ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN
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titel „Ich würde gerne eines Tages ohne Medikamente auskommen“ Rafael*, 18 V erständnis für sein Verhalten erntete Rafa- el nie, im Gegenteil, so seine Erinnerung an Mitschüler und Lehrer: „Ich war immer der schlimme Bub, wurde gemobbt, gehän- selt und ausgegrenzt. Da wird jeder einmal aggressiv.“ Rafael fiel bereits als Baby auf, schlief wenig und war im Kindergarten sehr unruhig. Vor dem Schuleintritt wurden bei ihm ADHS sowie ein Asperger-Syndrom diagnostiziert. Letzteres reicht bereits ins Autismusspektrum und ist vor allem durch soziale Defizite definiert. Rafael erhielt seit seinem sechsten Lebens- jahr ADHS-Medikamente wie Ritalin, Con- certa, auch Rispertal – von dem er rasch zu- nahm. Sogar Seroquel wurde ihm verschrie- ben, das eigentlich gegen Schizophrenie eingenommen wird. Von diesem wurde er je- doch depressiv und war so abwesend, dass sogar die Lehrer meinten, man könne „die- ses Medikament dem Jungen nicht antun“. Einfach sei es übrigens nicht gewesen, an die- se Medikamente zu kommen, seine Mutter musste oft persönlich beim Chefarzt der Krankenkasse vorstellig werden. Die Eltern ermöglichten Rafael auch sämtliche Thera- pien. „Diese haben wir jedoch gänzlich pri- vat bezahlt, da sonst die Wartezeit zu lange gewesen wäre“, erzählt seine Mutter. Da die Mitschüler Rafaels soziale Defizite nicht verstanden, nutzten sie seine Schwächen gerne gegen ihn. Er geriet leicht in Schläge- reien und musste mehrmals die Schule wech- seln, besuchte zuletzt ein sonderpädagogi- sches Zentrum, das allerdings für schwer be- hinderte Kinder vorgesehen ist. „Ebenso fehlte es oft den Lehrern an Verständnis, sie sahen nur das aggressive Verhalten, haben jedoch nie hinterfragt, warum es dazu kam“, berichtet Rafaels Mutter. „Mich brachten auch bald die unzähligen Einträge im Mitteilungs- heft mit Formulierungen wie ,Sorgen Sie da- für, dass Ihr Kind …‘ auf die Palme, da einem ständig das Gefühl gegeben wird, in der Er- ziehung versagt zu haben.“ Mit 13 Jahren wollte Rafael „einfach normal sein“ und setz- te die Medikamenteneinnahme aus. Doch dann bekam er, wie er sagt, „nichts mehr mit“. Deshalb schluckt er bis heute Strattera. „Ger- ne würde ich eines Tages ohne Medikamente auskommen“, meint Rafael, der heute im drit- ten Anlauf einen so genannten integrativen Lehrplatz als Koch und Kellner gefunden hat. * Alle Namen von der Redaktion geändert. 70 profil 7 • 11. Februar 2013
ndchenschem Zehntausende Kinder schlucken Psychopharmaka – was medizinisch nicht gerecht fertigt ist. Die Gründe für die Fehlbehandlung echter und vermeintlicher psychischer Leiden: der voreilige Griff zum Rezeptblock und eine erschre- ckend löchrige psychiatrische Versorgung. Von Tina Goebel, Fotos: Philipp Horak A lexander* liebt Bücher. Stun- denlang kann sich der Zwölf- jährige in eine Geschichte vertiefen. „Wenn er etwas liest, das ihn interessiert, ist er hoch konzentriert. Lei- der ist das in der Schule nicht so“, seufzt seine Mutter Brigitte W. Vom ersten Schul- tag an war der Bub auffällig, konnte nicht still sitzen, krabbelte am Boden umher. Zu Hause musste er nachschreiben, was er im Unterricht versäumt hatte. Warum ihr Sohn, der zu Hause keine Probleme bereitete, in der Schule so aus der Reihe fiel, kann sich Brigitte W. nicht erklären. Auch eine Schulpsychologin fand kei- ne eindeutige Diagnose. Alexander wurde zu einer Ergotherapeutin geschickt, die von den Eltern privat bezahlt wurde, da die Wartezeit auf einen Kassenplatz zu lan- ge gewesen wäre. Dennoch waren Alex- anders Noten gegen Ende der zweiten Klasse so schlecht und die Lehrerin sowie die Eltern nervlich dermaßen am Ende, dass die Familie einen weiteren Kinder- psychiater aufsuchte. Nach einer Warte- zeit von einem Dreivierteljahr erhielt sie endlich einen Termin sowie eine Diagno- 11. Februar 2013 • profil 7 71
