Schulversuch "Gestufte Berufsfachschule" in Hessen
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Themen Ralf Tenberg, Britta Bergmann Schulversuch „Gestufte Berufsfachschule“ in Hessen Zum Schuljahr 2013/2014 startet in Hessen ein Pilotprojekt zur „Gestuften Berufsfachschule“. Dies ist der erste Baustein einer breit angelegten Reform des beruflichen Bildungssystems in Hessen vor dem Hintergrund des demografischen Wan- dels und den damit erwarteten bzw. schon eingetretenen Herausforderungen für Schulen und Betriebe. Aktuell befinden sich 10.500 SchülerInnen an 77 Berufsfachschulen dieses Bundeslandes. Schon deswegen wird ein starker Effekt auf das Übergangssystem, aber auch auf den Arbeitsmarkt in handwerklichen Berufen erwartet. Ausgangslage Laut dem 4. Bildungsbericht 2012 sind im Jahr 2011 viele Aus- Prof. Dr. Ralf Tenberg bildungsstellen unbesetzt geblieben, obwohl die Zahl der un- Technische Universität Darmstadt, Alexanderstraße 6, 64283 Darmstadt, versorgten Bewerber im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. E-Mail: tenberg@ Wachsende Ansprüche an die Qualifikation der Fachkräfte td.tu-darmstadt.de führen dazu, dass immer weniger Jugendliche nach dem Hauptschulabschluss direkt in die duale Ausbildung einsteigen können. „Das Duale System ist seit 2000 die Domäne von StR Britta Schulabsolventen und -absolventinnen mit mittlerem Ab- Bergmann schluss und Hochschulreife, …“ (Bildungsberichterstattung Technische Universität Darmstadt, Alexanderstraße 6, 64283 Darmstadt, 2012, S. 103). Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben in- E-Mail: bergmann@td.tu-darmstadt.de zwischen nur noch in den Bereichen Handwerk, Landwirt- schaft und Hauswirtschaft eine realistische Chance auf einen dualen Ausbildungsplatz (Bildungsberichterstattung 2012, integrieren, weitgehend eingebüßt (Weishaupt 2012, S. 27). S. 110). So stellte 2010 die Gruppe der Hauptschulabsolven- Aus diesem Grund ist das Übergangsystem, trotz wachsender ten nur rund 28,8 % aller Neuzugänge in die duale Ausbildung, Kritik vonseiten der Wirtschaft und sinkende Schülerzahlen während die Gruppe mit mittlerem Bildungsabschluss 44,9 % (Bildungsberichterstattung 2012, S. 102), ein unumgängliches und die Gruppe mit Hochschulreife 20,2 % aller Neuzugänge „Instrument“ zur Integration der Jugendlichen in Arbeits- in die duale Berufsausbildung stellten (Bildungsberichterstat- markt und Gesellschaft. Vor allem jene Bereiche im Über- tung 2012, 103). Vor allem im anspruchsvollen Dienstleis- gangssystem, die zu einem höheren Abschluss führen und da- tungsbereich werden mittlerweile oft Abiturienten eingestellt mit die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt erhöhen, bleiben (Weishaupt 2012, S. 28). Jugendliche mit geringwertigem oder für die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss interessant. gar keinem Abschluss leiden häufiger unter Arbeitslosigkeit (statista GmbH 2013) und steigen überdurchschnittlich häu- Um der Kritik der Wirtschaft zu begegnen, die das Über- fig als Neuzugang in das Übergangssystem ein. gangssystem als „Maßnahmendschungel“ bezeichnet, in dem die Jugendlichen „unmotivierende Warteschleifen“ Besonders betroffen sind vor allem Jugendliche ohne deut- durchlaufen, und um mehr Jugendlichen zu einer verbesser- sche Staatsangehörigkeit, da sie bei gleichem Schulabschluss ten Übergangschance in die duale Ausbildung zu verhelfen, häufig größere Probleme als deutsche Jugendliche haben, hat die hessische Landesregierung eine Reihe von Reform- eine duale Ausbildungsstelle zu bekommen. So konnten vorhaben im Bereich des Übergangsystems auf den Weg ge- 2010 nur etwa 29 % der ausländischen Jugendlichen mit bracht (Hessisches Kultusministerium 