Iga.Report 39 - Flexible Beschäftigungs-formen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb - Initiative Gesundheit und Arbeit
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iga.Report 39 Flexible Beschäftigungs- Die Initiative Gesundheit und Arbeit formen und aufsuchende In der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) arbeiten gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung Gesundheitsförderung zusammen, um arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen. Gemeinsam werden Präventions- ansätze für die Arbeitswelt weiter- im Betrieb entwickelt und vorhandene Methoden oder Erkenntnisse für die Praxis nutzbar gemacht. iga ist eine Kooperation von BKK Dachverband, der Deutschen Kim-Kristin Gerbing und Filip Mess Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), dem AOK-Bundesverband und dem Verband der unter Mitarbeit von Ersatzkassen e. V. (vdek). Katrin Andre und Friederike Kalkmann www.iga-info.de
iga.Report 39 Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Kim-Kristin Gerbing und Filip Mess unter Mitarbeit von Katrin Andre und Friederike Kalkmann
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 7 2 Flexible Beschäftigungsformen 9 2.1 Hintergrund und Entwicklung flexibler Beschäftigungsformen 9 2.2 Definition flexibler Beschäftigungsformen 13 2.2.1 Atypische Beschäftigungsformen und Normalbeschäftigung 13 2.2.2 Teilzeitbeschäftigung 15 2.2.3 Befristete Beschäftigung 16 2.2.4 Leih- und Zeitarbeit 16 2.2.5 (Solo-)Selbstständigkeit 17 2.3 Flexible Beschäftigungsformen und Gesundheit 17 2.3.1 Teilzeitbeschäftigung und Gesundheit 19 2.3.2 Befristete Beschäftigung und Gesundheit 19 2.3.3 Leih- und Zeitarbeit und Gesundheit 20 2.3.4 (Solo-)Selbstständigkeit und Gesundheit 21 2.4 Zusammenfassung: Flexible Beschäftigungsformen 22
3 Aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb 25 3.1 Status Quo und Hindernisse Betrieblicher Gesundheitsförderung 25 3.2 Definition und Chancen aufsuchender Gesundheitsförderung 27 3.3 Entwicklung und Forschungsstand aufsuchender Gesundheitsförderung 28 3.4 Aufsuchende Gesundheitsförderung in der Praxis 33 3.4.1 Konzepte aufsuchender Gesundheitsförderung 33 3.4.2 Best-Practice-Beispiele 35 3.5 Zusammenfassung: Aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb 41 4 Fazit 42 5 Literaturverzeichnis 44 6 Tabellenverzeichnis 50
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb 1 Einleitung Wir befinden uns inmitten eines globalisierten Wettbewerbs Palm, 2016). Einzelne Branchen wie das Gesundheitswesen und Wandels hin zu einer immer weiter spezialisierten weichen schon lange von dem Schema der Normalbeschäfti- Dienstleistungsgesellschaft. In dieser haben sich die Arbeits- gung ab und nutzen flexible Beschäftigungsformen. märkte und Grundstrukturen von Arbeit stark verändert. Globalisierung und internationale Zusammenarbeit, techno- logischer Fortschritt, Digitalisierung und Vernetzung, institu- Definition: Arbeiten 4.0 tioneller, struktureller und demografischer Wandel haben zu einer Entgrenzung im Sinne einer „Auflösung traditioneller „Der Begriff ‚Arbeiten 4.0‘ knüpft an die aktuelle Diskus- räumlicher, zeitlicher oder organisatorischer Grenzen von sion über die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) Arbeit“ (Eichhorst & Tobsch, 2015, S. 47) geführt und die an, rückt aber die Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse Arbeitswelt und den Arbeitsmarkt verändert (Gottschall & ins Zentrum – nicht nur im industriellen Sektor, sondern Voß, 2005). In der fachlichen und öffentlichen Diskussion ist in der gesamten Arbeitswelt. ‚Arbeiten 1.0‘ bezeichnet hierbei von flexiblen Arbeitswelten, einer diesbezüglichen die beginnende Industriegesellschaft vom Ende des Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit und insgesamt 18. Jahrhunderts und die ersten Arbeiterorganisationen. von einem Arbeiten 4.0 die Rede (Eichhorst & Tobsch, 2014, ‚Arbeiten 2.0‘ sind die beginnende Massenproduktion 2015). Mit Arbeiten 4.0 wird das gesamte Phänomen des und die Anfänge des Wohlfahrtsstaats am Ende des Wandels der Arbeit bezüglich einer Veränderung von Ar- 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung brachte damals beitsformen und Arbeitsverhältnissen bezeichnet. Innerbe- neue soziale Probleme mit sich, der zunehmende Druck triebliche Abläufe und Strukturen verändern sich dabei und der organisierten Arbeiterschaft bildete eine wichtige eine „Öffnung tradierter Grenzziehungen“ wird evident Grundlage für die Einführung der ersten Sozialversiche- (Eichhorst & Tobsch, 2015, S. 47). rungen im Deutschen Reich. ‚Arbeiten 3.0‘ umfasst die Zeit der Konsolidierung des Sozialstaats und der Arbeit- Mit dem Betreten globaler Märkte steigt der Wettbewerbs- nehmerrechte auf Grundlage der sozialen Marktwirt- druck. Viele Unternehmen versuchen daher, um den Arbeits- schaft: Arbeitgeber und Arbeitnehmer verhandeln sozial- ablauf an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, bei- partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander. Die spielsweise Betriebs- und Maschinenlaufzeiten maximal zu Notwendigkeit der Wahrnehmung gemeinsamer Interes- nutzen oder atypische Beschäftigungsformen und Beschäfti- sen steht im Betrieb wie auch unter den Arbeitnehmerin- gungsweisen einzusetzen. Gleichzeitig lassen sich ein gesell- nen und Arbeitnehmern insgesamt außer Frage. Später schaftlicher Wandel, soziale Umbrüche sowie Veränderungen folgte die teilweise Rücknahme sozialer Rechte, auch von Lebensentwürfen und privaten Interessen- und Lebens- angesichts des zunehmenden Wettbewerbsdrucks und lagen beobachten. Damit gehen veränderte Ansprüche an der Öffnung nationaler Märkte. ‚Arbeiten 4.0‘ wird ver- die Arbeitswelt und die eigene Tätigkeit einher (Vahle-Hinz & netzter, digitaler und flexibler sein. Wie die zukünftige Plachta, 2014; Widuckel, de Molina, Ringlstetter & Frey, Arbeitswelt im Einzelnen aussehen wird, ist noch offen.“ 2015). (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2018) Insgesamt wird das klassische Normalarbeitsverhältnis als Normativ aufgeweicht und rückt zu Gunsten von flexiblen bzw. atypischen Beschäftigungsformen1 wie Teilzeitarbeit, be- Für Beschäftigte wie Unternehmen birgt die sich schnell wan- fristete Beschäftigung, Leih- und Zeitarbeit sowie (Solo-) delnde Arbeitswelt mit ihren flexiblen Beschäftigungsformen Selbstständigkeit immer mehr in den Hintergrund (Glaser & sowohl Chancen und Freiheiten als auch neue Herausforde- rungen, Belastungen und Risiken, auf die sie reagieren müs- sen. Die dafür notwendige Gestaltungs- und Anpassungsfä- higkeit stellt „nicht nur eine erhöhte Anforderung an die 1 In diesem iga.Report beschreibt flexible Arbeit das gesamte Phänomen von Flexibilisie- rung und Entgrenzung. Wenn konkret von Beschäftigungsformen die Rede ist, werden arbeitenden Menschen und an deren Fähigkeiten dar, sondern die Begriffe atypisch und flexibel synonym verwendet. Neben einer grundlegenden Flexibilisierung der Beschäftigungsformen zeigt sich übergreifend eine zeitliche und stärkt auch die Relevanz der Gesundheitsthematik“ (Bauer & räumliche Flexibilisierung von Arbeit wie mobile Arbeit, Telearbeit, ständige Erreichbar- keit, hohe Pendelbelastungen oder berufliche Fernreisen. Braun, 2014, S. 11). Verschiedene arbeitsbedingte körperli- iga.Report 39 | 7
