Iga.Report 29 - Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern - Ergebnisse aus dem Projekt "iga.Radar"
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iga.Report 29 Führungskräfte sensibilisieren und Die Initiative Gesundheit und Arbeit Gesundheit fördern – Ergebnisse In der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) kooperieren gesetz- liche Kranken- und Unfallversi aus dem Projekt „iga.Radar“ cherung, um arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzu beugen. Gemeinsam werden Präventionsansätze für die Ar- Zusammengestellt von Ina Kramer, Stephan Oster und Michael Blum beitswelt weiterentwickelt und vorhandene Methoden oder Erkenntnisse für die Praxis nutz Autoren- und Interviewbeiträge: Sören Brodersen, Dr. Marlen Cosmar, Prof. Dr. Jörg Felfe, bar gemacht. Marianne Giesert, Dr. Nick Kratzer, Andreas Kummer, Anja Liebrich, Patricia Lück, Dr. Barbara Pangert, Tobias Reuter, Thomas Schneberger, Sarah Schuster, Sabine Winterstein iga wird getragen vom BKK Dachverband, der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), dem AOK-Bundesver band und dem Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). www.iga-info.de
iga. Report 29 Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Zusammengestellt von Ina Kramer, Stephan Oster und Michael Blum Autoren- und Interviewbeiträge: Sören Brodersen, Dr. Marlen Cosmar, Prof. Dr. Jörg Felfe, Marianne Giesert, Dr. Nick Kratzer, Andreas Kummer, Anja Liebrich, Patricia Lück, Dr. Barbara Pangert, Tobias Reuter, Thomas Schneberger, Sarah Schuster, Sabine Winterstein
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 07 1.1 Über das Projekt iga.Radar 07 1.2 Relevanz psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt 07 2 Dimension Wissenschaft 13 2.1 Rolle der Führung 13 2.2 Führung und Gesundheit 17 2.3 Führungskräfte haben Vorbildfunktion – auch beim Thema Gesundheit! 24 2.4 Führungsqualität aus nationaler und internationaler Perspektive – ein Überblick 29 2.5 Implikationen des Wandels der Arbeitswelt für die betriebliche Gesundheitsförderung am Beispiel „ständiger Erreichbarkeit” 32 3 Dimension Praxis 39 3.1 Führung und Gesundheit in der Praxis 39 3.2 Seele unter Druck 45 3.3 Führungsorientierte Präventionsangebote der Unfallversicherungsträger bei psychischen Belastungen am Arbeitsplatz 47 3.4 Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt 51 3.5 Führung als zentrales Element der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz – Beispiele aus der AOK 56 4 Praktische Ansätze und Herangehensweisen zur Prävention psychischer Erkrankungen 64 4.1 Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz umsetzen – Gewerkschaftliche Perspektive/Arbeitnehmersicht 64 4.2 Unser Ziel ist das stresskompetente Unternehmen! – Führung und Gesundheit bei RWE 70 4.3 Herausforderungen für die Prävention und Gesundheitsförderung von Unfall- und Krankenversicherung: Empfehlungen und Ausblick 77 Anhang 78
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ 1 Einleitung 1.2 Relevanz psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt In der Debatte um psychosoziale Fehlbeanspruchungen am Ar- Wachsende Bedeutung von psychischen Erkrankungen beitsplatz und die statistische Zunahme psychischer Erkrankun- Den Berichten vieler Medien zufolge haben psychische Erkran- gen wird die Rolle der Führung seit einiger Zeit diskutiert. So kungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Unter- hat die Führung in einem Unternehmen maßgeblichen Einfluss stützt werden diese Meldungen von den Statistiken der Kran- auf die Produktivität und den wirtschaftlichen Erfolg, aber auch kenkassen, die tatsächlich steigende Arbeitsunfähigkeitszeiten, auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten. längere stationäre Krankenhausaufenthalte sowie zunehmende In Zeiten einer alternden Erwerbsbevölkerung und dem damit Verordnungszahlen von Psychopharmaka ausweisen. Auch die verbundenen Fach- bzw. Nachwuchskräftemangel ist der Erhalt Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen sind in der Beschäftigungsfähigkeit von hoher Bedeutung. den vergangenen Jahren auf Rekordhöhe gestiegen. Auf der anderen Seite geht die Epidemiologie auf Basis der Datenlage Auf der Grundlage der aktuellen Herausforderungen sehen sich (Ein-Jahres-Prävalenz) davon aus, dass der Anteil der Bevölke- die Akteure von Berufsgenossenschaften, Unfall- und Kranken- rung, der innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung kassen mit zahlreichen Fragen konfrontiert: Wie muss Arbeit leidet, in Deutschland seit Jahren relativ konstant bei rund 33 gestaltet werden, damit künftig möglichst viele Menschen das Prozent liegt (Ärzteblatt 2013). Darum kann nicht von einer gesetzliche Rentenalter gesund und in sozialversicherungs- starken Zunahme psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung pflichtiger Arbeit erreichen? Wie können Führungskräfte so ausgegangen werden, wenngleich sich deren Bedeutung und unterstützt werden, dass ihr Führungsverhalten die psychische Wahrnehmung erhöht haben. Gesundheit der Beschäftigten stärkt und sie auch selbst gesund bleiben? Welche erfolgreichen Maßnahmen lassen sich ermit- Denn der scheinbare Widerspruch – steigende Zahl von Fehl- teln? Wie und mit welchen Mitteln wird die betriebliche Praxis tagen aufgrund psychischer Erkrankungen einerseits, relativ durch die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen gleichbleibender Anteil psychisch Erkrankter pro Jahr an der Ge- Akteure unterstützt? Wo besteht Informations- und Handlungs- samtkrankenlast andererseits – könnte ein Hinweis darauf sein, bedarf? dass weniger die psychischen Erkrankungen als vielmehr die Sensibilität und auch das Bewusstsein für diese Krankheitsgrup- pe zugenommen haben (vgl. DAK-Gesundheitsreport 2013). 1.1 Über das Projekt iga.Radar Darüber hinaus hat die beginnende gesellschaftliche Enttabui- sierung von psychischen Erkrankungen dazu beigetragen, dass Das Projekt iga.Radar möchte einen Beitrag zur Ermittlung betroffene Personen heute überhaupt und früher medizini- und erfolgreichen Verbreitung von innovativen Konzepten und sche Hilfe in Anspruch nehmen, womit sie statistisch relevant deren Umsetzung leisten. Ziel ist dabei ein inhaltlich und for- werden. Auch ist die diagnostische Kompetenz auf Seiten der mal breitgefächertes Angebot, mit dem sich Aufmerksamkeit Medizin gestiegen, wodurch mehr Störungen und Krankheiten und Interesse am Thema „Arbeit und Gesundheit“ erzielen im psychischen Bereich erkannt und therapiert werden können. lassen. Insofern haben die psychischen Störungen nicht zugenommen, wohl aber ihre Bedeutung und Präsenz, was allerdings kein An- Schon der Name verdeutlicht die Zielsetzung dieses Pro- lass zur Entwarnung ist. Vielmehr besteht schon lange und im jektes. Analog zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffs durchaus