2013). Hauptschulabschluss eine duale Ausbildungsstelle besetzen, wohingegen 63 % der ausländischen Jugendlichen in das Diese Reformvorhaben zielen unter anderem auf einen er- Übergangssystem wechselten. Im Gegensatz dazu haben folgreicheren und schnelleren Übergang in die duale Ausbil- immerhin 44 % der deutschen Jugendlichen mit Hauptschul- dung, berufsfeldorientierte Förderung und eine stärkere abschluss eine duale Ausbildungsstelle gefunden, während Kooperation zwischen ausbildenden Betrieben und Berufs- 45 % in das Übergangsystem einstiegen (Bildungsberichter- schulen. Die zweijährige Berufsfachschule soll ab dem Schul- stattung 2012, S. 105 [E1-5A]). jahr 2014/2015 in das Konzept einer gestuften Berufsfach- schule übergehen. Damit verbunden ist ein modularer Das duale System hat seine traditionelle Stärke, bildungs- Aufbau in zwei Stufen. Die gestufte Berufsfachschule wird schwächere Jugendliche durch eine Ausbildung beruflich zu für alle Hauptschulabsolventen geöffnet, unabhängig von Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 4 135
Schulversuch „Gestufte Berufsfachschule“ in Hessen Abschluss oder Notendurschnitt. Damit erfolgt eine deutli- drei Pilotschulen sind das die Fachrichtungen Technik (Lud- che Umorientierung von dem bislang zentralen Ziel des mitt- wig-Geißler-Schule, Hanau), Gesundheit und Sozialwesen leren Bildungsabschlusses hin zu einer verstärkten Berufs- (Eduard-Stieler-Schule, Fulda) und Wirtschaft (Reichspräsi- vorbereitung. dent-Friedrich-Ebert-Schule, Fritzlar). Das primäre Ziel des ersten Jahres der gestuften BFS ist die Vermittlung der Ju- Die größere Zahl der Schülerinnen und Schüler soll nach dem gendlichen in die duale Ausbildung. Innerhalb der ersten Wo- ersten Jahr (erste Stufe) die gestufte BFS verlassen, um in chen durchlaufen die Jugendlichen die unterschiedlichen eine duale Ausbildung zu wechseln und ausbildungsbeglei- Schwerpunkte der einzelnen Fachrichtungen (z. B. im Bereich tend den Mittleren Bildungsabschluss zu erwerben. Technik: Elektrotechnik, Holztechnik, Metalltechnik, Chemie- technik) zur beruflichen Orientierung und absolvieren inner- Die zweijährige Berufsfachschule halb des jeweiligen Schwerpunktes fachspezifische und be- Innerhalb der beruflichen Schulsysteme der deutschen Bun- rufstypische Projekte (Phase 1). Im Anschluss an diese erste desländer ist die Berufsfachschule den beruflichen Vollzeit- Phase gehen die Jugendlichen in ein zweiwöchiges (fachbe- schulen zuzuordnen. Dieser bedeutende Schultyp stellt sich reichabhängiges) Orientierungspraktikum eines favorisier- als ein eigenständiger Sektor gegenüber dem dualen System ten Schwerpunktbereichs. Hier lernen die Jugendlichen die beruflicher Bildung dar und hat mit diesem quantitativ in- betriebliche Praxis dieses Schwerpunktes kennen und erle- zwischen gleichgezogen. Die Berufsfachschulen bilden in- ben dessen berufliche Wirklichkeit. Auf das Praktikum folgt nerhalb der beruflichen Vollzeitschulen die größte Unter- die zweite Phase der beruflichen Orientierung. In dieser Pha- gruppe. Gleichzeitig leidet die Berufsfachschule im Vergleich se 2 arbeiten die Jugendlichen an einem schwerpunktüber- mit einer dualen Ausbildung unter Imageproblemen. Insbe- greifenden Projekt und vertiefen dadurch ihre fachlichen sondere die zweijährige Berufsfachschule, die in zwei Jahren Eindrücke in den unterschiedlichen Schwerpunkten. Danach zum mittleren Bildungsabschluss führt, steht im Verdacht, haben die Jugendlichen die Möglichkeit, in einem vertiefen- Jugendliche länger als notwendig in der Schule zu halten und den Fachpraktikum ihren bisherigen favorisierten Schwer- diese von einer dualen Ausbildung fernzuhalten. punktbereich weiterzuverfolgen