titel D ie ersten beiden Volksschul- jahre hat Marc völlig ver- drängt. Er konnte sich nicht konzentrieren, schweifte oft mit den Gedanken ab und musste regelmäßig mit dem Rad zurück in die Schule fahren, um verges- sene Hefte oder Schulbücher zu holen. Die Lehrerin rügte ihn oft, er sei ein kleines „Träumer- lein“. Erst später wurde bei Marc ADS diagnostiziert – ein Auf- merksamkeitsdefizit-Syndrom ohne Hyperaktivität. Marc war eher ein stilles Kind, hatte we- nige Freunde, konnte dafür stundenlang komplizierte Lego- Technikbauteile zusammenset- zen. Das Präparat Concerta nimmt er seit sieben Jahren – seit seine Mutter keinen ande- ren Ausweg mehr sah: „Es ging um die Entscheidung, ob mein Sohn ins Gymnasium gehen kann oder nicht. Mir ist eine Psychopharmaka-Medikation sehr schwer gefallen. Aber ich wollte ihm eine normale Schul- karriere ermöglichen, er ist in manchen Bereichen sogar hoch- begabt.“ Marc wurde zunächst das Medikament von seiner Mutter untergejubelt – sie war skep- tisch und wollte wissen, ob es wirklich wirkt und nicht nur ei- nen Placeboeffekt hervorruft. Doch tatsächlich meldete schon bald die Schule zurück, dass der Bub sich viel besser konzentrie- ren kann. Trotzdem ist Concer- ta keine Wunderpille, wie Marc betont: „Ich kann mich trotz des Medikaments oft nicht konzen- trieren. Ich schaue zum Beispiel einen Gegenstand an und drifte dann mit den Gedanken völlig „Ich kann mich trotz der ab, auch wenn ich mich kon- zentrieren will.“ Im Gymnasium Medikamente oft schwer kommt er heute dennoch sehr konzentrieren“ gut zurecht, findet großen Ge- Marc*, 16 fallen an Biologie und vor allem an Informatik. 72 profil 7 • 11. Februar 2013
se: Alexander leidet an einem Aufmerk- „bei diesen mangelstruk- samkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), salopp Zappelphilipp-Syndrom turen ist es nicht verwun- genannt. Fortan bekam er das Medika- derlich, wenn kinderpsy- ment Ritalin verschrieben, seine Konzen- chopharmaka bekommen tration verbesserte sich, seine Lehrerin war zufriedener. – obwohl sie nur eine psy- APA/HANS KLAUS TECHT Doch die Nebenwirkungen waren eben- chotherapie bräuchten“ so beachtlich. „Sein Appetit war weg, was Paulus Hochgatterer, ein Problem darstellte, da er immer schon Kinder- und Jugendpsychiater dünn war. Außerdem schlief er schlecht, war deshalb in der Schule dann oft müde“, das monetäre Äquivalent von Kleinwägen werden, was nicht in der Statistik der Kas- erinnert sich seine Mutter. Da das Ritalin in Therapien gebuttert, die meist nur mi- sen aufscheint. nach einem halben Jahr nicht mehr wirk- nimale Linderung bringen. Als letzter Aus- Dass all jene Kinder, die ADHS-Medi- te und die Dosis erhöht hätte werden müs- weg bleiben oftmals Medikamente, welche kamente verschrieben bekommen, tat- sen – was auch eine Verstärkung der Ne- den Kindern im besten Fall zumindest eine sächlich an einer klinisch indizierten Auf- benwirkungen mit sich gebracht hätte –, normale Schulkarriere ermöglichen. merksamkeitsstörung leiden, bezweifeln wurde Alexander auf Strattera umgestellt, Die Krankenkassen beobachten seit Experten wie der Kinderpsychiater Max ein anderes ADHS-Medikament. Aller- Jahren deutlich vermehrte Verschreibun- Friedrich massiv. „ADHS wird meist gene- dings setzten hier noch gravierendere gen von Psychopharmaka, die zwar alle tisch vererbt, deshalb muss die Anzahl der Nebenwirkungen ein: „Er wurde depres- Altersgruppen betreffen, jedoch schon bei Fälle über die Jahre relativ konstant blei- siv, in der Schule hieß es plötzlich, dass Kindern und Jugendlichen einsetzen. So ben“, sagt Friedrich. „Schon alleine deshalb gar nichts mehr geht.“ erhalten derzeit in Österreich rund 8100 ist der rapide Anstieg nicht nachvollzieh- Die dritte Volksschulklasse konnte der Kinder unter zehn Jahren und 26.000 Ju- bar, denn es handelt sich ja nicht um ein Bub so nicht bestehen: Er blieb sitzen. gendliche zwischen zehn und 19 Jahren übertragbares Virus wie bei der Grippe.“ Dann kam er in eine Integrationsklasse, in Psychopharmaka. Während es bei kleinen Warum dann der Anstieg an Verschrei- der zusätzlich zwei Lehrer arbeiteten, die Kindern vorwiegend so genannte Psycho- bungen? Psychostimulanzien fallen unter sich speziell um Kinder mit solchen Prob- stimulanzien wie Ritalin sowie angstlösen- das Suchtmittelgesetz, außerdem herr- lemen kümmerten. Zusätzlich wurde er auf de Substanzen sind, steigt bei den Jugend- schen strenge gesetzliche und medizini- einen Amphetaminsaft umgestellt, der das lichen die Menge der Antidepressiva und sche Richtlinien bezüglich der Abgabe. Gehirn ähnlich stimuliert wie Ritalin oder Antipsychotika, die gegen Wahnvorstel- Dennoch erhalten viele Kinder und Ju- Strattera. Heftige