ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN

 
WEITER LESEN
ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN
titel

   „Ich würde gerne eines
   ­Tages ohne Medikamente
    ­auskommen“
    Rafael*, 18

  V      erständnis für sein Verhalten erntete Rafa-
         el nie, im Gegenteil, so seine Erinnerung
    an Mitschüler und Lehrer: „Ich war immer
    der schlimme Bub, wurde gemobbt, gehän-
     selt und ausgegrenzt. Da wird jeder einmal
    aggressiv.“ Rafael fiel bereits als Baby auf,
     schlief wenig und war im Kindergarten sehr
     unruhig. Vor dem Schuleintritt wurden bei
     ihm ADHS sowie ein Asperger-Syndrom
    ­diagnostiziert. Letzteres reicht bereits ins
   ­Autismusspektrum und ist vor allem durch
     soziale Defizite definiert.
        Rafael erhielt seit seinem sechsten Lebens-
     jahr ADHS-Medikamente wie Ritalin, Con-
    certa, auch Rispertal – von dem er rasch zu-
     nahm. Sogar Seroquel wurde ihm verschrie-
     ben, das eigentlich gegen Schizophrenie
     eingenommen wird. Von diesem wurde er je-
     doch depressiv und war so abwesend, dass
     sogar die Lehrer meinten, man könne „die-
     ses Medikament dem Jungen nicht antun“.
    Einfach sei es übrigens nicht gewesen, an die-
     se Medikamente zu kommen, seine Mutter
     musste oft persönlich beim Chefarzt der
     Krankenkasse vorstellig werden. Die Eltern
     ermöglichten Rafael auch sämtliche Thera-
     pien. „Diese haben wir jedoch gänzlich pri-
    vat bezahlt, da sonst die Wartezeit zu lange
     gewesen wäre“, erzählt seine Mutter.
        Da die Mitschüler Rafaels soziale Defizite
     nicht verstanden, nutzten sie seine Schwächen
    gerne gegen ihn. Er geriet leicht in Schläge-
     reien und musste mehrmals die Schule wech-
     seln, besuchte zuletzt ein sonderpädagogi-
     sches Zentrum, das allerdings für schwer be-
     hinderte Kinder vorgesehen ist. „Ebenso
     fehlte es oft den Lehrern an Verständnis, sie
     sahen nur das aggressive Verhalten, haben
     jedoch nie hinterfragt, warum es dazu kam“,
     berichtet Rafaels Mutter. „Mich brachten auch
     bald die unzähligen Einträge im Mitteilungs-
     heft mit Formulierungen wie ,Sorgen Sie da-
     für, dass Ihr Kind …‘ auf die Palme, da einem
     ständig das Gefühl gegeben wird, in der Er-
     ziehung versagt zu haben.“ Mit 13 Jahren
    wollte Rafael „einfach normal sein“ und setz-
     te die Medikamenteneinnahme aus. Doch
     dann bekam er, wie er sagt, „nichts mehr mit“.
    Deshalb schluckt er bis heute Strattera. „Ger-
     ne würde ich eines Tages ohne Medikamente
    auskommen“, meint Rafael, der heute im drit-
     ten Anlauf einen so genannten integrativen
    Lehrplatz als Koch und Kellner gefunden hat.
   * Alle Namen von der Redaktion geändert.

70 profil 7 • 11. Februar 2013
ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN
ndchenschem
         Zehntausende Kinder
         schlucken Psychopharmaka –
         was medizinisch nicht gerecht­
         fertigt ist. Die Gründe für die
         ­Fehlbehandlung echter und
          ­vermeintlicher psychischer
           ­Leiden: der voreilige Griff zum
            ­Rezeptblock und eine erschre-
             ckend löchrige psychiatrische
             V­ersorgung.

                                    Von Tina Goebel,
                                Fotos: Philipp Horak

         A
                           lexander* liebt Bücher. Stun-
                           denlang kann sich der Zwölf-
                           jährige in eine Geschichte
                           vertiefen. „Wenn er etwas
                           liest, das ihn interessiert, ist
                           er hoch konzentriert. Lei-
          der ist das in der Schule nicht so“, seufzt
          seine Mutter Brigitte W. Vom ersten Schul-
          tag an war der Bub auffällig, konnte nicht
          still sitzen, krabbelte am Boden umher. Zu
          Hause musste er nachschreiben, was er im
          Unterricht versäumt hatte. Warum ihr Sohn,
          der zu Hause keine Probleme bereitete, in
          der Schule so aus der Reihe fiel, kann sich
          Brigitte W. nicht erklären.
              Auch eine Schulpsychologin fand kei-
          ne eindeutige Diagnose. Alexander wurde
          zu einer Ergotherapeutin geschickt, die
          von den Eltern privat bezahlt wurde, da
          die Wartezeit auf einen Kassenplatz zu lan-
          ge gewesen wäre. Dennoch waren Alex-
          anders Noten gegen Ende der zweiten
          Klasse so schlecht und die Lehrerin sowie
          die Eltern nervlich dermaßen am Ende,
          dass die Familie einen weiteren Kinder-
          psychiater aufsuchte. Nach einer Warte-
          zeit von einem Dreivierteljahr erhielt sie
          endlich einen Termin sowie eine Diagno-

