Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung - Testschnitte in einem Diskursfeld 500 Jahre politischer ...

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Herausgeber*innenkollektiv, eds. 2021. Pearls, Politics and Pistachios. Essays in Anthropology and Memories on the
Occasion of Susan Pollock’s 65th Birthday: 477–92. DOI: 10.11588/propylaeum.837.c10761.

 Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor
nationaler Identitätsbildung – Testschnitte in einem Diskursfeld
   500 Jahre politischer Instrumentalisierung in Deutschland

                                          Stefan Burmeister*

Die Varusschlacht oder Hermannschlacht oder                der erzwungene Rückzug an die Rheinlinie
Schlacht im Teutoburger Wald – drei Namen                  allerdings nicht. Bereits einige Jahre später
für ein Ereignis – ist seit 500 Jahren fester              versuchte Rom mit großem militärischem
Bestandteil der deutschen Historiographie.                 Aufwand die Reconquista – wenngleich letzt-
Kaum ein anderes historisches Ereignis hat                 lich erfolglos. Der ausbleibende Erfolg und die
in vergleich­barer Weise die deutsche Identität            hohen Verluste bewogen den Kaiser Tiberius,
und den deutschen Nationalismus befeuert wie               das Unternehmen Germanien abzubrechen
die Varusschlacht. Auf besondere Weise bildete             und die offensive römische Germanienpolitik
sie den Fluchtpunkt der deutschen ­Nation; sie             für die nächsten Jahrzehnte einzufrieren. Erst
war Ideal und Lehrstück in einem. In einigen               mit dem Scheitern der römischen Offensive
Schlaglichtern soll ihre politische Instrumen-             im Jahre 16 u. Z. wurde der vorerst end­
talisierung bis heute nachgezeichnet werden                gültige Rückzug hinter den Rhein vollzogen
(siehe auch Kösters 2009; Landesverband                    und die nachhaltigste Zäsur in der römischen
Lippe 2009; Wiegels und Woesler 1995).                     Germanienpolitik markiert. Erst jetzt wurde
                                                           das Ziel einer direkten Herrschaft über die
             Die Ausgangslage:                             germanischen Völker zwischen Rhein und
         Der antike Ereignishorizont                       Elbe aufgegeben. So maß auch der für unsere
                                                           Kenntnis der historischen Vorgänge entschei-
Es begann mit dem historischen Ereignis;                   dende römische Autor Tacitus dem Abbruch
einem Ereignis, dem wir auch heute noch                    der Germanicus-Feldzüge eine größere Bedeu-
verwundert und rätselnd gegenüberstehen.                   tung bei als vergleichsweise der Varusschlacht
Im Jahre 9 u. Z. erlitt Rom, die Supermacht                (Tac. ann. 2, 41).
der Antike, eine der in ihrer Geschichte
schwersten militärischen Niederlagen. Tief in              Über die eigentlichen historischen Ereignisse
Germanien wurden drei römische Legionen                    sowie die Motive der Akteure sind wir nur
komplett vernichtet. Seit rund 20 Jahren ver-              lückenhaft informiert. Wenige römische
suchten die Römer die germanischen Gebiete                 Schriftsteller berichten über die Ereignisse
rechts des Rheins zu kontrollieren. Sie waren              und ihre Nachwirkungen. Die Berichte sind
auf dem besten Wege, die Gebiete zwischen                  widersprüchlich, lückenhaft und die ursprüng-
den Flüssen Rhein und Elbe als römische                    lichen Quellen der Berichte sind unbekannt.
Provinz zu unterwerfen und ihrem Reich                     Eine der wirkungsvollsten Schilderungen
einzuverleiben. Mit dem Sieg der Germanen                  ­liefert der römische Schriftsteller Tacitus rund
unter Führung des Cheruskers Arminius wur-                  100 Jahre nach der Schlacht. Für die spätere
den diese Bemühungen zurückgeworfen. Eine                   ­Rezeption der Ereignisse kommt ihm ­geradezu
Aufgabe der römischen Ansprüche auf die                      eine Schlüsselrolle zu, da es insbesondere
Gebiete zwischen Rhein und Elbe impliziert                   seine Werke waren, die die Germanophilie

* Museum und Park Kalkriese, Kalkriese (Deutschland)
Stefan Burmeister

der ­letzten Jahrhunderte in Deutschland be-          übersehen. Die real­politische Wirkung des
feuerten. Tacitus schuf – wahrscheinlich im           Arminius war letztlich wenig erfolgreich, die
Jahr 98 u. Z. – mit seinem monographischen            Germanienpolitik des Tiberius hingegen sehr
Sittengemälde der Germania eine antike Ver-           (siehe Timpe 1971).
sion des „edlen Wilden“; einige Jahre später
verfasste er die Annalen, in denen er die Ereig-      Tacitus gab mit seiner Inszenierung des
nisse der Jahre 14–68 u. Z. in Jahres­berichten       ­Arminius der späteren Rezeption die Richtung
zusammentrug. Kaum eine Quelle gibt –                  vor. Das von ihm gezeichnete positive Bild
trotz aller Lücken und Oberflächlichkeit der           der Germanen, insbesondere des Arminius
Schilderungen – derart umfassend Auskunft              wurde historisch für bare Münze genom-
über die Bestrebungen der Römer, nach der              men und diente als Vorlage für einen bunten
Varus­schlacht wieder die Kontrolle über den           Strauß vielfältigster Geschichtsprojektionen.
germanischen Raum zu gewinnen.                         Über Jahrhunderte wurde die Varusschlacht
                                                       politisch instrumentalisiert und populär im
Die Arbeitsweise des Tacitus hält einer kri-           deutschen Bildungsgut verankert; nicht ohne
tischen Analyse kaum stand (Kehne 2018)                Grund ist das historische Ereignis in den
und es ist evident, dass er neben dem rein             Kanon der deutschen „Erinnerungsorte“ auf-
annalistischen Anliegen auch eine politische           genommen worden (Doyé 2001). Das daraus
Agenda verfolgte. Tacitus kritisierte u. a. das        resultierende Geschichtsbild wird nicht ohne
Principat und die Machtkonzentration in der            weiteres durch einen kritischen Schwenk in
Hand des Kaisers (Shotter 1991) sowie die              der Fachdiskussion abgelegt werden können.
römische Germanienpolitik unter Tiberius               ­Historische Narrative bestechen weniger durch
und die damit verbundene Preisgabe der ger-             Faktentreue und Authentizität als durch ihre
manischen Gebiete. Vor diesem Hintergrund               Eignung für etwaige politische Interessen.
ist die weitgehend negative Darstellung des             Nicht der Wahrheitsgehalt einer Quelle ist
Kaiser Tiberius und die im Gegenzuge posi-              entscheidend, sondern ihre Wirkmächtigkeit.
tive Darstellung des römischen Feldherrn und
Protagonisten der Reconquista ­Germanicus                      Rezeptionsgeschichte 1:
zu verstehen. In diesem Kontext ist auch                 Ein deutscher Held im Geburtskanal
die literarische Inszenierung des Germa-
nen und Widersachers Roms Arminius zu                 Tacitus bemerkte in seinen Annalen, dass
werten. T   ­ acitus widmete in seinen Annalen        die Taten des Arminius auch hundert Jahre
Arminius einen Nachruf, in dem er dessen              später bei den Germanen besungen wür-
Leistungen würdigte und ihn zum großen                den (Tac. ann. 2, 88). Doch irgendwann
Gegenspieler Roms aufbaute. Und Tacitus               verklangen auch diese Lieder. Die wenigen im
lieferte hier das zentrale Zitat der späteren         Mittel­alter rezipierten antiken Texte legten
Arminius-­    Rezeption. Er schrieb: „­ Unstreitig    nur eine schwache Spur zu dem historischen
war er [Arminius] der Befreier ­Germaniens […].“      ­Ereignis selbst; man wusste um die Varus-
­Tacitus fuhr fort: „[…] der das ­römische Volk        schlacht als eine der Schlachten, in denen es
 nicht am Anfang seiner Geschichte, wie ­andere        ­Germanen gelungen war, dem römischen Heer
 ­Könige und Heer­führer, sondern das in h­ öchster     eine empfindliche Niederlage zuzufügen. Doch
  Blüte stehende Reich herausgefordert hat, in den      Arminius kannte man nicht, weder wurde er
  einzelnen Schlachten nicht immer erfolgreich,         erwähnt noch gar gefeiert (Graus 1975, 248).
  im Kriege unbesiegt“ (Tac. ann. 2, 88). ­Dieser
  Satz entfaltete ab dem 16. Jahrhundert in           Das änderte sich schlagartig als 1507 die
  Deutschland eine nachhaltige Wirkung.               ­Annalen des Tacitus wiederentdeckt wurden.
  Dass Arminius auch eine rhetorische Figur            In jener Zeit befanden sich päpstliche Kurie
  im Werk des Tacitus ist, wurde weitgehend            und deutsche Fürsten in einem andauernden