besorgniserregenden Maße eine Krankheitshäufigkeit „Radar“ als ein Erkennungs- und Ortungsverfahren, das in psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, die jetzt aus einen bestimmten Raum z. B. Objekte identifiziert, erfasst der den genannten Gründen offensichtlich wird. vorliegende Report eine Vielfalt an verfügbaren Informatio- nen innerhalb des Themenfeldes „Führung und psychosoziale Neue Herausforderungen, gefühlte Unsicherheit Gesundheit“ und bereitet sie auf. Bildlich gesprochen: So wie Dass die Zunahme von psychischen Erkrankungen in weiten ein Radar seine Umgebung in bestimmten Zyklen regelmäßig Teilen der Bevölkerung als gegeben bzw. wahrscheinlich abtastet, möchte iga.Radar Entwicklungen innerhalb des The- angenommen wird, steht in engem Zusammenhang mit menfeldes orten, innovative Konzepte, Forschungs- und Mo- der öffentlichen Diskussion über den aktuell stattfindenden dellprojekte sowie Trends identifizieren, Beispiele guter Praxis gesellschaftlichen und sozialen Wandel. Dieser stellt fast alle ausfindig machen sowie aktuelle Erkenntnisse zu Wirksamkeit Bevölkerungsgruppen vor neue Herausforderungen, erhöht den und Nutzen entsprechender gesundheitsförderlicher und prä- Druck auf den Einzelnen und gefährdet unter Umständen die ventiver Aktivitäten im betrieblichen Umfeld dokumentieren. psychische Stabilität auf breiter Ebene. So erschwert der demo- Für das Projekt iga.Radar zum Thema „Führung und psycho- grafische Wandel die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungs- soziale Gesundheit“ wurden Literaturstudien und ausführliche systeme und die Angst in der Bevölkerung vor Altersarmut und Interviews mit Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis zur Pflegenotstand wächst. Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsver- Rolle der Führung bei der Förderung der psychischen Gesund- hältnisse sind zusätzliche psychische Belastungsfaktoren, mit heit durchgeführt. Die Ergebnisse des Projektes sind im vorlie- denen sich eine relevante Anzahl von Menschen in Deutschland genden iga.Report aufbereitet. konfrontiert sieht. 7
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Und selbstverständlich ist es auch die Arbeit selbst, ihre Ge- Wachsende Bedeutung von Gesundheit im staltung und die Bedingungen, unter denen sie verrichtet wird, demografischen Wandel die als Belastungsfaktoren für zahlreiche Menschen eine Rolle Dass die Bedeutung dieses Zusammenhangs mittlerweile spielen. erkannt ist, belegt das Interesse von Politik, Arbeitgebern und deren Verbänden, Krankenkassen, Unfallversicherungs- Veränderte Arbeitsanforderungen trägern, Wissenschaft und auch von den Gewerkschaften an Der Wandel von der klassischen Industriegesellschaft hin zu einer Fragestellungen, die sich mit den Auswirkungen einer guten Wissens-, Informations- und Dienstleistungsgesellschaft hat das und menschengerechten Arbeitsgestaltung auf Motivation, Anforderungsprofil an vielen Arbeitsplätzen verändert. Früher Leistungsfähigkeit, Arbeitszufriedenheit und insgesamt auf standen vor allem physische Belastungen auf der Agenda des die psychische Gesundheit von Beschäftigten befassen. Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Diese sind heute zwar keines- Mitverantwortlich für dieses Interesse ist der demografische wegs verschwunden, die psychischen Belastungen haben jedoch Wandel. Das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland wird zugenommen und prägen den Arbeitsalltag von immer mehr zukünftig weiter schrumpfen – nach Schätzungen der Bun- Beschäftigten. desagentur für Arbeit um 6,5 Millionen Menschen bis 2025 – und so werden am Arbeitsmarkt immer weniger Arbeits- und Geht man von der DIN EN ISO 10075-1 aus, die psychische Fachkräfte zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird das Durch- Belastung ausschließlich „als die Gesamtheit aller erfassbaren schnittsalter der Bevölkerung weiter steigen, d. h. der Anteil Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und der Älteren wächst und jüngere und mittlere Altersgruppen psychisch auf ihn einwirken“ definiert, ist das zunächst unprob- schrumpfen. Für die sozialen Sicherungssysteme bedeutet lematisch. Schließlich können diese Wirkungen durchaus positiv das: Zunehmend weniger Personen zahlen Beiträge ein, und erwünscht sein, z. B. im Falle eines gestärkten Selbstver- während der Anteil der Personen, die Leistungen beziehen, trauens aufgrund der Bewältigung einer komplexen Aufgabe. wächst. Dieser volkswirtschaftlich ungünstigen Entwicklung Problematisch wird es jedoch, wenn Beschäftigte die psychischen versucht die Politik mit verschiedenen Maßnahmen nachhal- Anforderungen Ihrer Arbeit nicht angemessen bewältigen können tig zu begegnen. Eine dieser Maßnahmen ist die stufenweise – sei es aufgrund fehlender Qualifikation und Erfahrung oder weil Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Damit diese die Arbeit schlecht gestaltet ist und nicht den Voraussetzungen Maßnahme ihren Zweck erfüllt, müssen die Menschen aber des Menschen entspricht. Dann führt die Herausforderung schnell auch tatsächlich bis 67 Jahre arbeiten können, dürfen und zur Überforderung mit allen negativen Konsequenzen für die wollen. psychische Gesundheit. Die Arbeitswissenschaft spricht dann von Fehlbelastung. Auch viele Unternehmen spüren bereits die demografiebe- dingten Veränderungen am Arbeitsmarkt – viele Lehrstellen Der von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin können nicht adäquat besetzt werden, auch bei der Rek- (BAuA) herausgegebene „Stressreport Deutschland 2012“ führt rutierung von Fachkräften zeigt sich je nach Branche und Arbeitsanforderungen auf, die für die psychische Gesundheit der Region bereits ein Mangel an geeigneten Personen, die sich Beschäftigten kritisch sein können. Hierzu zählen beispielsweise bewerben. Deshalb versuchen einige Betriebe bereits, ihre lang anhaltender hoher Zeitdruck, häufige Unterbrechungen der Beschäftigten möglichst lange produktiv im Unternehmen Arbeit, monotone Tätigkeiten sowie fehlende Erholungsmöglich- zu halten. Damit gewinnt die Gesundheit der Mitarbeiter keiten. Solche Arbeitsbedingungen führen häufig zu Stress. Laut und Mitarbeiterinnen als wesentliche Voraussetzung für eine BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2011/2012 betrifft dies möglichst gute und lange Beschäftigungsfähigkeit erheblich viele Beschäftigte. So geben 58 Prozent der Befragten an, dass an Bedeutung. Darüber hinaus haben einige Betriebe bereits ihre Tätigkeit oft die gleichzeitige Betreuung verschiedenartiger erkannt, dass ein möglichst hohes Gesundheitsniveau in der Aufgaben umfasst. Damit steht Multitasking an der Spitze der Belegschaft auch Voraussetzung für weitere Effizienzsteige- häufigen Arbeitsanforderungen, gefolgt von hohem Termin- und rungen ist, die im Rahmen des globalisierten Wettbewerbs Leistungsdruck (52 