiter »BAMF-Skandal«,
Islam‹ ›zu Deutschland gehört‹, was die         der entsprechendes Handeln des Bundes-
deutsche ›Leitkultur‹ sei, oder die von Horst   innenministeriums (Entlassung der BAMF-
Seehofer gebetsmühlenartig wiederholte          Chefin Jutta Cordt) wie auch des Bundestags
Warnung vor einer ›Zuwanderung in die           (Befragung der Beteiligten im Innenaus-
deutschen Sozialsysteme‹. In den aktuellen      schuss) nach sich zog. In Talkshows wurde
Entwicklungen sind diese populistischen         erörtert, wie es zum »Staatsversagen« (May-
Kontinuitäten in den öffentlichen Debatten      brit Illner vom 31. Mai 2018) habe kommen
wieder sehr deutlich zu beobachten, wie wir     können und ob es sich um einen »Einzelfall
an den folgenden Beispielen deutlich ma-        oder einen Systemfehler« (Anne Will vom
chen wollen.                                    27.05.2018) gehandelt habe.

  Die Diskussion um die                          »Mindestens ebenso wie die
Entscheidungspraxis in                           Aufklärung der Vorgänge in der
der Bremer BAMF-Außenstelle                      Bremer BAMF-Außenstelle muss
                                                 uns die Frage beschäftigen, wie aus
Ende April machten Meldungen über Tau-           einer Angelegenheit, die sich offenbar
sende falsch beschiedene Asylentscheide          nicht auf mehrere Tausend, sondern
in der Bremer Außenstelle des Bundesamts         einige Hundert Fälle beschränkt,
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die         ein bundespolitischer ›Skandal‹
Runde. Dabei hieß es, dass die im Vergleich      mit weitreichenden personellen
ungewöhnlich hohe Zahl positiver Beschei-        Konsequenzen werden konnte.«
de zwischen 2013 und 2016 auf von der
Bremer BAMF-Außenstellenleiterin angeord-       Mindestens ebenso wie die Aufklärung der
netes oder geduldetes Fehlverhalten bei der     Vorgänge in der Bremer BAMF-Außenstelle
Durchführung der Verfahren zurückzuführen       muss uns aber die Frage beschäftigen, wie
sei. Wegen »bandenmäßiger Verleitung zu         aus einer Angelegenheit, die sich offenbar
missbräuchlicher Asylantragstellung« nahm       nicht auf mehrere Tausend, sondern eini-

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ge Hundert Fälle beschränkt, ein bundes-          haupt integriert werden? Wie unsicher wird
politischer »Skandal« mit weitreichenden          Deutschland dadurch?« Maischberger lud
personellen Konsequenzen werden konnte.           am 06. Juni 2018 zur »Islamdebatte: Wo
Die tatsächlich bestehenden Missstände im         endet die Toleranz?« Zusammen mit Talkrun-
BAMF, wie etwa der massive Personalmangel         den bei Maybrit Illner und Anne Will zu den
und die Anstellung unqualifizierten Personals     Vorgängen in Bremen ergab sich das Bild ei-
(die zu extremen Wartezeiten und falsch ne-       ner – mindestens unglücklichen – einseitigen
gativ beschiedenen Anträgen beitrugen) wur-       Themenfokussierung. Auf die kritische Anfra-
den kaum thematisiert. Vielmehr schien es         ge eines Twitter-Users noch vor Ausstrahlung
so, als würde hier (›endlich‹) bestätigt, was     der Sendung reagierte die hart aber fair-Re-
über Stichworte wie »Asylmissbrauch« oder         daktion mit der Antwort: »Framing? Als Jour-
»Asyltourismus«,       »Wirtschaftsflüchtling«,   nalisten können wir mit diesem Begriff wenig
»Scheinasylant« oder »Zuwanderung in die          anfangen. Wir versuchen das, was Menschen
deutschen Sozialsysteme« seit über 30 Jah-        beschäftigt, so darzustellen, wie es ist.«6 Das
ren zwar nicht kritiklos hingenommener, aber      brachte ihr nicht nur Spott ein, sondern ent-
doch fester Bestandteil der politischen und       zündete auch eine Debatte über Framing in
gesellschaftlichen Diskussionen ist.              den Medien.