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Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung

Konflikt über kulturelle Hoheit, Abgaben und              fühlen sollten. Und er führte einen weiteren
politische Macht. Seit einigen Jahrzehnten                Aspekt in die Diskussion ein, der im Folgen-
schwelte ein Kulturkampf, in dem man sich                 den eine große Wirkung entfalten sollte: die
der neu rezipierten antiken Texte als argu-               ursprüng­liche, natürliche und unvermischte
mentative Waffe bediente. Die Entdeckung                  Einheit der Deutschen (Mertens 2004, 73–77).
der Annalen fiel auf einen vorbereiteten Boden,
was die schnelle Rezeption (Mertens 2004,                 War die Rezeption von Piccolominis Text mit
96) der sechs noch erhaltenen Bücher dieses               ihrer selektiven und rein propagandistisch mo-
Sammel­werkes erklären mag.                               tivierten Auswahl behandelter Text­passagen
                                                          noch bemüht, ein negatives Germanen­bild zu
Den Auftakt, sich mit der germanischen Ver-               zeichnen, so lieferte C­ ampano Anknüpfungs­
gangenheit auseinanderzusetzen, gab der                   punkte für eine positive Rezeption. Da dieser
ita­lienische Humanist Enea Silvio ­Piccolomini,          jedoch in gemeinsam mit der R    ­ egensburger
der spätere Papst Pius II. 1455 wurde die letzte          Rede veröffentlichten Briefen die Deutschen
erhaltene Abschrift der Germania des ­Tacitus             als schlimmste Barbaren verunglimpfte
nach Italien gebracht, wo sie nur wenige Jahre            (Mertens 2004, 75), rief er, ebenso wie
später bereits von Piccolomini in einem politi-           Piccolomini, empörte Reaktionen bei den
                                                          ­
schen Traktat verarbeitet wurde. Er wies die              deutschen ­Humanisten hervor. Ihre Abwehr-
aus den deutschen Ländern kommenden Vor-                  reaktion bildete l­etztlich den Ausgangspunkt
würfe zurück, die Kurie würde über zu hohe                der ­deutschen Germania-Rezeption.
Abgabeforderungen die Länder im Norden
ausbluten und so ihren eigenen Luxus finan-               Drei zentrale Argumentationsmuster fin-
zieren. Er drehte den Spieß um, indem er mit              den sich bereits in den frühen Schriften der
der G ­ ermania auf die barbarische und unzivi-           ­deutschen Humanisten (siehe Kloft 1995, 206):
lisierte Kultur der Germanen, den Vorfahren
der gegenwärtigen Deutschen, verwies. Dage-               – Germanien bestand aus einer Vielzahl von
gen hielt er die Kultur, den Wohlstand und die              Stämmen und Landschaften, die nicht zen-
Macht des zeitgenössischen Deutschlands, das                tralistisch regiert wurden. Damit spiegelte
diese Entwicklung der Christianisierung und                 es die Situation der deutschen Territorial­
somit letztlich der römischen Kurie zu verdan-              herrschaften im 15. und 16. Jahrhundert
ken habe (Mertens 2004, 68–72; Münkler und                  wider.
Grünberger 1994, 222–25).
                                                          – Von den Germanen ausgehend bestand eine
Ähnlich plakativ argumentierte Giovanni                     historische Kontinuität bis zu den gegen­
Antonio Campano. Sein Anliegen war es,                      wärtigen Deutschen.
die ständischen Vertreter des Regensburger
Reichstages für den Abwehrkampf gegen die                 – Die Germanen wie auch die Deutschen
Türken zu mobilisieren. Auch er berief sich                 verband ein gemeinsames Kultursubstrat
auf die Germania. Diente Piccolomini die                    mit einem ausgeprägten Tugendsystem,
­Germania noch als Negativfolie, so bezog sich              das sich deutlich von anderen Völkern
 Campano durchaus positiv auf sie. Mit Ver-                 unter­scheiden ließ: Einfachheit und An-
 weis auf die ­antike Schrift betonte er in einer           ständigkeit statt Luxus und Laster, Treue
 – ungehaltenen, später aber in Schriftform                 statt Verlogenheit, Tapferkeit und Freiheit
 vorgelegten – Rede die Ruhmbegier und krie-                statt Kriecherei und Unterwürfigkeit.
 gerische Tüchtigkeit als naturgegebene und
 bewahrte Eigenschaften der Deutschen. Damit              Man las aus den römischen Beschreibungen
 knüpfte er an eine vermeintliche Tradition an,           einen ehrenhaften Volkscharakter heraus.
 der sich die deutschen Herrscher verpflichtet            Die Behauptung eines unvermischten und