Nebenwirkungen blie- lungen und Schizophrenie verschrieben gendliche diese Medikamente – und wenn ben aus, in der Schule kam er besser zu- werden. Der Anstieg ist zwar einerseits er- man den Kritikern glaubt, nicht selten recht, und heute kann Alexander eine klärbar, da in Österreich eine Mangelver- ohne ausreichende Diagnostik. Eine Ursa- konventionelle Mittelschule besuchen. sorgung herrscht, die langsam nachgeholt che dafür liegt schlicht in mangelnder In einschlägigen Foren häufen sich Ein- wird – allerdings ist unverständlich, war- Fachkompetenz: Denn in Österreich gibt träge mit Hilferufen verzweifelter Eltern, um sich etwa die Verordnungen von Prä- es zu wenige Kinder- und Jugendpsychi- die ähnliche Leidensgeschichten erzählen. paraten wie Ritalin an unter 19-Jährige ater, die eine solide Expertise vornehmen Im Zentrum steht stets ein Kind, dessen seit 2005 verdoppelt haben. Dabei sind die könnten – und damit eine äußerst löchri- Verhalten Eltern und Lehrer die letzten Ner- Daten der Sozialversicherung unvollstän- ge Versorgungsinfrastruktur. Wer nicht ven kostet. Fast immer wird mangels recht- dig – denn viele Psychopharmaka können wie Alexanders Mutter monatelang auf ei- zeitig verfügbarer Kassentherapieplätze in der Apotheke via Privatrezept bezogen nen Termin beim Spezialisten warten Pillenlawine Die Abgabe von Psychopharmaka nach Präparaten und Altersgruppen. Seit Jahren steigt der Verbrauch bei unter 19-Jährigen generell stark an. 11. Februar 2013 • profil 7 73
titel Kleine tungsfähigkeit. Methyl- phenidat blockiert un- Nebenwirkungen: Da Methylphenidat als Essstörungen, chroni- schen Schmerzen, Apothekenkunde ter anderem die Wie- deraufnahme von Betäubungsmittel ein- gestuft wird, fällt die Schlafstörungen sowie posttraumatischen Be- Von Antidepressiva bis Valium: Dopamin, das sich im Verschreibung unter lastungsstörungen ver- die wichtigsten Psychopharmaka für synaptischen Spalt das Suchtmittelgesetz. schrieben. Durch sie Kinder und Jugendliche und zwischen den Nerven- Als Nebenwirkungen kann der körpereigene deren Effekte im Überblick. enden ansammelt und treten gelegentlich Ap- Neurotransmitter Sero- zu einem erhöhten Sig- petitlosigkeit, Schlaflo- tonin im Gehirn besser nalaufkommen zwi- sigkeit, Kopfschmerzen, wirken. Serotoninman- schen den Nervenzellen Übelkeit, Angstzustände gel im Gehirn ist oft Die Konzentrationspillen führt. So wird Müdig- und Depressionen auf. Auslöser von Depressio- Es war das Jahr 1944, keit unterdrückt, kör- Da es noch zu wenige nen und depressiven als Leandro Panizzon, perliche Leistungsfähig- Langzeitstudien gibt, Verstimmungen. Aller- ein Angestellter des keit und Konzentration kann schwer gesagt dings: Für viele Antide- heutigen Pharmakon- werden gesteigert. Die werden, ob Kinder und pressiva werden aus zerns Novartis, den Arz- Wirkung lässt jedoch Jugendliche, die über ökonomischen Grün- neistoff Methylphenidat nach durchschnittlich einen längeren Zeit- den von den Pharma synthetisierte. Damals zwei Stunden nach. Me- raum Methylphenidat firmen keine speziellen waren Selbstversuche thylphenidat schützt konsumieren, Schäden klinischen Studien üblich, und so schluckte Patienten, die unter davontragen. Versuche unter Kindern und Panizzon den Wirkstoff ADHS leiden, vor einer an Ratten zeigten, dass Jugendlichen durch selbst und gab ihn auch ständigen Reizüberflu- sich unter Einfluss der geführt. Deshalb gibt es seiner Frau Rita. Diese tung und schafft ein Substanz das Gehirn bei nur wenige zugelassene berichtete begeistert, normales Erregungsni- Tieren, die noch nicht Präparate, die noch dass sich nach der Ein- veau. Als Alternative zu geschlechtsreif waren, dazu aus den 1960er- nahme ihr Tennisspiel Methylphenidat gibt es nicht optimal entwi- Jahren stammen und deutlich verbessert ha- in der Behandlung von ckelte. vielfach überholt sind. be. Die Substanz wurde ADHS das Medikament Die Eltern müssen im unter dem Handelsna- Strattera (Inhaltsstoff: Die Stimmungs- Falle einer Behandlung men „Ritalin“ einge- Atomoxetin), welches aufheller mit modernen Antide- führt. Das Präparat wirkt nicht als Suchtgift gilt. Antidepressiva werden pressiva speziell infor- anregend, unterdrückt Handelsnamen: bei Zwangsstörungen, miert werden und ihre Müdigkeit und steigert Ritalin, Medikinet, Panikattacken, Angst- schriftliche