Ich bereue nichts - Eine Frau und 100 Jahre iranischer Geschichte - SWR
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SWR2 Leben Ich bereue nichts – Eine Frau und 100 Jahre iranischer Geschichte Von Wiktoria Rafiri Sendung vom: Montag, 17. Januar 2022, 15:05 Uhr Redaktion: Karin Hutzler Regie: Nicole Paulsen Produktion: SWR 2021 SWR2 Leben können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/~podcast/swr2/programm/podcast-swr2-tandem-100.xml Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app
ICH BEREUE NICHTS – EINE FRAU UND 100 JAHRE IRANISCHER GESCHICHTE Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 28. Tir 1400, 19. Juli 2021 O-Ton 1:38” Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): Wann ist dein Geburtstag, Mama Dschun? Ahmad (Übersetzung O-Ton Farsi): In welchem Monat hast du Geburtstag? Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): (In Schachriwar.) Fünfter Schachriwar, so haben sie gesagt. Ich war ja nicht dabei. Ahmad: Fünfter Schachriwar ist der 28. August. Mama Dschun: Ich werde drei und… Ahmad: Drei und neunzig Jahre alt. Mama Dschun: Gott sei Dank, dass ich noch laufen kann, Gott sei Dank, dass ich überall hingehen kann. Wiktoria: Welches Geburtstaglied wollen wir dann singen? Mama Dschun (singt das iranische Geburtstagslied): „Tawallod mubarak….“ Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Gestern sind mein Mann Ahmad und ich in Teheran gelandet. Die Zeit rennt uns durch die Finger und die Entfernung ist der größte Feind. Meine Schwiegermutter, die ich Mama Dschun nenne, was so viel wie „Liebes Mütterchen“ heißt, hüllt sich langsam in eine Wolke des Vergessens. Woran sie sich sehr gut erinnert, liegt weit weg in der Vergangenheit. Sie erzählt gerne von ihrer großen Liebe – meinem Schwiegervater, den ich nie kennengelernt habe. Doch er lebt, handelt, lacht und leidet sogar in Mama Dschuns Erzählungen. Durch sie nehme ich an seinem Leben teil, an dem vergangenen Leben meiner iranischen Familie. Manchmal habe ich das Gefühl, meinen Schwiegervater so gut zu kennen, dass ich ihn Agha Dschun - „Liebes Väterchen“ - nenne. Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 29. Tir 1400, 20. Juli 2021 O-Ton 3:21“ Wiktoria (Übersetzung O-Ton Farsi): Bist du zur Schule gegangen, Mama? Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Nur 3 Tage. Wiktoria: Warum nur drei Tage? Mama Dschun: Sie hatten mich in die 1. Klasse eingeschrieben, aber dann wurde meine Mutter krank und mein Vater sagte: (Ich kann im Haus nicht alles allein machen.) Deine Mutter ist bettlägerig – jemand muss ihr Wasser geben, Holz sammeln, Essen kochen. Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Es ist das Jahr 1314, nach westlichem Kalender 1936. Mama Dschun ist 8 Jahre alt. Iran ist eine Monarchie - an der Macht Schah Reza Pahlavi. Er ist mit Kemal Atatürk, dem türkischen Staatsoberhaupt und Reformator, befreundet und will nach seinem Vorbild das Land modernisieren. Als erstes reformiert er das iranische Rechts – und Bildungssystem. Mama Dschun bekommt davon nichts mit. 2
O-Ton 4: 13“ Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Du musst zu Hause bleiben! – sagte mein Vater, als meine Mutter gestorben ist. Wiktoria (Übersetzung O-Ton Farsi): Mochtest du die Schule? Mama Dschun: Ich mochte sie sehr. Wiktoria (Sprecherin, deutsch): 1936 verbot Schah Reza Pahlavi den Tschador, von da an durften Iranerinnen das halbkreisförmige dunkle Tuch, das den ganzen Körper verhüllt und nur das Gesicht unbedeckt lässt, nicht mehr tragen. Die Ehefrau des Schahs und seine beiden Töchter zeigten sich zum ersten Mal ohne Tschador bei einer öffentlichen Veranstaltung im neu gegründeten Teheraner Institut für Lehrerausbildung. Mama Dschun kann dieses symbolträchtige Ereignis egal sein. Da sie nicht zur Schule gehen darf, weiß sie nicht mal, dass der Schah Reza Pahlavi heißt. Und weil sie erst 8 Jahre alt ist, trägt sie auch keinen Tschador. Atmo A: Teetrinken, Gespräche, Dariusch und seine Frau Setoreh bei Mama Dschun zu Hause. 