Prozent), ständig wiederkehrenden Arbeitsvor- absehbar notwendig sind. Weil Gesundheit – auch die psy- gängen (50 Prozent) und Störungen und Unterbrechungen bei der chische – in diesem Sinne zu einem wichtigen Wettbewerbs- Arbeit (44 Prozent). Fehlbeansprucht fühlten sich die befragten faktor geworden ist, wächst in einigen Unternehmen die Erwerbstätigen insbesondere durch hohen Termin- und Leistungs- Bereitschaft, mehr in die Gesundheit ihrer Beschäftigten zu druck (34 Prozent), Arbeitsunterbrechungen und Störungen (26 investieren und gute Arbeitsbedingungen zu bieten. Prozent), Multitasking (17 Prozent) und Monotonie (9 Prozent). Auf der anderen Seite ist das Handlungswissen für eine Es gibt aber auch solche Arbeitsbedingungen, die sich eher sinnvolle Prävention insbesondere von psychischen Störun- förderlich auf die psychische Gesundheit auswirken, wie z. B. das gen und Erkrankungen in vielen Betrieben und bei vielen Vorhandensein von inhaltlichen und zeitlichen Spielräumen bei Führungskräften noch verbesserungswürdig. Der mittel- und der Arbeit oder die Kommunikation und Kooperation mit Kolle- langfristige Einfluss von psychischen Fehlbelastungen auf ginnen, Kollegen und Vorgesetzten. Solche Bedingungen werden das psychische Wohlbefinden, auf die Gesundheit und die Ressourcen genannt. Für die Gestaltung einer gesundheitsförderli- Leistungsfähigkeit wird häufig noch unterschätzt. chen Arbeit ist die Relation zwischen Ressourcen und Stressfakto- ren von entscheidender Bedeutung. 8
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ bei den Beschäftigten keineswegs zwangsläufig zu psychischen Info-Box Fehlbeanspruchungen sowie mittel- und langfristig zu psy- Was ist psychische Gesundheit, was ist psychische chischen Störungen und Erkrankungen führen. Vielmehr kann Krankheit? eine Unternehmenspolitik, die eine gute Arbeitsgestaltung und Häufige, intensive und lang andauernde Normabweich- ein gesundheitsförderliches Betriebsklima im Blick behält, die ung des Erlebens, Befindens und Verhaltens deuten auf psychischen Belastungen positiv beeinflussen und psychische eine psychische Erkrankung hin. Diese Erkrankungen wer- Fehlbeanspruchungen vermeiden. den in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als „Psychische und Verhaltensstörungen“ (ICD-10, Kap. V (F)) beschrieben. Dort finden sich Krankheitsbil- Info-Box der wie Depression, manisch-depressive Erkrankungen, Psychische Belastung – psychische Beanspruchung: Angststörungen und Schizophrenien. Oft gehen diese Was ist was? Krankheiten für den Betroffenen mit Leid, Angst, Verun- Die Norm DIN EN ISO 10075-1 „Ergonomische Grundlagen sicherung sowie einem Verlust an Freiheit einher. Vor bezüglich psychischer Arbeitsbelastung“ definiert psy- allem länger andauernde Krankheitszustände können chische Belastung „als die Gesamtheit aller erfassbaren bei Betroffenen zu einer Einschränkung der Lebensquali- Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen tät in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit führen. und psychisch auf ihn einwirken.“ Diese Wirkungen können positiv und erwünscht, aber auch negativ und Der Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und unerwünscht sein. „Psychische Belastung“ ist neutral und Erkrankung ist ein wechselseitiger Prozess. Wenn ein muss nicht zwangsläufig negative gesundheitliche Folgen Mensch psychisch erkrankt, können die Ursachen haupt- haben. Berufliche Anforderungen können beispielsweise sächlich in der Person selbst liegen, aber auch im priva- als Herausforderungen angenommen werden, die im ten oder beruflichen Umfeld. Auf der anderen Seite stellt Falle der Bewältigung das Selbstvertrauen stärken. z. B. eine Depression selbst auch einen Stressfaktor dar, Auf der anderen Seite kann die gleiche berufliche Anfor- der die Leistungsfähigkeit einer Person am Arbeitsplatz derung von einer anderen Person aber auch als Überfor- beeinträchtigt. In jedem Fall ist es wichtig, die Anzeichen derung erlebt werden, weil etwa ihre Voraussetzungen frühzeitig zu erkennen: Wenn psychische Erkrankungen im Bereich Qualifikation und Erfahrung andere sind. Wie nicht rechtzeitig behandelt werden, tritt eine Verschlech- gut eine Person mit psychischen Belastungen zurecht- terung ein und sie können langfristig chronisch verlaufen. kommt, hängt von ihren individuellen Voraussetzungen Gesundheit ist ein „Zustand vollständigen physischen, ab. Sie bestimmen, wie sich psychische Belastungen indi- geistigen und sozialen Wohlbefindens“, definiert die viduell auswirken bzw. wie sehr sie eine Person bean- Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Definition spruchen. Die bereits erwähnte DIN-Norm bezeichnet das macht deutlich, dass körperliche Gesundheit und psy- als „psychische Beanspruchung“. Zu den Voraussetzun- chisches Wohlbefinden zusammen gehören: Wer sich gen, die darüber entscheiden, wie sehr eine Person von psychisch nicht wohl fühlt, ist weder richtig gesund noch einer psychischen Belastung beansprucht wird, gehören leistungsfähig. Psychische Gesundheit ist eine unver- z. B. Fähigkeiten, Erfahrungen und Selbstbewusstsein, zichtbare Grundlage, um im modernen Arbeitsleben zu aber auch der Gesundheitszustand, das Alter und das bestehen und sich fachlich wie persönlich entwickeln zu Geschlecht. So unterscheiden sich Personen hinsichtlich können. (Quelle: psyGA) ihrer psychischen, körperlichen, genetischen und sozialen Voraussetzungen, was dazu führt, dass jeder Mensch anders auf psychische Belastung reagiert und sie auch Unwissenheit und Unsicherheit führen teilweise dazu, dass es unterschiedlich wahrnimmt. Werden die individuellen bei der Bearbeitung des Themas noch viel Entwicklungspoten- Voraussetzungen einer Person über- oder unterfordert, so zial gibt. Hinzu kommt die nach wie vor nicht zu unterschätzen- führt psychische Belastung zu Fehlbeanspruchung. Diese de Tabuisierung von psychischen Belastungen und psychischen kann sich bei Beschäftigten so auswirken, dass die Arbeit Erkrankungen. Denn wer gibt gerne zu, überfordert oder gar als langweilig empfunden wird, schnell Ermüdung ein- psychisch erkrankt zu sein? tritt, die Konzentrationsfähigkeit nachlässt oder wichtige Signale nicht mehr wahrgenommen werden. Die dabei Prävention psychischer Erkrankungen durch auftretende kurzfristige Beanspruchung äußert sich durch gute Arbeitsgestaltung Ermüdung oder ermüdungsähnliche Zustände – mit den Die wissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen Jahren Einzelformen Monotonie, herabgesetzte Wachsamkeit, Ansätze und Empfehlungen für die erfolgreiche Prävention Sättigung sowie Stress. (Quelle: BAuA 2010, S. 12) psychischer Erkrankungen auf betrieblicher Ebene erarbeitet und vorgestellt. Dieses Handlungswissen haben einige Unter- nehmen bereits erfolgreich in die Praxis umgesetzt. Denn die veränderten Anforderungen der modernen Arbeitswelt müssen 9