oder aber sich einem ande- ren Schwerpunkt zuzuwenden. Auch in der gestuften BFS wird zukünftig die Möglichkeit be- stehen, den mittleren Bildungsabschluss zu erwerben. Hier- Durch das Durchlaufen unterschiedlicher Schwerpunktbe- für sind weiterhin ein Besuch des zweiten Jahres (zweite Stu- reiche einer Fachrichtung soll den Jugendlichen eine beruf- fe) und eine erfolgreich absolvierte Abschlussprüfung liche Orientierung ermöglicht werden, die durch zwei Prak- notwendig. Der große Unterschied zum bisherigen Ansatz tika vertieft wird und den Jugendlichen damit die Chance besteht jedoch darin, dass dies nicht mehr der Regelfall sein gibt, eine reflektierte Entscheidung bezüglich einer dualen soll. Gelingt das Konzept, dann werden möglichst viele Ausbildung zu treffen. Die beiden aufeinanderfolgenden Be- Schüler/-innen nach dem ersten Jahr in die duale Berufsaus- triebspraktika sollen den Jugendlichen auch Möglichkeiten bildung einmünden. Hauptschüler mit qualifizierendem Ab- schaffen, sich bei potenziellen Ausbildungsbetrieben vorzu- schluss, die primär das Nachholen des mittleren Schulab- stellen. Zudem wird erwartet, dass die innerhalb der Prakti- schlusses anstreben, sollten dazu künftig bevorzugt die ka gesammelten Eindrücke von den eigenen Fähigkeiten und Realschulen nutzen. Möglichkeiten die Selbstwirksamkeit der Jugendlichen för- dert und sich diese damit positiv auf Leistungsmotivation Über zwei Pilotphasen soll das Konzept der gestuften Be- und -bereitschaft auswirken, was wiederum der Ausbil- rufsfachschule konzeptionell und inhaltlich erprobt werden dungsreife zugutekommt (Ratschinski 2012, S. 26). und nach entsprechender Evaluation weiterentwickelt wer- den. In der dritten Phase der 1. Stufe (Berufsfindung) haben die Jugendlichen die Gelegenheit, sich mit einem von ihnen ge- Neben den drei selbstständigen beruflichen Pilotschulen, wählten fachlichen Schwerpunkt ver tiefend auseinanderzu- Eduard-Stieler-Schule (Fulda), Ludwig-Geißler-Schule (Ha- setzen und dort dezidiert berufliche Basiskompetenzen zu nau) und Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Schule (Fritzlar), ist erwerben, die für eine Ausbildung im entsprechenden Be- der Arbeitsbereich „Technikdidaktik“ der Technischen Uni- reich qualifizieren und somit den Weg in die duale Ausbil- versität Darmstadt als wissenschaftliche Begleitung und Un- dung ebnen. terstützung bei der konzeptionellen didaktischen sowie cur- ricularen Arbeit in die Pilotphase involviert. Als weitere Neuerung wird in den fachlichen Anteilen der gestuften Berufsfachschule auf das Bewerten mittels Zen- Grundkonzept Stufe 1 suren verzichtet. An Stelle einer traditionellen Benotung In der Stufe 1 der gestuften BFS sollen sich die Jugendlichen werden die Jugendlichen mithilfe einer Kompetenzmatrix in einen Überblick über die in der jeweiligen Schule angebote- Anlehnung an das VQTS-Modell (Vocational Qualification nen Schwerpunkte einer Fachrichtung verschaffen. An den Transfer System) bewertet, ausgehend von Kompetenzbe- 136 Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 4
Themen meiner „Merkmale der Bildungs- und Duale Ausbildung Arbeitsfähigkeit und die Mindestvor- Evtl. ausbildungsbegleitender Erwerb des mittleren Abschlusses aussetzungen für den Einstieg in die be- rufliche Ausbildung“ definiert. Hierbei werden vier aktiv entwickelbare bzw. beeinflussbare Merkmalsbereiche un- terschieden: schulische Basiskenntnisse, Berufsfachschule Stufe 2 psychologische Leistungsmerkmale, psychologische Merkmale des Arbeits- verhaltens und der Persönlichkeit sowie Berufswahlreife (Expertenkreis Nationa- ler Pakt für Ausbildung und Fachkräf- Berufsfachschule Stufe I tenachwuchs 2009) bzw. Berufswahl- Erwerb