1‘15“ Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 30. Tir 1400, 21. Juli 2021 O-Ton 5: 7” Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Reza Schah Pahlavi hat den Iran geliebt. Er wollte das Land reformieren. Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Der 43-jährige Dariusch ist mit Mama Dschun trotz des Altersunterschieds befreundet. Er fährt sie zu Arztbesuchen, kommt mit seiner Frau Setoreh, um Mama Dschun die Einkäufe zu bringen, oder einfach zum Teetrinken. Eigentlich ist er Bezirksbeamter, aber seine wahre Leidenschaft ist die iranische Geschichte. O-Ton 6: 37“ (OT reißt ab, etwas früher raus?) Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Reza Schah hatte ja ein Gesetz erlassen, das den Frauen verbot, den Tschador zu tragen. Wenn die Polizei eine Frau mit Tschador sah, sollte sie ihn herunterreißen. Für Frauen, die für Behörden oder in Büros arbeiteten, hatte er eine einheitliche Uniform herstellen lassen: Ein Kostüm mit knielangem Rock, ohne Kopftuch. Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): Für die Frauen, denen man das Kopftuch oder den Tschador runtergerissen hatte, war das ziemlich schlimm, oder? Dariusch: Das stimmt. Aber es war vielleicht nötig, hart durchzugreifen. Sonst hätte der Schah nichts erreicht. Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 31. Tir 1400, 22. Juli 2021 O-Ton 7: 10” Setoreh (Übersetzung O-Ton Farsi): Wir kommen jeden Tag zu Mama Dschun. Da wir hier keine Familie haben, wurde sie zur Oma für uns. 3
Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Setoreh, die Frau von Dariusch, hat einen Sack voll grüner Kräuter mitgebracht, um sie mit Mama Dschun sauber zu machen. Setoreh ist im 8. Monat schwanger. Seufzend setzt sie sich auf den Boden, kreuzt ihre Beine zum Schneidersitz. O-Ton 8: 33“ Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): Warum so viele Kräuter? Setoreh (Übersetzung O-Ton Farsi): So ist es billiger. Durch die Inflation hat unser Geld an Wert verloren. Hygienemittel, Essen, Milch - alles ist sehr teuer geworden. Mama Dschun - es gibt doch ein Lied über Sabsi, die Kräuter. Singe mal, bitte. Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi, singt): Minze, Pfefferminze, grün und frisch, ich habe die Frühlingskräuter, Minze und Tarhun. Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Es ist das Jahr 1319 nach dem persischen Kalender, 1941 nach dem abendländischen. In Europa wütet der Zweite Weltkrieg. Reza Schah Pahlavi, ein Sympathisant Hitlers, erklärte 1939 die Neutralität Irans. Doch 1941 besetzten sowjetische und britische Truppen den Iran, um die iranischen Ölvorkommen für die Alliierten zu sichern. Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich (unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“) die Sowjetunion. Russen und Briten, die Besatzer Irans, verbannten den Schah. 