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Führungskräfte wichtiger Einflussfaktor Eine ganz zentrale Rolle nehmen dabei – wie übrigens im Arbeitsverdichtung, Termin- und Leistungsdruck, häufige gesamten Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements Störungen oder ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge (BGM) – die Führungskräfte ein. Ihre Kompetenzen hinsichtlich werden von den Beschäftigten am häufigsten genannt, gesundheitsförderlicher Führung entscheiden mit darüber, ob wenn sie nach psychischer Belastung befragt werden. die Beschäftigten die veränderten Anforderungen als Heraus- Die grundsätzlich positive Wirkung der Arbeit kann dann forderung annehmen und bewältigen oder als Überforderung ins Negative umschlagen und Erkrankungen auslösen, erleben und scheitern. Dabei ist für Beschäftigte besonders wenn arbeitsbedingter Stress nicht nur punktuell, son- wichtig, welches Maß an Unterstützung sie von ihren Vorge- dern dauerhaft auf die Beschäftigten einwirkt und die setzten erfahren. Hier kommt es z. B. darauf an, ob Vorgesetzte Beanspruchungsfolgen nicht ausreichend kompensiert ansprechbar sind, ob sich mit ihnen Probleme erörtern lassen werden können.“ und ob von ihnen klar strukturierte Aufgaben sowie eindeutige Rückmeldungen zu erwarten sind. Diese Verlässlichkeit ist beim Gesund, motiviert und qualifiziert ständigen Wandel, dem Arbeitstätigkeiten heute unterliegen, „Der Schutz vor gesundheitlichen Risiken ist eine ethi- besonders bedeutsam. Und weil die Führungsqualität einen sche Frage – aber nicht nur: Auch aus ökonomischen relevanten Einflussfaktor auf die psychische Gesundheit von Gründen ist es notwendig, mögliche Beeinträchtigungen Beschäftigten darstellt (Stilijanow 2012), widmete sich das durch arbeitsbedingte psychische Belastung frühzeitig Projekt iga.Radar diesem speziellen Themenfeld. Es werden zu erkennen und zu minimieren, um spätere lange verschiedene Aspekte von Führung und Gesundheit sowie Fehlzeiten zu vermeiden. Künftig wird es in Deutschland unterschiedliche Perspektiven vorgestellt, Einblicke in den erheblich weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter aktuellen Forschungsstand zur Führungskultur gewährt sowie geben und das Durchschnittsalter der Beschäftigten wird Hinweise für die Praxis formuliert. steigen. Auch deshalb sind die Rahmenbedingungen der Arbeitswelt so zu gestalten und eigenverantwortliches und gesundheitsbewusstes Handeln so zu fördern, dass Info-Box die Menschen gesund, motiviert und qualifiziert bis zum Gemeinsame Erklärung von Sozialpartnern und Politik Rentenalter arbeiten können. Daher ist es wichtig, das Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt Wissen über mögliche Gefährdungen, deren Vermeidung Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die und die damit verbundenen gesetzlichen Pflichten in Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände die Unternehmen und die öffentliche Verwaltung zu sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund haben Anfang bringen.“ September 2013 eine gemeinsame Erklärung zur „Psychi- schen Gesundheit in der Arbeitswelt“ veröffentlicht. Hier Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung finden sich einige Auszüge: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbän- „Psychische Erkrankungen gewinnen national wie in- de und der Deutsche Gewerkschaftsbund sind sich der ternational an Beachtung. Nicht nur die Gesundheit und wachsenden Bedeutung psychischer Gesundheit in der Lebensqualität des Einzelnen werden durch sie nachhal- Arbeitswelt bewusst. Sie wollen – unabhängig von un- tig beeinträchtigt. Auch aus unternehmerischer sowie terschiedlichen Positionen in Einzelfragen – gemeinsam volkswirtschaftlicher Sicht sind die Konsequenzen erheb- dazu beitragen, psychischen Erkrankungen vorzubeugen lich: Psychische Erkrankungen mindern das Leistungs- und die erfolgreiche Wiedereingliederung von psychisch vermögen der betroffenen Beschäftigten, verursachen erkrankten Beschäftigten zu verbessern. inzwischen etwa 13 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage Wesentliche Ansatzpunkte, um psychische Belastung und stellen mittlerweile die häufigste Frühverrentungs- frühzeitig zu erkennen und gesundheitliche Risiken zu ursache dar. (...) Die Ursachen für psychische Erkrankun- minimieren, sind die Instrumente des gesetzlich verbind- gen sind vielfältig. So können private Einflüsse ebenso lichen Arbeitsschutzes und der freiwilligen betrieblichen dazu beitragen wie gesellschaftliche Entwicklungen und Gesundheitsförderung.“ arbeitsbezogene Faktoren.“ Agenda der Sozialpartner Arbeit hat positiven Einfluss • „Die Sozialpartner werden die konsequente Umset- „Grundsätzlich hat Arbeit einen positiven Einfluss auf zung der Vorgaben des Arbeits-und Gesundheits- die Gesundheit und die persönliche Entwicklung des schutzes befördern. Sie werden außerdem freiwillige Einzelnen. Gut gestaltete Arbeit stabilisiert die Psyche Maßnahmen und Vereinbarungen zur betrieblichen des Menschen. Wissenschaft und Fachwelt stimmen Gesundheitsförderung und zum Arbeits-und Gesund- gleichwohl überein, dass psychische Belastung und ihre heitsschutz unterstützen. Wirkung auf die Beschäftigten auch eine wachsende • Dabei setzen sie sich dafür ein, die Gesundheit besser Herausforderung unserer modernen Arbeitswelt sind. vor Gefährdungen durch arbeitsbedingte psychische 10
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Belastung zu schützen. Sie wirken insbesondere auf Info-Box die flächendeckende Umsetzung betrieblicher Gefähr- Psychische Erkrankungen in Zahlen, Daten, Fakten dungsbeurteilungen unter Berücksichtigung sowohl • Seit Mitte der 1990er Jahre verzeichnen alle Kranken- physischer als auch psychischer Belastung hin. Für die kassen eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitszeiten Umsetzung kann der Abschluss von Vereinbarungen wegen psychischer Erkrankungen. Der Anteil der von auf Betriebsebene hilfreich sein. dieser Krankheitsgruppe verursachten AU-Tage betrug • Die Sozialpartner unterstützen die entsprechenden 2012 14,7 Prozent – das entspricht einer Verdoppelung Ziele der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstra- seit dem Jahr 2000 (BKK Gesundheitsreport 2013). tegie und beteiligen sich aktiv an ihrer Umsetzung. • Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen psy- Dazu sprechen sie ihre jeweiligen Vertretungen in den chischer Erkrankungen ist nach einer Analyse der Betrieben und Dienststellen an, informieren diese Bundestherapeutenkammer (BPtK 2012) allein über die rechtlichen Vorgaben sowie über Gestal- zwischen 2001 und 2010 von 33,6 Mio. auf 53,5 Mio. tungsbedarf und -möglichkeiten. Sie verpflichten sich, angestiegen. Beispiele guter Praxis sowie Instrumente und Erkennt- • Psychische Erkrankungen sind oft mit einer langen nisse zu