der Ausbildungsreife Berufsfindung kompetenz in Anlehnung an Günter Vorbereitung auf den Erwerb des mittleren Abschlusses Ratschinski. Aus dieser Perspektive wer- den im vorliegenden Konzept die allge- meinbildenden Fächer primär nicht ei- ner allgemeinen Bildung, sondern der Entwicklung einer Ausbildungsreife zu- Erster Bildungsabschluss geordnet. Sowohl die vom „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräf- Abb. 3: Neukonzeption einer Gestuften Berufsfachschule tenachwuchs in Deutschland“ formu- lierten schulischen Basiskenntnisse so- schreibungen über die einzelnen schwerpunktbezogenen wie deren Ergänzungen als auch basale (unspezifische) berufstypischen Projekte. Diese Bewertung mittels Kompe- psychologische Leistungsmerkmale wie logisches Denken, tenzstufen gibt detailliert Auskunft darüber, welche fachli- räumliches Vorstellungsvermögen, Merkfähigkeit etc. wer- chen Befähigungen in Verbindung mit welchem Wissen er- den durch die gesamte Breite der Angebote im 1. Jahr adres- worben wurden. Dieser Ansatz soll nicht nur den Betrieben siert, ebenfalls die tätigkeitsorientierten (spezifischen) die Möglichkeit geben, differenziert festzustellen, was die psychologischen Merkmale wie Durchhaltevermögen, Kom- Jugendlichen gut können und was weniger gut, sondern ins- munikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Selbstständigkeit besondere auch den Jugendlichen selbst zeigen, was von ih- oder Zuverlässigkeit. Letztere werden zudem – ausgehend nen im Einzelnen erwartet wird und wie sich ihre spezifi- von einer stufenbasierenden Kompetenzmatrix (VQTS-Mo- schen Leistungen in einer Detailansicht darstellen. dell) – bewertet und im Dialog mit dem Jugendlichen fort- laufend reflektiert. Damit soll den Jugendlichen – ähnlich In den allgemeinbildenden Fächern Deutsch, Mathematik wie mit den fachlichen Kompetenzkonkretisierungen – und Englisch wird im ersten Jahr ein Kurssystem erprobt, transparent gemacht werden, was im überfachlichen Bereich dem ein stufendifferenziertes Förderkonzept zugrunde liegt. von ihnen erwartet wird, wo sie stehen und wie sie sich hier- In diesem Bereich sollen, durch eine möglichst differenzier- in weiterentwickeln können. Zuständig für dieses Coaching te Betreuung in kleinen Lerngruppen, die individuellen De- ist in der gestuften BFS zentral der/die sogenannte Lern- fizite bei den Jugendlichen abgebaut und somit eine best- prozessbegleiter/-in (ProfilgruppenleiterIn). Jede/r Lernpro- mögliche Förderung erreicht werden. Nach fachspezifischen zessbegleiter/-in betreut und berät individuell eine konstan- eingangsdiagnostischen Verfahren werden die Schüler – ge- te Gruppe mit etwa zwölf Jugendlichen, vermittelt bei mäß des festgestellten Förderbedarfs – abgestimmten Mo- Konflikten, wirkt unterstützend bei der Suche nach Prakti- dulen zugeteilt, um die diagnostizierten Kompetenzen kums- und Ausbildungsplätzen, begleitet die Vor- und Nach- weiterzuentwickeln. Da hier von einer erheblichen Hetero- bereitung der Praktika und fördert durch ein Lerncoaching genität ausgegangen wird, liegt der zentrale Anspruch dar- den individuellen Kompetenzerwerb. Hierfür stehen wö- in, den Einzelnen relativ zu seinem Ausgangsstand möglichst chentlich zwei Stunden zur Verfügung, die keinen fachlichen weit zu bringen; soziale oder kategoriale Bezugsnormen wie Inhalt haben und individuell gestaltet werden können. Klassendurchschnitt oder Vergleichsarbeiten haben hier kaum Bedeutung. Zudem unterstützen die Profilgruppenleiter/-innen die Erstel- lung und Pflege eines Qualifikationsportfolios, welches in Der zentrale Orientierungspunkt im neuen Konzept ist die der gestuften Berufsfachschule das herkömmliche Zeugnis Ausbildungsreife. Diese wird in Anlehnung an den Kriterien- ergänzen wird. Es ist als fester Bestandteil der Bewerbungs- katalog des „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräf- mappe der SuS vorgesehen und soll bei der Ausbildungs- tenachwuchs in Deutschland“ sehr unscharf im Sinne allge- platzsuche unterstützend wirken. Inhalte der Qualifikations- Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 4 137