1944 stirbt Reza Pahlavi im südafrikanischen Exil. Viele Iraner trauern um den Schah. Doch Mama Dschun, die 16 Jahre alt wird, schenkt dieser Nachricht keine Beachtung. Ihr Vater ist vor ein paar Tagen gestorben und sie muss ihr Elternhaus verlassen. Im damaligen Iran kann das nur eins bedeuten – eine Heirat. O-Ton 9: 47” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Ich war damals ein Wirbelwind. Ich habe alle geärgert und verspottet. Als Vater und Mutter tot waren, war ich allein. Die Tante fragte: Was willst du jetzt tun? Ich sagte: Ich will meine Kleidung selbst weben, Brot backen, hier leben. Wie frech bist du denn?! Wie kann ein Mädchen allein leben? Ich sagte: Ich bin doch schon 16 Jahre alt. Aber sie sagte: Heute Abend kommt ein Mann und entjungfert dich. Was machst du dann? - Ich gebe ihm einen Tritt in den Arsch! (lacht) Ich schwöre bei Gott – ich war mit mir sehr zufrieden und wollte keinen Mann. Aber ich wurde verlobt mit einem Cousin. (Ich wollte ihm den Kopf abreißen!) Als wir Kinder waren, hatten sie uns einander versprochen (Er hat mir nicht gefallen. Und die Frau meines Onkels auch nicht! ) O-Ton 10: 16” Wiktoria (Übersetzung O-Ton Farsi): War das ein Brauch, dass man die Tochter bei der Geburt jemandem versprochen hatte? Setoreh (O-Ton Farsi): Ja, früher war es sehr verbreitet. Als meine Schwester geboren wurde, wurde sie dem Cousin väterlicherseits versprochen. Sie sagten: Die Ehe wurde im Himmel geschlossen. 4
(O-Ton 11: 4“ Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Ach du meine Güte!!! (lacht spöttisch). So war es. ) Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Mama Dschun kann der Heirat mit dem ungeliebten Cousin entkommen. Ihr Bruder Hossein erfährt von der misslichen Lage seiner Schwester und lädt sie nach Teheran ein. Hossein ist fast 20 Jahre älter, ein gemachter Mann, er besitzt ein Hammam, eine öffentliche Badeanstalt. Mama Dschun wohnt bei ihm, seiner Frau und ihren drei Kindern, sie hilft im Haushalt. Die Frau des Onkels, die etwas faul und verwöhnt ist, schickt sie immer Einkäufe zu erledigen. O-Ton 13: 27” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Ich bin Brot kaufen gegangen. Der Bäcker schäkerte mit mir. Nach ein paar Tagen sind wir im Sangelatsch-Park zusammen spazieren gegangen. Ich saß auf einer Bank, er zwei Meter von mir entfernt. Wir haben nur miteinander geredet, da kam ein Sittenwächter und sagte: Zur Wache, los! Wieso? - fragten wir. – Ihr seid keine Eheleute. Entweder verheiraten sie euch auf der Wache, oder sie peitschen euch aus. O-Ton 14: 31” Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): Mama Dschun, das war doch in der Schah Zeit. Das kann doch nicht sein. Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Doch, die Pastaran, die Sittenwächter wollten Geld. Er wollte uns also zur Wache mitnehmen. Ich dachte: Oh je, mein Bruder wird es erfahren. Dann hat Agha Dschun, dein Schwiegervater, den Sittenwächter bestochen, damit er uns nicht zur Wache schleppt. Immer wenn er uns gesehen hat, hat dieser Hundesohn Geld von uns verlangt. Agha Dschun sagte dann: Dem Pastaran ist wohl wieder das Geld für sein Opium ausgegangen. Wiktoria (Sprecherin Deutsch): Erst in den 60er Jahren wurde das Land säkularer. Von da an war es in der Öffentlichkeit erlaubt, Händchen zu halten, sich zu küssen, zusammen baden zu gehen. Zuvor war das nicht möglich, obwohl Reza Schah Pahlavi die Kleiderordnung reformiert, Tschador und Kopftuch verboten hatte. O-Ton 16: 8” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Frauen durften davor nicht mit einem fremden Mann sprechen. Selbst Verlobte durften nicht zusammen auf die Straße gehen, sich näherkommen. Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Die Iraner sind religiös. Das Gesetz von Reza Schah Pahlavi, welches das Tragen des Kopftuchs oder des Tschadors auf der Straße verboten hatte, traf auf großen Widerstand. Die Mullahs, die islamischen Geistlichen, waren vehement dagegen. Auch ein Teil der Bevölkerung fand die laizistischen Gesetze zu radikal, darunter viele Frauen. 5