                                 11. Februar 2013 • profil 7 71
ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN
titel

   D     ie ersten beiden Volksschul-
         jahre hat Marc völlig ver-
   drängt. Er konnte sich nicht
   konzentrieren, schweifte oft mit
   den Gedanken ab und musste
   regelmäßig mit dem Rad zurück
   in die Schule fahren, um verges-
   sene Hefte oder Schulbücher zu
   holen. Die Lehrerin rügte ihn
   oft, er sei ein kleines „Träumer-
   lein“. Erst später wurde bei Marc
   ADS diagnostiziert – ein Auf-
   merksamkeitsdefizit-Syndrom
   ohne Hyperaktivität. Marc war
   eher ein stilles Kind, hatte we-
   nige Freunde, konnte dafür
   stundenlang komplizierte Lego-
   Technikbauteile zusammenset-
   zen. Das Präparat Concerta
   nimmt er seit sieben Jahren –
   seit seine Mutter keinen ande-
   ren Ausweg mehr sah: „Es ging
   um die Entscheidung, ob mein
   Sohn ins Gymnasium gehen
   kann oder nicht. Mir ist eine
   Psychopharmaka-Medikation
   sehr schwer gefallen. Aber ich
   wollte ihm eine normale Schul-
   karriere ermöglichen, er ist in
   manchen Bereichen sogar hoch-
   begabt.“
       Marc wurde zunächst das
   Medikament von seiner Mutter
   untergejubelt – sie war skep-
   tisch und wollte wissen, ob es
   wirklich wirkt und nicht nur ei-
   nen Placeboeffekt hervorruft.
   Doch tatsächlich meldete schon
   bald die Schule zurück, dass der
   Bub sich viel besser konzentrie-
   ren kann. Trotzdem ist Concer-
   ta keine Wunderpille, wie Marc
   betont: „Ich kann mich trotz des
   Medikaments oft nicht konzen-
   trieren. Ich schaue zum Beispiel
   einen Gegenstand an und drifte
   dann mit den Gedanken völlig  „Ich kann mich trotz der
   ab, auch wenn ich mich kon-
   zentrieren will.“ Im Gymnasium  ­Medikamente oft schwer
   kommt er heute dennoch sehr    ­konzentrieren“
   gut zurecht, findet großen Ge- Marc*, 16
   fallen an Biologie und vor allem
   an Informatik.

72 profil 7 • 11. Februar 2013
ICH WÜRDE GERNE EINES TAGES OHNE MEDIKAMENTE AUSKOMMEN
se: Alexander leidet an einem Aufmerk-               „bei diesen mangelstruk-
 samkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom
(ADHS), salopp Zappelphilipp-Syndrom
                                                     turen ist es nicht verwun-
genannt. Fortan bekam er das Medika-                  derlich, wenn kinder­psy-
 ment Ritalin verschrieben, seine Konzen-            chopharmaka bekommen
 tration verbesserte sich, seine Lehrerin war
 zufriedener.
                                                      – obwohl sie nur eine psy-

                                                                                                                                                       APA/HANS KLAUS TECHT
    Doch die Nebenwirkungen waren eben-                chotherapie bräuchten“
 so beachtlich. „Sein Appetit war weg, was                                   Paulus Hochgatterer,
ein Problem darstellte, da er immer schon                           Kinder- und Jugendpsychiater
dünn war. Außerdem schlief er schlecht,
war deshalb in der Schule dann oft müde“,          das monetäre Äquivalent von Kleinwägen              werden, was nicht in der Statistik der Kas-
erinnert sich seine Mutter. Da das Ritalin         in Therapien gebuttert, die meist nur mi-           sen aufscheint.
 nach einem halben Jahr nicht mehr wirk-           nimale Linderung bringen. Als letzter Aus-              Dass all jene Kinder, die ADHS-Medi-
 te und die Dosis erhöht hätte werden müs-         weg bleiben oftmals Medikamente, welche             kamente verschrieben bekommen, tat-
 sen – was auch eine Verstärkung der Ne-           den Kindern im besten Fall zumindest eine           sächlich an einer klinisch indizierten Auf-
 benwirkungen mit sich gebracht hätte –,           normale Schulkarriere ermöglichen.                  merksamkeitsstörung leiden, bezweifeln
wurde Alexander auf Strattera umgestellt,             Die Krankenkassen beobachten seit                Experten wie der Kinderpsychiater Max
ein anderes ADHS-Medikament. Aller-                Jahren deutlich vermehrte Verschreibun-             Friedrich massiv. „ADHS wird meist gene-
dings setzten hier noch gravierendere              gen von Psychopharmaka, die zwar alle               tisch vererbt, deshalb muss die Anzahl der
­Nebenwirkungen ein: „Er wurde depres-             Altersgruppen betreffen, jedoch schon bei           Fälle über die Jahre relativ konstant blei-
 siv, in der Schule hieß es plötzlich, dass        Kindern und Jugendlichen einsetzen. So              ben“, sagt Friedrich. „Schon alleine deshalb
gar nichts mehr geht.“                             erhalten derzeit in Österreich rund 8100            ist der rapide Anstieg nicht nachvollzieh-
    Die dritte Volksschulklasse konnte der         Kinder unter zehn Jahren und 26.000 Ju-             bar, denn es handelt sich ja nicht um ein
Bub so nicht bestehen: Er blieb sitzen.            gendliche zwischen zehn und 19 Jahren               übertragbares Virus wie bei der Grippe.“
Dann kam er in eine Integrationsklasse, in         Psychopharmaka. Während es bei kleinen                  Warum dann der Anstieg an Verschrei-
der zusätzlich zwei Lehrer arbeiteten, die         Kindern vorwiegend so genannte Psycho-              bungen? Psychostimulanzien fallen unter
 sich speziell um Kinder mit solchen Prob-         stimulanzien wie Ritalin sowie angstlösen-          das Suchtmittelgesetz, außerdem herr-
 lemen kümmerten. Zusätzlich wurde er auf          de Substanzen sind, steigt bei den Jugend-          schen strenge gesetzliche und medizini-
einen Amphetaminsaft umgestellt, der das           lichen die Menge der Antidepressiva und             sche Richtlinien bezüglich der Abgabe.
Gehirn ähnlich stimuliert wie Ritalin oder         Antipsychotika, die gegen Wahnvorstel-              Dennoch erhalten viele Kinder und Ju-
Strattera. Heftige Nebenwirkungen blie-            lungen und Schizophrenie verschrieben               gendliche diese Medikamente – und wenn
 ben aus, in der Schule kam er besser zu-          werden. Der Anstieg ist zwar einerseits er-         man den Kritikern glaubt, nicht selten
 recht, und heute kann Alexander eine              klärbar, da in Österreich eine Mangelver-           ohne ausreichende Diagnostik. Eine Ursa-
konventionelle Mittelschule besuchen.              sorgung herrscht, die langsam nachgeholt            che dafür liegt schlicht in mangelnder
    In einschlägigen Foren häufen sich Ein-        wird – allerdings ist unverständlich, war-          Fachkompetenz: Denn in Österreich gibt
 träge mit Hilferufen verzweifelter Eltern,        um sich etwa die Verordnungen von Prä-              es zu wenige Kinder- und Jugendpsychi-
die ähnliche Leidensgeschichten erzählen.          paraten wie Ritalin an unter 19-Jährige             ater, die eine solide Expertise vornehmen
Im Zentrum steht stets ein Kind, dessen            seit 2005 verdoppelt haben. Dabei sind die          könnten – und damit eine äußerst löchri-
Verhalten Eltern und Lehrer die letzten Ner-       Daten der Sozialversicherung unvollstän-            ge Versorgungsinfrastruktur. Wer nicht
ven kostet. Fast immer wird mangels recht-         dig – denn viele Psychopharmaka können              wie Alexanders Mutter monatelang auf ei-
 zeitig verfügbarer Kassentherapieplätze           in der Apotheke via Privatrezept bezogen            nen Termin beim Spezialisten warten