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bodenständigen Volkes erlaubt letztlich die            In diesem Prozess der nationalen Selbst-
Gleichung „germanisch = deutsch“. Über die             findung kamen die Annalen des Tacitus wie
konstruierte historische Kontinuität ließ sich         gerufen. Der Kampf der „Deutschen“ für
ebenso eine ethnische Kontinuität wie auch             ihre Selbstbehauptung und Identität erhielt
die Geschichte der Germanen selbst zu Eigen            mit d   ­ieser Schrift eine Identifikationsfigur.
machen. Hier liegt der Keim jener Germanen-­           ­Arminius war nicht nur ein Name, sondern
Ideologie, die als völkische P         ­ropaganda       die Personifikation der eigenen Ziele und
ihr Gewaltpotenzial Jahrhunderte später                 ­Ideale. Der Germane wurde zum Fluchtpunkt
­entfalten sollte. Arnaldo Momigliano (1966,             ­nationaler Ideologie.
 113) zählte die ­Germania, die die finstersten
 ­Leiden­schaften des ­menschlichen Geistes            Den Anfang machte der Humanist und Papst-
  wecken könne („the most unholy passions in
  ­                                                    kritiker Ulrich von Hutten mit seinem 1519
 the human mind“), d       ­eshalb zu den hundert      verfassten und 1529 posthum veröffent­lichten
  gefährlichsten B
  ­                   ­üchern der Weltgeschichte.      Arminius-Dialog (abgedruckt in Roloff 1995,
  Dass diese Ideologie mit den behaupteten             222–38). Er stiftete mit seinem Text im Stil
  ­urdeutschen Tugenden und Wesens­merkmalen           der Totengespräche des griechischen Dichters
   letztlich auf den ­rhetorischen Stilmitteln eines   Lukian von Samosata einen nationalen Mythos
   ­antiken römischen Literaten beruht, bezeugt        und begründete den deutschen Arminius-­
    die Ironie­f ähigkeit von Geschichte.              Kult. Sein Arminius war ein deutscher Held,
                                                       ein tugend­hafter Freiheitskämpfer, ein R   ­ etter
Mit Eric Hobsbawm (1983) handelt es sich               des deutschen Vaterlandes. Auch wenn
hier um eine erfundene Tradition,1 die den             ­Arminius sich seiner Taten vor einem fiktiven
Deutschen nicht nur einen gemeinsamen                   antiken Publikum rühmen konnte, war für
Ursprungsmythos, eine origo gentis, lieferte,           zeit­genössische LeserInnen im 16. Jahrhun-
sondern zu einer Neukonzeption der deutschen            dert die Botschaft unmissverständlich. Die
Geschichte führte – letztlich zur Erfindung             Parallelen zwischen dem, was Arminius in
der deutschen Geschichte. Die deutschen                 dem inszenierten Dialog anprangerte, und der
Humanisten fanden hierin das argumenta-                 Kritik der deutschen Reformatoren am päpst-
tive Rüstzeug, eine Zusammengehörigkeit zu              lichen Rom sind nur allzu deutlich. Dass von
postulieren und eine positive Identität aus-            Huttens Arminius nicht nur eine historische
zuformulieren. Hier hat die deutsche Nation             Person ist, mit der man sich aus nostalgischen
ihren Ursprung, die sich in diesem Prozess              Gründen befasste, sondern als Weckruf für den
als vorgestellte Gemeinschaft formierte und             Kampf um die deutsche Sache zu verstehen ist,
die Definitionsmacht über ihre Zuordnungs-              wird aus einem anderen Text des H   ­ umanisten
attribute übernahm (siehe Münkler und                   deutlich. In seiner Klagschrift an Friedrich den
Grünberger 1994). Die Nation war nicht ­bereits         Weisen, mit der er den Kurfürsten zum Kampf
da als man sich ihrer bewusst wurde; erst der           gegen Rom bewegen wollte, beruft er sich auf
Bewusstwerdungsprozess führte zu ihrer Ent-             Arminius, der sich – so von Huttens Polemik
stehung – oder wie Münkler und Grünberger               – seiner Nachfahren schämen würde, die sich
treffend formulieren: „Im Falle Deutschlands            von „weichen, zarten Pfaffen und w    ­ eibischen
zumindest sind Nation und nationale ­Identität          Bischöfen“ beherrschen ließen (zitiert nach
von den Intellektuellen nicht ‚nach‘-gedacht,           Roloff 1995, 214). Arminius ist Vorbild und
­sondern ‚vor‘-gedacht worden“ (1994, 248).             Mahnung.

1 Als Semi-Fiktion bezeichnet Hobsbawm (1983, 7) die Konstruktion einer Vergangenheit, die jenseits
  ­historischer Kontinuitäten liegt, aber wie im Fall von Boudica, Vercingetorix und eben auch Arminius – so
   seine Beispiele – auf realen historischen Personen beruht.

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Mit seinem Arminius setzte von Hutten den      allem von dem sich emanzipierenden Bürger-
Grundstein für die weitere Instrumentalisie-   tum getragen, das seit dem Siebenjährigen
rung des germanischen Freiheitshelden. Er      Krieg (1756–1763) den Wunsch nach einem
formulierte dessen Vorbildcharakter und legte  einheitlichen Staat deutscher Nation hegte.
damit die Gebrauchsweise des anti­römischen    Unzufrieden mit der politischen Unfreiheit im
Germanen fest. Der propagandis­             tische
                                               traditionellen Ständesystem strebte es nach
Charakter des Arminius­
­                             bildes wird auch politischer Mitbestimmung in einem einheit-
daran messbar, dass es nicht um eine           lichen Staat. Die vernehmlichen patriotischen
­realistische Annäherung an eine historische   Töne des bürger­lichen Nationalismus s­ tanden
 Person ging: Aspekte, die das ideologisch     zu der Zeit noch nicht im Widerspruch zu
 motiviert gezeichnete Bild stören, wurden     einer progressiven und erklärt aufkläreri-
 unter­schlagen. Tacitus’ Erwähnung, dass      schen Haltung, die der Idealvorstellung eines
 ­Arminius die Königswürde anstrebte und des-  im ewigen Frieden ­      lebenden Weltbürger-
  halb von Verwandten umgebracht wurde (Tac.   tums nachhing. Vor allem die bürgerliche
  ann. 2, 88), ist schwerlich mit einer idealisier-
                                               Intelligenz sympathisierte zunächst mit der
  ten Darstellung der Germanen, insbesondere   Französischen Revolution und wand sich erst
  des Arminius’ vereinbar und wurde schlicht-  von ihr ab, als das Terror­regime der Jakobiner
  weg ignoriert.                               und die Gräuel der französischen Besatzung in
                                               Deutschland offenkundig wurden (­Horstmann
Von Huttens Arminius-Dialog entfaltete erst 2011, 15–18).
in späteren Jahrhunderten seine ganze Wir-
kung. In seiner eigenen Zeit wurde er nur In diesem politischen Milieu ­               verfasste
von einem kleineren Kreis der Humanisten ­Heinrich von Kleist 1808 seine Herrmanns­
rezipiert, doch über diese fand die Arminius- schlacht. Sein Hermann fällt aus dem bis dahin
verehrung eine schnelle und weite Verbreitung. – und auch später – üblichen Rahmen der
Im Zuge der Reformation nahm der „Kampf deutschen Heldenliteratur, ist er doch nicht
gegen Rom“ eine deutliche Zuspitzung an, und als Sympathieträger und Identifikations­
Arminius war in dieser Sache ein dienlicher figur angelegt. Kleist zeigte einen ganz
Kampfgefährte. Im Umkreis der frühen Refor­ anderen Arminius: Bei ihm ist ­            Arminius
matoren entstand auch die Eindeutschung des ein kalt r­echnender, skrupelloser und intri­
Arminius in „Hermann“ (siehe Kösters 2009, ganter Stratege, der jegliche Moral und
64).                                           ­persönliche Angelegenheit dem Ziel der Befrei-
                                                ung ­Germaniens unterordnet. Sein Arminius
           Rezeptionsgeschichte 2:              ­propagiert die vollständige Entgrenzung der
  Kleists Herrmannsschlacht, ein deutsches Gewalt (siehe z. B. Reemtsma 1999; 2003).
                 Heldenepos                      Scheinbar deutsche Tugenden wie Ehrlich-
                                                 keit und Treue, die Tacitus in seiner Germania
Im 18. und 19. Jahrhundert erreichte die bereits vor­       formuliert hatte, finden sich bei
­Hermania ihren Höhepunkt: Zwischen 1750 Kleists Hermann nicht.
 und 1850 wurden über 200 literarische Werke
 über den Arminius-Hermann verfasst (von Bereits zwei Jahre vor Fertigstellung dieses
 Essen 1998, 8), rund 30 Opern komponiert Werkes vermerkte Kleist in einem Brief, dass
 (Forchert 1975; Barbon und Plachta 1995). die Deutschen die „unterjochten Völker der
 Hermann, der Cherusker war ein deutscher Römer“ seien. Er wollte, wie persönliche Briefe
 Held, der mit seinem Kampf gegen Rom und Schriften belegen, mit seiner Dichtung
 zum festen Bestandteil des deutschen Bil- in das Zeitgeschehen eingreifen; so schrieb
 dungsguts und der Populärkultur geworden er an einen Bekannten, die Herrmannsschlacht
 war. Diese kulturelle Bewegung wurde vor sei „für den Augenblick berechnet“ (zitiert