Schulversuch „Gestufte Berufsfachschule“ in Hessen portfolios können neben den Kompetenzbeschreibungen, Stufe und dem Erwerb der Qualifizierungsbausteine in der Zeugnissen und Praktikumsbescheinigungen auch Beschei- zweiten Stufe erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler nigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten, über Tätigkeiten der Gestuften Berufsfachschule einen konkreten Vorteil ge- als Übungsleiter oder über das Engagement in der SV u. v. m. genüber Schülerinnen und Schülern mit an einem Realschu- sein. Mithilfe des Qualifikationsportfolios wird insbesonde- le erworbenen mittlerem Bildungsabschluss. Die Leistungs- re dem Wunsch der Ausbildungsbetriebe nachgegangen, bewertung erfolgt wie im ersten Jahr im fachlichen Bereich sich über die Schulzeugnisse hinaus ein umfangreiches Bild mithilfe von Kompetenzbeschreibungen und Kompetenzma- über die Stärken und Schwächen bildungsbenachteiligter Ju- trix und im allgemeinbildenden Bereich mit Schulnoten. gendlicher machen zu können, um so die Entscheidung über einen Ausbildungsplatz nicht nur auf Basis von schwer zu in- Ausblick terpretierenden Schulnoten und Abschlüssen treffen zu In den „goldenen Jahren“ der Modellversuche, den 1990er- müssen (Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V. Jahren, gab es die spöttische Redewendung, dass Modellver- 2010, S. 35 ff.). Während der Stufe 1 wird eine Kooperation suche generell „zum Erfolg verdammt“ seien. Damit sollte in Form von Ausbildungsberatung mit den regionalen Bun- angedeutet werden, dass die Träger dieser Projekte – zu- desagenturen für Arbeit, den zuständigen Industrie- und meist die damals noch sehr präsenten Landesinstitute – nur Handelskammern sowie den Handwerkskammern imple- bedingt experimentell vorgingen und vielmehr den Versuch mentiert. eher als Implementierungsstrategie verstanden. Damit kam auch zum Ausdruck, dass die dem jeweiligen „Versuch“ zu- Grundkonzept 2. Jahr grunde liegende Innovation nicht aus der Wissenschaft kam, Um Hauptschüler/-innen den Weg in eine höher qualifizier- sondern aus der Politik. Wenn wissenschaftliche Begleitun- te Ausbildung bzw. eine höhere Schulform zu ermöglichen, gen einbezogen wurden, hatten diese als offiziellen Auftrag besteht im Konzept der Gestuften Berufsfachschule nach die Evaluation der Implementierung, inoffiziell unterstütz- wie vor die Möglichkeit des Erwerbs des mittleren Bildungs- ten sie in hohem Maße die Lehrerschaft und die Schulen in abschlusses durch den erfolgreichen Besuch der zweiten Stu- der Umsetzung. Nicht zuletzt durch diese Verschränkung fe der Gestuften Berufsfachschule (2. Jahr). Die Vorausset- von Durchführung und Reflexion verliefen diese Projekte zungen zum Übergang in die Stufe 2 der Gestuften weitgehend rekursiv. Die Entscheidung, ob bzw. inwiefern Berufsfachschule sowie die Ausgestaltung und Durchfüh- ein Transfer vom Modell in das Schulsystem vollzogen wird, rung der Abschlussprüfung werden zunächst durch die ak- wurde – wie der Grundansatz – politisch herbeigeführt, tuellen Verordnungen („Verordnung über die Ausbildung nicht jedoch wissenschaftlich. und die Prüfung an zweijährigen Berufsfachschulen“ und die „Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses“) gere- Es ist bekannt, dass die BLK-Finanzierung von