Einwilli- kurzfristig die Leis- Concerta störungen, Phobien, gung zur Behandlung möchte, konsultiert deshalb den nieder- Burgenland kein einziger niedergelasse- auch Max Friedrich, werden in den nächs- gelassenen Praktiker. Der Großteil der Psy- ner Therapeut, der auf Kasse ordiniert. In ten Jahren in Pension gehen, ihre Stellen chopharmaka wird denn auch vom Haus- Niederösterreich wurden immerhin fünf nachzubesetzen dürfte sich schwierig ge- oder Kinderarzt verschrieben. Stellen geschaffen, von denen mittlerwei- stalten. Und die Richtlinien der Ärztekam- Statistiken belegen das Dilemma: Rech- le vier besetzt sind. Gesundheitsminister mer erlauben es nicht, mehr Kinder- und net man deutsche und Schweizer Zahlen Alois Stöger hat die Kinder- und Jugend- Jugendpsychiater als bisher auszubilden. auf Österreich um, müssten hierzulande psychiatrie bereits zum „Mangelfach“ er- Welche Folgen die mangelnden Res- 800 Betten in Kinder- und Jugendpsych- klärt, kann aber kaum gegensteuern, da sourcen für Betroffene bedeuten, be- iatrien sowie Plätze in Ambulanzen und die Versorgung eine Agenda der Bundes- schreibt der Kinder- und Jugendpsychia- Tageskliniken zur Verfügung stehen. Je- länder ist. Psychisch kranke Kinder sind ter Paulus Hochgatterer: „Bei diesen Man- doch: Aktuell sind es lediglich rund 400, damit nicht zuletzt Opfer eines zutiefst ös- gelstrukturen ist es nicht verwunderlich, also gerade mal die Hälfte. Laut Kinder- terreichischen Strukturproblems, das auch dass Kinder und Jugendliche von ihren und Jugendanwaltschaft fehlen außerdem eine historische Komponente hat: Die Kin- Hausärzten Psychopharmaka verschrie- 60.000 bis 80.000 Kassentherapieplätze für der- und Jugendpsychiatrie wurde erst ben bekommen, obwohl sie manchmal Kinder und Jugendliche. Das erklärt die 2007 als eigenständiges Fach anerkannt. nur eine Psychotherapie bräuchten.“ Oft langen Wartelisten. Die Krankenkassen ließen jüngst zwar würde allerdings die lange Wartezeit auf Zudem müsste es bundesweit 164 nie- mit ambitionierten Plänen aufhorchen, einen Kassentherapieplatz dem Hausarzt dergelassene Kinder- und Jugendpsychi- mehr Psychotherapieplätze auf Kranken- kaum eine andere Wahl lassen, als den Re- ater mit Kassenverträgen oder in Ambu- schein zu ermöglichen – jedoch kann Geld zeptblock zu zücken – besser eine Pille in latorien geben. Jedoch findet sich in Bun- alleine naturgemäß nicht kurzfristig die der Hand als gar nichts. desländern wie Tirol, Wien und dem Zahl der Fachärzte erhöhen. Viele, wie Dabei sollten Kinder immer einer auf- 74 profil 7 • 11. Februar 2013
ihres Kindes geben. kamente werden auch verschriebenen Psycho- tionalität dämpfen. In und Zwangserkrankun- Handelsnamen: zur Dauerbehandlung pharmaka. Sie binden Wechselwirkung mit gen. Neuroleptika hem- Fluctine (in Amerika bei Epilepsie verwen- an die GABA-Rezepto- anderen Tranquilizern men die Übertragung Prozac), Cipralex, det. ren im Gehirn, die im oder mit Alkohol kön- des Neurotransmitters Seropram, Seroxat, Handelsnamen: zentralen Nervensystem nen sich gar lebens Dopamin. Psychosen Tresleen, Trittico Convulex, Depakine, eine wesentliche Rolle bedrohliche Zustände und Wahnzustände Nebenwirkungen: Lamictal, Neurotop, spielen. Dadurch dämp- einstellen. Kurz einge- können oftmals zwar In seltenen Fällen (zwei Quilonorm, Seroquel, fen sie generell die nommen wirken sie an- nicht geheilt, wohl aber Prozent) entwickeln Zyprexa Gehirnfunktion, wirken tidepressiv, können län- gut behandelt und der Patienten bei der Ein- Nebenwirkungen: angstlösend und ent- gerfristig aber Depressi- Ausbruch von Psycho- nahme von Antidepres- Gewichtszunahme, spannend, machen onen auslösen. Kinder sen unterdrückt wer- siva zunächst Selbst- Schwindel, Übelkeit, jedoch auch schläfrig, und Jugendliche sollten den. Für viele Betroffe- mordgedanken, die Hautausschläge, Zittern weshalb sie oft auch als außer in akuten Ex ne war mit Einführung jedoch bald abklingen und Müdigkeit. Seit Schlafmittel verwendet tremfällen nicht mit der Neuroleptika in den sollten. Je nach Präpa- 2002 ist bekannt, dass werden. Tranquilizern behan- 1950er-Jahren erstmals rat können eine Viel- Depakine einen negati- Handelsnamen: delt werden. ein normales Leben au- zahl von Nebenwirkun- ven Einfluss auf das Valium, Psychopax, ßerhalb einer Psychia gen