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb che, psychische und soziale Belastungen und Herausforde- mindern, Beschwerden und Missbefinden zu reduzieren und rungen können sich negativ auf die körperliche und seelische präventiv zu verhindern sowie durch eine Bindung an gesund- Gesundheit auswirken. Dementsprechend werden die Folgen heitsförderliche Aktivitäten ein schützendes Gesundheitsver- körperlicher und psychosozialer Belastungen am Arbeitsplatz halten auszubilden (Brehm et al., 2002). Bei der Umsetzung zunehmend als eine Ursache für vermehrte Fehlzeiten und von Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung soll- auch Frühberentungen diskutiert (Badura, Ducki, Schröder, ten ferner die drei Prinzipien Partizipation, Integration und Klose & Meyer, 2017). Ganzheitlichkeit berücksichtigt werden (Bundesministerium für Gesundheit, 2019; GKV-Spitzenverband, 2018): Flexible bzw. atypische Beschäftigungsformen gehen im Ver- – Partizipation bedeutet, dass die gesamte Belegschaft in gleich zu Normalbeschäftigung mit weiteren, speziellen be- die Prozesse der Betrieblichen Gesundheitsförderung mit- schäftigungsbezogenen Stressoren einher, z. B. mit materiel- einbezogen wird. ler Deprivation oder Beschäftigungsinstabilität (Deutsche – Integration beschreibt, dass die Betriebliche Gesundheits- Gesetzliche Unfallversicherung e. V., 2016). Das Zusammen- förderung über alle Unternehmensbereiche hinweg und wirken von Arbeit und der Gesundheit von Beschäftigten bei allen wichtigen Entscheidungen berücksichtigt wird. wird bislang jedoch häufig nur im Kontext klassischer Nor- – Ganzheitlichkeit zielt schließlich darauf ab, dass sowohl malarbeitsverhältnisse beleuchtet. Es stellt sich daher die eine Verhaltens- als auch Verhältnisorientierung stattfin- Frage, welche Risiken und Chancen sich im Speziellen bei det, sprich sowohl am individuellen Verhalten der Be- flexiblen Beschäftigungsformen ergeben, welche Erkenntnis- schäftigten als auch an den Bedingungen des Arbeitsplat- se zum Zusammenhang von flexiblen Beschäftigungsformen zes angesetzt wird (Bundesministerium für Gesundheit, und der Gesundheit von Beschäftigten vorliegen und wie vor 2019). diesem Hintergrund die Gesundheit aller Beschäftigten ge- schützt und verbessert werden kann. Um die Gesundheit all Es stellt sich daher konkret die Frage, wie Gesundheitsförde- ihrer Beschäftigten langfristig zu erhalten, zu schützen und rung in der Praxis gestaltet werden kann und sollte, um diesen zu fördern, müssen Unternehmen und Führungskräfte auch Anforderungen hinsichtlich flexibler Beschäftigungsformen auf die spezifischen Belastungen und Risiken derer reagie- nachzukommen. Eine mögliche Lösung könnte die sogenannte ren, die flexibel beschäftigt sind. Eine Gesundheitsförderung, aufsuchende Gesundheitsförderung bieten. Der Grundgedan- die lediglich auf Normalarbeitsverhältnisse und diesbezügli- ke aufsuchender Gesundheitsförderung ist es, durch eine Inte- che Stressoren ausgerichtet ist, erscheint im Kontext von Ar- gration von Maßnahmen in den Arbeitsablauf und ihre Durch- beiten 4.0 weder angemessen noch ausreichend. führung unmittelbar am Arbeitsplatz örtliche und zeitliche Barrieren zu minimieren. Die Beschäftigten werden also ge- Die Förderung von Gesundheit im Setting Betrieb unterliegt zielt aufgesucht. Dadurch wird der Zugang nicht nur erleich- somit ebenso einem Wandel. Um alle Beschäftigten und de- tert, sondern vor allem auch für alle ermöglicht. So gelingt es, ren Bedürfnisse adäquat zu erreichen, muss Gesundheitsför- zu allen, auch zu risikoexponierten und schwer erreichbaren derung so gestaltet sein, dass sie Arbeiten 4.0 und somit Zielgruppen, durchzudringen. Die aufsuchende Gesundheits- flexiblen Beschäftigungsformen entspricht. Folglich über- förderung zeigt sich demgemäß als ein vielversprechender rascht es nicht, dass eine Forderung nach einer Gesundheits- Ansatz, um den generellen Zielen der Gesundheitsförderung förderung und Prävention 4.0 laut wird (Deutsche Gesetzli- unabhängig von der Arbeitsform nachzukommen. che Unfallversicherung e. V., 2016). In diesem Zusammenhang lässt sich allerdings beobachten, dass es Unternehmen Dieser iga.Report rückt flexible Beschäftigungsformen als schwerfällt, eine Betriebliche Gesundheitsförderung zu reali- eine grundlegende Säule von Arbeiten 4.0 und somit auch sieren, die Beschäftigte aller Beschäftigungsformen und de- von Gesundheitsförderung in den Fokus und betrachtet die ren Bedürfnisse gleichwertig und passend adressiert und so- aufsuchende Gesundheitsförderung als einen diesbezügli- mit die Gesundheit aller schützt und fördert. chen Lösungsansatz. Ziel von Betrieblicher Gesundheitsförderung soll stets sein, Kapitel 2 widmet sich den flexiblen Beschäftigungsformen. durch eine Schaffung gesunder Verhältnisse für alle Beschäf- Zunächst wird der Hintergrund der Flexibilisierung von Be- tigten Gesundheitswirkungen zu erreichen, physische und schäftigungsformen skizziert. Anschließend wird eine Defini- psychosoziale Ressourcen zu stärken, Risikofaktoren zu ver- tion des Begriffs flexible Beschäftigungsformen im Allgemei- 8 | iga.Report 39
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb nen sowie im Speziellen vorgenommen. Schließlich wird der rung. Anschließend werden die Entwicklung und der For- Zusammenhang von flexiblen Beschäftigungsformen und schungsstand zu aufsuchender Gesundheitsförderung aufge- Gesundheit dargestellt, und beschäftigungsbezogene Stres- zeigt und erörtert, welche Chancen diese hinsichtlich flexibler soren werden herausgearbeitet. Dabei geht Kapitel 2 nur auf Beschäftigungs- und Arbeitsformen bietet und welchen Bei- die Flexibilisierung von Beschäftigungsformen ein. Bezüglich trag sie zu einer Gesundheitsförderung 4.0 liefern kann. weiterer Facetten von Arbeiten 4.0 muss auf weiterführende Hierzu wird ein Blick in die Praxis geworfen. Anhand von er- Literatur verwiesen werden. Der iga.Report 23 (Strobel, probten Konzepten und Best-Practice-Beispielen werden Po- 2013; Hassler, Rau, Hupfeld & Paridon, 2016) beschäftigt sich tenziale aufgezeigt, konkrete Gestaltungsansätze beschrie- beispielsweise ausführlich mit Auswirkungen von ständiger ben sowie Handlungsempfehlungen bzw. Gelingensfaktoren Erreichbarkeit und Präventionsmöglichkeiten. für die betriebliche Praxis abgeleitet. Kapitel 3 legt den