Studium Generale Vorfreude auf eine "neue Normalität"
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Studium Generale Vorfreude auf eine »neue Normalität« VON ANNIKA BORCHERS UND AXEL GREHL Das Studium Generale gehört seit mehr als 30 Jahren zu den wichtigsten Veranstaltungen der HS PF. Konnten im Wintersemester mehr als 1.500 W ährend der Vorlesungsbetrieb zum großen Gäste hochkarätige Vorträge über Teil in virtuellen Hörsälen weiterlief, ent- Verschwörungstheorien, Europäische schieden sich die Professorinnen Dr. Christa Wehner und Dr. Frauke Sander für das Studium Rechtsprechung, das Fassungsver- Generale bewusst gegen den digitalen Raum und freu- mögen eines Jungbrunnens oder den en sich umso mehr auf das STUDIUM GENERALE ab Oktober: wenn auch vermutlich in „neuer Normalität“. Mauerfall im AudiMax erleben, fiel die beliebte Vortragsreihe im Sommer- Was die beiden Wissenschaftlichen Leiterinnen im Wintersemester 2019/20 zuvor noch ohne jeden semester dem Corona-Shutdown Gedanken an das Virus präsentieren konnten, hatte zum Opfer. es in sich. Professor Dr. Michael Butter von der Eberhard Karls Universität Tübingen eröffnete das Programm. Er gab als einer der renommiertesten Wis- senschaftler auf dem Gebiet der Verschwörungstheo- rien seine Visitenkarte in Pforzheim ab. Der gebürtige Münchner, Jahrgang 1977, ist seit 2014 Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Sein Spezialgebiet: Ver- schwörungstheorien. Unter dem Titel „Die Mär vom Großen Austausch“ erklärte er, was Verschwörungstheorien sind, wie sie benutzt und missbraucht werden und spannte den Bogen zum Rechtspopulismus. Dabei machte er deut- 048 | 049 HS PF KONTUREN 2020
EDITORIAL | INHALT | ÜBERBLICK »Verschwörungstheorien lich, dass es explizite wie implizite Formen von Ver- schwörungstheorien gebe. Zu Beginn stellte er eine machen den Menschen klare Definition vor: Verschwörungstheorien zeichne- durchaus ein umfangreiches ten sich durch drei wesentliche Kennzeichen aus: Nichts geschieht durch Zufall. Sinn- und Erklärungsangebot.« Alles ist miteinander verbunden. Nichts ist, wie es scheint. für Verschwörungstheorien seien als die Anhänger anderer republikanischer Präsidentschaftskandi- Dabei seien die Motive, warum Menschen an Ver- daten. Trump agiere sehr implizit. „Er macht das sehr schwörungstheorien glaubten oder diese verbrei- geschickt. Er bedient fast immer nur Gerüchte“, so teten, ganz unterschiedlich. „Verschwörungstheorien Butter. Er liefere aber keine Belege. Trump habe nur machen den Menschen durchaus ein umfangreiches etwas Bestimmtes gehört. „So kann er sich immer Sinn- und Erklärungsangebot. Außerdem stellen sie WAHLEN rausreden, dass er das ja nicht explizit behauptet die menschliche Einflussmöglichkeit auf den Verlauf hat“, erklärte Butter. Auf diese Weise habe Trump die der Geschichte überhöht in den Vordergrund. Es gibt Theorie einer Weltverschwörung zwischen Hillary Clin- demnach keinen Zufall“, erläuterte Butter. Damit ver- ton und den Banken verbreitet. bunden sei allerdings auch ein gewisser Optimismus, Gerade in den USA hätten Verschwörungstheo- da es zwar stets „fünf vor zwölf“ sei, aber eben nie rien eine lange Tradition. Aber nicht nur dort. „Auch zu spät. Verschwörungstheorien dienten aber auch Churchill war Verschwörungstheoretiker. Oder denken dazu, Schuldige für etwas ausmachen zu können. CORONA sie an Thomas Mann. Der machte die Illuminaten US-Präsident Donald Trump etwa setze seit Be- für den 1. Weltkrieg verantwortlich.