Modellpro- gelt. Allerdings werden diese im Rahmen der im Schuljahr jekten letztlich aufgrund deren geringer wissenschaftlicher 2013/2014 beginnenden Pilotierung mit überprüft und ab- Erträge eingestellt wurde. Wenn nun aktuell ein Schulver- sehbar gemäß den neuen Bedingungen und Anforderungen such gestartet wird, werden trotzdem wissenschaftliche angepasst (Hessisches Kultusministerium 2013). Begleitungen involviert, jedoch mit klaren Aufträgen bzgl. der Unterstützung des Projekts. Diese „neue“ Form wissen- Nachdem sich die Jugendlichen in Phase 3 der ersten Stufe schaftlicher Begleitung stellt sich weitgehend als wissen- für einen Schwerpunktbereich entschieden haben, beschäf- schaftlich hinterlegte Beratung dar. Die ehemals so bedeut- tigen sie sich im zweiten Jahr ausschließlich mit dem ge- same Aufgabe der Evaluation ist dabei nachrangig, da die wählten Schwerpunktbereich sowie dem allgemeinbilden- Schulen inzwischen Systeme implementiert haben, mit den Lernbereich, der sie gezielt auf die Anforderungen zum Erwerb des mittleren Bildungsabschlusses vorbereitet. Im fachlichen Schwerpunktbereich vertiefen die Jugendlichen ihre bisherigen Kompetenzen und erwerben dabei zertifi- zierte Qualifizierungsbausteine. Damit erfahren sie eine be- deutsame formale Bestätigung ihrer beginnenden berufli- chen Entwicklung, zudem können sich die zertifizierten Qualifizierungsbausteine bei der Ausbildungsplatzsuche po- sitiv auswirken, da insbesondere kleinere Ausbildungsbetrie- be selten alle inhaltlichen Aspekte der Ausbildung im vollem Umfang (z. B. in der Metalltechnik die spanende Fertigung) abdecken können und die Auszubildenden häufig in überbe- trieblichen Ausbildungsstandorten ausgebildet werden oder an außerbetrieblichen Kursen teilnehmen müssen. Mit den erweiterten und bereicherten Praxisangeboten der ersten 138 Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 4
Themen Erfolgreich wird der Ansatz dann sein, wenn letztlich viele Schüler/-innen während der ersten Stufe oder an deren Ende einen Ausbildungsplatz erhalten, wenn er schulorganisato- risch eingebettet ist, ein zielgemäßer Unterricht in gutem Lernklima stattfindet und die Portfolios sich als handhabbar, aber auch als betrieblich anerkannt erweisen. Dies bedingt, dass die Schüler/-innen, Lehrer/-innen, Schulleitungen, Be- triebe und auch die Schulverwaltung insgesamt mit der Ge- stuften Berufsfachschule zufrieden sind. Politisch wird dar- über zu entscheiden sein, inwiefern das Konzept beibehalten bzw. modifiziert werden soll, wie es curricular abgestützt wird und wie der Transfer an alle Berufsfachschulen in Hes- sen vollzogen werden soll. Für berufsdidaktische Forschung entsteht hier – unabhän- gig vom Beratungsauftrag – gleichwohl ein interessantes Er- hebungsfeld. Innovative Ansätze, in welchen didaktisch-me- thodische Entwicklungen und die Erhebung hochwertiger empirischer Befunde ineinander verschränkt sind (design welchen sie Evaluation eigenständig handhaben können. based research), können überhaupt nur in schulversuchsähn- Im Zentrum dessen, was hier Universitäten beitragen kön- lichen Szenarien vollzogen werden. Das anlaufende Pilotpro- nen, stehen konzeptionelle Inputs und Unterstützungsan- jekt besitzt somit drei unabhängige und dabei hoch bedeut- sätze, fachliches und überfachliches Coaching sowie Mit- same Facetten: den intendierten programmatischen Erfolg wirkung an übergeordneten Steuerungsprozessen. der Gestuften Berufsfachschule, dessen vielfältige Wirkun- Wissenschaft findet hier nicht durch unmittelbaren Er- gen innerhalb des Gesamtsystems beruflicher Schulen in kenntnisgewinn statt, sondern durch die Umsetzung von Hessen und darüber hinaus der sich damit eröffnende For- Erkenntnissen