Fokus auf die aufsuchende Gesundheits- Den Abschluss bildet ein Fazit zu aufsuchender Gesundheits- förderung. Nach einem Abriss des Status Quo unter Betrach- förderung im Kontext flexibler Beschäftigungsformen und tung der Barrieren für Betriebliche Gesundheitsförderung Arbeiten 4.0. erfolgt eine Definition von aufsuchender Gesundheitsförde- 2 Flexible Beschäftigungsformen 2.1 Hintergrund und Entwicklung flexibler zunehmend technische Innovationen und Produktivitätsstei- Beschäftigungsformen gerungen erforderlich (Eichhorst & Buhlmann, 2015; Hüne- feld, 2016). Unternehmen begegnen diesen Gegebenheiten mit Hilfe von Flexibilisierung – intern in Form von flexiblen Den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und somit von aty- Arbeitszeitverträgen, oder extern, beispielsweise mit Leihar- pischen Beschäftigungsformen liegen verschiedene Ursachen beit oder Werkverträgen (Bundesministerium für Arbeit und zugrunde. Im Folgenden werden die einzelnen Faktoren detail- Soziales, 2017). Technologische Entwicklung und Digitalisie- lierter betrachtet und deren Einfluss beschrieben. rung bringen ferner vielfältige neue Möglichkeiten und Ar- beitsweisen mit sich. In diesem Zusammenhang zeigen sich Globalisierung, weltweiter Handel und technologischer Fort- weitere Facetten des Phänomens Arbeiten 4.0: Arbeit wird schritt – wie Digitalisierung, Entwicklung von Informations- zunehmend mobil, Arbeitsformen werden örtlich und zeitlich und Kommunikationstechnologien, Veränderungen durch Ro- flexibilisiert und Beschäftigte müssen oder können dadurch botik oder künstliche Intelligenz – haben der Flexibilisierung teilweise immer weniger vor Ort sein (Bruch, Block & Färber, der Arbeitswelt einen intensiven Schub gegeben (Eichhorst & 2016). So nutzen über 80 Prozent der Beschäftigten in Buhlmann, 2015). Digitale Kommunikationsmöglichkeiten las- Deutschland digitale Informations- oder Kommunikations- sen einen ungehinderten, weltweiten und simultanen Daten- technologien in ihrer beruflichen Tätigkeit (Bundesministeri- austausch und auf diesem Wege das Erschließen des globa- um für Arbeit und Soziales, 2016a). Neben der ortsunabhän- len Markts zu. Der globale Handel führt wiederum dazu, dass gigen digitalen Kommunikation zwischen Menschen nehmen sich Marktbedingungen verändern und Finanzinvestitionen auch informationsaustauschende und kommunizierende Pro- das Geschehen und die Arbeitssituation beeinflussen können zesse zwischen Maschinen zu sowie selbstlernende Techno- (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017). Weiterhin logien, sogenannte künstliche Intelligenz (KI). Die Wettbe- mündet ein globaler Handel in einer stark schwankenden werbsfähigkeit von Unternehmen hängt maßgeblich davon Nachfrage und einem höheren Wettbewerbsdruck, der zu ab, ob es ihnen gelingt, am Puls dieser technologischen Ent- Unvorhersehbarkeiten bezüglich der Produktionsauslastung wicklungen zu bleiben und somit am globalen Markt zu be- führt. Dabei werden, um auf dem Markt bestehen zu können, stehen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016a, iga.Report 39 | 9
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb 2017). Denn durch neue Technologien werden Produktions- Eichhorst & Buhlmann, 2015). Die steigende Erwerbstätigkeit möglichkeiten gesteigert. Dies ermöglicht einerseits, bei Be- von Frauen im Allgemeinen, ein stärkeres Interesse von Müt- darf auch unvorhergesehene, größere Auftragsvolumen reali- tern an Teilzeitbeschäftigung sowie eine stärkere Beteiligung sieren zu können. Andererseits resultiert daraus auch eine von Vätern an der Kindererziehung führen zu einer Zunahme stoßweise größere Auslastung und ein schwankender Bedarf an und einem Ausbau von Teilzeitbeschäftigung und weite- an Beschäftigten (Eichhorst & Buhlmann, 2015). Darüber hi- ren Formen wie mobiler Arbeit, Job Sharing oder flexiblen naus mündet der technologische Fortschritt in einer Konkur- Arbeitszeiten (Eichhorst & Tobsch, 2015; Ristau-Winkler, renz zwischen Mensch und Maschine, denn Roboter und Be- 2015). schäftigte können zunehmend adäquat eingesetzt werden. Beschäftigte sehen sich bedroht, durch Maschinen ersetzt zu Um für potenzielle Beschäftigte attraktiv zu sein oder für das werden. Das Zusammenwachsen von Produktion und Ent- vorhandene Personal attraktiv zu bleiben, müssen Unterneh- wicklung hebt zum einen die Qualifikationsanforderungen men auf private, familiäre Ansprüche reagieren und alternative an die Beschäftigten und resultiert in einem erhöhten Bedarf Beschäftigungsformen schaffen. Allerdings betonen Bäcker et an Fachkräften in wissensintensiveren Jobs. Zum anderen al. (2010), dass es vor allem Frauen gibt, die unfreiwillig in sinkt dadurch die Nachfrage an einfachen Tätigkeiten sowie Teilzeit arbeiten und eigentlich eine Vollzeitstelle anstreben. an Geringqualifizierten (Eichhorst & Buhlmann, 2015). Teilzeitbeschäftigung ist in diesem Kontext kritisch und ambi- valent zu sehen, denn ein nicht zu vernachlässigendes Pro- Demografischer Wandel und Fachkräftemangel bedingen blem einer Teilzeitbeschäftigung ist die geringere oder man- ebenfalls Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Betrachtet gelhafte soziale Absicherung. Dies zeigt sich vor allem im man den demografischen Wandel, wird deutlich, dass ein Ge- Alter, da die Rentenversicherung von der Höhe des Einkom- burtenrückgang gleichzeitig mit einem Rückgang an Perso- mens abhängig ist, sodass viele Frauen von Altersarmut be- nen im erwerbsfähigen Alter und somit einer „Verknappung droht sind. des Arbeitskräfteangebots“ (Ristau-Winkler, 2015, S. 15) ein- hergeht (Eichhorst & Buhlmann, 2015). Um diesen knappen Die Veränderungen der Arbeitswelt wirken sich auch auf die Personalressourcen zu begegnen, spielt nach Ristau-Winkler Erwerbsverläufe und Arbeitsbiografien aus (Klatt, Ciesinger, (2015) neben älteren Arbeitskräften und zugewanderten Per- Thiele, Bücker & Bakuhn, 2015). Durch die Digitalisierung der sonen auch die Gruppe der nicht erwerbstätigen oder nur Arbeitsprozesse und Unternehmensformen bestimmen viel- geringfügig erwerbstätigen Mütter eine wichtige Rolle. Sie mehr Projekte und Ergebniserwartungen des Marktes Ar- stellt das „am schnellsten aktivierbare und qualifizierbare beitszeit, Arbeitsort und Arbeitsprozess. So rückt selbststän- Potenzial“ (Ristau-Winkler, 2015, S. 18) dar und bietet somit dige Arbeit immer mehr in den Vordergrund. Sie geht für die eine Möglichkeit, diesem Mangel bzw. dieser Verknappung Beschäftigten mit einer größeren Eigenverantwortung bei entgegenzuwirken. Um diese Gruppe zu akquirieren und er- der Gestaltung ihrer persönlichen Arbeitsbiografie einher, in folgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss jedoch der sich Phasen der Beschäftigung mit Phasen der Arbeitslo- eine Vereinbarkeit mit den privaten Anforderungen