“ Seit durch den ginn des Wahlkampfes vor seiner Präsidentschaft bis Syrienkrieg mehr Flüchtlinge in die Bundesrepublik heute ganz gezielt auf verschwörungstheoretische kamen, kursierte im Netz die Theorie vom „Großen Rhetorik. „Sie müssen bedenken, dass es in Ver- Austausch“. Ihre Anhänger behaupten, Deutschland schwörungstheorien meistens darum geht, wer die solle von einer globalen Finanzoligarchie durch die Macht hat“, so Butter. Befragungen hätten zudem „Migrationswaffe“, wie sie es nennen, ausgeschaltet ergeben, dass die Anhänger Trumps empfänglicher werden. Andere behaupten, so berichtete Butter, zwi- HOCHSCHULE UND ÖFFENTLICHKEIT schen den USA und Russland wollten externe Kräfte einen muslimischen Pufferstaat errichten. Früher seien solche Behauptungen und Theorien oft isoliert geblieben. „Heute gehen die Leute ins Internet und erreichen so mehr Leute, die an so etwas glauben.“ Anhand der Beispiele Alice Weidel, Eva Herman und Viktor Orbán zeigte Butter auf, wie sich Rechtspo- Der Tübinger Amerikanistik-Professor Dr. Michael Butter pulisten verschiedenster Verschwörungstheorien >> ist Spezialist für Verschwörungstheorien, die in der Corona- Krise weltweit Hochkonjunktur haben. AUS FORSCHUNG UND LEHRE INTERNATIONAL PERSONALIA
Pforzheimer Studierende der Initiative „EL§A – The European Law Students' Association“ freuen sich über die Begegnung mit der Verfassungsrichterin Dr. Sibylle Kessal-Wulf. bedienten. Zwar habe es solche Phänomene im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien schon immer gegeben. Das Internet habe aber eine verstär- kende Wirkung. Interessanter Aspekt hierbei: Män- ner neigen offenbar stärker zu Verschwörungstheo- rien als Frauen. Nachzulesen ist dies auch in Butters nach einem reformierten Europa oder auch nach Werk über Verschwörungstheorien „Nichts ist, wie es weniger Europa. Angesichts der Situation sei man scheint“. Wie sehr das Thema den Nerv des Publi- versucht, an die Worte Churchills aus seiner Rede von kums traf, zeigten die vielen Nachfragen sowie der 1946 erinnern zu wollen: „Wäre jemals ein verein- langanhaltende Applaus nach Butters Vortrag. Im tes Europa im Stande, sich das gemeinsame Erbe Anschluss stand Butter für Gespräche mit dem Publi- zu teilen, dann genössen seine Einwohner Glück, kum zur Verfügung und signierte sein Buch. Wohlstand und Ruhm von unbegrenztem Ausmaße.“ Churchill warf die Frage auf, wie eine Wiederkehr der „Ich möchte heute versuchen, ein positives Bild von dunklen Zeiten verhindert werden könne. Der Frieden Europa zu vermitteln und das Modell am Beispiel der und die Herrschaft des Rechts waren dabei zentrale Rechtsprechung vorzustellen“, begrüßte Dr. Sibylle Triebfedern. Ziehe man allerdings gegenwärtig Bilanz, Kessal-Wulf, Richterin am Bundesverfassungsgericht so Kessal-Wulf, scheine Europa von immer neuen in Karlsruhe, die Zuschauer zum zweiten Vortrag. Krisen geprägt zu sein. Dabei sei es eine Erfolgsge- „Zugleich möchte ich Sie darin bestärken, dass wir schichte. Europa und seine Grundsätze brauchen, um unsere Die Wahrung des Friedens, offene Grenzen, wirt- demokratischen Strukturen zu stärken und nachhaltig schaftlicher und sozialer Erfolg kennzeichnen das Mo- zu sichern.