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Stefan Burmeister

nach Görner 2011, 144–45). Doch in welches               Schmitt (1963, 15) ist die Herrmannsschlacht
Zeitgeschehen galt es einzugreifen, wel-                 Kleists „die größte Partisanendichtung aller
chen Augenblick zu berechnen? Große Teile                Zeiten“; sie ist das poetische Manifest dieser
­Europas erlebten die Okkupation unter Napo-             Militärdoktrin.
 leon I. 1806 erlitt die preußische Armee zwei
 verheerende Niederlagen gegen die französi-             Die Herrmannsschlacht wurde immer auch als
 sche Volksarmee; es wurde allzu deutlich, dass          Propagandastück gelesen; doch bereits Ruth
 sie in ihrer veralteten Struktur der französi-          Klüger (1994, 150) vermerkte, dass es weniger
 schen Armee nichts entgegenzusetzen hatte.              ein solches, denn ein Stück über Propaganda
 Neben der Erkenntnis einer notwendigen Um-              sei. Eine Propaganda, die als solche enttarnt
 strukturierung des Heeres machte ein weiteres           ist, ist keine mehr.
 Ereignis Eindruck auf die preußischen Mi-
 litärs: 1808 erwies sich der äußerst grausam            Jüngst haben andere Autorinnen wieder
 geführte Partisanenkrieg gegen die französi-            auf die Unstimmigkeiten des Werkes hin-
 sche Besatzung in Spanien als scharfe Waffe             gewiesen (Horstmann 2011; Vinken 2011).
 gegen den scheinbar übermächtigen Gegner.               Das Drama funktioniere nicht in der ihm
 Kleist selbst bewegte sich in einem einfluss­           unterstellten Weise; nicht zuletzt deswegen
 reichen Kreis hochrangiger preußischer                  musste die Bühnenfassung Jahrzehnte später
 Militärs, die eine neue Militärdoktrin gegen            überarbeitet werden. Die Grenzen zwischen
 die napoleonische Besatzung entwickelten.               den Gegnern verschwimmen, die moralische
 Sie verfolgten Pläne eines gesamtdeutschen              Scheidemarke zwischen „gut“ und „böse“
 antifranzösischen Widerstands, der in einem             ist aufgelöst. Während Hermann durch
 umfassenden und entfesselten Volkskrieg den             ­Zynismus und Menschen­verachtung geprägt
 militärischen Erfolg bringen sollte, der auf             ist, zeichnen sich die römischen Prota­gonisten
 herkömmlichem Wege anscheinend nicht zu                  durch ihre Menschenwürde und Moral aus.
 erzielen sei.                                            Die Tyrannei ist weniger bei den Besatzern
                                                          als ihren ­Gegnern. Zahlreiche Aktionen des
1808 und 1811 verfasste der preußische Offizier           Hermann sind auch unter dem Primat des
Neidhardt von Gneisenau zwei Denkschriften,               Totalen ­Krieges kaum vermittelt; Absichten
die als Grundlage eines Volksaufstandes und               und Methoden sind kaum vereinbar. Sigrid
Guerilla-Krieges gegen die französische Be-               Horstmann und Barbara Vinken kommen
satzung gedacht waren (von Gneisenau 1936).2              beide zu dem Schluss, dass das Drama weni-
Die beschriebenen Maßnahmen k­önnen als                   ger ein Aufruf zum Totalen Krieg und eine
Vorwegnahme des Goebbel’schen Totalen                     Anweisung für den Partisanenkrieg sei, son-
Krieges gelesen werden; alles schien erlaubt,             dern eine Analyse der historischen Situation
niemand konnte für seine Taten vor Gericht                und eine Studie des Totalen Krieges. Es gibt
belangt werden; der Vorwurf konnte nicht                  nicht mehr gut oder böse; die Befreiungs-
sein, eine Gewalttat begangen, sondern nur sie            kriege sind unausweichlich eine translatio
unter­lassen zu haben (von Gneisenau 1936, 18).           tyrannis, Deutsche und Franzosen brüderlich
In diesem Geist scheint die Herrmannsschlacht             in Gewalt entzweit (Vinken 2011, 93). Die
Kleists g­ eschrieben zu sein, auf dieser mora-           Herrmannsschlacht stellt sowohl die National­
lischen Grundlage scheint Hermann seinen                  begeisterung als auch den Freiheitskrieg
Widerstand gegen Rom zu führen. Nach Carl                 dar, verstörend ist jedoch, dass dies nicht in

2 Von Gneisenau verwies auf eine Reihe historischer Vorbilder, u. a. auf Arminius, für den Kampf gegen
  die ­napoleonische Besatzung: „Wieviel der feste Wille, unabhängig zu sein, vermag, bewies […] Hermann in
  ­Deutschland gegen das übermächtige Römerreich; […] und wahrlich wir haben ganz andere Kräfte zu ­Gebot“ (1936,
   16).

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Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung

einer versöhnenden Synthese, sondern in der                  ­ eymann das Drama als Kommentar zu den
                                                             P
unüberwindbaren Unversöhnlichkeit von Auf-                   moralischen Verwerfungen auch zweifellos
klärung und Kriegsbegeisterung geschieht.                    gerechtfertigter Befreiungskriege gegen einen
Krieg, Ideologie und Heldentum werden nicht                  übermächtigen Gegner. Er thematisierte mit
abgelehnt, aber bloßgestellt (Horstmann 2011,                seiner modernen Adaption des historischen
56–57).                                                      Stoffes die destruktiven Seiten des moder-
                                                             nen anti-­imperialistischen Befreiungskampfes
Aufruf zum totalen Befreiungskrieg oder                      – ein Anfang der 1980er Jahre hoch­
Studie und konsequentes Weiterdenken
­                                                            aktuelles Thema. Bereits zuvor hatte Klüger
eines solchen Krieges: Es lässt sich darüber                 (1994) einen inhaltlichen Bogen von Kleists
­streiten, welche Intentionen Kleist mit ­seinem             ­Herrmannsschlacht zu Frantz Fanons Manifest
 Stück verfolgte, wenig streiten hingegen                     des anti-imperialistischen Befreiungskampfes
 lässt sich über die Rezeption dieses Stückes.                Die Verdammten dieser Erde geschlagen und
 Mag es anfangs die Zeitgenossen Kleists                      resümiert, dass Kleist das Problem des Anti-­
 noch befremdet und seinen Weg kaum in                        Imperialismus besser verstanden habe als
 die Lesestuben deutscher Bürger und auf die                  jeder Dramatiker oder Erzähler nach ihm.
 deutschen Theater­     bühnen geschafft haben,               Die Bochumer Inszenierung zeigt die mora-
 mit der Deutschen Reichsgründung 1871                        lische Niederlage des Befreiungs­kriegers im
 ­erlebte es jedenfalls einen großen Durchbruch.              Augenblick seines Triumphes. Für Peymann
  Leicht modifiziert gehörte es zum festen                    (1984, 2) ist seine Darstellung eine Hermanns-
  ­Repertoire deutscher Bühnen (Fraude 1919)                  schlacht für den Frieden.4
   und Schullektüre (­   Riemenschneider 2008).
   In Nazi­deutschland avancierte es zum meist               So vielseitig verwendbar ist die histori-
   gespielten Stück Kleists; Kleist selbst galt als          sche Vorlage, so flexibel deren literarische
   „Klassiker des Nationalsozialismus“ (Busch                Adaption.
   1974, 241 mit Anm. 57). Das Bühnenstück
   wurde nicht als kritischer Kommentar zum                           Rezeptionsgeschichte 3:
   napoleonischen Befreiungs­krieg gesehen, son-               Geschichte in Stein gemeißelt, in Bronze
   dern als Agitations­stück3 und letztlich auch                              gegossen
   als ideologische Rechtfertigung des ­Holocaust
   (Seeba 2005, 50–55).                    Deutschland bestand zu Beginn des 19. Jahr-
                                           hunderts nach wie vor aus einer Vielzahl
Einen Versuch der ideologischen Läuterung konkurrierender politischer Einheiten; die
machte Claus Peymann 1982 mit seiner – Zerrissenheit Deutschlands war ein Stachel im
äußerst erfolgreichen – Inszenierung des Fleisch der nationalen Selbstbewusstwerdung.
Stückes am Bochumer Schau­  spiel­
                                 haus. Wie Die Nation wurde mit einem Kampfbegriff der
die späteren literarischen Neu­  deutungen Französischen Revolution belegt: die eine und
etwa durch Horstmann und Vinken sah unteilbare Nation (Gall 1993, 41). Ihr S    ­ innbild