geschaf- sigkeit, Qualifizierung oder Familienphasen immer mehr und fen und Arbeit familienkompatibel gestaltet werden. immer wieder abwechseln. Aus privaten, familiären, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen werden temporäre Unterbre- Ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel und die damit chungen der eigenen Erwerbstätigkeit, Teilzeitbeschäftigun- verbundenen, über die letzten Jahrzehnte veränderten Le- gen oder Befristungen gegebenenfalls nicht nur akzeptiert, bensentwürfe nehmen großen Einfluss auf eine Flexibilisie- sondern auch aktiv angestrebt (Bäcker et al., 2010). Man rung von Arbeit: Ein zunehmend partnerschaftliches Ge- spricht in diesem Kontext auch von einer zunehmenden Hy- schlechterrollenverständnis führt dazu, dass die Rollen eines bridisierung der Erwerbsarbeit: Zum einen wechseln sich hauptverdienenden Mannes und einer nicht erwerbstätigen Phasen abhängiger und selbstständiger Arbeit ab und zum Frau, die für Haushalt und Kinder zuständig ist, immer mehr anderen werden selbstständige und abhängige Arbeit oder aufweichen. In diesem Zuge tritt ein Anspruch an Gleichstel- Mehrfachbeschäftigungen zeitgleich ausgeübt (Schulze lung in Arbeit und Familie hervor. Weiterhin zeigt sich eine Buschoff, 2018). Diese immer flexibler und hybrider werden- Veränderung privater Interessenlagen wie der Wunsch nach den Erwerbsbiografien fordern dabei auch neue Modelle Zeitsouveränität, um Privatleben und Beruf zu vereinbaren der sozialen Absicherung, da eine stringente Absicherung (Bäcker, Naegele, Bispinck, Hofemann & Neubauer, 2010; durch eine Normalbeschäftigung nicht mehr oder nur einge- 10 | iga.Report 39
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb schränkt greift und den Beschäftigten somit Nachteile ent- Rückgang von Tarifbindung und eine Zunahme an Niedrig- stehen. Weiterhin obliegt die soziale Absicherung bei einer lohnjobs erklären (Eichhorst & Tobsch, 2015). Dabei lässt sich Selbstständigkeit den Selbstständigen. Keller und Seifert feststellen, dass die Flexibilisierung nicht in allen Branchen, (2011) sprechen im Kontext dieser Flexibilisierung der Arbeit Wirtschaftszweigen und Berufen gleichmäßig voranschreitet und der Beschäftigungsformen von sogenannten Prekaritäts- oder verbreitet ist. Selbstständigkeit oder Freelancing ist be- risiken: Rahmenbedingungen wie unzureichendes Einkom- sonders im Dienstleistungssektor und im kreativen Bereich men, mangelnde soziale Sicherung oder geringere Beschäfti- verbreitet (Mai & Marder-Puch, 2013). Dort ist vor allem eine gungsstabilität und Beschäftigungsfähigkeit beschreiben die Selbstständigkeit hochqualifizierter Kräfte ohne Angestellte Benachteiligungen und führen dazu, dass die Betroffenen zu verzeichnen. Es entwickeln sich zunehmend auf Projektar- sozial absteigen bzw. vom sozialen Abstieg bedroht sind. beiten fokussierte und vernetzte Unternehmensmodelle. Die- se greifen auf selbstständige Kräfte zurück, wenn Arbeits- Die geschilderten Mechanismen, die eine Flexibilisierung zu- kraft benötigt wird, ohne eine langfristige Bindung nehmend vorantreiben, werden grundsätzlich erst durch ge- einzugehen (Eichhorst & Buhlmann, 2015). Allgemein neh- setzliche Deregulierungen ermöglicht (Glaser & Palm, 2016). men die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen sowie Aufgrund von Gesetzeslockerungen bzw. weniger strikten Teilzeitbeschäftigung zu. Diese Ausweitung wird besonders Ausgestaltungen von Gesetzen, z. B. hinsichtlich Arbeitszei- im Gesundheits- und Sozialwesen, im akademisch-wissen- ten, Vertragsbefristungen oder Kündigungsschutz, wurde fle- schaftlichen Bereich sowie im öffentlichen Dienst evident. xible oder auch atypische Beschäftigung überhaupt erst Demgegenüber werden im Dienstleistungssektor – vor allem möglich und konnte sich ausbreiten. So haben politische Ent- im Hotel- und Gaststättengewerbe, Einzelhandel und Gebäude- wicklungen eine Flexibilisierung der Arbeit maßgeblich er- reinigungshandwerk – einfachere Tätigkeiten vermehrt mit möglicht (Eichhorst & Buhlmann, 2015; Eichhorst & Marx, Minijobs abgedeckt, und in der verarbeitenden Industrie ist 2011). Leih- und Zeitarbeit stark verbreitet (Bäcker et al., 2010; Eichhorst & Tobsch, 2015). Darüber hinaus variieren atypi- Während sich über die letzten Jahrzehnte eine Zunahme an sche Beschäftigungsformen nicht nur nach Branche, sondern flexiblen Beschäftigungsformen – wie geringfügige Beschäf- auch hinsichtlich des Geschlechts, des Alters und Qualifika- tigung, Zeitarbeit und befristete Beschäftigung – feststellen tionsniveaus der Beschäftigten. So ist beispielsweise der lässt, ist zugleich die Zahl der Erwerbslosen gesunken. In die- Anteil Jüngerer sowie gering Qualifizierter bei Minijobs, be- sem Zusammenhang wird oftmals ein positiver Zusammen- fristeter Beschäftigung sowie Leih- und Zeitarbeit überpro- hang zwischen der Zunahme an flexiblen Beschäftigungsfor- portional hoch (Seifert, 2017). men und der Reduktion der Erwerbslosigkeit gesehen und betont (Eichhorst & Tobsch, 2015). Dieser Zusammenhang ist Laut Statistischem Bundesamt (2018) gab es 2017 insgesamt jedoch auch kritisch zu betrachten, da beispielsweise eine rund 37,2 Millionen Kernerwerbstätige im Alter von 15 bis 64 Teilzeitbeschäftigung nicht unmittelbar mit einer Schaffung Jahren, ohne Personen in Ausbildung, Bildung oder Freiwilli- neuer Arbeitsplätze einhergeht. Vielmehr lässt sich mancher- gendienst. Ihre Verteilung ist in Tabelle 1 (S. 12) dargestellt. orts eine Aufspaltung von Vollzeitstellen in Teilzeitstellen be- obachten. Weiterhin werden sozialversicherungspflichtige Prozentual gesehen zeigt die Verteilung, dass 69 Prozent der Teilzeitstellen in geringfügige Beschäftigungen umgewan- Kernerwerbstätigen normalbeschäftigt, 21 Prozent atypisch delt. Insgesamt gelingt eine Integration von Arbeitslosen in abhängig beschäftigt und zehn Prozent selbstständig tätig den Arbeitsmarkt über Minijobs nur selten (Bäcker et al., sind. Im Vergleich zu 1991 ist die Zahl an Normalbeschäftig- 2010). Außerdem erhöhen veränderte Arbeitsmärkte und die ten um zehn Prozent zu Gunsten von atypischen Beschäfti- Gesamtarbeitslosigkeit den „Druck, atypische Beschäfti- gungsformen (ohne Selbstständigkeit) gesunken. Die Zahl gungsverhältnisse einzugehen“ (Bäcker et al., 2010, S. 433). der (Solo-)Selbstständigen ist seit 1991 lediglich um zwei Die Zunahme an und größer werdende Heterogenität von Prozent von acht auf zehn Prozent angestiegen. Insgesamt flexibler Beschäftigung und flexiblen Beschäftigungsformen sind 38 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer aty- geht außerdem mit einer Lohnspreizung einher, sowohl zwi- pisch beschäftigt (Teilzeit, Befristung, Leih- und Zeitarbeit, schen flexiblen Beschäftigungsformen und Normalarbeits- Selbstständigkeit). Während insgesamt mehr Männer als verhältnissen als auch innerhalb der Normalarbeitsverhält- Frauen erwerbstätig sind, ist die Anzahl an Frauen bei atypi- nisse (OECD, 2013). Dies lässt sich vor allem durch einen schen, abhängigen Beschäftigungsformen mehr als doppelt iga.Report 39 | 11