  Die Debatte um das Framing                        »Es macht sehr wohl einen
in Talkshows der                                    Unterschied, ob von einem ›BAMF-
öffentlich-rechtlichen Fernsehsender                Skandal‹ oder von Auffälligkeiten in
                                                    einer Behörde gesprochen wird und
Anfang Juni wurde zunächst in den Sozialen          ob von ›dem Islam‹ ausschließlich im
Medien (Twitter) massive Kritik an der The-         Zusammenhang mit Gewalt und Terror
menwahl und Besetzung der großen Talk-              gesprochen wird oder auch in anderen
shows der öffentlich-rechtlichen Fernsehsen-        Zusammenhängen.«
der (hart aber fair, Anne Will, Maybrit Illner
und Maischberger) laut. In kurzer Folge hat-      Der Begriff Framing wird in den Kulturwis-
ten alle vier die Themen Zuwanderung, Asyl,       senschaften verwendet.7 Mit Frame wird
Islam auf die Tagesordnung gesetzt. Bei hart      ein kognitiver Zusammenhang benannt, der
aber fair wurde am 04. Juni 2018 über die-        durch die Anordnung von Begriffen erzeugt
ses Thema diskutiert: »Junge Männer, geflo-       wird. Je häufiger diese Begriffe zusammen
hen aus Krieg und archaischen Gesellschaf-        aufgerufen werden, desto nachhaltiger wer-
ten – für viele hierzulande Grund zu Sorge        den sie im Denken verankert. Das bedeutet
und Angst. Können solche Flüchtlinge über-        auch, dass mit bewusstem oder unbewuss-

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POLITIK MACHT

tem Framing Einfluss auf politische Debat-       in seiner Gänze zu kennen. Das, was bisher
ten genommen werden kann. Es macht also          bekannt geworden ist, scheint mit geltenden
sehr wohl einen Unterschied, ob von einem        asyl-, verfassungs- und europarechtlichen
»BAMF-Skandal« oder von Auffälligkeiten in       Bestimmungen kaum vereinbar zu sein.
einer Behörde gesprochen wird und ob von
»dem Islam« ausschließlich im Zusammen-            »Inhaltlich und stilistisch ist nicht mehr
hang mit Gewalt und Terror gesprochen wird         zu erkennen, wo sich die CSU von der
oder auch in anderen Zusammenhängen. In            AfD abgrenzen will – und man darf sich
diesem Sinne ist die Untersuchung von Fra-         fragen, wie weit die CSU noch gehen
ming Sprachkritik.                                 will, um Wähler*innen von der AfD
                                                   zurückzugewinnen.«
In der taz wurde etwa die These vertreten, die
Talkshows hätten mit ihrer Überbetonung des      Mit reichlich Unterstützung aus Bayern, wo
Themenkomplexes Flüchtlinge und Islam seit       die CSU die Landtagswahlen im Herbst mit
2015 dafür gesorgt, dass die AfD stets mit am    absoluter Mehrheit gewinnen will, ist Seeho-
Tisch sitze, ohne selbst anwesend zu sein.8      fer bereit, die Fraktionsgemeinschaft mit der
                                                 CDU, die Bundesregierung und wesentliche
Bei der Sichtbarmachung von Frames geht          Bestandteile der europäischen Zusammenar-
es allerdings nicht darum, einen linearen        beit in Frage zu stellen – womöglich auch,
Zusammenhang von Ursache und Wirkung             um zu beweisen, dass seine Partei nach wie
zu behaupten (also in dem Sinne, dass die        vor keine andere »demokratisch legitimierte
Medien »Schuld« am Erfolg der AfD trügen).       Partei rechts der Union« (Franz-Josef Strauß)
Vielmehr ist auffällig, wie geläufig populis-    duldet. Wenn Markus Söder von »Asyltouris-
tische Frames im politischen Mainstream          mus« spricht und eine »Wende in der Asyl-
sind, und wie wenig das denjenigen bewusst       politik« fordert, Alexander Dobrindt gegen
ist, die sie benutzen.                           die »Anti-Abschiebe-Industrie« wettert oder
                                                 über eine »Konservative Revolution« sinniert
  Der Asylstreit in der Union                    und die CSU insgesamt Horst Seehofer an
                                                 einer »Achse der Willigen« mit dem ungari-
Seit Mitte Juni hält der Streit um den »Mas-     schen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und
terplan Migration« des Innenministers Horst      dem österreichischen Bundeskanzler Sebas-
Seehofer in der Union die ganze Bundesre-        tian Kurz arbeitet, dann ist inhaltlich und
publik in Atem. Erstaunlicherweise scheint       stilistisch nicht mehr zu erkennen, wo sich
bis auf den Innenminister selbst diesen Plan     die CSU von der AfD abgrenzen will – und
(auch noch Anfang Juli; d. Red.) niemand         man darf sich fragen, wie weit die CSU noch