verbreiten, um Gefährdungen zu identifi- Erkrankungsdauer verbunden. Diese lag nach Anga- zieren und zu bewerten. Sie werden die Information ben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und Qualifizierung betrieblicher Akteure anregen und (BMAS) je nach Krankenkasse bei durchschnittlich bis fördern. zu 40,5 Tagen. Zum Vergleich: Eine Krankschreibung • Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber- bei anderen Krankheitsgruppen dauert durchschnitt- verbände wird bei den Unternehmen dafür werben, lich 13 Tage. das gesetzlich vorgeschriebene betriebliche Einglie- • 2012 gingen nach Zahlen der Deutschen Rentenversi- derungsmanagement umzusetzen, um psychisch cherung über 42 Prozent aller Renten wegen vermin- Erkrankten die erfolgreiche Rückkehr ins Arbeitsleben derter Erwerbsfähigkeit auf psychische Störungen zu ermöglichen. Dabei wird sie auf entsprechende zurück. Unterstützungsangebote der Sozialversicherungsträger • 2012 betrugen die direkten Kosten psychischer Ver- zurückgreifen. haltensstörungen rund 33 Milliarden Euro. • Der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Mit- • Als Ursachen für die stark angestiegenen Arbeitsunfä- gliedsgewerkschaften setzen sich für eine „Anti- higkeitstage wegen psychischer Erkrankungen nennt Stress-Verordnung“ und für konkretisierende Regeln das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der Unfallversicherungsträger ein, um die aus ihrer Blick auf die Arbeitswelt steigende Anforderungen, Sicht existierende Regelungslücke bei psychischer höhere Eigenverantwortung im Beruf, höhere Flexibi- Belastung zu schließen. Aus Sicht der Bundesvereini- litätsanforderungen sowie unterbrochene Beschäfti- gung der Deutschen Arbeitgeberverbände wird dieser gungsverhältnisse. Schutz durch das bestehende Recht und Regelwerk bereits gewährleistet. • Die Sozialpartner werden gemeinsam in den Selbst- verwaltungen der Sozialversicherungsträger darauf Literatur hinwirken, dass die Gesetzliche Krankenversicherung, die Gesetzliche Rentenversicherung und die Gesetz- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) liche Unfallversicherung in Bezug auf Prävention (2010): Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufs- enger untereinander sowie mit den Unternehmen leben. Erkennen – Gestalten. Berlin. kooperieren. Sie streben ferner an, dass die ambulan- te psychotherapeutische Versorgung bedarfsgerecht Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2013): ausgestaltet, psychisch erkrankte Beschäftigte ohne Gemeinsame Erklärung psychische Gesundheit in der Arbeits- längere Wartezeit behandelt und die beruflich ori- welt. Berlin. entierte Rehabilitation gestärkt werden. Arbeitgeber http://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a-449-ge- und Beschäftigte sind auf abgestimmte Konzepte der meinsame-erklaerung-psychische-gesundheit-arbeitswelt.html Sozialversicherungsträger angewiesen. Orientierende (Zugriff am 12.03.2014). Hilfestellungen und Beratungsangebote durch das ge- gliederte System sind hilfreich und müssen ausgebaut Bundespsychotherapeutenkammer (Hrsg.) (2012): BPtK-Studie werden (z. B. Firmenservices der Rentenversiche- zur Arbeitsunfähigkeit – Psychische Erkrankungen und Burnout. rung).“ (Quelle: BMAS 2013) Berlin. 11
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ DAK Gesundheit (Hrsg.) (2013): Gesundheitsreport 2013. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Update psychische Erkrankungen – Sind wir heute anders krank? Hamburg. Jachertz, N. (2013): Psychische Erkrankungen: Hohes Aufkom- men, niedrige Behandlungsrate. Deutsches Ärzteblatt 2013; 110(7): A-269 / B-250 / C-250 http://www.aerzteblatt.de/archiv/134511/Psychische-Erkran- kungen-Hohes-Aufkommen-niedrige-Behandlungsrate (Zugriff am 18.12.2013). Lohmann-Haislah, A. (2012): Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. psyGA (Hrsg.) (2013). Daten und Fakten. http://psyga.info/psychische-gesundheit/daten-und-fakten/ (Zugriff am 22.01.2014). psyGA (Hrsg.) (2013). Psychisch gesund – psychisch krank. Worum geht es? http://psyga.info/psychische-gesundheit/psychisch-gesund- psychisch-krank/ (Zugriff am 22.01.2014). Stilijanow, U. (2012): Führung und Gesundheit. In Lohmann- Haislah, A.: Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anfor- derungen, Ressourcen und Befinden (S. 123–129). Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- medizin. 12
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ 2 Dimension Wissenschaft Führungskräfte haben einen direkten und indirekten Einfluss auf die Belastungen der Beschäftigten (Ulich et al. 2004). So gestal- ten sie die Arbeitsbedingungen von Beschäftigten wesentlich Führung und (psychische) Gesundheit: Zum Zusammenhang mit. Darüber hinaus sollen Führungskräfte u. a. Visionen vermit- aus wissenschaftlicher Perspektive teln, Charisma besitzen, Lernumwelten organisieren, Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter beraten, bei Zielprozessen unterstützen und die Motivation fördern. Sie sollen Orientierung in einer kom- 2.1 Rolle der Führung plexer werdenden Arbeitswelt geben, zudem Kreativität anregen können und Sorge dafür tragen, dass Beschäftigte ihre Arbeit als Führungskräfte sind in mehrfacher Hinsicht vom Thema sinnvoll ansehen und erleben, insbesondere, weil sinnlos erlebte „Psychische Belastungen“ berührt. Mit Blick auf ihre Aufgaben Arbeit zu psychischen Störungen und auch körperlichen Beein- als Führungskraft tragen sie einerseits Verantwortung für das trächtigungen, wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, führen Erreichen der wirtschaftlichen Unternehmensziele, anderseits kann. Und nicht zuletzt sollen Führungskräfte auch zur Vermei- haben sie eine Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten dung von Über- und Unterforderung beitragen. Das können sie, und deren Gesundheit. Diese umfasst auch, Fehlbelastungen indem sie für ein anspruchsvolles, aber nicht überforderndes abzubauen, Gefährdungen zu erkennen und zu beseitigen Arbeitsaufgabenprofil sorgen, das großen Handlungsspielraum sowie die Beschäftigten im Umgang mit Stress zu unterstüt- und reichhaltige Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bietet. zen. Oder anders formuliert: Führungskräfte sollten darauf Hingegen sollten sie unklare Aufgabenstellungen, zu wenig achten, dass die Belastungen und Anforderungen der Arbeit oder keine Rückmeldung zu Arbeitsergebnissen sowie Zeit- und den Ressourcen, der Leistungsfähigkeit sowie den Bewälti- Leistungsdruck vermeiden. gungsmöglichkeiten der Beschäftigten entsprechen. Zwischen Aufgabenorientierung (Initiating Structure) und Mitarbeitero- Fürsorgepflicht im Zeichen von Restrukturierung rientierung (Consideration) stehen die Führungskräfte häufig Der ständige Wandel der Arbeitswelt stellt sowohl Führungskräf- vor dem Dilemma, im Interesse der Unternehmensziele eben te als auch