auftreten, die von kindliche Gehirn hat, Temesta, Xanor Die Realitätsbrillen trie möglich, obwohl die Schlafstörungen über da es den Zelluntergang Nebenwirkungen: Viele so genannte Neu- ersten Präparate auch Übelkeit und Kopf- beschleunigt. Tranquilizer können roleptika kommen auch heftige Nebenwirkun- schmerzen bis zur schnell zu einer körper- als Beruhigungs- und gen wie schwere Stö- Gewichtszunahme Die Angstlöser lichen Abhängigkeit Schlafmittel sowie als rungen des Bewegungs- reichen. und Schlafmittel führen, sie sollten des- Angstlöser zum Einsatz. apparats zeitigten. Angstlösende Medika- halb nur als Akutmedi- Diese speziellen Wirk- Handelsnamen: Die Ausgleicher mente sind besser als kation verwendet wer- stoffe werden auch Abilify, Haldol, Diese Medikamenten- Tranquilizer bekannt. den. Außerdem können zur Bekämpfung von Risperdal, Seroquel, gruppe wird bei ma- Obwohl verschiedene sie auch untertags Wahnvorstellungen Zeldox, Zyprexa nisch-depressiven Wirkstoffgruppen zum Schläfrigkeit auslösen. und Halluzinationen Nebenwirkungen: Störungen eingesetzt. Einsatz kommen, sind Sie beeinträchtigen da- Schizophreniekranker Schlaflosigkeit, innere Sie heißen auch Pha- die so genannten her das Reaktionsver- sowie bei manischen Unruhe, Angstgefühle, senprophylaktika, weil Benzodiazepine, auch mögen, die Sinnes Zuständen verwendet. Kopfschmerzen, oftmals sie manische sowie „Benzos“ genannt, am wahrnehmung und die Sie eignen sich jedoch eine enorme Gewichts- depressive Phasen weitesten verbreitet. Körperbeherrschung, ebenso zur Behandlung zunahme von bis zu ausgleichen sollen. Tranquilizer gehören können Kopfschmerzen von Autismus, Tourette- dreißig Prozent des Manche dieser Medi zu den am häufigsten auslösen und die Emo- Syndrom, Depressionen Körpergewichts. Der Aufmerksamkeits-Booster wändigen, dreiphasigen Diagnose unter- Wie Methylphenidat, der Wirkstoff von Medi- zogen werden – einer ärztlichen, einer psy- kamenten wie Ritalin, auf das Gehirn wirkt. chologischen und einer pädagogischen. Oft zeigt nämlich eine solche Abklärung, 1 Die Synapse, die Verbindungs dass ein Kind nur an einer Teilleistungs- stelle zwischen zwei Nerven- störung oder Legasthenie leidet und des- zellen, schüttet den wich- halb in der Schule überfordert ist. Manche tigen Botenstoff Dopamin sind gar hochbegabt, langweilen sich und aus, den die Rezeptoren der werden bloß deshalb im Unterricht auf- anderen auffangen. fällig. Medikamente sollten überhaupt erst dann verabreicht werden, wenn eine Psy- 2 Kanäle, die als Pumpen fun- chotherapie nicht greift. Durch die man- gieren, transportieren das gelnde Versorgung wird diese Praxis in Ös- Dopamin zurück in die Ner- terreich jedoch oftmals umgekehrt. venzelle. „Ich schätze, dass von zehn Kindern, die von ihren Eltern wegen angeblichem 3 Methylphenidat verstopft ADHS zu uns gebracht werden, nur maxi- diese Kanäle und sorgt dafür, mal zwei wirklich diese Störung haben“, dass mehr Dopamin im Synap- sagt der Wiener Kinder- und Jugendpsy- senspalt verbleibt und damit chiater Christian Kienbacher. „Und nur ei- intensiver wirkt. nes davon braucht eine medikamentöse 11. Februar 2013 • profil 7 75
titel M oritz hatte keinen leich- ten Start ins Leben. Seine Mutter war Alkoholikerin, nahm in der Schwangerschaft Medikamente und rauchte, wes- halb er zur Finanzbeamtin Gabi H. in Pflege kam. Obwohl sich diese aufopfernd um das Baby kümmerte, schlief Moritz in der Nacht kaum und schrie oft. Mo- ritz’ Gehirn dürfte durch das Verhalten seiner Mutter in der Schwangerschaft eine Schädi- gung erlitten haben. Bereits im Alter von neun Monaten erhielt der Junge seine erste Ergo- und Physiotherapie, später folgten eine so genannte Frohsch-The- rapie, bei der mit Puppen gear- beitet wird, und heilpädagogi- sches Reiten. Zudem besucht Moritz seit seinem vierten Le- bensjahr eine Psychotherapie. Für viele der teuren Thera- piestunden erhielt Gabi H. nur einen geringen Zuschuss, das heilpädagogische Reiten musste sie gänzlich selbst bezahlen. In der Schule wurde Moritz schließ- lich bald durch Tobsuchtsanfäl- le auffällig, irgendwann war sei- ne Pflegemutter nervlich am Ende. „So ein Kind bleibt nicht nur in den schulischen Leistun- gen zurück, es ist generell ein Außenseiter, da die Menschen die Umstände leider nicht hin- terfragen“, sagt die Finanzbeam- tin. Trotz Bedenken und nach ausführlicher medizinischer Abklärung rang sich H. schließ- lich zu einer medikamentösen Therapie durch: „Viele sagen mir, ich würde mein Kind mit Drogen vollstopfen. Doch Eltern sind am Ende, wenn sie sich zu so einer Entscheidung durchringen.