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Tabelle 1: Verteilung der Erwerbstätigen im Jahr 2017 nach Beschäftigungsform und Geschlecht (Statistisches Bundesamt, 2018, S. 362) TYPISCH ATYPISCH GESAMT Normalarbeit Atypische, abhängige Beschäftigung Selbst- ständigkeit Gesamt Befristete Teilzeit- Geringfügige Zeit- und Beschäfti- beschäfti- Beschäfti- Leiharbeit* gung* gung* gung* Frauen 10.779.000 5.307.000 1.269.000 4.080.000 1.648.000 308.000 1.213.000 17.377.000 Männer 14.978.000 2.411.000 1.281.000 708.000 529.000 625.000 2.377.000 19.783.000 ∑ 25.757.000 7.718.000 2.550.000 4.788.000 2.177.000 932.000 3.590.000 37.159.000 * Überschneidungen zwischen den verschiedenen Formen der abhängigen atypischen Beschäftigung sind möglich. so hoch. Hinsichtlich befristeter Beschäftigungsformen ist Mit Blick auf Veränderungen bezüglich des Alters kann beob- eine nahezu gleiche Verteilung von Männern und Frauen zu achtet werden, dass mit ansteigendem Alter eine Zunahme beobachten. In Teilzeitbeschäftigung arbeitet ein überpro- selbstständiger Tätigkeiten einhergeht. Dieser Trend zeigt portionaler Anteil an Frauen, und in Leih- und Zeitarbeit sind sich bis zu einem Alter von 55 Jahren, anschließend sinkt der doppelt so viele Männer wie Frauen beschäftigt. Dieses Ver- Anteil Selbstständiger wieder. Teilzeitbeschäftigungen stei- hältnis trifft annähernd auch auf Tätigkeiten in Selbststän- gen ab 35 Jahren sprunghaft an, geringfügige Beschäftigun- digkeit zu. Im Vergleich zu 1991 ist bei Männern die Zahl der gen sind in den höheren Altersklassen vermehrt verbreitet, Selbstständigen nahezu gleichgeblieben, der Anteil abhän- und befristete Beschäftigungen nehmen mit ansteigendem gig atypisch Beschäftigter hat sich von sechs auf zwölf Pro- Alter ab (Statistisches Bundesamt, 2018). zent verdoppelt. Bei Frauen zeigt sich keine Verdopplung, aber ebenfalls ein Anstieg einer abhängigen atypischen Be- schäftigung von 23 Prozent auf 31 Prozent. Der Anteil von Frauen in Selbstständigkeit ist nur marginal von fünf auf sie- ben Prozent angestiegen. 12 | iga.Report 39
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Zusammenfassung: Hintergrund flexibler und so Arbeitskosten zu senken. Denn die Veränderungen Beschäftigungsformen in der Arbeitswelt, die durch Deregulierungen, Digitalisie- rung, neue Technologien, Globalisierung und kürzere Pro- Aus Unternehmenssicht ermöglichen flexible Beschäfti- duktlebenszyklen geprägt sind, führen zu einem intensive- gungsformen eine Anpassung der Arbeitskraftkapazität an ren Wettbewerb und zu dem Bedarf, den Kostenfaktor der die Nachfrage und an das schwankende Auftragsvolumen Arbeit zu senken (Warter, 2018). Durch atypische Beschäfti- (Bäcker et al., 2010; Glaser & Palm, 2016). Durch den sek- gungsverhältnisse werden Kosten vermieden, die im Zu- toralen Strukturwandel mit wachsendem Dienstleistungs- sammenhang mit einem geregelten Schutz in Normalar- sektor steigt auch die Nachfrage „nach möglichst flexiblen beitsverhältnissen entstehen. Somit werden zu Gunsten Beschäftigungsformen mit nicht-standardisierten Beschäf- einer flexiblen Unternehmenspolitik die Unsicherheiten des tigungszeiten, um den Erfordernissen der unterschiedlichen Arbeitsmarktes an die Beschäftigten übertragen, die mit Inanspruchnahme von Dienstleistungszeiten nachkommen einer niedrigeren Arbeitsplatzsicherheit und sozialen Absi- zu können“ (Bäcker et al., 2010, S. 433). Atypische Beschäf- cherung konfrontiert sind. Auf der anderen Seite ergeben tigungsformen ermöglichen es, in unproduktiveren Zeiten sich aus Beschäftigtensicht auch Vorteile, beispielsweise die in Anspruch genommene Arbeitsleistung zu reduzieren eine bessere Vereinbarkeit mit dem Privatleben. 2.2 Definition flexibler Die Definition des Europäischen Parlaments betont bei flexi- Beschäftigungsformen blen Beschäftigungen, dass sie „nicht dem herkömmlichen oder typischen Modell der regelmäßigen, unbefristeten Voll- zeitbeschäftigung bei einem einzigen Arbeitgeber über einen 2.2.1 Atypische Beschäftigungsformen langen Zeitraum entsprechen“ (Europäisches Parlament, und Normalbeschäftigung 2017). Brehmer und Seifert (2008) fassen unter atypische Be- schäftigung im Detail Teilzeitarbeit, Leiharbeit, befristete und Bei flexiblen Beschäftigungsformen handelt es sich nicht um geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Schmeißer et al. einen feststehenden Begriff, sondern vielmehr um ein viel- (2012) zählen auch die (Solo-)Selbstständigkeit dazu. schichtiges Phänomen mit verschiedenen Facetten: um „eine Sammelkategorie heterogener Formen der Arbeitsorganisati- Im Gegenzug ist Normalarbeit in der Arbeits- und Sozialpolitik on, die unterschiedliche Flexibilisierungsfunktionen im be- durch folgende Kriterien gekennzeichnet: trieblichen Personaleinsatz – und partiell auch für Beschäf- – „Vollzeittätigkeit mit entsprechendem subsistenz- tigte – erfüllen“ (Galais, Sende, Hecker & Wolff, 2012; Seifert, sicherndem Einkommen; 2017, S. 14). Gemeinsamkeit ist, dass sie alle außerhalb des – unbefristetes Beschäftigungsverhältnis; sogenannten Normalarbeitsverhältnisses angesiedelt sind. – vollständige Integration in die sozialen Sicherungs- systeme (vor allem Arbeitslosen-, Kranken- und Renten- Ein Blick in den wissenschaftlichen, politischen und öffentli- versicherung); chen Diskurs zeigt, dass sowohl von flexiblen Beschäfti- – Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis; gungsformen als auch von Normalarbeit keine einheitliche – Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeit- Definition existiert. Das beginnt bereits bei dem Begriff „fle- geber.“ (Keller & Seifert, 2011, S. 8) xibel“: Meist wird an seiner Stelle der Begriff „atypisch“ ver- Bedeutend bei Normalarbeitsverhältnissen ist laut Keller und wendet, als Gegenteil zu „typisch“ bzw. „normal“. (Bäcker Seifert (2011) eine Kopplung der Erwerbstätigkeit und der et al., 2010; Europäisches Parlament, 2017; Schmeißer et al., sozialen Sicherung, insbesondere der Rentenversicherung. 2012; Seifert, 2017; Stephan & Ludwig-Mayerhofer, 2014). Beschäftigte in einem Normalarbeitsverhältnis sind in die so- Denn „flexibel“ und konkret „flexible Arbeit“ sind Oberbe- zialen Versicherungssysteme eingebunden, sodass sie über griffe, unter die „verschiedene Flexibilisierungsformen wie ihre abgeführten Beiträge den Anspruch erwerben, bei flexible Arbeitsformen oder atypische Beschäftigungsformen Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Eintritt in das Rentenalter fallen“ (Hünefeld, 2016, S. 11–12). entsprechende Leistungen aus den Versicherungen zu bezie- iga.Report 39 | 13