3 Der Reichsdramaturg Rainer Schlösser schrieb in der Leipziger Tageszeitung vom 10.01.1934: „Schwingt mit
  – und ihr werdet wissen, was die ‚Hermannsschlacht‘ ist: summa historiae, Inbegriff aller deutschen ­Geschichte seit
  zweitausend Jahren, das deutsche Schicksal. Das heißt: Von Feinden umstellt, von Verrätern umgarnt sein. … Das heißt:
  heute im tiefsten Schacht der Schmach schmachten, um vielleicht morgen schon auf den Trümmern der Tyrannei die
  Fahnen wiedergewonnener Freiheit aufzupflanzen, …“ (Zitat nach Busch 1974, Anhang S. 122-123). – So wurden
  Aufführungen der Herrmannsschlacht häufig auch von Partei-­Aufmärschen und anderen propagandistischen
  Veranstaltungen begleitet (Busch 1974, 249).
4 Warum die Erkenntnis des Scheiterns im Moment des Sieges ein Appell zum Frieden sein soll, bleibt offen.
  Welche Schlussfolgerung lässt sich aus den Pervertierungen des Krieges ziehen: den Befreiungskrieg nicht
  zu führen? Bei aller Analyse und Kommentierung geben weder Kleist noch Peymann hierauf eine Antwort.

                                                         483
Stefan Burmeister

war die Neu­schöpfung der „­Germania“. Als                  der gerade gekrönte deutsche Kaiser setzte
­Allegorie wurde ­Germania zur ­Personifikation             sich persönlich für das Denkmal ein. In seiner
 einer neuen nationalen Staatsidee, die Idee                Anwesenheit wurde es feierlich ein­       geweiht:
 des „ewigen ­      Deutschlands“, dass sich nicht          76 Tonnen schwer, 25 Meter hoch reckt
 durch äußere Faktoren ­          definiere, s­ondern       ­Arminius seitdem sein Schwert gen Westen.
 von innen, von der Einheit der einen und                    Die politische Bedeutung des Denkmals wird
 unteilbaren Nation (Gall 1993, 46). Sie hebt                inschriftlich auf dem 6 m langen Schwert
 sich damit entscheidend von dem f­rüheren                   ­bekundet: „Deutsche Einheit, meine Stärke –
 literarischen Germania-Begriff ab, der eher                  Meine Stärke, Deutschlands Macht“. Und eine
 locker als ­Synonym für ­Deutschland ­benutzt                Inschrift zu Ehren des Kaisers verlautet:
 wurde (siehe Hoffmann 1989; Gall 1993).                      „Der lang getrennte Stamm vereint mit starker
 „Die V  ­ orstellung einer mit sich selbst ­identischen,     Hand, die welsche Macht und Tücke siegreich
 der ‚einen und unteilbaren‘ Nation war nun end-              ­überwand, der längst ­verlorene Söhne heimführt
 gültig mit dieser Figur verbunden und auch                    zum ­Deutschen Reich, Armin, dem Retter ist er
 der Anspruch, daß die Nation die letzte und                   gleich.“ Arminius hatte zum ­ersten Mal den
 höchste Instanz im Leben der Gemeinschaft                     lange g­ eforderten Nachahmer gefunden.
 sei“ (Gall 1993, 51). Die Nation als höchste
 ­Instanz sollte die p­ olitische Rhetorik in den           Dem Hermannsdenkmal ist ein zweites an die
  ­kommenden Kriegen noch verheerend prägen.                Seite zu stellen: das Niederwalddenkmal bei
   Die neue Germania war Vision, Fluchtpunkt,               Rüdesheim am Rhein. Dieses Denkmal sollte
   ­Programm aller n    ­ationalen Ziele; Arminius          der Einigung Deutschlands gedenken und
    das Mittel, diese zu erreichen.                         wurde nach zwölfjähriger Bauzeit 1883 einge-
                                                            weiht. In seiner Monumentalität übertrifft es
1871 schien Deutschland am Ziel                             den Detmolder Hermann knapp. Oben thront
seiner Träume. Mit dem Sieg ­
­                                      Preußens             Germania mit Schwert und den antiken und
über Frankreich erfolgte die Reichs-                        zeitgenössischen Insignien der kaiserlichen
gründung. Deutschland entstand als                          Macht; unter ihr das Hauptrelief mit der Dar-
einheitlicher National­staat. Der König von                 stellung der politischen und militärischen
Preußen, ­Wilhelm I., ließ sich zum Deutschen               Klasse (das heißt des Adels). Die Nation steht
Kaiser krönen. Die feierliche Proklamation                  über allem! Damit traf das Denkmal den
fand im Spiegelsaal des V  ­ ersailler Schlosses            Zeitgeist.
statt. Man wählte für diesen Staatsakt den 18.
Januar – jenen Tag, an dem 170 Jahre zuvor                  In den Jahren nach der Reichseinigung bekam
der erste preußische König gekrönt wurde                    der Nationengedanke zunehmend Risse. Die
und das preußische Königreich entstand. Und                 eine und ungeteilte Nation gab es nicht. Die
auch der Versailler Spiegelsaal, dem Festsaal               Gesellschaft im Kaiserreich war gespalten;
des Sonnenkönigs Ludwig XIV., war mit Ge-                   ­anfangs Katholiken, dann vor allem Sozialisten
spür für historische Bezüge bewusst gewählt                  und Juden galten zunehmend als volksfeindli-
worden.                                                      che Kräfte (siehe Gall 1993, 54; Mellies 2009,
                                                             225–27). Nach der Bezwingung des äußeren
Zwei Denkmäler versinnbildlichen die deut-                   Feindes entdeckte die Nation den inneren
sche Ideologie jener Jahre. Vier Jahre nach der              Feind. Und auch hier gab Arminius das Heils-
Reichsgründung wurde 1875 das Hermanns­                      versprechen. Ist es der Einheitsgedanke, dem
denkmal bei Detmold eingeweiht. Fast 40                      alle anderen politischen Ideale nachgeordnet
Jahre dauerte die Fertigstellung. Die bürgerli-              werden, lässt sich Hermann noch vor jeden
che Revolution von 1848/49 brachten den Bau                  ideologischen Karren spannen und propa-
für längere Zeit zum Erliegen. Die Reichs-                   gandistisch instrumentalisieren. Nach der
gründung forcierte jedoch die Fertigstellung;                politischen Einigung war nun die völkische