“ „Ich bin froh, dass es Zunächst erhielt Moritz mit neun Jahren einen Amphetaminsulfat-Saft. Die Aggressi- diese Medikamente gibt“ on legte sich, die Konzentration wurde besser Moritz*, 13 – doch als Nebenwirkungen hatte der Junge schwere Kopfschmerzen, weshalb er nach ein- einhalb Jahren auf das ADHS-Medikament Strattera umgestellt wurde, das nun zwar sei- nen Appetit hemmt, jedoch ansonsten die ge- wünschte Wirkung erzielt. Moritz besucht heute ein sonderpädagogisches Zentrum und ist „froh, dass es diese Medikamente gibt“. Ger- ne würde er einmal Tischler werden – fraglich ist, ob ihn ein Betrieb aufnimmt. 76 profil 7 • 11. Februar 2013
Von Ohrwürmern, Metallica immer. Plötzlich denke ich daran, dass ich noch Milch einkaufen muss. und anderen Hirngespinsten Ich fasse mich wieder. Anschließend muss ich ein paar berufliche E-Mails Taugt Ritalin wirklich zum Gehirn-Doping bei Erwachsenen, wie vor allem verfassen. Doch nach ein paar Nach- aus Studentenkreisen berichtet wird? Ein Selbsttest. richten bemerke ich, dass ich ins Sto- cken gerate. Ein Lied kommt mir in den Sinn, „Nothing Else Matters“ von Metallica. Ein Straßenmusiker hat es am Morgen in der Fußgängerzone ge- spielt. Ohrwürmer sind bei mir im- Therapie. Jedoch hat dann womöglich aus- gerechnet dieses Kind Eltern, die Psycho- pharmaka gänzlich ablehnen. Auch das H a, da ist jetzt endlich etwas! Ein leichtes Kribbeln hinter den Au- mer gefährlich. Sie drängeln sich ger- ne durchs Gehirn, wenn ich mich gen. Ist das nun die Wirkung? Die ers- eigentlich auf andere Aufgaben kon- ist fatal.“ te Tablette Ritalin brachte absolut kei- zentrieren sollte. Denn keineswegs dürften Präparate wie ne merkbare Veränderung, auch nach Wenn Ritalin dazu beitragen hätte Ritalin grundsätzlich verteufelt werden, mehr als einer Stunde nicht. Also zur sollen, dass sich diese Ohrwürmer vielmehr gehe es um Zielgenauigkeit. Ob- Sicherheit eine zweite eingeworfen. verflüchtigen und nervige Gedanken- wohl viele Psychopharmaka schwere Ne- Und dann das Kribbeln. ströme in meinem Gehirn versiegen – benwirkungen zeitigen können, überwie- Oder ist das nur Einbildung, wie dann hat es bisher definitiv nicht ge- gen deren Vorteile, wenn es um die The- die Psychiaterin meines Vertrauens wirkt. Umgekehrt: Wie könnten Pillen rapie wirklich gravierender Krankheiten überzeugt ist? Methylphenidat, also dazu überhaupt in der Lage sein? Wo- geht, wie etwa die 19-jährige Victoria* be- Ritalin, könne bei Gesunden ebenso her soll denn das Ritalin wissen, dass schreibt. Vor zwei Jahren, im Jahr vor der wenig wirken wie Antidepressiva bei es die Neuronen, die gerade „Nothing Matura, übernahm sie sich, begann neben Nichtdepressiven, hat sie erklärt. Die Else Matters“ durch die Hirnwindun- der Schule noch mit Gesangs-, Tanz- und Substanz könne zwar eine Störung gen jagen, bitte möglichst rasch zum Musikstunden. Ihr Gehirn lief auf Hoch- des Gehirnstoffwechsels ausgleichen, Schweigen bringen soll? Und stattdes- touren und kam nicht mehr zur Ruhe, aber keineswegs ein gesundes Gehirn sen das Sprachzentrum schnell auf massive Schlafstörungen setzten dem leistungsfähiger machen. „Was bei Hochtouren fahren sollte, damit intel- Mädchen zu, bei einer Party bekam sie ei- Gesunden maximal wirkt, ist die Ne- ligent klingende Sätze aus mir fließen? nen Zitteranfall. Sie begann auch unter benwirkung in Form von Herzrasen. Das Kribbeln ist noch immer da, Wahrnehmungsstörungen zu leiden. „Ich Doch dieser Effekt lässt sich auch mit Metallica übrigens ebenfalls. Wie aber habe das Gras viel grüner gesehen, die einem doppelten Espresso erzielen“, steht es nun mit der angeblich verbes- Flugzeuge hörte ich vor allem in der Nacht meinte sie. Vermutlich würden die serten Gedächtnisleistung? Merke ich so laut, dass sie mich am Einschlafen hin- Studenten, die wirklich Ritalin zum mir dank der Pille wirklich Dinge derten“, erzählt die Wiener Maturantin. Lernen benutzen, lediglich einen Pla- leichter und länger? Ich schnappe mir Als sie schließlich zehn Tage lang nicht ceboeffekt verspüren. ein