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gehen will, um Wähler*innen von der AfD          mus« aus, dessen politische Folgen bis heute
zurückzugewinnen. Wann schlägt ihre popu-        nicht absehbar sind. Der Antisemitismusfor-
listische Strategie der Machterhaltung um in     scher Clemens Heni vertritt die These, dass es
offene Demokratieverachtung?                     ohne »2006 nicht in diesem Ausmaß zu Pegi-
                                                 da gekommen [wäre], und ohne Pegida gäbe
Mit dem heute Morgen (29. Juni 2018) ver-        es keine AfD in dieser Form.«9 Schon 2006
kündeten Ergebnis des EU-Gipfels, das die        verlangte die NPD eine »echte« deutsche,
Einrichtung von Internierungslagern für ge-      also »weiße« Nationalmannschaft – damals
flüchtete Menschen innerhalb und außerhalb       wurde sie noch von den meisten belächelt.
der EU vorsieht, hat die Strategie der CSU
und anderer populistischer und nationalisti-       »Sehr bezeichnend ist, dass die mediale
scher Bewegungen einen Erfolg verbucht: der        Stimmungsmache gegen Özil und Ilkay
politische Diskurs in Europa ist nachhaltig so     Gündoğan nach ihrem Auftritt mit dem
weit nach rechts verschoben worden, dass           türkischen Präsidenten Erdoğan über-
Maßnahmen, die noch vor fünf Jahren kei-           haupt keiner Unterstützung mehr durch
nesfalls mehrheitsfähig gewesen wären, jetzt       die AfD bedurfte.«
allgemeine Zustimmung finden (und nur noch
an der fehlenden Bereitschaft der Länder au-     In den letzten Jahren haben AfD-Führungs-
ßerhalb der EU scheitern können, diese auch      kräfte häufiger gegen bestimmte National-
umzusetzen). Was diese Entwicklung beson-        spieler agitiert: Weidels Auslassungen über
ders besorgniserregend macht, ist, dass es       Mesut Özils Pilgerfahrt nach Mekka, Gau-
›liberale‹ Regierungen waren (Niederlande,       lands Auslassungen darüber, dass »die Deut-
Schweden, Spanien, Frankreich), die diesen       schen« Jérôme Boateng nicht als Nachbarn
Kurs maßgeblich angeregt und mitgetragen         wollten. Aber noch viel bezeichnender ist,
haben.                                           dass die mediale Stimmungsmache gegen
                                                 Özil und Ilkay Gündoğan nach ihrem Auf-
  Das »Vorrunden-Aus« der                        tritt mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan
deutschen Mannschaft bei der                     überhaupt keiner Unterstützung mehr durch
Fußball-Weltmeisterschaft                        die AfD bedurfte. Lothar Matthäus etwa be-
                                                 hauptete in der BILD, dass sich Özil im Nati-
Auch am scheinbar unpolitischen Thema            onaltrikot nicht mehr wohlfühle, und es wur-
Sport lassen sich populistische Kontinuitäten    de auch in Mainstream-Medien diskutiert, ob
aufzeigen. Mit der Weltmeisterschaft 2006 in     Özil und Gündoğan überhaupt für die Welt-
Deutschland (»Zu Gast bei Freunden«) breite-     meisterschaft nominiert werden sollten. So
te sich in Deutschland ein »Wohlfühlpatriotis-   konnte schließlich auch das für viele völlig