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb hen (Hünefeld, 2016). Weiterhin ist laut Hünefeld (2016) Normalarbeit dadurch gekennzeichnet, dass direkt in dem Definition: Atypische bzw. flexible Unternehmen gearbeitet wird, mit dem der Arbeitsvertrag Beschäftigungsformen abgeschlossen wurde, und nur ein Arbeitsvertrag besteht. Wird mehr als eine Beschäftigung ausgeführt, liegt eine Unter atypische bzw. flexible Beschäftigungsformen Mehrfachbeschäftigung vor, was als eine Form atypischer Be- werden in diesem iga.Report gefasst: Teilzeit-, sozialver- schäftigung anzusehen ist. sicherungspflichtige sowie nicht sozialversicherungs- pflichtige geringfügige Beschäftigung, befristete Be- Das Normalarbeitsverhältnis bildet insgesamt Grundlage schäftigungsverhältnisse, Leih- und Zeitarbeit und und Anhaltspunkt für rechtliche Rahmenbedingungen, die (Solo-)Selbstständigkeit. Darüber hinaus können die Be- dabei dem Schutz der Beschäftigten dienen, sodass die Aus- schäftigungsformen in Kombination auftreten, wie etwa gestaltung von Arbeitsverträgen nicht ausschließlich den eine befristete Teilzeitstelle. „Atypisch“ kann sich also Vertragsparteien obliegt. Glaser und Palm (2016) heben hin- auf verschiedene Facetten der Arbeitsorganisation be- sichtlich der Arbeitszeiten hervor, dass diese bei einem Nor- ziehen. malarbeitsverhältnis meist tagsüber von Montag bis Freitag stattfinden. Sperber und Walwei (2017) benennen konkret, dass es sich bei mehr als 31 Stunden Wochenarbeitszeit um ein Normalarbeitsverhältnis handelt und nicht um eine Teil- Beschäftigungsformen können weiterhin segmentiert und zeitbeschäftigung. Laut § 2 des Gesetzes über Teilzeitarbeit hinsichtlich ihres Flexibilitätsgrades unterschieden werden. und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsge- Süß, Ruhle und Schmoll (2018) differenzieren in Stammbe- setz – TzBfG, 2000) ist eine Person bereits dann in Teilzeit legschaft, Randbelegschaft (wie Teilzeitarbeit oder befristete beschäftigt, wenn die regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer Verträge) und periphere Arbeitskräfte (wie Zeit- und Leihar- ist als die Wochenarbeitszeit einer vergleichbaren vollzeitbe- beit und Freelancing). Die Stammbelegschaft ist gekenn- schäftigten Person. Bäcker et al. (2010) sprechen wiederum zeichnet durch funktionale Flexibilität in Form eines breiten lediglich von einem geregelten und stetigen Arbeitszeitmus- Qualifikationsspektrums. Die Randbelegschaft weist hinge- ter und betonen ferner Aspekte wie Weisungsgebundenheit gen eine numerische Flexibilität auf und ermöglicht dadurch und Interessenvertretung. Sie nennen insgesamt als Merk- eine Reaktion auf Nachfrageschwankungen. Periphere Ar- male des Normalarbeitsverhältnisses (ebd., S. 434): beitskräfte schließlich schaffen funktionale, numerische und – „Vollzeittätigkeit (Umfang der Arbeitszeit), finanzielle Flexibilität und somit zusätzliche ökonomische – geregelte und stetige Arbeitszeitmuster Vorteile (Süß et al., 2018). (Lage und Verteilung der Arbeitszeit), – Dauerhaftigkeit (Stabilität der Beschäftigung), In der Auseinandersetzung mit atypischen bzw. flexiblen Be- – Unbefristung (Kontinuität der Beschäftigung), schäftigungsformen wird weiterhin hervorgehoben, dass die- – tarifvertraglich normierte Vergütung se hinsichtlich ihrer Bedingungen bewertet werden müssen (Normierung der Entlohnung), und in diesem Zusammenhang prekäre von nicht-prekären – volle Sozialversicherungspflicht (Soziale Sicherung), Beschäftigungsverhältnissen abgegrenzt werden müssen – Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit vom (Hünefeld, 2016). Prekäre Arbeitsverhältnisse liegen dann Arbeitgeber (Autonomie der Beschäftigung), vor, wenn eine Beschäftigungsform kritische Bedingungen – kollektive Interessenvertretung aufweist und Beschäftigte in eine schwierige und problema- (Mitbestimmung in der Beschäftigung).“ tische soziale Situation versetzen (Prekaritäts- und Unsicher- Es zeigt sich, dass unterschiedlich strenge und präzise Definitio- heitsrisiko). Im Kontext atypischer Beschäftigungsverhältnis- nen und Auslegungen eines Normalarbeitsverhältnisses existie- se findet nicht selten eine Diskussion statt, inwiefern sie als ren und dementsprechend auch flexible bzw. atypische Beschäf- prekär zu betrachten sind. Da Normalarbeitsverhältnisse je- tigungsformen kein einheitliches Konstrukt sind. Insgesamt doch ebenso prekär sein können, sind atypische bzw. flexible kann jedoch festgehalten werden, dass alle Beschäftigungsfor- Beschäftigungsformen nicht mit prekären Beschäftigungs- men, die von der jeweils gültigen Definition des Normalarbeits- verhältnissen gleich zu setzen oder die Begriffe atypisch und verhältnisses in irgendeiner Art abweichen, als flexible bzw. prekär synonym zu verwenden (Brinkmann, Dörre, Kraemer atypische Beschäftigung definiert werden können. & Speidel, 2006). 14 | iga.Report 39
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Abhängig von der Beschäftigungsform und deren vertragli- sich auf körperliche und psychosoziale Belastungen durch Ar- cher Ausgestaltung sind die Prekaritätsrisiken verschieden beitsbedingungen. Der Indikator Beschäftigungsfähigkeit be- stark ausgeprägt oder können miteinander kumulieren. Ob wertet schließlich, ob etwa eine Prekarität verschärft wird ein prekäres Verhältnis vorliegt, ist laut Europäischem Parla- durch fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten und somit feh- ment von der Art des Arbeitsvertrages abhängig sowie von lende Möglichkeiten zur Steigerung des Qualifikationsniveaus. folgenden Faktoren: – „geringe bis gar keine Sicherheit des Arbeitsplatzes 2.2.2 Teilzeitbeschäftigung aufgrund des nicht dauerhaften Charakters der Arbeit, etwa bei ungewollten und oft geringfügigen Teilzeitver- Wie bereits geschildert, ist im Teilzeit- und Befristungsgesetz trägen und – in einigen Mitgliedstaaten – bei undurch- (TzBfG, 2000) keine Wochenstundenzahl definiert, die eine sichtigen Arbeitszeiten und wechselnden Arbeits- eindeutige Aussage zulässt, wann eine Teilzeitbeschäftigung aufgaben bedingt durch Arbeit auf Abruf; vorliegt. Es handelt sich dann um eine Teilzeitbeschäftigung, – geringer Kündigungsschutz sowie fehlender Sozialschutz wenn die durchschnittliche Arbeitszeit geringer als die Arbeits- im Falle einer Kündigung; zeit in vergleichbarer Vollzeitbeschäftigung ist. Gibt es keine – ein Entgelt, das nicht für ein würdiges Leben ausreicht; vergleichbaren Beschäftigten in Vollzeit, so ist ein Vergleich – keine oder begrenzte Sozialschutzrechte oder -leistungen; anhand des anwendbaren Tarifvertrages zu ziehen. Unter Teil- – kein oder begrenzter Schutz vor jeder Form von zeitarbeit werden also jene Arbeitsverhältnisse gefasst, „die Diskriminierung; eine Arbeitszeit unterhalb der regelmäßigen betrieblichen und – begrenzte oder gar keine