“ Kessal-Wulf sprach zum Thema „Europa dell Europa. Nicht ohne Grund wurde die Europäische ohne Wenn und Aber? Grundgesetz und Europa in der Union 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeich- Rechtsprechung“. Sibylle Kessal-Wulf war 2011 zur net. Bei der Preisverleihung begründete das Komitee Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt seine Entscheidung mit der stabilisierenden Rolle der worden und gehört dem Zweiten Senat an. EU bei der Umwandlung Europas von einem Kontinent Schaut man sich dieser Tage in Europa um, der Kriege zu einem Kontinent des Friedens. „Die scheint es an der einen oder anderen Stelle aus den größte Errungenschaft der Union sei ihr Kampf für Fugen zu geraten, so Kessal-Wulf. Man höre Rufe Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrech- te“, so Kessal-Wulf. Wie funktioniert nun das judikative Modell Europa »Wir brauchen Europa und seine und wie lässt sich die Balance zwischen dem supra- nationalen System einerseits und der mitgliedsstaat- Grundsätze, um unsere demo- lichen Souveränität andererseits halten? Die Aufgabe kratischen Strukturen zu stärken des Bundesverfassungsgerichts ist klar umrissen: „Es stellt die Einhaltung des Grundgesetzes für die und nachhaltig zu sichern.« Bundesrepublik Deutschland sicher“, so Kessal-Wulf. Das gelte vor allem für die Grundrechte der Bürger. 050 | 051 HS PF KONTUREN 2020
EDITORIAL | INHALT | ÜBERBLICK WAHLEN CORONA Die Wissenschaftlichen Leiterinnen des Studium Generale, Professorin HOCHSCHULE UND ÖFFENTLICHKEIT Dr. Frauke Sander (l.) und Professorin Dr. Christa Wehner, sowie Rektor Professor Dr. Ulrich Jautz begrüßen Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Perikles Simon im voll besetzten AudiMax. »Wir haben in Deutschland eine auf Krankheit zentrierte Das Gericht selbst ist ein Verfassungsorgan, das Gesundheitspolitik. Daran die ihm zugewiesenen Aufgaben als unabhängige Einrichtung erfüllt. „Wir sind in Europa aber nicht al- müssen wir arbeiten.« lein. Wir begegnen neben den europäischen Gerich- ten auch den Verfassungs- und höchsten Gerichten Gesundheit und Fitness zu verbessern? Ob körper- der anderen Mitgliedstaaten“, so Kessal-Wulf. „Es liche Aktivität tatsächlich hilft, gesund zu bleiben besteht ein europäischer Verbund, der im ständigen und wieviel Fitness eigentlich angeboren ist, beant- AUS FORSCHUNG UND LEHRE Dialog steht. Auf nationaler und supranationaler wortete Perikles Simon. Ebene begegnen sich Rechtsräume, die voneinander „Von einem Jungbrunnen, in den wir steigen abzugrenzen sind, aber ebenso zusammenarbeiten“, können, um ewig jung zu bleiben, müssen wir uns so die Verfassungsrichterin. Jeder Staat sei aufgeru- verabschieden, aber Sport kann dafür sorgen, dass fen, das Rechtssystem des anderen zu schonen, es wir in diesem Brunnen ein wenig verharren können aber zugleich bei der Ausgestaltung des eigenen zu und stabilisiert werden“, so Simon. Dabei sollte man berücksichtigen. Unser Grundgesetz sieht vor, dass wissen, wie der Alterungsprozess abläuft. Es gebe Deutschland als gleichberechtigtes Glied in einem eine äußere Alterung, die wir alle sehen, aber ebenso vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen soll. Es eine innere. Diese Bereiche werden durch äußere Ein- herrsche ein Grundsatz der Europarechtsfreundlich- flüsse