Pillenlawine
Die Abgabe von Psychopharmaka nach Präparaten und Altersgruppen. Seit Jahren steigt der Verbrauch bei unter 19-Jährigen generell stark an.

                                                                                                                             11. Februar 2013 • profil 7 73
titel

               Kleine                                    tungsfähigkeit. Methyl-
                                                         phenidat blockiert un-
                                                                                       Nebenwirkungen:
                                                                                       Da ­Methylphenidat als
                                                                                                                   Essstörungen, chroni-
                                                                                                                   schen Schmerzen,
      Apothekenkunde                                     ter anderem die Wie-
                                                         deraufnahme von
                                                                                      ­Betäubungsmittel ein-
                                                                                       gestuft wird, fällt die
                                                                                                                   Schlafstörungen sowie
                                                                                                                   posttraumatischen Be-
                 Von Antidepressiva bis Valium:          Dopamin, das sich im          Verschreibung unter         lastungsstörungen ver-
            die wichtigsten Psychopharmaka für           synaptischen Spalt            das Suchtmittelgesetz.      schrieben. Durch sie
                    Kinder und Jugendliche und           ­zwischen den Nerven-         Als Nebenwirkungen          kann der körpereigene
                     deren Effekte im Überblick.          enden ansammelt und          treten gelegentlich Ap-     Neurotransmitter Sero-
                                                          zu einem erhöhten Sig-       petitlosigkeit, Schlaflo-   tonin im Gehirn besser
                                                          nalaufkommen zwi-            sigkeit, Kopfschmerzen,     wirken. Serotoninman-
                                                          schen den Nervenzellen       Übelkeit, Angstzustände     gel im Gehirn ist oft
                               Die Konzentrationspillen führt. So wird Müdig-          und Depressionen auf.       Auslöser von Depressio-
                               Es war das Jahr 1944,     keit unterdrückt, kör-       Da es noch zu wenige         nen und depressiven
                               als Leandro Panizzon,     perliche Leistungsfähig-      Langzeitstudien gibt,       Verstimmungen. Aller-
                               ein Angestellter des      keit und Konzentration        kann schwer gesagt          dings: Für viele Antide-
                               heutigen Pharmakon-       werden gesteigert. Die        werden, ob Kinder und       pressiva werden aus
                               zerns Novartis, den Arz- Wirkung lässt jedoch           Jugendliche, die über       ökonomischen Grün-
                               neistoff Methylphenidat nach durchschnittlich           einen längeren Zeit-        den von den Pharma­
                               synthetisierte. Damals     zwei Stunden nach. Me-       raum Methylphenidat         firmen keine speziellen
                               waren Selbstversuche       thylphenidat schützt         konsumieren, Schäden        klinischen Studien
                               üblich, und so schluckte Patienten, die unter          davontragen. Versuche        ­unter Kindern und
                               Panizzon den Wirkstoff ADHS leiden, vor einer          an Ratten zeigten, dass       ­Jugendlichen durch­
                               selbst und gab ihn auch ständigen Reizüberflu-         sich unter Einfluss der        geführt. Deshalb gibt es
                               seiner Frau Rita. Diese     tung und schafft ein       Substanz das Gehirn bei      nur wenige zugelassene
                               berichtete begeistert,      normales Erregungsni-      Tieren, die noch nicht       Präparate, die noch
                               dass sich nach der Ein-     veau. Als Alternative zu   geschlechtsreif waren,         ­dazu aus den 1960er-
                               nahme ihr Tennisspiel       Methylphenidat gibt es     nicht optimal entwi-            Jahren stammen und
                               deutlich verbessert ha-     in der Behandlung von      ckelte.                         vielfach überholt sind.
                               be. Die Substanz wurde ADHS das Medikament                                             Die Eltern müssen im
                               unter dem Handelsna-        Strattera (Inhaltsstoff:   Die Stimmungs-                  Falle einer Behandlung
                               men „Ritalin“ einge-        Atomoxetin), welches       aufheller                       mit modernen Antide-
                               führt. Das Präparat wirkt nicht als Suchtgift gilt.    Antidepressiva werden           pressiva speziell infor-
                               anregend, unterdrückt       Handelsnamen:              bei Zwangsstörungen,            miert werden und ihre
                               Müdigkeit und steigert      Ritalin, Medikinet,        Panikattacken, Angst-           schriftliche Einwilli-
                               kurzfristig die Leis-      ­Concerta                   störungen, Phobien,             gung zur Behandlung