Beschäftigte regelmäßig vor neue Herausforderun- jenen Termin- und Zeitdruck vermeintlich erzeugen zu müssen, gen. So erfordern neue Technologien stetige Weiterbildung und vor dem sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigentlich Qualifizierung, um diese sicher zu beherrschen. Zur Führungsauf- schützen sollen. Insofern sind sie sowohl potenzielle Ressour- gabe gehört hierbei, den Beschäftigten mögliche Unsicherheiten ce als auch potenzieller Stressor. Ferner tragen sie über diese gegenüber dem Neuen und dem Lernen zu nehmen. Denn feh- unmittelbare Verantwortung für die psychische und physische lende Kenntnisse können zu Überforderung führen, was das psy- Gesundheit der Beschäftigten natürlich auch Verantwortung für chische Wohlbefinden einer Person einschränken kann. Auch or- die eigene Gesundheit. Ausgehend von einer Vorbildfunktion ganisatorische Veränderungen müssen im Zuge von Restrukturie- für die Beschäftigten kann nur diejenige Führungskraft aktiv rungsprozessen frühzeitig kommuniziert werden, um vielleicht und unterstützend agieren, die sich mit sich selbst und dem bestehenden Ängsten von Beschäftigten angemessen begegnen Thema auseinandersetzt. Ist die Führungskraft hingegen selbst zu können. Dazu müssen Führungskräfte allerdings im Vorfeld von Überforderung betroffen oder fehlt ihr Stresskompetenz, durch professionelle Qualifizierung und Unterstützung befähigt hat sie nicht nur kaum Möglichkeiten zur Unterstützung ihrer werden. Beispielsweise können sie durch Trainings und indivi- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern wird sogar zum duelles Coaching jene Fähigkeiten und jenes Rollenverständnis Risiko für die Mitarbeitergesundheit. erwerben, die für die Umsetzung des Prozesses notwendig sind. Wichtig ist die Sensibilisierung für die psycho-sozialen Dyna- Das Review von Gregersen et al. (2011) verweist auf viele miken und die gesundheitsrelevanten Aspekte eines Verände- Forschungsergebnisse, die den Schluss nahelegen, dass ein rungsprozesses als gestaltbare Größen. In der Praxis unterbleibt Führungsstil, der die beiden Dimensionen Aufgabenorientie- diese Befähigung der Führungskräfte häufig oder findet nur rung und Mitarbeiterorientierung möglichst umfassend reali- unzureichend statt. In diesem Fall werden solche Prozesse im siert, den Gesundheitsschutz der Beschäftigten einschließlich Regelfall von fehlender Transparenz und Information begleitet. der Prävention psychischer Störungen und Erkrankungen am Weitere Folgen sind Angst vor Arbeitsplatzverlust bis hin zu Exis- ehesten fördert. tenzängsten auf Seiten der Beschäftigten, verbunden mit allen nachteiligen Auswirkungen auf deren Gesundheit. Die iga.Fakten Über ihr Führungsverhalten und die Gestaltung der Arbeitsbe- 4 „Restrukturierung: Gesunde und motivierte Mitarbeiter im be- dingungen nehmen Führungskräfte wesentlichen Einfluss auf trieblichen Wandel“ skizzieren die wesentlichen Aufgabenfelder das Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit für Führungskräfte in Veränderungsprozessen wie folgt: der Beschäftigten. So kann spezifisches Führungsverhalten Mobilisierungsfunktion – „... nimmt die Menschen mit!“ psychische Belastungen reduzieren, aber auch verstärken. Unterstützungsfunktion – „... hat ein Ohr für die Belange der Die Auswirkungen verschiedener Führungsstile wurden bereits Beschäftigten!“ in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien untersucht, deren Vorbildfunktion – „...ist ein Vorbild. Lebt das, was von den Ergebnisse in diesem Kapitel zusammengestellt sind. Beschäftigten erwartet wird!“ Entscheidungsfunktion – „... trifft klare Entscheidungen!“ 13
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Entsprechend sind die Führungskräfte sowohl vor als auch und Zum anderen spiegeln alle in der Vergangenheit und Gegenwart nach einer Restrukturierung in ihrer Fürsorgepflicht gefordert. entwickelten Theorien zur Führungsthematik auch die jeweili- Wie wichtig die Berücksichtigung und das Mitnehmen der gen Leit- und Wertvorstellungen wider, die für einen bestimm- Beschäftigten nach der Restrukturierung sind, zeigt z. B. der ten Zeitabschnitt im historischen Verlauf prägend waren. Die europäische Bericht „health in restructuring/HIRES“ (Working folgende Info-Box beinhaltet eine Definition von Führung, die Lives Research Institute 2010), der jene europäischen Stu- grundsätzlich ist, ohne jedoch alle Aspekte zu umfassen. dien zusammenfasst, die explizit den Zusammenhang von „überlebter“ Restrukturierung und gesundheitlichen Folgen untersuchen. Demnach erlebten die sogenannten „survivors“ Info-Box erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie z. B. Führung: eine Definition schlechte Schlafqualität, erhöhtes Stressempfinden, erhöh- Unter Führung versteht man die Leitung von Gruppen tes Herzinfarktrisiko, erhöhter Drogenkonsum, Alkohol- und und Organisationen durch eine Person oder Personen- Nikotinmissbrauch, erhöhter Verbrauch von Psychopharmaka, gruppe, die Befehls- und Entscheidungsgewalt besitzt. Zunahme von Muskel-Skelett-Erkrankungen und Verlust der Die Führung hat die Aufgabe, die Ziele der Gruppe zu Erholungsfähigkeit. formulieren und zu verwirklichen. Sie wirkt nicht nur nach außen, sondern regelt auch das Verhalten der Der kurze Überblick verdeutlicht, dass den Führungskräften Gruppenmitglieder. Man kann zwischen zwei Arten von neben der Sacharbeit immer auch Beziehungsarbeit z. B. durch Führung unterscheiden. Die Führung, die Ideen und Ziele Motivation, Anleitung und Unterstützung obliegt. Es scheint vorgibt und die Gruppe begründet, und die Führung, die allerdings so, als ob dieser Teil der Führungsarbeit nicht selten sich aus einer bestehenden Gruppe bildet (Gudemann zugunsten der Sach- bzw. Aufgabenarbeit vernachlässigt wird. 1995, S.132). So gaben bei einer europäischen Beschäftigtenbefragung nur 47 Prozent der Befragten in Deutschland an, immer oder meistens Hilfe und Unterstützung von ihrem Vorgesetzen zu er- Trotz der Vielfalt an Definitionen lassen sich dennoch zwei fahren – das sind 13 Prozent weniger als im EU-27-Durchschnitt Grundzüge der Führungsforschung identifizieren, die auch (Eurofound 2011, zitiert aus: Lohmann-Haislah 2012). heute noch die öffentliche Wahrnehmung und Deutung von erfolgreicher Führung prägen. Die Einführung einer gesundheitsförderlichen Führungskultur stellt sich deshalb als eine neue Personal- und Entwicklungsauf- Eine dieser beiden Leitvorstellungen, welche die Forschung gabe für viele Unternehmen dar. Dabei liegt das Thema Gesund- bis in die 1950er Jahre maßgeblich dominierte, ist die heit keineswegs allein im Verantwortungsbereich der Führungs- Auffassung, dass es besondere, angeborene Persönlich- kräfte. Diese spielen zwar in vielen Bereichen und nicht zuletzt keitseigenschaften und Charaktermerkmale sind, die einen als Multiplikatoren eine wichtige Rolle, es bedarf