oder mangelnde Nutzung beeinflusst. „Stellen keit. „Dennoch muss jede Abgabe von Kompetenzen Sie sich eine Klaviersonate vor. Bei einem Neugebo- und jeder Vertrag vom Bundestag abgesegnet wer- renen ist die Partitur sehr sortiert. Wenn wir altern, den, denn auch in europäischen Belangen geht alle entstehen nach und nach kleine Strukturschäden“, INTERNATIONAL Staatsgewalt vom Volke aus“, betonte Sibylle Kessal- so Simon. Das sorge dafür, dass Zellen nicht mehr Wulf abschließend, ehe sie die vielen Fragen aus dem effektiv arbeiten. Sport sei in der Lage, den sortierten Publikum beantwortete. Zustand der Partitur zu erhalten. Er habe aber auch negative Effekte. Vor allem extremer Sport sei eine Ganz und gar nicht juristisch war der Vortrag von nicht unerhebliche Belastung für unsere Gesundheit. Professor Dr. Dr. Perikles Simon, abgesehen da- Treibe man jedoch regelmäßig Sport und vermeide von, dass wir alle das Recht auf Bewegung nutzen Extrembelastungen wie Marathonläufe, könne das sollten. Der Leiter der Abteilung für Sportmedizin an Sterblichkeitsrisiko merklich gesenkt werden. „Sicher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz widmete ist, dass wir Menschen davon profitieren, wenn wir PERSONALIA sich dem Thema „Sport: Über das Fassungsvermö- den Energiefluss auf hohem Niveau am Laufen halten gen eines Jungbrunnens“. Gehören Sie auch zu den und möglichst viel Sauerstoff verbrennen. Allerdings Menschen, die sich regelmäßig vornehmen, mehr müssen die entsprechenden Bereiche optimal funk- Sport zu treiben? Oder sind Sie bereits aktiv, um ihre tionieren“, so Simon. „Der Sauerstoff muss von der >>
»Der Mauerfall ist Geschichte. Eine gute Geschichte. Eine Weltgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte.« Lunge und vom Herz-Kreislauf-System transportiert werden und der Muskel muss in der Lage sein, diesen zu nutzen. Das schwächste Zahnrad bestimmt letzt- endlich, wieviel Sauerstoff umgesetzt wird.“ Doch selbst wenn alles mittelmäßig läuft, kann man zu den Besten gehören. Hat jeder die gleichen Voraussetzungen, seinem Schicksal zu entgehen? „Mit physischer Aktivität können wir den Körper unterstützen, allerdings sind Fitnessunterschiede zum großen Teil angeboren. Sport kann uns stabilisieren und das Versterben nach hinten schieben, jedoch nicht so stark, wie es durch die physische Grundfitness möglich ist“, so Simon. Trotzdem sei es wichtig, Menschen zum Sport zu mo- tivieren und Hemmschwellen einzudämmen. „Schaf- fen wir es, dass Menschen fitter werden, erreichen wir etwa eine Verbesserung von 15 Prozent. Damit kann das Risiko, an Herz-Kreislauferkrankungen zu erkranken, bereits deutlich gesenkt werden. Auf die Alltagstauglichkeit wirkt sich das sehr positiv aus“, verdeutlichte Simon die Effekte. „Erinnern tut gut“: Marianne Birthler berührte das Ob und wie intensiv sich Menschen bewegen, Publikum mit persönlichen Erinnerungen und Gedanken kann gesundheitspolitisch beeinflusst sein. Wäh- zum Mauerfall vor 30 Jahren. rend Infrastruktur und Motivation in anderen Län- dern gefördert werden, stehe Deutschland auf den hinteren Plätzen im Bereich der körperlichen Aktivität von Kindern. „Es ist eine Frage der Schwerpunktset- Der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, sei allen, die zung. Wir haben in Deutschland eine auf Krankheit ihn erlebt