                                                        484
Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung

 Einigung das Ziel, das fortan über die innere Und nach dem Zweiten Weltkrieg? ­Hermann
 Homogenisierung durch Ausschluss zu errei- wurde ins Bestiarium der deutschen Ge-
 chen gesucht wurde (Dörner 1996, 189).          schichte verbannt. Arminius entzog sich in
                                                 den Nachkriegs­   jahren der politischen Um-
 Das Detmolder Hermannsdenkmal war erziehung indem er abtauchte. Nach den
 politische Bühne zahlreicher rechts­ Erfahrungen der Naziherrschaft und des
 konservativer Gruppierungen, die gegen ­Krieges wollte man keinen Kriegshelden und
 die diversen ausgemachten Reichsfeinde keine nationale Rhetorik. Deutschland musste
 agitierten. Der aggressive Charakter war seinen Platz in Europa neu finden. Ein zwei-
 ­
 der des Kleist’schen Hermanns ebenbürtig, faches ­Comeback feierte Arminius durch die
 der auf deutschen ­Bühnen in diesen Jahren deutsche Teilung und den Ausbruch des K        ­ alten
 große Erfolge ­    feierte. Der rechtskonser­ ­Krieges: Im Osten als Freiheits­kämpfer gegen
 vative Symbol­gehalt des Hermanns war mit den westlichen Imperialismus, im ­             Westen
 der Zeit derart ­etabliert, dass Versuche, das gegen den Kommunismus. Beide Seiten ­strebten
 Denkmal ­inhaltlich den Rechten streitig zu mit Arminius nach Wiedererlangung der
 machen und von links zu ­instrumentalisieren, deutschen Einheit unter den jeweils eigenen
 letztlich scheiterten (siehe Mellies 2007, politischen Vorzeichen. Die FDP v­ eranstaltete
 ­
 356–57). Hermann symbolisierte den Kampf am Jahres­         tag des Ostberliner Aufstandes
 gegen den inneren Gegner. Von „Feinden 1954 eine nächtliche Gedenkveran­staltung am
 umstellt, von Verrätern umgarnt“ nimmt ­Detmolder Hermanns­denkmal. Das Denkmal
 er den Kampf gegen die eigenen Fehler auf: war durch die Licht­inszenierung in schwarz-
 „Uneinigkeit, Selbstsucht, Kurzsichtigkeit, weiß-rote Farben getaucht. Rund 20.000
 Verzagtheit, Neid und Dummheit“; so sah Menschen waren gekommen, um unter dem
 es die national­   sozialistische Propaganda, Hermann „die Gefallenen der Nation zu ehren
 die hier eine deutliche Parallele zwischen und ein Bekenntnis abzulegen zu einem unteil-
 ­Arminius und Hitler zog, die beide Deutsch- baren Deutschen Reich“ (Wolfrum 1999, 125).
  land von seinen inneren Feinden befreit Der FDP-Bundesvorsitzende Thomas D               ­ ehler
  hätten (Seeba 1995, 362).                      proklamierte: „Deutschland wird ­     wieder zu
                                                 Deutschland finden, und das Reich wird ­kommen“
  Das Hermannsdenkmal in ­       Detmold hatte (zitiert nach Wolfrum 1999, 126). In den beiden
  seinen festen Platz im nationalsozialis­ Folgejahren wurde die Veranstaltung unter
  tischen Veranstaltungs­    kalender; dennoch ähnlich großer Beteiligung wiederholt, um
  hatten die Nazis ein eher gebrochenes danach allerdings aus dem Veranstaltungs-
  ­
  ­Verhältnis zu diesem Ort. Eine Detmolder kalender gestrichen zu werden. Zunehmend
   Initiative, das Denkmal zur Wallfahrts- stieß die Nationalrhetorik der FDP auf Kritik
   ­
   stätte der deutschen Nation zu erklären, und letztlich konnte die P     ­ artei die Kosten der
   wurde vom Reichs­propaganda­ministerium Großveranstaltung nicht mehr tragen. Der
   zurück­gewiesen (siehe Mellies 1998, 559). Identitätsdiskurs der noch jungen Bundes­
   Als Vorbild hatte ­    Hermann ausgedient, republik war z. T. gebrochen; auf der einen
   da nun der F   ­ührer selbst diese Funk- Seite hatte man die deutsche Einheit im Blick,
   tion ­übernommen hatte. Unter ­    A rminius auf der anderen Seite war es Staatsräson, keine
   wurde der Kampf aufgenommen, unter zu lauten revanchistischen Töne anzuschlagen.
   Hitler ­
   ­       vollendet. Das Verdienst lag beim Hermann konnte nur ein gesamtdeutscher
   Führer, der Germane rückte sichtlich in Held sein, keiner eines d
   ­                                                                      ­ eutschen Teilstaates,
   den ­Hintergrund und ­bildete allenfalls eine der offiziell bestrebt ist, sich in dieser Teil-
­historische Referenz.                           staatlichkeit einzurichten.

                                                      485
Stefan Burmeister

        Rezeptionsgeschichte 4:                 ­ubli­
                                                P     kationen berücksichtigt, die entweder
  Ein nationaler Mythos im Identitäts­          rein fiktional sind oder von Laien mit popu-
 vakuum oder Totgeglaubte leben länger          lärwissenschaftlichem Anspruch geschrieben
                                                wurden. Arminius fristet somit mindestens
In der gegenwärtigen Bundesrepublik scheint     eine marginale Existenz in der Populärkultur.
Arminius keinen rechten Platz mehr zu haben.    Im rechtsextremen Milieu hingegen hat er
Die nationale Rhetorik, die lange aus der       nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt.
ideellen Gefolgschaft des germanischen Krie-
gers schallte, kann im heutigen politischen     In den einschlägigen rechten Verlagen gab
Diskurs Deutschlands nur befremdlich sein.      Arminius seit jeher einen Dauerton von
Arminius ist historisch unauflösbar mit der     sich, der von einstiger nationaler Größe
kriegerischen Handlungsoption zur Durch-        und Kampfgeist zeugen sollte. 2009, als die
setzung politischer Ziele verbunden; nach       Varus­schlacht durch den 2000sten Jahrestag
zwei verlorenen Weltkriegen ist das gegen-      wieder ins öffentliche Gedächtnis katapul-
wärtig noch nicht diskursfähig – das mag        tiert wurde, stieg die Zahl der Publikationen
sich jedoch mit der Zeit auch wieder ändern.    zum Thema allgemein sprunghaft an – und
Der gegenwärtige nationale Diskurs ist ab-      auch in rechtsextremen Kreisen erlebte Ar-
gerüstet, deswegen jedoch nicht gleichfalls     minius eine Konjunktur (siehe z. B. Vieregge
pazifiziert wie gängige Polemiken z. B. gegen   2011). ­Diverse Regionalverbände der NPD
AusländerInnen und die EU demonstrieren.        traten 2009 unter der Parole „2000 Jahre
Die Themenfelder dieses Diskurses haben         Kampf gegen Überfremdung für nationale Selbst­
sich ebenso wie die sinn­stiftenden Momente     bestimmung“ auf. Auf der Demo in Osnabrück
des nationalen Bewusst­  seins verlagert. Es    am 07.03. ­huldigte der NPD-Funktionär Udo
ist nicht mehr „Kraft durch Freude“ als viel-   Pastörs dem „­Kämpfer aus unserem Volke“,
mehr „Vorsprung durch Technik“ und die          der das Vorbild für die Deutschen im Kampf
damit gemeinsam gedachte Wirtschaftskraft       gegen das „Besatzungs­regime“ in der BRD
des Landes sowie die sportlichen Erfolge der    sei – von Arminius lernen, heißt siegen l­ ernen.
Fußball­nationalmannschaft. Gründungsakte       Und er ließ keinen Zweifel daran, dass sich
der Bundesrepublik und Identitätsbezüge         ein vergleichbares Ereignis wie die Varus­
werden nicht mehr in der Vorvergangen-          schlacht in ­ Deutschland – in ­     moderater
heit gesucht; das Wunder von Bern und der       Formulierung: „wenn auch in anderer Form“
Berliner Mauerfall dürften hier viel wirk-      – wiederholen müsse (Npdosnabrueck 2009).
mächtiger sein. Vergangenheit vor 1945 wird     Bemerkenswert ist eine rhetorische Figur,
in der Rückschau immer durch das opake          die innerhalb ­weniger Wochen von ­mehreren
Zeitfenster des Dritten Reiches gesehen und     NPD-­Funktionären bemüht wurde. Nicht nur
ist damit meist kontaminiert. Eine positive     in den Zielen und im Erfolg wird ­Arminius
Bezugnahme wäre heute ohne inhaltliche          als Vorbild ­gesehen, sondern auch in ­seinen
Läuterung und historische Neubestimmung
­                                               Methoden: eine K
                                                ­                   ­arriere im feindlichen
nicht denkbar. Hermann scheint seine Rolle      System, um den Feind zu studieren (siehe
                                                ­
als Nationalheld verloren zu haben. Tot ist     ­Vieregge 2011, 167; Jürgen Rieger in einer
er allerdings nicht, wie das große Interesse     Rede am 28.02.2009: Rieger 2009).
an der 2000-jährigen Wiederkehr der Varus-
schlacht zeigte.                                Generell knüpfen die neonazistischen P
                                                                                     ­ hrasen
                                                an die alte Rhetorik des 19. und frühen 20.
Im November 2019 waren rund 60 Buchtitel Jahrhunderts an. Wieder geht es – oder
im deutschen Buchhandel lieferbar, die sich mit immer noch – um den Erhalt von Freiheit
Arminius und dem Thema der Varusschlacht und Identität, die heute durch die „Coca-
befassen. Hierbei wurden ausschließlich Cola und McDonalds Kultur“, durch das