   möchte, konsultiert deshalb den nieder-       Burgenland kein einziger niedergelasse-        auch Max Friedrich, werden in den nächs-
   gelassenen Praktiker. Der Großteil der Psy-   ner Therapeut, der auf Kasse ordiniert. In     ten Jahren in Pension gehen, ihre Stellen
   chopharmaka wird denn auch vom Haus-          Niederösterreich wurden immerhin fünf          nachzubesetzen dürfte sich schwierig ge-
   oder Kinderarzt verschrieben.                 Stellen geschaffen, von denen mittlerwei-      stalten. Und die Richtlinien der Ärztekam-
      Statistiken belegen das Dilemma: Rech-     le vier besetzt sind. Gesundheitsminister      mer erlauben es nicht, mehr Kinder- und
   net man deutsche und Schweizer Zahlen         Alois Stöger hat die Kinder- und Jugend-       Jugendpsychiater als bisher auszubilden.
   auf Österreich um, müssten hierzulande        psychiatrie bereits zum „Mangelfach“ er-          Welche Folgen die mangelnden Res-
   800 Betten in Kinder- und Jugendpsych-        klärt, kann aber kaum gegensteuern, da         sourcen für Betroffene bedeuten, be-
   iatrien sowie Plätze in Ambulanzen und        die Versorgung eine Agenda der Bundes-         schreibt der Kinder- und Jugendpsychia-
   Tageskliniken zur Verfügung stehen. Je-       länder ist. Psychisch kranke Kinder sind       ter Paulus Hochgatterer: „Bei diesen Man-
   doch: Aktuell sind es lediglich rund 400,     damit nicht zuletzt Opfer eines zutiefst ös-   gelstrukturen ist es nicht verwunderlich,
   also gerade mal die Hälfte. Laut Kinder-      terreichischen Strukturproblems, das auch      dass Kinder und Jugendliche von ihren
   und Jugendanwaltschaft fehlen außerdem        eine historische Komponente hat: Die Kin-      Hausärzten Psychopharmaka verschrie-
   60.000 bis 80.000 Kassentherapieplätze für    der- und Jugendpsychiatrie wurde erst          ben bekommen, obwohl sie manchmal
   Kinder und Jugendliche. Das erklärt die       2007 als eigenständiges Fach anerkannt.        nur eine Psychotherapie bräuchten.“ Oft
   langen Wartelisten.                              Die Krankenkassen ließen jüngst zwar        würde allerdings die lange Wartezeit auf
      Zudem müsste es bundesweit 164 nie-        mit ambitionierten Plänen aufhorchen,          einen Kassentherapieplatz dem Hausarzt
   dergelassene Kinder- und Jugendpsychi-        mehr Psychotherapieplätze auf Kranken-         kaum eine andere Wahl lassen, als den Re-
   ater mit Kassenverträgen oder in Ambu-        schein zu ermöglichen – jedoch kann Geld       zeptblock zu zücken – besser eine Pille in
   latorien geben. Jedoch findet sich in Bun-    alleine naturgemäß nicht kurzfristig die       der Hand als gar nichts.
   desländern wie Tirol, Wien und dem            Zahl der Fachärzte erhöhen. Viele, wie            Dabei sollten Kinder immer einer auf-

74 profil 7 • 11. Februar 2013
ihres Kindes geben.           kamente werden auch         verschriebenen Psycho-       tionalität dämpfen. In      und Zwangserkrankun-
   Handelsnamen:                 zur Dauerbehandlung         pharmaka. Sie binden         Wechselwirkung mit          gen. Neuroleptika hem-
   Fluctine (in Amerika          bei Epilepsie verwen-      an die GABA-Rezepto-          anderen Tranquilizern       men die Übertragung
   Prozac), Cipralex,            det.                       ren im Gehirn, die im         oder mit Alkohol kön-       des Neurotransmitters
   ­Seropram, Seroxat,           Handelsnamen:              zentralen Nervensystem        nen sich gar lebens­        Dopamin. Psychosen
Tresleen, Trittico               Convulex, Depakine,        eine wesentliche Rolle        bedrohliche Zustände        und Wahnzustände
Nebenwirkungen:                  Lamictal, Neurotop,        spielen. Dadurch dämp-        einstellen. Kurz einge-     können oftmals zwar
In seltenen Fällen (zwei         Quilonorm, Seroquel,       fen sie generell die          nommen wirken sie an-       nicht geheilt, wohl aber
Prozent) entwickeln              Zyprexa                    ­Gehirnfunktion, wirken       tidepressiv, können län-    gut behandelt und der
­Patienten bei der Ein-          Nebenwirkungen:             angstlösend und ent-         gerfristig aber Depressi-      Ausbruch von Psycho-
 nahme von Antidepres-           ­Gewichtszunahme,           spannend, machen             onen auslösen. Kinder          sen unterdrückt wer-
 siva zunächst Selbst-            Schwindel, Übelkeit,       ­jedoch auch schläfrig,      und Jugendliche sollten        den. Für viele Betroffe-
 mordgedanken, die               Hautausschläge, Zittern     weshalb sie oft auch als     außer in akuten Ex­            ne war mit Einführung
    ­jedoch bald abklingen       und Müdigkeit. Seit         Schlafmittel verwendet       tremfällen nicht mit        der Neuroleptika in den
     sollten. Je nach Präpa-      2002 ist ­bekannt, dass     werden.                     Tranquilizern behan-        1950er-Jahren erstmals
     rat können eine Viel-       Depakine einen negati-       Handelsnamen:               delt werden.                ein normales Leben au-
     zahl von Nebenwirkun-       ven Einfluss auf das         Valium, Psychopax,                                      ßerhalb einer Psychia­
     gen auftreten, die von      kindliche Gehirn hat,        Temesta, Xanor              Die Realitätsbrillen        trie möglich, obwohl die
 Schlafstörungen über             da es den Zelluntergang     Nebenwirkungen:             Viele so genannte Neu-      ersten Präparate auch
 Übelkeit und Kopf-               beschleunigt.               ­Tranquilizer können        roleptika kommen auch       heftige Nebenwirkun-
 schmerzen bis zur                                             schnell zu einer körper-   als Beruhigungs- und        gen wie schwere Stö-
 ­Gewichtszunahme                Die Angstlöser                lichen Abhängigkeit        Schlafmittel sowie als      rungen des Bewegungs-
  ­reichen.                      und Schlafmittel              führen, sie sollten des-   Angstlöser zum Einsatz.     apparats zeitigten.
                                 Angstlösende Medika-          halb nur als Akutmedi-     Diese speziellen Wirk-      Handelsnamen:
Die Ausgleicher                  mente sind besser als         kation verwendet wer-      stoffe werden auch          Abilify, Haldol,
Diese Medikamenten-              Tranquilizer bekannt.         den. Außerdem können       zur Bekämpfung von          ­Risperdal, Seroquel,
gruppe wird bei ma-              Obwohl verschiedene           sie auch untertags         Wahnvorstellungen            ­Zeldox, Zyprexa
nisch-depressiven                Wirkstoffgruppen zum          Schläfrigkeit auslösen.    und Halluzinationen           Nebenwirkungen:
­Störungen eingesetzt.           Einsatz kommen, sind          Sie beeinträchtigen da-    Schizophreniekranker          ­Schlaflosigkeit, innere
 Sie heißen auch Pha-            die so genannten              her das Reaktionsver-      sowie bei manischen            Unruhe, Angstgefühle,
 senprophylaktika, weil          ­Benzodiazepine, auch         mögen, die Sinnes­         Zuständen verwendet.           Kopfschmerzen, oftmals
 sie manische sowie               „Benzos“ genannt, am         wahrnehmung und die        Sie eignen sich jedoch         eine enorme Gewichts-
 ­depressive Phasen              weitesten verbreitet.         Körperbeherrschung,        ebenso zur Behandlung          zunahme von bis zu
  ­ausgleichen sollen.           Tranquilizer gehören ­        können Kopfschmerzen       von Autismus, Tourette-        dreißig Prozent des
   Manche dieser Medi­            zu den am häufigsten         auslösen und die Emo-      Syndrom, Depressionen          ­Körpergewichts.