haben, in guter Erinnerung. „Erinnern tut zentrierte Gesundheitspolitik. Daran müssen wir gut. Jeder weiß noch, was er damals gemacht hat arbeiten“, appellierte der Sportwissenschaftler an die und wo er war“, sagte Marianne Birthler. Das Thema Politik und die Gesellschaft. „Wir müssen in Familien bewegt sie. Nicht nur, weil sie elf Jahre lang die Be- und Kindergärten mehr Prävention betreiben, denn hörde leitete, die lange ihren Namen trug. Nein, auch bereits im siebten Lebensjahr gibt es einen maxi- weil sie als Oppositionelle in der damaligen DDR in malen Anstieg des Körpergewichts. Diese sozialen der Bewegung in der Gethsemanekirche Berlin und Faktoren dürfen wir nicht unterschätzen“, so Simon. später am Runden Tisch Wende und Wiedervereini- „Als Ergänzung zum persönlichen Kontakt kann man gung hautnah miterlebt hatte. Sie nahm das Publi- Patienten durch Telemedizin digital unterstützen“, kum im Audimax mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1989. stellte Simon die Möglichkeiten neuer Technologien Der 9. November 1989 ist zum Symbol für die vor. Es gebe außerdem die Leistungsdiagnostik, die Überwindung der deutschen Teilung und den Fall mit der medizinischen zusammenarbeite. Hier nannte des Eisernen Vorhangs geworden. „Aber nicht erst Simon das Beispiel der DNA-Analyse, die er in seinem dann. Schon vorher hatten im damaligen Ostblock Vortrag ausführlich darstellte. Ereignisse wegweisenden Charakter. Denken Sie an Dass dieser begeisterte, zeigte sich in den Solidarność in Polen. Aber auch in der DDR brodel- konkreten Fragen des Publikums. Perikles Simon te es, als die Kommunalwahlen am 7. Mai sich als gab ausführliche Antworten zu Knieproblemen, Ar- gefälscht herausstellten. Gleichzeitig blickten wir in throse und Osteoporose bei älteren Menschen, zu eine bange Zukunft, denn wir mussten mit Entsetzen den Vorteilen von Ausdauer- oder Krafttraining bei zusehen, wie das kommunistische Regime in China Hobbysportlern oder auch zu den gesundheitlichen Proteste im Juni ´89 blutig niederschlug.“ Dass es Chancen und Risiken von Homeoffice. dann zur friedlichen, unblutigen Revolution kam, sei dem Mut der Menschen zuzuschreiben gewesen. Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte Hinzu kamen glückliche Umstände. „Gorbatschow für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, hatte die Breschnew-Doktrin außer Kraft gesetzt, zog zum Thema „Revolution und Mauerfall. 30 Jahre es flohen bereits viele Menschen über Ungarn und danach“ eine Bilanz der Wiedervereinigung und ge- andere Wege – und die Wirtschaft lag am Boden. Tja, währte dabei auch ganz persönliche Einblicke in ihre ein Jahr später gab es die DDR nicht mehr“, erzählt bewegte Biografie. Frauke Sander erinnerte bei der die 71-Jährige. Vorstellung Birthlers daran, dass der Mauerfall und Vielleicht wäre es besser gewesen, alles mit die Wiedervereinigung Deutschlands wenige Monate mehr Zeit umzusetzen. „Aber mal ehrlich: Die Ost- vor dem 9. November 1989 noch undenkbar schie- deutschen wollten die D-Mark, wollten das hohe nen. Tempo damals. Bei vielen wich die Begeisterung 052 | 053 HS PF KONTUREN 2020