aber auch Menschen zur Führung befähigen und in diesem Sinne auch einer Unternehmenskultur, in der die Gesundheit der Beschäf- vorherbestimmen. Bekannt unter dem Namen „Eigenschafts- tigten als gleichwertiges Unternehmensziel neben Qualität, Kun- theorie“ hat dieser Zweig der Führungsforschung das Leben denfreundlichkeit und Wirtschaftlichkeit steht. Eine solche ge- und Wirken erfolgreicher Führungspersönlichkeiten untersucht sundheitsförderliche Unternehmenskultur mit entsprechenden und dabei die These vertreten, dass für den Führungserfolg Arbeitsbedingungen beeinflusst nicht nur die Führungskräfte, ausschließlich die Persönlichkeit der Führungsperson relevant sondern erhöht auch die Bereitschaft der Beschäftigten, Selbst- sei, der Beitrag der Geführten für den Erfolg indes nicht wich- verantwortung in Sachen Gesundheit zu übernehmen. Insofern tig sei (Stippler et al. 2011). Diese Idee von der natürlichen sind personelle, organisatorische und technische Bedingungen Existenz einer „starken Führungspersönlichkeit“ (Great-Man- eng miteinander verbunden, was die nachhaltige Wirksamkeit Theorie) besitzt heute nur noch wenig Relevanz. von Einzelmaßnahmen wie eine einmalige Führungskräfteschu- lung in Frage stellt. Erfolgversprechender sind dagegen ganz- Die zweite Richtung in der Führungsforschung vertritt eine heitliche Konzepte, welche die Handlungsfelder Betriebliches gegenteilige Auffassung. Hier wird festgestellt, dass es eben Gesundheitsmanagement, Arbeitsgestaltung und -organisation nicht angeborene Eigenschaften sind, die Führungserfolg sowie Unternehmens- und Führungskultur zu einem sinnvollen ermöglichen, sondern das Führungsverhalten erlernbar ist. Ganzen verbinden (Spilker 2006, Wegge et al. 2010). Es ist demnach umwelt- bzw. kontextabhängig und lässt sich darüber hinaus auch in unterschiedlichen Führungsstilen Die Führung in der Theorie – ein Überblick beschreiben. Hinsichtlich der Bedeutung von Führung (Leadership) existiert keine einheitliche Definition. Allein Neuberger (2002) listet Hinsichtlich der Systematisierung von Führungsstilen ist die nicht weniger als 39 Führungsdefinitionen auf. Diese Defini- Unterscheidung von Lewin (1939) in einen autoritären, einen tionsvielfalt ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass sich demokratischen und einen Laissez-faire-Stil am bekanntesten. unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen wie Politik, Diese Begriffe entstanden in den 1930er und 1940er Jahren Geschichte, Soziologie, Psychologie und auch die Wirtschafts- in den USA und bestimmen auch heute noch alltägliche Deu- wissenschaften mit dem Thema Führung beschäftigen. tungsmuster. 14
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Die Führungsstilforschung hat eine Reihe von unterschiedli- Auch die sich wandelnden Auffassungen über das Verhältnis chen Theorien hervorgebracht, die eine Unterscheidung von von Alter und Leistungsfähigkeit verändern nach den Grund- aufgabenbezogener Führungsfunktion und mitarbeiterbezoge- annahmen der Systemtheorie die Rahmenbedingungen von ner Führungsfunktion gemeinsam haben. Dabei umfasst die Führung. Aufgabenorientierung die Gestaltung der Arbeitsaufgaben ein- schließlich der Personalzuordnung, während die Mitarbeiterori- Transaktionale und transformationale Führung entierung die Sicherung des Zusammenhalts in Organisationen Ein weiterer derzeit aktueller Ansatz der Führungsforschung und Teams sowie die Schaffung von Rahmenbedingungen für leitet sich aus der Fortentwicklung der Mitarbeiterorientierung ein hohes Leistungsengagement, Identifikation und Zufrieden- ab. Er ist letztlich auch Ergebnis der zunehmenden Individua- heit beinhaltet. Beide Funktionen sind nicht ausschließlich an lisierung in entwickelten Gesellschaften und Konsequenz der die Führungskräfte gebunden, auch Teammitglieder überneh- Analyse von bislang ungenutzten Produktivitätspotenzialen men informell oder formal delegiert Teilaufgaben in beiden unter den bisherigen Formen der Arbeitsorganisation. Damit Feldern. Die praktische Umsetzung beider Führungsfunktionen rückt die Beziehungsgestaltung zwischen Führungskraft und hängt im konkreten betrieblichen Einzelfall von einer Vielzahl Beschäftigten stärker in den Fokus. In diesem Zusammenhang von Faktoren ab, beispielsweise von den persönlichen Voraus- werden derzeit insbesondere zwei Führungsansätze diskutiert: setzungen und Kompetenzen der Führungskräfte, aber auch die transaktionale Führung (Orientierung auf Ziele) und die von den Voraussetzungen auf Seiten der Organisation und der transformationale Führung (Initiierung von Veränderung). Im Teams wie auch von der Aufgabencharakteristik. Jahre 1978 von Burns (1978) als Idee entwickelt und später durch Bass (1985) weiterentwickelt, ergänzen sich beide Mit der grundsätzlichen Erweiterung der Führungsverantwor- Ansätze eher als dass sie gegensätzlich wären (vgl. Nyberg et tung um die Bereiche „Gestaltung des Arbeitsklimas“ sowie al. 2005). „Gestaltung von Beziehungen am Arbeitsplatz“ steigen selbst- verständlich auch die Anforderungen an die Kompetenzen von Dabei betrachtet die sogenannte „transaktionale Führung“ die- Führungskräften. Sie müssen nunmehr in der Lage sein, auf ses Beziehungsverhältnis als Austauschverhältnis, in dem die unterschiedlich ausgeprägte Faktoren in den Rahmenbedingun- Führungskräfte mit den Beschäftigten gegenseitige Erwartun- gen unterschiedlich zu reagieren. gen absprechen, Ziele vereinbaren und im Anschluss im Tausch für Identifikation und Leistung Belohnungen vermitteln, z. B. Führung auf Grundlage bestimmter überdauernder Persön- materielle Vorteile, aber auch immaterielle wie Anerkennung lichkeitseigenschaften und Führung als Bündel verschiedener und Wertschätzung. Dabei erhalten die Beschäftigten durch die Führungsstile, die jeweils den situativen Bedingungen anzu- an den Unternehmenszielen orientierten Zielvereinbarungen passen sind, kennzeichnen zusammenfassend die auch heute eine konkrete Vorstellung davon, was sie erreichen sollen und noch prägenden Deutungsmuster im betrieblichen Alltag und können. Damit sich Beschäftigte weitgehend engagieren und außerbetrieblichen Umfeld. Die später entstandenen moder- optimale Leistungen erbringen, gilt es, einige Regeln bei der neren Konzepte von Führung gehen über diese beiden Ansätze Zielvereinbarung zu beachten. So spielen nach der Zieltheorie weit hinaus, haben aber die älteren Deutungsmuster noch von Locke und Latham (1990) insbesondere der Schwierigkeits- nicht abgelöst. Neu hinzugekommen sind beispielsweise die grad und die Spezifität eine wichtige Rolle. Ausgehend von Anwendungen der Systemtheorie im Bereich Führung sowie dieser Theorie sollen Ziele nach der SMART-Regel gestaltet sein: solche Führungskonzepte, die eine Gestaltung der Beziehung spezifisch (specific), messbar (measurable), bei angemessener zu den geführten