                                                             Erinnerung macht zukunft | 451
POLITIK MACHT

unerwartete Scheitern in der Vorrunde um-        Verweise
gedeutet werden: als Scheitern der Integra-      1 Marianne Heimbach-Steins, Maren Beh-
tionspolitik. Auch in diesen Debatten wurde      rensen, Josef Becker (Münster) und Alexan-
so ein populistischer Frame aktiviert: das an-   der Filipović und Teresa Wasserer (München).
gebliche Versagen von ›Multikulti‹.              2017. Grundpositionen der Partei Alternative
                                                 für Deutschland und der Katholischen Sozi-
  Wie als Christ*in mit                          allehre im Vergleich (ICS-Arbeitspapiere Nr.
populistischen Kontinuitäten umgehen?            8). Münster.
                                                 2 Juliane Lang. 2015. Familie und Vaterland
Es mag banal klingen, aber im Moment
                                                 in der Krise: Der extrem rechte Diskurs um
scheint nichts so sehr geboten wie die Ak-
                                                 Gender. In. Sabine Hark, Paula-Irene Villa
tivierung und Kultivierung der Fähigkeit zur
                                                 (Hg.). Anti-Genderismus: Sexualität und Ge-
selbstkritischen Besinnung. Das bedeutet:
                                                 schlecht als Schauplätze aktueller politischer
Den Fokus nicht nur auf die AfD richten und
                                                 Auseinandersetzungen. Bielefeld, 167-181.
sich darum bemühen, die ›verlorenen Scha-
fe‹ zurückzuholen, sondern fragen, wo Popu-      3 Müller, Jan Werner. 2016. Was ist Popu-
lismus in über Jahrzehnte eingeübter politi-     lismus? Ein Essay. Berlin: Suhrkamp, 129.
scher und diskursiver Praxis anschlussfähig      4 Lesch, Walter. 2017. Religion und Popu-
oder sogar vertraut ist. Aufmerksamkeit für      lismus: blinde Flecken der Wahrnehmung.
Frames entwickeln und sich bewusst ma-           In: Lesch, Walter (2017): Christentum und
chen, ob und wie stark sie das eigene Den-       Populismus. Klare Fronten? Freiburg i. Br. (u.
ken beeinflussen und sich auf die Beurteilung    a.): Herder, 12-25, 15.
politischer Probleme auswirken.
                                                 5 Vgl. Brumlik, Micha. 2016. Das alte Den-
                                                 ken der Neuen Rechten. Mit Heidegger und
  »Im Moment scheint nichts so
                                                 Evola gegen die offene Gesellschaft. In: Blät-
  sehr geboten wie die Aktivierung
                                                 ter für deutsche und internationale Politik
  und Kultivierung der Fähigkeit zur
                                                 60(3), 81-92.
  selbstkritischen Besinnung.«
                                                 6 Tweet einsehbar unter: https://twitter.com/
Und nicht zuletzt: Sich die Frage stellen,       hartaberfair/status/10033500668144435
welche Wirkungen populistisches Sprechen         20?s=19, erstellt 03. Juni 2018/abgerufen
und Handeln auf diejenigen haben, die von        25.06.2018
konkreten Maßnahmen existentiell betroffen       7 Vgl. Wehling, Elisabeth. 2016. Politisches
sind, etwa: Migrant*innen und geflüchtete        Framing. Wie sich eine Nation ihr Denken ein-
Menschen.                                        redet – und daraus Politik macht. Köln: Halem.

452 | HIRSCHBERG 07-08/18
8 Le, Nhi (2018): Das »Wir« und das             https://www.uni-muenster.de/imperia/
»Die«, online unter , erstellt 08.06.2018/abge-        logie/christlichesozialwissenschaften/
rufen 25.06.2018.                               heimbach-steins/ics-arbeitspapiere/ics_
9 Thorwarth, Katja, 2017. »Sommermärchen        ap_8_afd_kathsl.pdf
bereiotete der AfD den Boden.« Interview
mit Clemens Heni in der Frankfurther Rund-      Wem diese Angabe zu lang für das Einge-
schau, online unter http://www.fr.de/kultur/    ben ist, sei dieser Wieg empfohlen:
antisemitismus-sommermaerchen-bereitete-
                                                Auf der Seite des Instituts für Christliche
der-afd-den-boden-a-1409276, erstellt am
                                                Sozialwissenschaften – https://www.uni-
17.12.2017/abgerufen am 02.07.2018.
                                                muenster.de/FB2/ics –

 Josef Becker                                   oben zu »Publikationen«,
 ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-      auf der Seite »Publikationen« in der Mit-
 stitut für Christliche Sozialwissenschaf-      te zum Kasten »Sozialethische Arbeitspa-
 ten der WWU Münster.                           piere des ICS« und darin die Nr. 8 öffnen,
                                                darin die erste Zeile mit dem Titel der
 Dr. Maren Behrensen                            Studie anklicken, die sich dann als PDF-
 ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am         Dokument öffnet.
 Institut für Christliche Sozialwissenschaf-
 ten der WWU Münster.

 Josef Becker und Dr. Maren Behrensen
 sind Ko-Autoren der lesenswerten, von
 Bischöfen angeforderten und angenom-
 menen, und für eine fundierte christliche
 und katholische Sicht auf die Rechtspar-
 tei wichtigen Studie »Grundpositionen
 der Partei Alternative für Deutschland
 und der Katholischen Soziallehre im
 Vergleich«. Sie gibt es nicht nur als Print-
 produkt, das in Anmerkung 1 als Quelle
 angegeben ist, sondern auch vollständig
 im Internet zu lesen auf

                                                          Erinnerung macht zukunft | 453
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