O-Ton 18: 13” Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Das war auch der Grund, warum viele Frauen damals nicht aus dem Haus gingen. Manche waren ein, zwei Jahre nicht auf der Straße, weil sie ohne Tschador nicht rausgehen wollten. Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Es ist der Monat Dei des Jahres 1323, Januar 1945. Mama Dschun hat sich in den jungen Bäcker unsterblich verliebt. Sie heiratet Agha Dschun, meinen Schwiegervater, der aus einem Dorf im Norden Irans stammt, gegen den Willen ihres Bruders. Das hatte Konsequenzen – sagt Mama Dschun beim Nüsse knacken in der Küche. O-Ton 19: 30” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Als mein Mann um mich geworben hatte, sagte er zu mir: Ich bin nicht nur Bäcker. Ich habe viele Schafe, Grund und Boden, einen Obstgarten im Dorf, wo ich herstamme. Nach der Hochzeit sagte er: Ich habe nichts! Mein Bruder hatte sich schon gefreut, dass ich eine reiche Bäuerin werde. Er wurde sauer: „Du darfst ihn nicht mehr sehen. Du musst dich scheiden lassen willst, weil er ein Lügner ist.“ Aber ich liebte ihn, ich liebte ihn sehr. Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 2. Mordad 1400, 24. Juli 2021 O-Ton 21: 17” Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Seit 1941 regierte Mohammad Reza Pahlavi, der Sohn des verbannten Schahs, das Land. Er wuchs als Kind im Internat in der Schweiz auf und studierte in europäischen Ländern. Er wollte, dass der Iran westlich wird. Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Mai 1945: In Europa ist der Krieg zu Ende. Der Westen hofft, in dem jungen, in Europa ausgebildeten Schah einen Verbündeten zu haben. Die britischen Streitkräfte ziehen aus dem Iran ab. Aber die Sowjetunion weigert sich zu gehen, da Stalin die Ölfelder vor allem im Norden Irans, sichern will. Er löst damit die erste internationale Krise nach Kriegsende, die Irankrise, aus. Sie markiert den Beginn des Kalten Krieges. O-Ton 22: 36” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Damals war ich 40 Tage im Krankenhaus, weil ich Typhus hatte. Mir ging es wirklich schlecht. Ich hatte Fieber und ich habe mich auch bepinkelt, ich konnte es nicht zurückhalten. Die Krankenschwestern haben mit mir geschimpft: Bist Du stumm? Kannst du nicht nach einer Bett-Ente verlangen? Ich war wie ohne Sinnen. Alle haben gedacht, dass ich sterben werde. Eine Krankenschwester sagte zu meinem Mann: Sie ist ja schon halbtot, sitze nicht von morgens bis abends an ihrem Bett. Geh, denke an dein Leben! Er sagte: Ich werde sie bis zu ihrem letzten Atemzug nicht verlassen. Atmo B: Musik – eine alte Platte hören, Mama Dschun singt mit. 1‘43“ 6
Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Mama Dschun wird wieder gesund und kommt nach Hause. Das junge Ehepaar lebt in einer Einzimmerwohnung, ohne Badezimmer, mit Plumpsklo im Hof. Nachdem sich Mama Dschun von der Krankheit erholt hatte, kommen zwei Kinder zu Welt. O-Ton 23: 14” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Zwei Söhne habe ich geboren, beide starben. Einer war 8 Monate alt, der andere 9 Monate. Beide Kinder hatten Durchfall. Danach haben wir zwei Jahre aufgepasst, dass ich nicht schwanger werde. Atmo C: Musik „I believe in Love“ von Googoosh, singt in Englisch 2‘50“ Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Es ist das Jahr 1351, nach dem westlichen Kalender 1972. Iran ist der modernste und fortschrittlichste Staat im Nahen Osten. Der Wohlstand kommt aber hauptsächlich den höheren Schichten und den Einwohnern der großen Städte zugute. Die Menschen in den Dörfern leiden oft Hunger. Mama Dschun hat sich von den Strapazen ihrer Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit erholt. Sie hat zwei gesunde Söhne zur Welt gebracht. Der ältere Sohn Ahmad, mein Mann, ist 1972 16 Jahre alt, der jüngere Sohn Reza ist gerade 14 geworden. Mama Dschun, ermutigt von ihrem Ehemann, lernt Lesen und