Der Aufmerksamkeits-Booster                                                                         wändigen, dreiphasigen Diagnose unter-
Wie Methylphenidat, der Wirkstoff von Medi-                                                         zogen werden – einer ärztlichen, einer psy-
kamenten wie Ritalin, auf das Gehirn wirkt.                                                         chologischen und einer pädagogischen.
                                                                                                    Oft zeigt nämlich eine solche Abklärung,
1 Die Synapse, die Verbindungs­                                                                    dass ein Kind nur an einer Teilleistungs-
   stelle zwischen zwei Nerven-                                                                     störung oder Legasthenie leidet und des-
   zellen, schüttet den wich-                                                                       halb in der Schule überfordert ist. Manche
   tigen Botenstoff Dopamin                                                                         sind gar hochbegabt, langweilen sich und
   aus, den die ­Rezeptoren der                                                                     werden bloß deshalb im Unterricht auf-
   anderen auffangen.                                                                               fällig. Medikamente sollten überhaupt erst
                                                                                                    dann verabreicht werden, wenn eine Psy-
2 Kanäle, die als Pumpen fun-                                                                      chotherapie nicht greift. Durch die man-
   gieren, transportieren das                                                                       gelnde Versorgung wird diese Praxis in Ös-
   ­Dopamin zurück in die Ner-                                                                      terreich jedoch oftmals umgekehrt.
    venzelle.                                                                                         „Ich schätze, dass von zehn Kindern, die
                                                                                                    von ihren Eltern wegen angeblichem
3 Methylphenidat verstopft                                                                         ADHS zu uns gebracht werden, nur maxi-
   ­diese Kanäle und sorgt dafür,                                                                   mal zwei wirklich diese Störung haben“,
    dass mehr Dopamin im Synap-                                                                     sagt der Wiener Kinder- und Jugendpsy-
    senspalt verbleibt und damit                                                                    chiater Christian Kienbacher. „Und nur ei-
    ­intensiver wirkt.                                                                              nes davon braucht eine medikamentöse

                                                                                                                         11. Februar 2013 • profil 7 75
titel

   M       oritz hatte keinen leich-
           ten Start ins Leben. Seine
   Mutter war Alkoholikerin,
   nahm in der Schwangerschaft
   Medikamente und rauchte, wes-
   halb er zur Finanzbeamtin Gabi
   H. in Pflege kam. Obwohl sich
   diese aufopfernd um das Baby
   kümmerte, schlief Moritz in der
   Nacht kaum und schrie oft. Mo-
   ritz’ Gehirn dürfte durch das
   Verhalten seiner Mutter in der
   Schwangerschaft eine Schädi-
   gung erlitten haben. Bereits im
   Alter von neun Monaten erhielt
   der Junge seine erste Ergo- und
   Physiotherapie, später folgten
   eine so genannte Frohsch-The-
   rapie, bei der mit Puppen gear-
   beitet wird, und heilpädagogi-
   sches Reiten. Zudem besucht
   Moritz seit seinem vierten Le-
   bensjahr eine Psychotherapie.
       Für viele der teuren Thera-
   piestunden erhielt Gabi H. nur
   einen geringen Zuschuss, das
   heilpädagogische Reiten musste
   sie gänzlich selbst bezahlen. In
   der Schule wurde Moritz schließ-
   lich bald durch Tobsuchtsanfäl-
   le auffällig, irgendwann war sei-
   ne Pflegemutter nervlich am
   Ende. „So ein Kind bleibt nicht
   nur in den schulischen Leistun-
   gen zurück, es ist generell ein
   Außenseiter, da die Menschen
   die Umstände leider nicht hin-
   terfragen“, sagt die Finanzbeam-
   tin. Trotz Bedenken und nach
   ausführlicher medizinischer
   Abklärung rang sich H. schließ-
   lich zu einer medikamentösen
   Therapie durch: „Viele sagen
   mir, ich würde mein Kind mit
   Drogen vollstopfen. Doch Eltern
   sind am Ende, wenn sie sich zu
   so einer Entscheidung durchringen.“          „Ich bin froh, dass es
       Zunächst erhielt Moritz mit neun Jahren
   einen Amphetaminsulfat-Saft. Die Aggressi-    diese ­Medikamente gibt“
   on legte sich, die Konzentration wurde besser Moritz*, 13
   – doch als Nebenwirkungen hatte der Junge
   schwere Kopfschmerzen, weshalb er nach ein-
   einhalb Jahren auf das ADHS-Medikament
   Strattera umgestellt wurde, das nun zwar sei-
   nen Appetit hemmt, jedoch ansonsten die ge-
   wünschte Wirkung erzielt. Moritz besucht
   heute ein sonderpädagogisches Zentrum und
   ist „froh, dass es diese Medikamente gibt“. Ger-
   ne würde er einmal Tischler werden – fraglich
   ist, ob ihn ein Betrieb aufnimmt.