gelbes Reclam-Heftchen aus dem mehr schlafen konnte, begab sie sich ins Ist das denkbar? Soll sich auch die Regal. Eine Komödie von Shakespeare. AKH. „Ich habe den Ärzten gesagt, sie sol- Mutter eines ADHS-Patienten, die Ich beginne einen Monolog einzustu- len mich ins Koma versetzen, ich will nur einmal die Pillen ihres Sohnes ab- dieren. Ich merke mir die einzelnen noch schlafen“, schildert Victoria. Diagno- zweigte, die Wirkung bloß eingebildet Verse aber leider auch nicht besser als se: eine bipolare affektive Störung, im haben? Die Frau schwor immerhin früher. Am nächsten Tag sind viele Volksmund besser als manisch-depressi- überzeugend, dass „das Zeug wirkt“. Zeilen bereits wieder vergessen. Ich ves Leiden bekannt. Mittels Therapien in Spüren Menschen wie sie wirklich muss diese wie gewöhnlich öfter wie- der Tagesklinik und Neuroleptika stabili- nur eine Placebowirkung? Oder ma- derholen, damit sie ins Gedächtnis sierte sich ihr Zustand. Zwar war sie nun chen ADHS-Medikamente Erwachse- übergehen. Auch hier hat Ritalin of- auch untertags extrem müde, nahm au- ne tatsächlich leistungsfähiger, helfen fensichtlich nicht gewirkt. ßerdem 30 Kilogramm zu. Doch Victoria, auch nach langen Wachphasen, die Ich bemerke allerdings, dass ich er- die aufgrund ihres psychischen Zustands Konzentration aufrechtzuerhalten, staunlich wach bin. Vermutlich die das letzte Schuljahr wiederholen musste, und sorgen zusätzlich dafür, dass sich unerwünschte Nebenwirkung – für konnte immerhin die Matura nachholen. die Gedächtnisleistung verbessert? mich aber eine durchaus willkomme- Fälle wie dieser deuten auf eine fehler- Während das Kribbeln einsetzt, ne. Denn bei einem Kaffee-Junkie hafte Wahrnehmung hin, so Kienbacher: gespanntes Warten. Bin ich wacher, greift Koffein schon längst nicht mehr. „Es wird suggeriert, dass ADHS die häufigs- konzentrierter? Wie kann sich Kon- Vielleicht ist es ja tatsächlich diese te Diagnose in der Kinder- und Jugend- zentriertheit überhaupt anfühlen? Nebenwirkung, dieses Herzrasen, das psychiatrie darstellt. Dabei gibt es unge- Absurd, denke ich, während ich dasit- einen wach hält und den Eindruck fähr zehnmal so viele Patienten, die unter ze und auf mehr Konzentration warte. hervorruft, man sei konzentrierter. Angststörungen leiden.“ Zudem wird ADHS Ich beginne, Artikel zu lesen. Bei Doch für gezielt provoziertes Herzra- am häufigsten bei Buben diagnostiziert, langweiligen Passagen gleiten die Ge- sen gibt es auch harmlosere Substan- die entwicklungsbedingt ohnehin aktiver danken langsam ab, eigentlich so wie zen – dafür bräuchte es kein Ritalin. 11. Februar 2013 • profil 7 77
titel „Der Anstieg an ADHS- gasthenie-Trainerin Alexandra Kaufmann aus dem Bezirk Gmünd berichtet: „Ich Fällen ist nicht nachvoll- kenne Eltern, die es nachträglich schwer ziehbar, da es sich ja nicht bereut haben, dass sie ihrem Kind Medi- um ein übertragbares kamente gegeben haben.“ Gut in Erinne- News Katharina/Stoegmueller virus handelt“ rung hat Kaufmann ein kleines Mädchen, das Ritalin erhielt. Die Eltern hatten sich Max Friedrich, gerade scheiden lassen und waren in ei- Kinder- und Jugendpsychiater nen Rosenkrieg verstrickt, nach einem Umzug kam das Kind zudem in eine neue Klasse. „Bei solchen Umständen ist es doch und in der Schule „schlimmer“ als Mäd- Kinder mit dieser Störung fallen bereits nicht verwunderlich, dass Kinder sich in chen sind – im medizinischen Sinne auf- früh auf. Durch die regelrechte Reizüber- der Schule nicht mehr konzentrieren kön- fällig muss das längst nicht sein. „Nach flutung schlafen sie schlecht, schreien mit- nen“, so Kaufmann. heutigem Verständnis hätte ich als Schü- unter die ganze Nacht, lehnen Körperkon- Auch Klaus Vavrik von der Liga für Kin- ler auch Ritalin bekommen müssen“, sagt takt ab. In der ADHS-Krankheitsdefinition der- und Jugendgesundheit betont die ge- Kinderpsychiater Friedrich. „Ich habe ge- der WHO war deshalb bislang festgehal- sellschaftlichen Einflüsse. „Viele Paare wer- nug Probleme verursacht und wurde bei- ten, dass eine derartige Störung schon vor den immer später Eltern. Die Kinder sind nahe der Schule verwiesen.“ Vielen Eltern dem Schuleintritt mit sechs Jahren auffäl- dann überbehütet und sollen möglichst sei gar nicht klar, was „echtes“ ADHS wirk- lig wird. Kürzlich wurde das Alter jedoch perfekt sein.