Schreiben auf einer Abendschule. Googooosh, eine junge Sängerin, die viele Iraner, auch Mama Dschun, vergöttern, gewinnt den großen Preis auf der Midem-Musikmesse in Cannes. Sie ist jung, wunderschön und blond. Ihre Kleider und Mini-Röcke prägen den Kleidungsstil der Teheranerinnen. Mama Dschun näht sich auch einen Minirock aus braunem Wildleder. Die iranischen Frauen erleben eine Freiheit, die sie bis dahin nicht gekannt hatten. Aber in dieser Hochstimmung zeichnet sich schon eine Wende, ein Niedergang ab. O-Ton 24: 53” Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Die Menschen gingen auf die Straßen, wie sie wollten, die Frauen trugen Miniröcke. In den Kinos liefen westliche Filme. Zehn Jahre lang boomte die Wirtschaft unter der Herrschaft von Schah Mohammad Reza Pahlavi, z. B. die Auto- und Stahlindustrie. In unserem Land, das sehr traditionell war, fingen die Menschen zu reisen an. Plötzlich gab es Boeings, Schnellzüge, einfach alles. Viele haben diesen rasanten Fortschritt nicht verkraftet. Wenn jemand auf einem Eselsgespann sitzt und plötzlich neben ihm ein schickes Automobil zischt, wird er sich doch nicht wohl fühlen. Iraner sind religiös, und das war ein Grund, weshalb der Schah so viele Gegner hatte. Viele Leute sagten: „Wir sind ein islamisches Land, unsere Kinder dürfen keine schlimmen Filme sehen.“ Die westlichen Länder haben auf den Schah Druck ausgeübt. Iran sollte demokratisch werden, die Menschen sollten ihre Regierung selbst wählen dürfen. Wiktoria (Sprecherin, deutsch): Schah Mohammad Reza Pahlavi herrschte autoritär. Er ließ politische Gegner von seinem Geheimdienst überwachen, inhaftieren, foltern und sogar ermorden. Geistliche wie Ajatollah Khomeini wurden ins Exil verbannt. 7
Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 3. Mordad 1400, 25. Juli 2021 O-Ton 25: 44“ Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): Gleich ist der Tee fertig. (Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Der Tee?) Wiktoria: Du trinkst doch einen Tee nach dem Frühstück? Mama Dschun: Ich trinke und esse alles: Tee, Wasser, Früchte. Ich muss essen, damit ich am Leben bleibe. Die Welt kann doch nicht ohne mich existieren. Wiktoria: Früher hast du ganz wenig gegessen, was ist los? Mama Dschun: Heiliger Abbas, ein Mädchen aus Deutschland kommt und wirft mir vor, dass ich zu viel esse. Ich habe nur einen Tee getrunken und ein paar Bissen Brot gegessen. Jetzt ist es halb eins, also überlege ich, was ich zu Mittag essen werde. Und manchmal gibts dreimal Mittagsessen! (Lachen) Wiktoria: Wirklich? Mama Dschun: Du kommst aus Deutschland und lachst mich aus? Ich geb´s dir gleich. (Lachen) ((Atmo D: Essen mit Setoreh und Dariusch. 1‘30“ Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Heute sind Setoreh und Dariusch bei uns zum Essen eingeladen. Es werden Ghorme Sabsi, Lammfleisch in Kräutern, und Safranreis serviert. O-Ton 26: 15” Setoreh (Übersetzung O-Ton Farsi): Als wir nach Teheran kamen, fühlten wir uns sehr allein. Dann haben wir Mama Dschun kennengelernt. Unsere Freundschaft wurde sehr innig. Wir gingen zusammen aus und sie war oft bei uns zu Besuch. )) o.c. Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Es ist das Jahr 1356 nach dem persischen und 1978 nach dem abendländischen Kalender. Viele Menschen haben genug von der autoritären Herrschaft des Schahs. Der Geheimdienst Savak ist gefürchtet, er verfolgt und ermordet politische Gegner. Die Menschen trauen sich in der Öffentlichkeit nicht mehr, miteinander zu sprechen – aus Angst, dass ein Spitzel in der Nähe sein könnte. Das immer fröhlich quasselnde, gesellige Volk wird zu einem Rudel sich argwöhnisch belauernder Wölfe. Mama Dschun ist froh, dass einer ihrer