76 profil 7 • 11. Februar 2013
Von Ohrwürmern, Metallica                                                    immer. Plötzlich denke ich daran,
                                                                                               dass ich noch Milch einkaufen muss.
                  und anderen Hirngespinsten                                                   Ich fasse mich wieder. Anschließend
                                                                                               muss ich ein paar berufliche E-Mails
                 Taugt Ritalin wirklich zum Gehirn-Doping bei Erwachsenen, wie vor allem verfassen. Doch nach ein paar Nach-
                                       aus Studentenkreisen berichtet wird? Ein Selbsttest. richten bemerke ich, dass ich ins Sto-
                                                                                               cken gerate. Ein Lied kommt mir in
                                                                                               den Sinn, „Nothing Else Matters“ von
                                                                                               Metallica. Ein Straßenmusiker hat es
                                                                                               am Morgen in der Fußgängerzone ge-
                                                                                               spielt. Ohrwürmer sind bei mir im-
 Therapie. Jedoch hat dann womöglich aus-
 gerechnet dieses Kind Eltern, die Psycho-
 pharmaka gänzlich ablehnen. Auch das
                                                     H     a, da ist jetzt endlich etwas! Ein
                                                           leichtes Kribbeln hinter den Au-
                                                                                               mer gefährlich. Sie drängeln sich ger-
                                                                                               ne durchs Gehirn, wenn ich mich
                                                     gen. Ist das nun die Wirkung? Die ers- ­eigentlich auf andere Aufgaben kon-
 ist fatal.“                                          te Tablette Ritalin brachte absolut kei- zentrieren sollte.
     Denn keineswegs dürften Präparate wie            ne merkbare Veränderung, auch nach          Wenn Ritalin dazu beitragen hätte
 Ritalin grundsätzlich verteufelt werden,             mehr als einer Stunde nicht. Also zur sollen, dass sich diese Ohrwürmer
 vielmehr gehe es um Zielgenauigkeit. Ob-            Sicherheit eine zweite eingeworfen.       verflüchtigen und nervige Gedanken-
 wohl viele Psychopharmaka schwere Ne-                Und dann das Kribbeln.                   ströme in meinem Gehirn versiegen –
 benwirkungen zeitigen können, überwie-                  Oder ist das nur Einbildung, wie      dann hat es bisher definitiv nicht ge-
 gen deren Vorteile, wenn es um die The-             die Psychiaterin meines Vertrauens        wirkt. Umgekehrt: Wie könnten Pillen
 rapie wirklich gravierender Krankheiten              überzeugt ist? Methylphenidat, also      dazu überhaupt in der Lage sein? Wo-
 geht, wie etwa die 19-jährige Victoria* be-         Ritalin, könne bei Gesunden ebenso        her soll denn das Ritalin wissen, dass
 schreibt. Vor zwei Jahren, im Jahr vor der          wenig wirken wie Antidepressiva bei       es die Neuronen, die gerade „Nothing
 Matura, übernahm sie sich, begann neben              Nichtdepressiven, hat sie erklärt. Die   Else Matters“ durch die Hirnwindun-
 der Schule noch mit Gesangs-, Tanz- und              Substanz könne zwar eine Störung         gen jagen, bitte möglichst rasch zum
 Musikstunden. Ihr Gehirn lief auf Hoch-              des Gehirnstoffwechsels ausgleichen, Schweigen bringen soll? Und stattdes-
 touren und kam nicht mehr zur Ruhe,                 aber keineswegs ein gesundes Gehirn sen das Sprachzentrum schnell auf
 massive Schlafstörungen setzten dem                  leistungsfähiger machen. „Was bei        Hochtouren fahren sollte, damit intel-
 Mädchen zu, bei einer Party bekam sie ei-           Gesunden maximal wirkt, ist die Ne-       ligent klingende Sätze aus mir fließen?
 nen Zitteranfall. Sie begann auch unter              benwirkung in Form von Herzrasen.           Das Kribbeln ist noch immer da,
 Wahrnehmungsstörungen zu leiden. „Ich                Doch dieser Effekt lässt sich auch mit Metallica übrigens ebenfalls. Wie aber
 habe das Gras viel grüner gesehen, die               einem doppelten Espresso erzielen“,      steht es nun mit der angeblich verbes-
 Flugzeuge hörte ich vor allem in der Nacht           meinte sie. Vermutlich würden die        serten Gedächtnisleistung? Merke ich
 so laut, dass sie mich am Einschlafen hin-           Studenten, die wirklich Ritalin zum      mir dank der Pille wirklich Dinge
 derten“, erzählt die Wiener Maturantin.              Lernen benutzen, lediglich einen Pla- leichter und länger? Ich schnappe mir
    Als sie schließlich zehn Tage lang nicht         ceboeffekt verspüren.                     ein gelbes Reclam-Heftchen aus dem
 mehr schlafen konnte, begab sie sich ins                Ist das denkbar? Soll sich auch die Regal. Eine Komödie von Shakespeare.
 AKH. „Ich habe den Ärzten gesagt, sie sol-           Mutter eines ADHS-Patienten, die         Ich beginne einen Monolog einzustu-
 len mich ins Koma versetzen, ich will nur            einmal die Pillen ihres Sohnes ab-       dieren. Ich merke mir die einzelnen
 noch schlafen“, schildert Victoria. Diagno-          zweigte, die Wirkung bloß eingebildet Verse aber leider auch nicht besser als
 se: eine bipolare affektive Störung, im              haben? Die Frau schwor immerhin          früher. Am nächsten Tag sind viele
 Volksmund besser als manisch-depressi-               überzeugend, dass „das Zeug wirkt“.      Zeilen bereits wieder vergessen. Ich
 ves Leiden bekannt. Mittels Therapien in                Spüren Menschen wie sie wirklich muss diese wie gewöhnlich öfter wie-
 der Tagesklinik und Neuroleptika stabili-            nur eine Placebowirkung? Oder ma-        derholen, damit sie ins Gedächtnis
 sierte sich ihr Zustand. Zwar war sie nun           chen ADHS-Medikamente Erwachse- übergehen. Auch hier hat Ritalin of-
 auch untertags extrem müde, nahm au-                 ne tatsächlich leistungsfähiger, helfen fensichtlich nicht gewirkt.
 ßerdem 30 Kilogramm zu. Doch Victoria,              auch nach langen Wachphasen, die             Ich bemerke allerdings, dass ich er-
 die aufgrund ihres psychischen Zustands              Konzentration aufrechtzuerhalten,        staunlich wach bin. Vermutlich die
 das letzte Schuljahr wiederholen musste,             und sorgen zusätzlich dafür, dass sich unerwünschte Nebenwirkung – für
 konnte immerhin die Matura nachholen.                die Gedächtnisleistung verbessert?       mich aber eine durchaus willkomme-
     Fälle wie dieser deuten auf eine fehler-            Während das Kribbeln einsetzt,        ne. Denn bei einem Kaffee-Junkie
 hafte Wahrnehmung hin, so Kienbacher:               ­gespanntes Warten. Bin ich wacher,       greift Koffein schon längst nicht mehr.
„Es wird suggeriert, dass ADHS die häufigs-           konzentrierter? Wie kann sich Kon-       Vielleicht ist es ja tatsächlich diese
 te Diagnose in der Kinder- und Jugend-               zentriertheit überhaupt anfühlen?        Nebenwirkung, dieses Herzrasen, das
 psychiatrie darstellt. Dabei gibt es unge-          Absurd, denke ich, während ich dasit- einen wach hält und den Eindruck
 fähr zehnmal so viele Patienten, die unter           ze und auf mehr Konzentration warte. hervorruft, man sei konzentrierter.
 Angststörungen leiden.“ Zudem wird ADHS                 Ich beginne, Artikel zu lesen. Bei    Doch für gezielt provoziertes Herzra-
 am häufigsten bei Buben diagnostiziert,              langweiligen Passagen gleiten die Ge- sen gibt es auch harmlosere Substan-
 die entwicklungsbedingt ohnehin aktiver              danken langsam ab, eigentlich so wie zen – dafür bräuchte es kein Ritalin.