Aussichten auf Aufstieg im tariflichen Arbeitszeit aufweisen“ (Bäcker et al., 2010, S. 437). Arbeitsmarkt, Karriereentwicklung und Fortbildung; Da in einzelnen Branchen verschiedene Wochenarbeitsstun- – wenige Kollektivrechte sowie eingeschränkte Rechte den für eine Vollzeitstelle gelten, ist es nicht möglich, Voll- und auf Kollektivvertretung; Teilzeitarbeit anhand einer Stundenzahl allgemeingültig von- – ein Arbeitsumfeld, das nicht die Mindestvorschriften einander abzugrenzen. in Bezug auf Gesundheitsschutz und Sicherheit erfüllt“ (Europäisches Parlament, 2010, 2017, S. 1). Grundsätzlich muss Teilzeit in zwei Untergruppen differenziert werden: zum einen in sozialversicherungspflichtige Teilzeitar- Mümken und Kieselbach (2009, S. 315–316) benennen weiter- beit und zum anderen in geringfügige Beschäftigung. Bei ers- hin verschiedene Prekaritätsindikatoren, anhand derer der terer besteht wie bei der äquivalenten Vollzeitstelle die Pflicht Prekaritätsgehalt einer Beschäftigungsform bestimmt werden der Sozialversicherung und es gelten diesbezügliche Regelun- kann. Sie unterscheiden dabei Prekarität bezüglich der Le- gen, Pflichten und Rechte. Unter einer geringfügigen Beschäf- benssituation und der Arbeitssituation. Hinsichtlich der Le- tigung wiederum ist eine Teilzeitbeschäftigung zu verstehen, benssituation unterteilen sie in subjektive Merkmale und die eine bestimmte Verdienstgrenze unterschreitet und somit Haushaltszusammensetzung. Unter subjektiven Merkmalen nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegt (Bäcker et al., wird verstanden, dass jede Person unsichere Arbeitssituatio- 2010)2. Hierbei gelten zwei Grenzen: Bis maximal 450 Euro nen anders bewertet und gegebenenfalls als Bedrohung oder Bruttoeinkommen handelt es sich um einen sogenannten Mi- Belastung wahrnimmt. Unter Haushaltszusammensetzung nijob. Minijobs sind nicht sozialversicherungspflichtig, die Aus- wird eine konkrete Beurteilung der Lebensumstände verstan- nahme bildet die Rentenversicherung, die grundsätzlich greift. den. Mit Blick auf die Arbeitssituation benennen Mümken und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen können sich allerdings Kieselbach (2009) fünf Indikatoren: materielle Situation, recht- von dieser Versicherungspflicht befreien lassen. Eine geringfü- lich-institutionelle Situation, Arbeitsunsicherheit, Arbeitsquali- gige Beschäftigung ist nicht mit einer Versicherung in einer tät und Beschäftigungsfähigkeit. Der Indikator materielle Situ- gesetzlichen Krankenkasse verbunden, sodass Beschäftigte ation bestimmt z. B., ob die Höhe des Einkommens ausreichend sich selbst krankenversichern und diese Kosten tragen müssen. ist und finanzielle Planungssicherheit vorliegt. Der Indikator rechtlich-institutionelle Situation bezieht sich auf die soziale Absicherung und Integration in soziale Sicherungssysteme durch die Beschäftigung. Ängste und Sorgen bezüglich eines 2 Bäcker et al. (2010) merken dabei an, dass bei Berechnungen oder Darstellungen zur Verbreitung von Teilzeitbeschäftigung oftmals beide Gruppen zusammengefasst würden. Arbeitsplatzverlustes werden durch den Indikator Arbeitsunsi- Dies sei jedoch äußert kritisch zu betrachten, da durch die Sozialversicherungspflicht große Unterschiede entstünden, die beide Gruppen nicht miteinander vergleichbar cherheit bestimmt, und der Indikator Arbeitsqualität bezieht machten. iga.Report 39 | 15
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Wenn Beschäftigte mehr als 450 Euro und bis maximal 850 Monat nicht überschreitet (Janas & Thiemann, 2012). Eine Euro verdienen, ist von einem sogenannten Midijob die Rede. weitere Variante innerhalb der Teilzeitbeschäftigung ist die Diese Beschäftigten befinden sich in einer Gleitzone, in der Arbeitsplatzteilung. Hier teilen sich zwei Teilzeitkräfte eine Versicherungspflicht besteht, allerdings nur reduzierte Beiträ- Vollzeitstelle. ge zur Sozialversicherung zu zahlen sind (Janas & Thiemann, 2012). 2.2.3 Befristete Beschäftigung Arbeitsrechtlich unterscheidet sich eine Teilzeitstelle nicht Ein befristetes Arbeitsverhältnis unterscheidet sich von ei- von einer Vollzeitstelle, unabhängig davon, ob die Teilzeit- nem Normalarbeitsverhältnis insofern, als dass die Beschäf- stelle sozialversicherungspflichtig oder geringfügig ist. Die- tigung nicht auf unbestimmte Zeit angelegt ist. Es endet au- ser Gleichbehandlungsgrundsatz beinhaltet, dass Teilzeit- tomatisch nach Ablauf einer im Vertrag vereinbarten Zeit, kräfte aufgrund ihrer geringeren Arbeitsdauer gegenüber ohne dass eine Kündigung notwendig ist. Meist wird eine Vollzeitbeschäftigten nicht benachteiligt werden dürfen. Die Befristung im Rahmen von Projekten, Vertretungsstellen oder Gleichbehandlung gilt auch für das Arbeitsentgelt, das min- bei Arbeit auf Probe vorgenommen. Sonderformen sind Be- destens so hoch sein muss, wie es dem Anteil der geleisteten fristungen, die auf Abruf geschehen, Gelegenheitsarbeit oder Arbeitszeit an der Zeit Vollzeitbeschäftigter entspricht. Das Saisonarbeit. Zudem kann der Umfang der Stelle variieren, es heißt, der Stundenlohn ist bei vergleichbarer Arbeit gleich, kann also sowohl in Vollzeit als auch in Teilzeit gearbeitet die Gesamtleistungen weichen aber durch die geringere Ar- werden. beitszeit ab. Eine Ungleichbehandlung ist nur in Ausnahmen unter der Erklärung eines sachlichen Grundes zulässig. Ist die Eine Befristung bewirkt, dass durch das vertraglich verein- Dauer der Arbeitszeit für eine Leistungsbemessung irrele- barte Ende besondere gesetzliche und tarifliche Schutzbe- vant, stehen den Teilzeitkräften die Zuwendungen in gleicher stimmungen nicht greifen. Beispielsweise ist eine ordentliche Höhe zu (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016b). Kündigung grundsätzlich nicht möglich, eine Ausnahme be- steht nur, wenn dies explizit vertraglich geregelt wurde. Wei- Weiterhin wird unter Teilzeitarbeit auch eine Flexibilisierung terhin besteht z. B. der Mutterschutz nur für die Laufzeit des der Arbeitszeitformen gefasst, z. B. wenn die Arbeitszeit in- Vertrages und nicht darüber hinaus. Befristungen können nerhalb einer Woche und/oder eines Monats variiert, die über eine Dauer von bis zu zwei Jahren ohne Grund vorge- Stunden ungleich verteilt sind oder Arbeit auf Abruf prakti- nommen werden, ab zwei Jahren muss der Arbeitgeber einen ziert wird. Arbeit auf Abruf bedeutet, dass Beschäftigte ihre sachlichen Grund vorweisen, allerdings gibt es hier einige Arbeitsleistung nach Bedarf und entsprechend des Arbeits- Ausnahmeregelungen. So ist eine dreimalige Verlängerung anfalls erbringen (Bäcker et al., 2010; Bundesministerium für eines auf zwei Jahre befristeten Vertrags möglich oder Be- Arbeit und Soziales, 2016b; Hünefeld, 2016). Gemäß § 12 schäftigte ab 58 Jahren dürfen grundsätzlich befristet einge- Abs. 2 des TzBfG (2000) müssen