“ Hinzu kommt, dass Bezie- lich ist. Dabei handelt es sich um eine auf zwölf Jahre angehoben, was zahlrei- hungen brüchiger werden, immer mehr meist vererbte Störung des Gehirns, bei che Experten kritisieren, da sie darin ei- Kinder die Scheidung ihrer Eltern erleben welcher Neurotransmitter im Frontallap- nen diagnostischen „Freibrief“ sehen, je- und sich in Patchworkfamilien einfügen pen und im limbischen System nicht kor- dem störenden Schulkind nun einfacher müssen. Das soziale Netz der Großfamilie rekt wirken. Neurotransmitter kommuni- das Etikett ADHS umzuhängen. schwindet, die Mütter sind durch ihre Be- zieren zwischen den einzelnen Nervenzel- Jüngste Untersuchungen gehen davon rufstätigkeit zusätzlich belastet. len und leiten Signale weiter. Da die aus, dass maximal 0,5 bis 1,5 Prozent aller Auch die Medienwelt setzt den Kindern Regulierung nicht mehr funktioniert, wird Kinder tatsächlich an ADHS leiden. In den zu, die Reizüberflutung von Internet und jeder Sinnesreiz – egal, ob optisch, akus- 1990er-Jahren kursierten noch Schätzun- Fernsehen führt dazu, dass Kinder niemals tisch oder taktil – gleich intensiv erlebt. gen, die bei 14 Prozent lagen. In den USA zur Ruhe kommen. Zusätzlich bewegen Für Kinder mit solch einer Störung ist wird heute bereits rund ein Viertel aller sich immer mehr Kinder zu wenig, was die Stimme der Lehrerin gleich laut wie Kinder mit Ritalin behandelt. Die ADHS- jedoch wesentlich für die Entwicklung ei- das Geräusch, das der Tischnachbar beim Diagnosen stiegen dort von 1989 bis 2001 nes ausgeglichenen Gehirns ist. Der deut- Bleistiftspitzen verursacht. Kindern mit um den Faktor 400. Bei Ritalin-Hersteller sche Hirnforscher Gerald Hüther kritisiert ADHS bleibt oftmals trotz intensiver The- Novartis klingeln dementsprechend die die steigenden Ritalin-Verordnungen rapien und Bemühungen eine normale Kassen. Der Schweizer Pharmakonzern hat scharf, weil seiner Ansicht nach die Ursa- Schulkarriere verwehrt, sie haben Proble- darauf reagiert und nun das Medikament chen für die Verhaltensauffälligkeiten an- me im Job, bauen schwer Beziehungen auf Focalin auf den Markt gebracht, eine Art derswo zu suchen seien: „Ich habe viele und neigen eher zu einer kriminellen Ritalin für spät diagnostizierte Erwachse- Kinder erlebt, die nicht in der Lage waren, Laufbahn. Studien an Häftlingen zeigten, ne mit Zappelphilipp-Syndrom. „Es ist un- ihre Aufmerksamkeit auf einen gemein- dass überproportional viele von ihnen glaublich, es wurden hierzulande sogar samen Fokus zu lenken, was in der Schu- ADHS-ähnliche Symptome aufweisen. Schuldirektoren von Pharmareferenten an- le ja unabdingbar ist. Diese Fähigkeit ist gerufen, die über die Vorzüge von Ritalin aber nicht angeboren, sie muss erst im geschwärmt haben“, ärgert sich Friedrich. Zuge der Sozialisation erlernt werden.“ Kranke Seelen Der Wiener Kinder- und Jugendpsych- Der Grund für dieses grassierende De- Der Gesamtverbrauch an Psycho iater Ralf Gössler beschreibt, welche Unsi- fizit laut Hüther: Kinder würden sich heu- pharmaka steigt in Österreich rapide an. cherheit bei Eltern herrscht: „Es kommt vor, te zu oft alleine beschäftigen. Viele Eltern dass Eltern einen Jugendlichen zu uns auf verbringen nicht ausreichend qualitative die Psychiatrie bringen, der jedoch in ei- Zeit mit ihren Kindern, genauso wichtig ner normalen adoleszenten Entwicklungs- ist das Spiel mit anderen Kindern unter- phase des Aufbegehrens steckt. Die Eltern schiedlichsten Alters. Von Älteren kann ge- machen dann alles nur noch schlimmer, lernt werden, und genauso kümmern sich da sie ihm suggerieren, dass mit ihm etwas Kinder gerne um Jüngere – was die sozi- nicht stimmt.“ Häufig seien Kinder „Sym- alen Fähigkeiten unmittelbar stärkt. Beim ptomträger“, die anzeigen, wenn innerhalb Toben am Spielplatz und in der Gruppe der Familie etwas schiefläuft. „Für ein Kind würden Kinder automatisch merken, wie reicht oft ein Faktor wie eine Scheidung, gemeinsam ein Ziel erreicht werden kann. um auffällig zu werden“, so Gössler. Solche Erfahrungen wirken besser als je- In solchen Fällen seien Medikamente des Ritalin, behauptet Hüther. Doch in Pil- naturgemäß die falsche Wahl, wie die Le- lenform sind sie nicht erhältlich. ■ 78 profil 7 • 11. Februar 2013
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