Söhne, der 22-jährige Ahmad, schon seit fünf Jahren in Deutschland lebt. In diesen Tagen gilt ihre Sorge jedoch nicht den Söhnen, sondern ihrem Mann. Agha Dschun arbeitet in einer staatlichen Behörde, also de facto für den Schah. O-Ton 27: 32” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Die Menschen haben demonstriert, sie riefen: („Margh bar Schah“) „Tod dem Schah“. Als die Demonstranten die Behörde, in der mein Mann Abteilungsleiter war, anzünden wollten, hat er sich ein grünes Tuch umgebunden und sagte: „Ich bin ein Seyed, ich stamme auch vom Propheten ab, ihr dürft diese Behörde nicht anzünden. 8
Ihr seid alle Seyed, Moslems und Kinder Gottes.“ Dann haben sie das Gebäude nicht angezündet, aber viele andere Behörden und Banken standen in Flammen. O-Ton 28: 32” Ahmad (Übersetzung O-Ton Farsi): Als alles ruhig war, wollte mein Vater nach Hause, aber die Busse fuhren nicht. Er ging also zu Fuß. Auf den Straßen waren Panzer und viele Polizisten, die gegen die Demonstranten kämpften. Er musste sich in Sicherheit bringen, da scharf geschossen wurde. Er warf sich in einen Straßengraben. Mein Vater hatte hohen Blutdruck, er erlitt einen Herzinfarkt. Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Am 26. Dei 1357, dem 16. Januar 1979, flieht Schah Mohammad Reza Pahlavi nach Ägypten, er ist sehr krank, er hat Krebs. 12. Bahman 1357, 1. Februar 1979: Imam Khomeini kehrt aus dem französischen Exil nach Iran zurück. O-Ton 30: 54” Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Als die islamische Regierung kam, wurde die Modernisierung zurückgedreht und eine neue autoritäre Herrschaft trat an die Stelle der alten: Die Frauen mussten wieder Hidschab, also Kopftuch, tragen. Sie durften keinen Sport mehr treiben. Fernsehen, Schule, die Kultur - alles wurde islamisiert. Die Regierung Khomeinis sagte ganz klar: Wir sind eine islamische Republik. Wiktoria (Sprecherin, Übersetzung O-Ton Farsi): (Und was sagst du?) Findest du es gut, dass deine Frau ein Kopftuch trägt? Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): (lange Denkpause) Ich finde, dass ein Kopftuch keine Pflicht sein sollte. Aber wenn sie verkünden würden, dass ab morgen jede Frau selbst entscheiden kann, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht, würde man das hier nicht dulden Ich denke, dass die Sicherheit der Frauen gefährdet wäre. Langsam sollte man das Kopftuch aber abschaffen. Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 5. Mordad 1400, 27. Juli 2021 O-Ton 31: 28” Ahmad (Übersetzung O-Ton Farsi): Salam, salam. Setoreh (Übersetzung O-Ton Farsi): Geht es dir gut? Ahmad: Wie geht’s dir? Setoreh: Danke. Ahmad: Komm doch bitte rein. Wiktoria (Übersetzung O-Ton Farsi): Salam. Wie geht´s? Setoreh: Mir geht es gut. Gott sei Dank. Ahmad: Alles in Ordnung? Setoreh: Ja… Mama Dschun, salam! Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Salam alejkum. Wie geht es dir? Und deinem Mann? Wie geht es ihm? Setoreh: Gut. Ich habe Datteln mitgebracht. Ahmad: Oh! Danke! Wiktoria: Danke sehr. Setoreh: Lasst sie euch s chmecken! Wiktoria: Möchtest du einen Tee? 9
Wiktoria (Sprecherin, Deutsch): Taroff, ein Kanon der Höflichkeitsregeln und Gebote, die bei keinem Gespräch im Iran fehlen dürfen. Für mich ist es eine hohe Kunst des gemeinsamen Lebens, die zum Beispiel die Rohheit eines Streits mildern kann. Es klingt vielleicht naiv, aber ich kann mir nicht ausmalen, wie ein Volk, das so viel Wert auf Taroff legt, Krieg führen kann. Es ist das Jahr 1359, nach unserem Kalender 1980, und im Iran herrscht Krieg, den der irakische Diktator Saddam Hussein in der Hoffnung auf die Schwäche der jungen Islamischen Republik am 3. Schahriwar, dem 22. September, erklärt hat. Tausende junge