                                                                                                               11. Februar 2013 • profil 7 77
titel

         „Der Anstieg an ADHS-­                                                                                               gasthenie-Trainerin Alexandra Kaufmann
                                                                                                                              aus dem Bezirk Gmünd berichtet: „Ich
     Fällen ist nicht nachvoll-                                                                                               kenne Eltern, die es nachträglich schwer
    ziehbar, da es sich ja nicht                                                                                              bereut haben, dass sie ihrem Kind Medi-
        um ein übertragbares                                                                                                  kamente gegeben haben.“ Gut in Erinne-

                                                                                                News Katharina/Stoegmueller
                 ­virus handelt“                                                                                              rung hat Kaufmann ein kleines Mädchen,
                                                                                                                              das Ritalin erhielt. Die Eltern hatten sich
                                    Max Friedrich,                                                                            gerade scheiden lassen und waren in ei-
                     Kinder- und Jugendpsychiater
                                                                                                                              nen Rosenkrieg verstrickt, nach einem
                                                                                                                              Umzug kam das Kind zudem in eine neue
                                                                                                                              Klasse. „Bei solchen Umständen ist es doch
   und in der Schule „schlimmer“ als Mäd-                Kinder mit dieser Störung fallen bereits                             nicht verwunderlich, dass Kinder sich in
   chen sind – im medizinischen Sinne auf-           früh auf. Durch die regelrechte Reizüber-                                der Schule nicht mehr konzentrieren kön-
   fällig muss das längst nicht sein. „Nach          flutung schlafen sie schlecht, schreien mit-                             nen“, so Kaufmann.
   heutigem Verständnis hätte ich als Schü-          unter die ganze Nacht, lehnen Körperkon-                                    Auch Klaus Vavrik von der Liga für Kin-
   ler auch Ritalin bekommen müssen“, sagt           takt ab. In der ADHS-Krankheitsdefinition                                der- und Jugendgesundheit betont die ge-
   Kinderpsychiater Friedrich. „Ich habe ge-         der WHO war deshalb bislang festgehal-                                   sellschaftlichen Einflüsse. „Viele Paare wer-
   nug Probleme verursacht und wurde bei-            ten, dass eine derartige Störung schon vor                               den immer später Eltern. Die Kinder sind
   nahe der Schule verwiesen.“ Vielen Eltern         dem Schuleintritt mit sechs Jahren auffäl-                               dann überbehütet und sollen möglichst
   sei gar nicht klar, was „echtes“ ADHS wirk-       lig wird. Kürzlich wurde das Alter jedoch                                perfekt sein.“ Hinzu kommt, dass Bezie-
   lich ist. Dabei handelt es sich um eine           auf zwölf Jahre angehoben, was zahlrei-                                  hungen brüchiger werden, immer mehr
   meist vererbte Störung des Gehirns, bei           che Experten kritisieren, da sie darin ei-                               Kinder die Scheidung ihrer Eltern erleben
   welcher Neurotransmitter im Frontallap-           nen diagnostischen „Freibrief“ sehen, je-                                und sich in Patchworkfamilien einfügen
   pen und im limbischen System nicht kor-           dem störenden Schulkind nun einfacher                                    müssen. Das soziale Netz der Großfamilie
   rekt wirken. Neurotransmitter kommuni-            das Etikett ADHS umzuhängen.                                             schwindet, die Mütter sind durch ihre Be-
   zieren zwischen den einzelnen Nervenzel-              Jüngste Untersuchungen gehen davon                                   rufstätigkeit zusätzlich belastet.
   len und leiten Signale weiter. Da die             aus, dass maximal 0,5 bis 1,5 Prozent aller                                 Auch die Medienwelt setzt den Kindern
   Regulierung nicht mehr funktioniert, wird         Kinder tatsächlich an ADHS leiden. In den                                zu, die Reizüberflutung von Internet und
   jeder Sinnesreiz – egal, ob optisch, akus-        1990er-Jahren kursierten noch Schätzun-                                  Fernsehen führt dazu, dass Kinder niemals
   tisch oder taktil – gleich intensiv erlebt.       gen, die bei 14 Prozent lagen. In den USA                                zur Ruhe kommen. Zusätzlich bewegen