zwischen dem Abruf und stellt werden. Im Falle einer Existenzgründung dürfen befris- dem Tag der Erbringung der Arbeitsleistung mindestens vier tete Verträge von bis zu vier Jahren abgeschlossen werden Tage liegen. Bei einem Jahresarbeitszeitvertrag wird für eine (Bäcker et al., 2010). längere Periode, üblicherweise ein Jahr, ein festes Arbeits- zeitbudget festgelegt. Die durchschnittliche Arbeitszeit ist 2.2.4 Leih- und Zeitarbeit somit über das Jahr gesehen variabel, die Höhe der Vergü- tung ist jedoch über das Jahr hinweg gleichmäßig (Bundes- Leih- oder Zeitarbeit3 beschreibt ein Beschäftigungsverhält- ministerium für Arbeit und Soziales, 2016b). Außerdem exis- nis, bei dem Personal – sogenannte Leiharbeitskräfte – von tieren sogenannte kurzfristige Beschäftigungen, die nicht einem Arbeitgeber an Dritte gegen ein Entgelt für eine be- über Entgelt, sondern anhand der Arbeitsdauer definiert sind. stimmte Zeit entliehen werden (Hünefeld, 2016). Merkmal Dazu gehören Tätigkeiten, die nicht länger als zwei Monate der Leih- und Zeitarbeit ist somit ein Dreiecksverhältnis aus ausgeübt werden. Wird die Beschäftigung an weniger als einer Leiharbeitskraft, einer verleihenden Firma und einem fünf Tagen pro Woche ausgeübt, definiert sich die Kurzfristig- keit nicht über die Monate, sondern über einen Zeitraum von insgesamt maximal 50 Kalendertagen. Versicherungsfreiheit 3 Die Begriffe Leiharbeit und Zeitarbeit sowie Personalleasing oder Arbeitnehmerüber- ist nur dann gegeben, wenn das Arbeitsentgelt 450 Euro im lassung werden im Allgemeinen und in diesem iga.Report synonym verwendet. 16 | iga.Report 39
Flexible Beschäftigungsformen und aufsuchende Gesundheitsförderung im Betrieb Entleihunternehmen. Die Leiharbeitskraft ist meist bei einem wirtschaftlich tätig sind und ihre Arbeit selbst organisieren Personaldienstleistungsunternehmen beschäftigt und wird können. Dies bedeutet, sie haben keine fixen Arbeitszeiten, von diesem zeitweise an dessen Kundschaft (Entleihunter- können den Arbeitsort flexibel wählen und sind niemandem nehmen) überlassen, für die sie dann in einem begrenzten weisungsgebunden (Bäcker et al., 2010). Eine Sondergruppe Zeitraum tätig ist. In diesem Zeitraum ist das entleihende der Selbstständigen bilden die Solo-Selbstständigen. Darun- Unternehmen der Leiharbeitskraft gegenüber weisungsbefugt. ter fallen Personen, die ein eigenes Unternehmen haben oder selbstständig ihre Profession ausüben, ohne dabei weitere Auch wenn der Name Zeitarbeit eine Befristung nahelegt, Personen zu beschäftigen (Schulze Buschoff, 2018). Freelanc- sind Zeitarbeit und befristete Tätigkeiten voneinander abzu- ing oder freie Mitarbeit bedeutet, dass eine selbstständige grenzen. Das Arbeitsverhältnis zwischen Zeitarbeitskraft und Person „wissensintensive Dienstleitungen für Unternehmen Personaldienstleistungsunternehmen kann sowohl befristet in Projekten von unterschiedlicher Dauer“ (Clasen, 2012, S. 98) als auch unbefristet sein (Spermann, 2014). Die Zeitkompo- leistet. Das bedeutet auch, dass der Grad der unternehmeri- nente betrifft vielmehr den Entleih an Dritte. Gemäß § 1b des schen Freiheit mit der Dauer und der Anzahl der Auftragge- Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG, 1995) darf eine benden variiert und gegebenenfalls eingeschränkt ist. Freie Leiharbeitskraft maximal 18 aufeinander folgende Monate Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (Freelancer) werden daher an das gleiche Unternehmen entliehen bzw. ihm überlassen auch teilweise zwischen Selbstständigen und Angestellten werden. Vorherige Überlassungen müssen dann miteinbe- eingeordnet. Sie gehen dabei allerdings kein „direktes Ar- rechnet werden, wenn diese nicht länger als drei Monate beitnehmerverhältnis ein, sondern erbringen ihre Leistung auseinanderliegen. Bei einer Personalüberlassung ist im Sin- auf selbstständiger Basis“ (Süß et al., 2018, S. 247). ne der Sozialversicherung das Personaldienstleistungsunter- nehmen der Arbeitgeber und hat daher die Arbeitgeber- Von einer Selbstständigkeit muss die sogenannte Schein- pflichten gegenüber den Sozialversicherungsträgern. Neben selbstständigkeit abgegrenzt werden. Bei einer Scheinselbst- der Meldepflicht obliegt es ihm, die Sozialversicherungsbei- ständigkeit besteht formalrechtlich kein Arbeitnehmerstatus, träge abzuführen. Falls diesen Verpflichtungen nicht nachge- allerdings sind Scheinselbstständige faktisch nur von einem kommen wird, trägt allerdings auch das entleihende Unter- Unternehmen, einer arbeitgebenden Person oder Institution nehmen bzw. die entleihende Institution Verantwortung und abhängig. Liegt eine Scheinselbstständigkeit vor, besteht haftet für die Beitragsschulden, und zwar für die Zeit, in der volle Sozialversicherungspflicht, die von beiden Parteien des das Personal überlassen wurde (Kamann, 2018). Arbeitsverhältnisses geleistet werden muss (Bäcker et al., 2010). 2.2.5 (Solo-)Selbstständigkeit Bei Selbstständigkeit oder Freelancing handelt es sich um 2.3 Flexible Beschäftigungsformen eine heterogene Beschäftigungskategorie, die kein arbeits- und Gesundheit rechtliches Beschäftigungsverhältnis darstellt, da die Ar- beitsbedingungen und die Entlohnung gesetzlich nicht gere- gelt sind (Hünefeld, 2016). Für Selbstständige liegen daher Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und atypische Beschäfti- grundsätzlich keine Mindest- oder Schutzstandards vor, es gungsformen bieten gesundheitliche Chancen (Ressourcen), besteht keine Verpflichtung zu sozialer Sicherung und es bergen aber auch gesundheitliche Risiken (Stressoren). Wäh- greift kein Schutz vor unverhältnismäßigen Arbeitsanforde- rend sich z. B. durch eine Reduzierung der Stundenanzahl rungen oder vor Ausbeutung. Sie müssen dementsprechend oder eine Selbstständigkeit neue Freiheiten für Freizeit und selbst die Kosten für die Krankenversicherung tragen, privat private Verpflichtungen eröffnen, besteht ebenso die Gefahr, sozial vorsorgen und haben beispielsweise keinen Anspruch dass dadurch die lebensweltliche Stabilität ins Wanken gerät auf eine Entgeltfortzahlung bei Krankheit oder auf bezahlten und sich die gesamte Lebensführung auf die Erwerbstätigkeit Urlaub. Es wird davon ausgegangen, dass Selbstständige ausrichtet (Widuckel, 2015). Atypische Beschäftigungsfor- selbst für ihre Arbeitsbedingungen verantwortlich sind und men bieten den Unternehmen mehr Flexibilität – für die Be- deshalb nicht den Schutz durch die Sozialversicherung benö- schäftigten kann diese Flexibilität aufgrund einer höheren tigen (Bäcker et al., 2010). Als selbstständig gelten Personen, Unsicherheit und Instabilität jedoch zu gesundheitlichen Be- die im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbs- lastungen und Beanspruchungsfolgen führen. Im Folgenden iga.Report 39 | 17
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