in einen Praxiskontext und damit einherge- schungsbereich innovativer beruflicher Didaktik und Metho- hende Erfahrungsgewinne, die einen Erkenntnisstand be- dik. Die kommenden Jahre werden zeigen, wie sich diese Po- stätigen oder relativieren können und insbesondere Räu- tenziale umsetzen lassen. me für neue Ideen schaffen. Literaturverzeichnis In der vorliegenden Pilotstudie liegt ein klarer Beratungs- Expertenkreis Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs März auftrag vor. Der Arbeitsbereich Technikdidaktik des human- 2009: Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs – Kriterianka- wissenschaftlichen Fachbereichs der TU Darmstadt soll an talog zur Ausbildungsreife (B. f. Arbeit, Hrsg.). der konzeptionellen Ausgestaltung mitwirken, didaktische Autorengruppe BIBB/Bertelsmann Stiftung 13.01.2011: Reform des Übergangs und methodische Workshops zu Schwerpunktthemen ein- von der Schule in die Berufsausbildung. Aktuelle Vorschläge im Urteil von Be- rufsbildungsexperten und Jugendlichen (B. f. Stiftung, Hrsg.). Bonn. bringen, das Prozessmonitoring begleiten, die involvierten Bildungsberichterstattung, A. 2012: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikato- Lehr- sowie Schulleitungspersonen coachen, an Steue- rengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. rungsgruppen partizipieren, eine abschließende Metaeva- Bielefeld. luation und schließlich die schriftliche Gesamtdokumenta- Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V. 2010: Ausbildung 2010. Er- gebnisse einer IHK-Unternehmensbefragung. Berufliche Bildung, Bildungspo- tion übernehmen. Dabei stehen große Herausforderungen litik – Berlin 2010, Berlin/Brüssel. an: Der Schulversuch beginnt ohne curriculare Basis und Hessisches Kultusministerium 01.01.2013: HKM-Programm zur Reform des Über- mit einem sehr knappen zeitlichen Vorlauf. Die dafür be- gangssystems. Wiesbaden, Hessen, Deutschland. reitgestellten Ressourcen – insbesondere an Verrechnungs- Hessisches Kultusministerium 12.06.2013: Schulleitungs-Info. Über zwei Pilot- stunden für die involvierten Lehrpersonen – sind schmal. phasen zur „Gestuften Berufsfachschule“. Wiesbaden, Hessen, Deutschland. Über ähnliche Ansätze in anderen Bundesländern ist wenig Münk, D./Rützel, J./Schmidt, C./Walter, M. 2008: Modellprojekt „Evaluation der Berufsfachschule in Hessen: Das Problem der Übergänge“. Abschlussbericht bekannt, abgesicherte Befunde sind nicht verfügbar. Diese der wissenschaftlichen Begleitung. Hessisches Kultusministerium. schwierigen Bedingungen können jedoch auch positiv in- Ratschinski, G. 2012: Verdient die „Ausbildungsreife“ ihren Namen? Anmerkun- terpretiert werden, da damit auch eine große Offenheit gen zu einer neuen Rubrik für alte Klagen. In: G. Ratschinski, Ausbildungsreife. einhergeht und die Chance, (im Rahmen des Verantwort- Kontroversen, Alternativen und Förderansätze (S. 21–31). Wiesbaden. baren und Vertretbaren) zu experimentieren. Für die Ver- Speier, H. D. 2011: Einsteigen – Umsteigen – Aussteigen: Integrierte Berufsfach- schule für Bildung und Ausbildung. In: berufsbildung 131 (2011), S. 12–15. suchsschulen konnten zudem reduzierte Klassengrößen re- statista GmbH Juli 2013: Jugendarbeitslosenquote (15 bis unter 25 Jahre) in alisiert werden, was jedoch nicht nur für das Pilotprojekt, Deutschland nach Bundesländern im Juli 2013 (B. f. Arbeit, Hrsg.). Deutschland. sondern für diese neue Form der Berufsfachschule Prämis- Weishaupt, H. März 2012: Optimierung des Übergangsbereichs in Hessen (DIPF, se sein muss. Hrsg.). Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland. Die berufsbildende Schule (BbSch) 66 (2014) 4 139
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