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Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung

internationale Kapital, die USA, die EU und                             Geschichtsmythos und
durch ­ImmigrantInnen bedroht werde (siehe                              kulturelles Gedächtnis
­Vieregge 2011). Arminius ist der Allrounder,
 der z. B. auch dem gegenwärtigen Unwillen,                Der Arminius-Mythos basiert auf zwei
 steuerlichen Verpflichtungen nachzu­kommen,               grundlegenden Komponenten. Zum einen
 als Vorlage dient (siehe „Pankraz, der                    wird eine Kontinuität zwischen der germa-
 ­Cheruskerfürst und die Steuerzahler.“ Junge              nischen Vergangen­   heit und der deutschen
  Freiheit vom 20.03.2009). Bemerkenswert                  Gegenwart konstruiert. Diese Verbindung
  sind die mangelhaften Detailkenntnisse der               zog zwei ­Konsequenzen nach sich. Erstens
  Redner, die keine intensivere Auseinander­
  ­                                                        schien sie zu erlauben, die von Tacitus für
  setzung mit dem historischen Sujet erkennen              sein romantisches Sittengemälde der Ger-
  lassen – so z. B. der mehrfach verurteile Nazi           manen ­  inszenierten Darstellungen eines
  Rieger in der oben zitierten Rede. Jürgen                germanischen Volkscharakters als generelle
  ­Elsässer, einer der führenden Theoretiker der           Wesenszüge der Deutschen anzueignen.
   Neuen Rechten, offenbarte in seinem Blog                Man bediente sich in der textlichen Über-
   (Elsässer 2012), dass er erst durch eine Arte-          lieferung und bezog sich auf das, was dem
   Fernseh­produktion auf die historische Person           eigenen Selbstbild und Wunschdenken zu-
   Arminius auf­  merksam wurde; mit Faszina-              träglich war – wobei die historische Ironie
   tion sah er hier den ­deutschen Che Guevara.5           selten realisiert wurde, dass die vermeintlich
   Unkenntnis war jedoch noch nie ein Aus-                 deutschen Tugenden auf römische Stereotype
   schlusskriterium für historische Leitbilder.            und Propaganda zurückgehen. Die konstru-
   Und auch in der rechten Populärkultur be-               ierte Verbindung zwischen Vergangenheit
   kommt Arminius abseits der politischen                  und Gegenwart machte ­Arminius zu einem
   Reden und Schriften seinen festen Platz – so            Deutschen. Damit steht er am Beginn der
   etwa durch die Rechtsrockgruppe Sturmwehr,              deutschen Historiographie.
   die ihn jüngst auf ihrer im N  ­ ovember 2018
   veröffentlichten CD „Europa brennt“ besang.    Die zweite Komponente des Arminius-­
                                                  Mythos’ ist die „Selbstdefinition durch
Arminius nicht als bloße historische Figur, Feind­markierung“ (Kösters 2009, 325).
sondern als historische Leitfigur fristet zur- Arminius ist kein Vorbild für Völkerverstän-
zeit ein Nischendasein am rechten politischen digung und Pazifismus, er ist aggressiv und
Rand; er scheint gegenwärtig nur für Rechts- gewaltbereit. Er war immer das Vorbild einer
radikale als historisches Vorbild zu taugen. zerrissenen und unter einem Minderwertig-
Doch was bringt die Zukunft? Insgesamt keitskomplex leidenden Nation. Dieser schien
lässt sich ein generell zunehmendes Interesse er Stärke, Sicherheit und Dominanz zu ver-
an „Germanen“ feststellen. Reenactment-­ sprechen. Von daher ist auch zu verstehen,
Veranstaltungen mit „Germanen“ und dass im momentanen Selbstverständnis des
„Wikingern“ sind ein Tummelplatz für Nazis heutigen Deutschlands für diesen Helden
aller Couleur (siehe Banghard 2016). Rechte kaum Verwendung ist. Die politische Lage
präsentieren „Germanen“ und ­repräsentieren sieht Deutschland derzeit in einer anderen
Germanentum. Karl Banghards (2016, Situation – doch die Zeiten mögen sich auch
10) mahnende Worte, dass „Vorgeschichte wieder ändern. Und dann?
ein ­trojanisches Pferd [ist], in dem die rechte
­Propaganda in die Mitte der Gesellschaft gezogen Das sich um Hermann rankende Narrativ
 werden kann“, verdienen Beachtung.               wurde hier bislang ohne nähere i­nhaltliche

5 Wenn Elsässer hier eine erstaunliche Naivität und Geschichtsferne offenbart, mögen diese auf seine links­
  extreme Vergangenheit zurückzuführen sein.