Beschäftigten in den Mittelpunkt stellen Anstrengung erreichbar (attainable), realistisch im Gesamt- (transaktionale und transformationale Führung). kontext (realistic) und zeitlich terminiert (time phased). Die Aufgabe der Führungskraft besteht hierbei darin, Zielkonflikte Führung aus Sicht der Systemtheorie wahrzunehmen und diese, wenn nötig, zu beseitigen, Feed- Ein zentraler Gedanke der Systemtheorie besagt, dass Orga- back zu geben und die Aufgabenerfüllung zu bewerten (vgl. nisationen nicht wie Maschinen funktionieren, sondern eine Wilkens & Externbrink 2011). Eigendynamik entfalten und deswegen nicht linear steuer- bar sind. Insofern wirken Führungsinterventionen in erster Im Konzept der sogenannten „transformationalen Führung“ Linie auf die Rahmenbedingungen in Organisationen zurück, besteht die Führungsaufgabe darin, einerseits Sinn zu stiften einfache Ursache-Wirkungs-Modelle bilden deshalb nur einen und diesen auch zu vermitteln und andererseits die Beschäf- kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit ab. Die Wirkungsansprüche tigten dazu zu befähigen, die vereinbarten Aufgaben eigen- und -erwartungen in Bezug auf Führung werden durch diesen verantwortlich und mit hohem Engagement zu lösen. Dieses Ansatz relativiert. Betriebe sind vor dem theoretischen Hinter- Führungskonzept korrespondiert mit dem ebenfalls neuen Leit- grund der Systemtheorie zudem Teil verschiedener sozialer bild des „unternehmerischen Handelns“ oder „Mitunterneh- Systeme, in denen ihrerseits ein kontinuierlicher Wandel zu mertums“, in dem Beschäftigte – so die Idealvorstellung – in neuen Rahmenbedingungen führen kann. Ein Beispiel dafür eigener Verantwortung und in den Grenzen der gesetzten bzw. sind die im Vergleich zu der unmittelbaren Nachkriegszeit deut- vereinbarten Ziele Managementaufgaben übernehmen. Trans- lich veränderten Rollen und Wertvorstellungen zwischen den formationale Führung verfolgt insofern das Ziel, das Verhalten Geschlechtern. und die Einstellung der Beschäftigten hinsichtlich Arbeitsethik, 15
iga.Report 29 . Führungskräfte sensibilisieren und Gesundheit fördern – Ergebnisse aus dem Projekt „iga.Radar“ Einsatzbereitschaft sowie Wahrnehmung von Verantwortung mit Blick auf die Unternehmensziele positiv zu beeinflussen Info-Box (vgl. Wilkens & Externbrink 2011). Möglich wird das nach Bass Führungsstile – eine Übersicht und Avolio (1994), wenn der oder die Führende folgende vier Leitsätze umsetzt: Autoritärer Führungsstil • Vorgesetzte entscheiden allein, Mitarbeiter führen aus Die Führungskraft … • Keine Beteiligung der Beschäftigten an Entscheidun- wirkt als Identifikationsfigur, entwickelt Visionen für das gen, Gehorsamsverhältnis Team und die Organisation, motiviert (Charisma), kommuniziert hohe Erwartungen und motiviert die Beschäf- Bürokratischer Führungsstil tigten über die eigenen Interessen hinaus zum Wohl der • Führungsanspruch legitimiert durch bürokratische Gruppe beizutragen, hat fachliche und moralische Vorbild- Regeln funktion (Inspiration), • Führungsfunktion nicht untrennbar mit einer Person stimuliert die Beschäftigten, ihre Arbeit aus neuen Perspek- verbunden, sondern zeitlich befristet und übertragbar tiven zu sehen und neue Wege bei der Problemlösung zu • Basis sind Reglungen und Vereinbarungen, die Füh- gehen (Intellektuelle Stimulierung) rung versachlichen fördert Fähigkeiten und Potenziale von Mitarbeitern, ist Coach und wendet sich dem Individuum zu (Individuelle Kooperativer Führungsstil Hinwendung) (vgl. Wilkens & Externbrink, 2011). • Beschäftigte werden an Entscheidungen beteiligt • Fremdkontrolle wird teilweise ersetzt durch Eigenver- Ein Zwischenfazit antwortung Blickt man auf die Entwicklung der Führungsforschung, fällt • Führungskraft ist „primus inter pares“ der Bezug zu sozialen Wertvorstellungen und Leitbildern – • Führungskraft lässt Lösungen entwickeln und wählt jeweils im spezifischen historischen Kontext – auf. So erklärt die aus allgemeine gesellschaftliche Modernisierung mit den Aspekten Individualisierung, Ökonomisierung und Flexibilisierung einen Transaktionaler Führungsstil großen Teil der Veränderungen in den wissenschaftlichen Kon- • Grundlage: Austauschbeziehung zwischen Führungs- zepten und Grundannahmen. Das erklärt auch das aktuelle wis- kraft und Mitarbeiter senschaftliche und zunehmend auch betriebliche Interesse an • Gegenseitige Erwartungen werden abgesprochen, solchen Führungskonzepten, die neben dem ökonomischen Er- anschließend werden Ziele vereinbart, bei deren folg auch die Gesundheit sowie die Beschäftigungsfähigkeit der Erreichen eine Belohnung erfolgt Beschäftigten als gleichwertiges Unternehmensziel verfolgen. • Führungskraft kontrolliert Zielerreichung und über- In Zeiten des demografischen Wandels und der Notwendigkeit wacht Vorgänge und Abläufe verlängerter Lebensarbeitszeiten wird die physische und insbe- • Variante: Führungskraft ist sehr zurückhaltend, greift sondere auch die psychische Gesundheit der Beschäftigten als nur bei auftretenden Problemen ein immer wichtiger werdender Wettbewerbsfaktor erkannt. Füh- rungskonzepte, welche diese Dimension berücksichtigen bzw. Transformationaler Führungsstil in die sich diese Dimension integrieren lässt, werden deshalb • Wird auch als werteorientierter Führungsstil bezeichnet in Zukunft weiter Konjunktur haben. Das sind in erster Linie • Transformationale Führung ist ganzheitlich ausge- eher mitarbeiterorientierte Konzepte – insbesondere solche, richtet, Führungskraft hat gesamte Persönlichkeit des die auf dem Ansatz der transformationalen Führung beruhen, Beschäftigten im Blick der auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen auf Seiten • Transformationale Führung versucht Ziel- und An- der Beschäftigten abzielt. Dass sich diese Einflussnahme der spruchsniveau der Beschäftigten zu beeinflussen, ihre Führungskräfte zusätzlich auf gesundheitliche Ziele bzw. auf Werte und Motive auf eine höhere Ebene zu heben, die Verbesserung der Ressourcen und damit auch der Förde- Mittel dazu sind: rung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit erstrecken kann, –– „Intellektuelle Stimulation“, d. h. die Führungskraft ist ein Ansatz, der in jüngster Zeit wissenschaftlich verfolgt ermuntert die Beschäftigten, neue Wege der Prob- wird – vgl. dazu das Interview mit Prof. Dr. Jörg Felfe in diesem lemlösung zu beschreiten und die eigenen Einstel- Report. lungen und Werthaltungen zu reflektieren –– „Idealisierender Einfluss“, d. h. die Führungskraft übt durch ihr ethisch vorbildliches Verhalten und Han- deln positiven Einfluss auf die Beschäftigten aus –– „Individualisierte Mitarbeiterorientierung“, d. h. die Führungskraft behandelt nicht alle Beschäftigten gleich, sondern berücksichtigt die Bedürfnisse und Anlagen jeder einzelnen Person, was deren Selbst- vertrauen stärkt 16
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