      Für Kinder mit solch einer Störung ist         wird heute bereits rund ein Viertel aller                                sich immer mehr Kinder zu wenig, was
   die Stimme der Lehrerin gleich laut wie           Kinder mit Ritalin behandelt. Die ADHS-                                  jedoch wesentlich für die Entwicklung ei-
   das Geräusch, das der Tischnachbar beim           Diagnosen stiegen dort von 1989 bis 2001                                 nes ausgeglichenen Gehirns ist. Der deut-
   Bleistiftspitzen verursacht. Kindern mit          um den Faktor 400. Bei Ritalin-Hersteller                                sche Hirnforscher Gerald Hüther kritisiert
   ADHS bleibt oftmals trotz intensiver The-         Novartis klingeln dementsprechend die                                    die steigenden Ritalin-Verordnungen
   rapien und Bemühungen eine normale                Kassen. Der Schweizer Pharmakonzern hat                                  scharf, weil seiner Ansicht nach die Ursa-
   Schulkarriere verwehrt, sie haben Proble-         darauf reagiert und nun das Medikament                                   chen für die Verhaltensauffälligkeiten an-
   me im Job, bauen schwer Beziehungen auf           Focalin auf den Markt gebracht, eine Art                                 derswo zu suchen seien: „Ich habe viele
   und neigen eher zu einer kriminellen              Ritalin für spät diagnostizierte Erwachse-                               Kinder erlebt, die nicht in der Lage waren,
   Laufbahn. Studien an Häftlingen zeigten,          ne mit Zappelphilipp-Syndrom. „Es ist un-                                ihre Aufmerksamkeit auf einen gemein-
   dass überproportional viele von ihnen             glaublich, es wurden hierzulande sogar                                   samen Fokus zu lenken, was in der Schu-
   ADHS-ähnliche Symptome aufweisen.                 Schuldirektoren von Pharmareferenten an-                                 le ja unabdingbar ist. Diese Fähigkeit ist
                                                     gerufen, die über die Vorzüge von Ritalin                                aber nicht angeboren, sie muss erst im
                                                     geschwärmt haben“, ärgert sich Friedrich.                                Zuge der Sozialisation erlernt werden.“
   Kranke Seelen                                         Der Wiener Kinder- und Jugendpsych-                                      Der Grund für dieses grassierende De-
   Der Gesamtverbrauch an Psycho­
                                                     iater Ralf Gössler beschreibt, welche Unsi-                              fizit laut Hüther: Kinder würden sich heu-
   pharmaka steigt in Österreich rapide an.
                                                     cherheit bei Eltern herrscht: „Es kommt vor,                             te zu oft alleine beschäftigen. Viele Eltern
                                                     dass Eltern einen Jugendlichen zu uns auf                                verbringen nicht ausreichend qualitative
                                                     die Psychiatrie bringen, der jedoch in ei-                               Zeit mit ihren Kindern, genauso wichtig
                                                     ner normalen adoleszenten Entwicklungs-                                  ist das Spiel mit anderen Kindern unter-
                                                     phase des Aufbegehrens steckt. Die Eltern                                schiedlichsten Alters. Von Älteren kann ge-
                                                     machen dann alles nur noch schlimmer,                                    lernt werden, und genauso kümmern sich
                                                     da sie ihm suggerieren, dass mit ihm etwas                               Kinder gerne um Jüngere – was die sozi-
                                                     nicht stimmt.“ Häufig seien Kinder „Sym-                                 alen Fähigkeiten unmittelbar stärkt. Beim
                                                     ptomträger“, die anzeigen, wenn innerhalb                                Toben am Spielplatz und in der Gruppe
                                                     der Familie etwas schiefläuft. „Für ein Kind                             würden Kinder automatisch merken, wie
                                                     reicht oft ein Faktor wie eine Scheidung,                                gemeinsam ein Ziel erreicht werden kann.
                                                     um auffällig zu werden“, so Gössler.                                     Solche Erfahrungen wirken besser als je-
                                                         In solchen Fällen seien Medikamente                                  des Ritalin, behauptet Hüther. Doch in Pil-
                                                     naturgemäß die falsche Wahl, wie die Le-                                 lenform sind sie nicht erhältlich.         ■

78 profil 7 • 11. Februar 2013
Sie können auch lesen