EDITORIAL | INHALT | ÜBERBLICK WAHLEN CORONA HOCHSCHULE UND ÖFFENTLICHKEIT Zwischen 17 und 70 +: Das Publikum des Studium Generale. Fotos: Annika Borchers diges Viertel für fast 30 Jahre in zwei Teile schnitt. „Hier mischen sich deshalb so viele verschiedene Gefühle. Bei mir überwiegen die positiven. Der Mauer- fall ist Geschichte. Eine gute Geschichte. Eine Weltge- schichte. Eine Erfolgsgeschichte“, freute sich Birth- dann aber schnell. Vielen blieb ein Gefühl der Zweit- ler. Im Anschluss an ihren mit viel Applaus bedachten klassigkeit. Das zeigte sich in den hohen Wahlergeb- Vortrag stand sie dem Publikum noch lange für Fragen nissen für die Linkspartei. Heute wählen viele der zur Verfügung und nahm Besucher im Gespräch auf Enttäuschten die AfD“, bedauert Birthler. Dies sei eine Zeitreise mit. „Erinnern tut gut.“ jedoch nicht alles den Nachwehen der Wiederverei- nigung zuzuschreiben. Auch eine gewisse Überforde- Wenige Monate nach Marianne Birthlers Vortrag rung mit Auswirkungen der Globalisierung sowie eine folgte die große Zwangspause für das gesamte öf- zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik seit der AUS FORSCHUNG UND LEHRE fentliche und private Leben nahezu überall auf der Finanzkrise seien Ursachen. „In manchen Aspekten Welt. Das Auftreten des neuartigen Corona-Virus spürt man immer noch die Auswirkungen der Zuge- durchkreuzte im Frühling auch alle Pläne für ein hörigkeit zum Ostblock. Denn anders als im Westen Studium-Generale als Live-Event. „Zwar nutzen wir gab es keinen Versöhnungsprozess Ostdeutschlands als eine der wenigen Hochschulen rund 200 virtuelle mit den westlichen Alliierten. Manches war aber auch Hörsäle, das Studium Generale aber wollten wir be- positiv im Osten. Wir hatten in der DDR einen ganz wusst nicht virtualisieren“. Die Wissenschaftlichen bestimmten Eigensinn“, erinnert sich Birthler. Leiterinnen waren sich einig, dass die Präsenz cha- Heute genieße sie wie die meisten Bürger in Ost- rismatischer Referent*innen und der kommunikativ- deutschland die Freiheit. „Man kann sich einen poli- entspannte Ausklang im Foyer den besonderen Cha- tischen Witz erzählen, ohne sich vorher umsehen zu rakter ausmachen. Um nicht ein weiteres Semester müssen. Die Seen und Flüsse sind sauber und man auf das Studium Generale verzichten zu müssen, kann überall baden.“ Dass nicht alle diese Freiheit werden wir im Wintersemester 20/21 schauen, wie gutheißen, wundere sie manchmal. „Müssten nicht INTERNATIONAL wir die Möglichkeit für eine Kombination von Präsenz gerade diejenigen Anhänger von Demokratie und Frei- und Streaming optimal nutzen, stimmen Christa heit sein, die selbst in einer Diktatur lebten?“ Wehner und Frauke Sander überein und freuen sich Zum Zusammenwachsen und zur Verteidigung auf ein Wiedersehen im Studium Generale. der Freiheit sei die Rückbesinnung auf die Geschich- te immer wieder wichtig. „Gerade die Jüngeren von Ihnen werden für Europa noch viel zu leisten haben. Wenn wir uns an diejenigen besinnen, die für die Freiheit ihre Köpfe hingehalten haben. Dann können ANNIKA BORCHERS wir alle ´89er sein“, richtete sie zum Abschluss ihren ist PR-Referentin in der Zentralen Presse- PERSONALIA Appell an das begeisterte Publikum. und Öffentlichkeitsarbeit der Hochschule. Übrigens: Heute wohnt Marianne Birthler rund AXEL GREHL 300 Meter von der ehemaligen Mauer entfernt, die leitet die Zentrale Presse- und Öffentlich- damals an der Bernauer Straße in Berlin ein leben- keitsarbeit der Hochschule.
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