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Stefan Burmeister

­estimmung als Mythos b­ezeichnet. Jan
B                                                – und damit hat es seinen Ausgangs- wie
Assmann hat sich in seinen Arbeiten zum          Bezugspunkt nicht in der Vergangenheit,
kulturellen Gedächtnis notwendigerweise
­                                                sondern in der jeweiligen Gegenwart. Es ist
auch mit dem Mythos befasst, den er als          elementarer Bestand­      teil der gesellschaft­
fundierende Geschichte begreift. Diese ist       lichen Konstruktion von Wirklichkeit, deren
weniger ein ­Instrument zur Vermessung der       Faktizität als objektive Wirklichkeit erlebt
                                                 ­
Vergangenheit; als fundierende Geschichte        wird (­ Berger und Luckmann 2009). Aus
konstituiert der Mythos ein kollektives          der eben g  ­egebenen Charakter­     isierung von
Selbstbild. Er ist somit in der Gegenwart        fundierender Geschichte wird insbesondere
                                                 ­
identitätsbildend und liefert die Referenz       deutlich, dass für sie die Möglichkeit der
für zukünftige Handlungsziele. Der Mythos        identitäts­stiftenden Referenz elementarer ist
­markiert den Beginn der eigenen Geschichte      als die historische Faktentreue des ­Narrativs.
 und versinnbildlicht das Werden der Gesell-     Mythen sind Erinnerungs­        f iguren im kul-
 schaft (Assmann 2002, 52, 75–83).               turellen ­ Gedächtnis; für dieses zählt nicht
                                                 faktische, sondern nur erinnerte Geschichte,
In der Rückschau muss man ebenso sagen, womit wiederum der Unterschied von ­Mythos
dass die Rezeption des Arminius als Element und Geschichte hinfällig wird (Assmann
der fundierenden Geschichte historisch wirk- 2002, 52).
mächtiger war als – soweit man das für die
Historie überhaupt einschätzen kann – das Das kulturelle Gedächtnis konstituiert die
historische Ereignis der Schlacht selbst. Die kollektive Erinnerung einer Gruppe; es
Arminius-Rezeption hat sich kaum um die ­        re-­organisiert die Vergangenheit in einer
historischen Tatsachen geschert. Alles, was Weise, dass sie für die Gruppe sinn- und
­
man eigentlich nur sicher sagen kann, ist, dass identitäts­ stiftend ist. Der ­        französische
es diese Schlacht mit bekanntem Ausgang ­Soziologe Maurice Halbwachs hat auf die ­soziale
­gegeben hat – und sicherlich wird ein von den Gebundenheit der Erinnerung ­           aufmerksam
 Römern „Arminius“ genannter Germane darin gemacht. In seinem Frühwerk betonte er die
 eine tragende Rolle gespielt haben. Doch das Rekonstruktivität des ­        Gedächtnisses: Nicht
 war es auch schon. Letztlich all das, was im die Vergangenheit als solches wird b­ ewahrt,
 nationalen Hermann-Mythos geronnen ist, ist sondern nur das, „was die Gesellschaft in jeder
 weitgehend freie Erzählung. Damit ließe sich Epoche mit ihrem ­         jeweiligen Bezugs­  rahmen
 ein schnelles Urteil fällen über den Mythos, ­rekonstruieren kann“ (­         Halbwachs 1985a,
 seine Unwahrheiten und die Instrumentalisie- 390). Später verschärfte er diese A          ­ ussage:
 rung von Geschichte für offenkundig jeweils „Die Erinnerung ist in sehr w       ­ eitem Maße eine
 aktuelle Interessen. Es ließe sich ebenso eine ­Rekonstruktion der Vergangen­heit mit Hilfe von
 Grenze ziehen zwischen dem Mythos und der der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und
 Ideologie einerseits und der Geschichte als wird im Übrigen durch andere, zu ­früheren Z     ­ eiten
 vergangenen objektiven Sachverhalt anderer­ unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus
 seits. Doch beides ist weder sinnvoll noch denen das Bild von ehemals schon recht verändert
 trennscharf möglich.                            hervorgegangen ist“ (Halbwachs 1985b, 55–56).
                                                 Erinnerungen ­    liefern somit keine Abbilder
 Hans-Joachim Gehrke hat am Beispiel von von Vergangenheit, sondern Versionen von
 Troja und Marathon gezeigt, dass Mythen Vergangenheit.
 und faktische Geschichte im Geschichts­wissen
 untrennbar ineinander aufgehen (Gehrke Der Zeitgenosse von Halbwachs, der
 1994; 2004; siehe auch Assmann 2002, ­          französische Lyriker und Philosoph Paul
 75–76). Geschichtswissen ist Teil des indivi- Valéry war in seinen Entwürfen einer
 duellen wie kollektiven Orientierungswissens Gedächtnis­      theorie hier deutlich radikaler.

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Hyper-Geschichte. Arminius und die Varusschlacht als Motor nationaler Identitätsbildung

Ihm zufolge muss das Gedächtnis von der          zu ­ verkraften, die ein anderes Bild des
Vergangen­heit abgelöst und von der Gegen-       Arminius ­zeichnen l­assen. Weder die Unter­
wart her gedacht werden. Das ­Gedächtnis         stellung des ­  Tacitus, A
                                                                          ­ rminius hätte die
verwirkliche sich erst dadurch, dass die         Königswürde in G  ­ ermanien angestrebt, noch
Gegenwart in die Vergangen­        heit hinein   die ­wegweisenden Ergebnisse des H ­ istorikers
­interveniere und ihr auf diese Weise eine neue  Dieter Timpe (Timpe 1970), dass es sich bei
 Ordnung aufzwinge (siehe Weinrich 1999, 25)     dem germanischen Aufstand letztlich um eine
 – eine Ordnung, die den Handlungs­zwecken       Rebellion innerhalb der ­   römischen Armee
 der Gegen­wart gemäß und genehm ist.            handelte, könnten den offen verschlagenen
                                                 Machtpolitiker Hermann demaskieren. Der
Egal ob man sich dem Hermann-­         Narrativ Mythos hat einen Überschuss an Geschichte;
von der Seite des Mythos und der Pers- als Hyper-­Geschichte ist er weniger durch
pektive fundierender Geschichte oder des Korrekturen seiner F            ­aktizität als durch
Erinnerungsparadigmas annähert; in jedem Aufhebung s­einer Funktion als fundierende
Falle erkennen wir die zeitbezogene An­ Geschichte zu überwinden.
eignung der Vergangenheit zur Sinn­stiftung
in der jeweiligen Gegenwart und letztlich Wenn der Mythos nicht mehr zeitgemäß ist,
zur Gestaltung der Zukunft. Instrumentali- d. h. die Bedürfnisse seiner Zeit nicht mehr
sierung ist eine zentrale Begleit­erscheinung bedient und sich auch nicht an diese an­passen
dieses Geschichts­    narrativs, denn es war lässt, verliert er seine Wirkmächtigkeit.
und ist nie eine Erzählung um ihrer selbst Maßgeblich hierfür sind gesellschaftliche
willen, s­ ondern es enthielt immer auch eine Auseinandersetzungen, die die Interessen­
Auf­forderung. Notwendigerweise ist diese felder neu definieren und die Leitlinien der
Geschichte folglich zweck­      gebunden und Identitäts­diskurse neu aus­richten. Im Hin-
ziel­
    orientiert: Gehrke führt deshalb aus blick auf ­Arminius ist das ein a­nhaltender
gutem Grund in diesem Zusammen­hang den ­        Prozess, der in D    ­eutschland seit rund
Begriff der „­
­                intentionalen Geschichte“ ein 70 ­Jahren in Gange ist – mit noch offenem
(Gehrke 1994; 2004). Von daher ist es müßig, Ende. Heute kann der ­         Arminius-Kult für
dem ­ Mythos seine mangelnde ­      Historizität Deutschland ein Lehrstück sein und seine
vor­zuwerfen; das verkennt die Funktion Überwindung Teil einer sinn­                  stiftenden
historischer M  ­ ythen, die eben nicht dazu neuen Identität. Teil d      ­ieses Prozesses ist
geschaffen werden aufzuklären, sondern not­          wendigerweise auch die Geschichts­
dazu, ein Kollektiv auf gemeinsame Werte wissen­schaft. Gehrke sieht ihre Aufgabe in
und Ziele einzuschwören. Die Rezeptions- Aufklärung und Kritik, in der Zerstörung
geschichte des Arminius kann deshalb auch von ­Mythen und Legenden, nicht in ihrer
weitgehend von der histo­rischen Vorlage ab- Bildung (Gehrke 1994, 263–64). Die Dekons-
gekoppelt sein – streng ­genommen braucht truktion des ­Mythos funktioniert schwerlich
sie sie auch nicht. Eine größere h  ­ istorische über ­  historische Korrekturen. Erst die
Faktentreue würde nichts an dem Umstand Offen­legung der I­ ntentionalität fundierender
ändern, dass das ­     Narrativ einen histori- Geschichten sowie der verfolgten Absichten
schen Mythos ­begründet, der immer noch und Ziele entzieht ihnen die Affektivität und
identitäts­stiftend ist. Dass B   ­eispiel des emotionale Bindungskraft. Wie oben ­bereits
Kleist’schen ­Hermanns zeigt, dass der Mythos betont, eine Propaganda, die als ­solche ent-
flexibel genug ist, ­    Geschichts­
                                   korrekturen tarnt ist, ist keine mehr!

                                                     489
Stefan Burmeister

                                                     Literatur
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