Iraner sterben jeden Tag an der Front. O-Ton 32: 1’38” Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Aus der engeren Familie war niemand an der Front. Aber manche Nachbarn kämpften, einer wurde am Kopf verletzt, dem anderen hatte es eine Hand abgerissen. Ein Nachbar ist gefallen. Mein Sohn Ahmad ist vor der Revolution ausgewandert, er ging 1973 nach Deutschland. Der zweite Sohn, Reza, 1980, kurz vor dem Krieg. Mein Mann hat Beamte geschmiert, damit unser Sohn nicht an die Front muss. Wiktoria (Übersetzung O-Ton Farsi): Und wie war es hier in Teheran? Mama Dschun: Na Krieg! Die Männer, die hier geblieben sind, wurden bewaffnet. Jeden Abend sind Menschen zur Moschee gegangen. Dort standen Soldaten mit Waffen. In der Moschee wurde Wache gehalten. Ein Flugzeug hat eine Bombe abgeworfen, es brannte. Sehr viel wurde zerstört. Wiktoria: Hast du Angst gehabt? Mama Dschun: Die Iraker bombardierten uns. (Wuuuuuuuuuuu – Geräusch nur in OT) Wir hörten die Flugzeuge und haben zu Gott gebetet. Alle Menschen gingen in die Luftschutzbunker. Auch wir. Eines Tages dachte ich: Wenn unser Haus von einer Bombe getroffen wird, ersticken wir im Keller. Mein Mann ging während eines Luftangriffs auf die Straße. Er rief: Komm raus, das Haus wird über deinem Kopf einstürzen. Und ich: Lass es einstürzen. Wiktoria: Du bist eine Löwin. Mama Dschun: (lacht) Ja, nicht so ein Angsthase. Ich war schon immer eigensinnig. Ich habe vor nichts Angst, egal was kommt. Wiktoria (Sprecherin): Teheran, 9. Mordad 1400, 31. Juli 2021 Anruf Setoreh, Dariusch – das Baby ist da. Atmo E: Das Weinen eines Neugeborenen. 13“ O-Ton 33: 24“ Setoreh (Übersetzung O-Ton Farsi) am Telefon: Ein Frühchen. Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): Gut. Der Junge wollte kommen, Dariusch (Übersetzung O-Ton Farsi): Dem Kleinen geht es gut, aber er wiegt nur 2400 Gramm. Setoreh: Der Doktor war da und sagte, dem Kind geht es besser als gestern. Ich soll es stillen. 10
Mama Dschun: Na klar, meine Liebe, klar. Ahmad: Wir sind sehr froh, dass alles gut lief. Und wir sagen nochmal „herzlichen Glückwunsch“. Wiktoria (Sprecherin): Epilog: Berlin, 5. November 2021, Teheran 14. Aban 1400 Atmo F: Das Telefonzeichen. O-Ton 34: 1‘34“ Mama Dschun (Übersetzung O-Ton Farsi): (am Telefon) Wie geht es dir? Ahmad (Übersetzung O-Ton Farsi): Mir geht es sehr gut. Wie geht es dir? Mama Dschun: Mir geht es auch gut, ich sitze rum, habe nichts zu tun, es regnet. Ich rufe nur an und ärgere damit die Menschen. Ahmad: Was sagst du da? Um Gottes Willen, du ärgerst uns nie. Du bist immer willkommen. Mama Dschun: (lacht) Sei gesegnet. Ahmad: Als wir bei dir in Teheran waren, hast du uns die schöne Geschichte erzählt, wie du Agha Dschun kennengelernt hast. Erinnerst du dich? Mama Dschun: Er ist das Beste, was mir im Leben passiert ist! Ich freue mich, dass ich ihn geheiratet habe. Mit meinem ganzen Herzen liebte ich ihn. Das war die schönste Zeit meines Lebens, als ich mit ihm zusammen war. Ich bin Gott dankbar, dass ich so jemanden gefunden habe. Gott soll ihn bei sich aufnehmen. Wir waren zwei Esel ohne Geld, zwei Menschen ohne Eltern. Zwei Söhne haben wir in die Welt gesetzt, die konnten wir nicht halten, die sind nicht mehr da. Ahmad: So ist das Leben, da kann man nichts machen. Mama Dschun: Ich bereue nichts, mein Schatz. Agha Dschun hat mir gesagt, dass wir immer zusammen sein werden. Ich frage ihn immer: Wo bist du hin? Du bist ja nicht da. 15 Jahre schon. Der Geist ist frei. Ich spreche zu seiner Seele, ob ich wach bin oder im Traum. Er war der richtige Mensch für mich. Ahmad: (ergriffen) Gott möge ihn segnen. Das Lied von Googoosch: „I believe in Love „ Ende 11
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