Einleitung. Medical Anthropology -Standortbestimmung in der deutschsprachigen

 
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Einleitung                                                                                                  3

                                Einleitung.
     Medical Anthropology –Standortbestimmung in der deutschsprachigen
                          Wissenschaftslandschaft1
                                               ANGELIKA WOLF

1.    Kurze Gründungsgeschichte der AG                    damaligen Vortragenden arbeiteten zumeist an ver-
      Medical Anthropology in der Deutschen               schiedenen ethnologischen Instituten relativ verein-
      Gesellschaft für Völkerkunde e. V.                  zelt an ihren medizinethnologischen Magisterarbei-
                                                          ten und fanden im Rahmen der Tagung ein Forum
Wer Mitte der 1990er Jahre innerhalb eines Ethno-         zur Diskussion ihrer Fragestellungen. Die Ergebnis-
logiestudiums in Deutschland nach einer Schwer-           se dieses Austauschs mündeten in einer ersten be-
punktausrichtung Medizinethnologie suchte, wurde          scheidenen Publikation (WOLF, STÜRZER 1996).
herbe enttäuscht. Hatte Anfang der 1990er Jahre in        Seither hat die AG Medical Anthropology nicht nur
Hamburg noch die Möglichkeit bestanden, in Medi-          eine eigene Tagung zum Thema Medizin und Glo-
zinethnologie unterrichtet zu werden und zu promo-        balisierung veranstaltet (WOLF, HÖRBST 2003),
vieren, gab es diesen Schwerpunkt nicht mehr. Bea-        sondern auf allen seitherigen Tagungen der DGV
trix Pfleiderer, dort Professorin für Ethnologie, hat-    ein eigenes Panel aufgestellt, welches thematisch
te – zwar ohne explizit dazu berufen zu sein – das        zumeist mit dem Leitthema des Berufsverbandes
Fach abgedeckt (siehe bspw. PFLEIDERER 1993)              korrespondierte, aber jeweils eigene Fragestellun-
und hinterliess nach dem Aufgeben ihrer akademi-          gen behandelte.
schen Laufbahn eine wissenschaftliche Lücke.                 Auch wenn die AG keine homogene Gruppe bil-
Aspekte medizinischer Konzepte wurden und wer-            det und die Unterschiedlichkeiten innerhalb der AG
den zwar an den meisten ethnologischen Instituten         vielleicht bald genauso gross sein mögen wie die
in Deutschland im Rahmen von Grundkursen zur              Differenz zu anderen Gruppierungen benachbarter
Religionsethnologie behandelt, jedoch dort eher nur       Arbeitsfelder, so macht es dennoch einen Unter-
gestreift. Dies scheint im Lande Rudolph Virchows         schied, welches Fach als Heimatdisziplin im Zen-
– des ersten bedeutsamen Sozialmediziners – und           trum steht. Ist die Medizin im Stamm eines zusam-
angesichts der Tatsache, dass der Gründungsvater          mengesetzten Substantives genannt, so stellen alle
der Ethnologie in Deutschland, Adolf Bastian selbst       anderen vorgesetzten Begriffe lediglich eine Vari-
Mediziner war, umso verwunderlicher. Mittlerweile         ante, eine Spezifität dieses Zentrums dar. Der
hat aber medizinethnologischer Unterricht an eini-        Stammbegriff definiert die Art und Weise, wie sich
gen Instituten Fuss gefasst, u. a. mit einer regionalen   bspw. die Ethnologie dann zur Medizin verhält: als
Ausrichtung am Südasieninstitut in Heidelberg und         diese beschreibend, dieser zuarbeitend. Nicht nur
mit einem Aidsschwerpunkt an der Freien Universi-         hat die Ethnologie eine eigene Fachtradition und
tät Berlin (vgl. WOLF et al. 2005).                       eine andere Methodologie, die meisten Mitglieder
    Diese Entwicklung ist nicht zuletzt Bestrebun-        definieren die Sozial- und Kulturanthropologie als
gen zu verdanken, die sich im Anschluss an eine Ta-       ihre Disziplin. Daher war ein Zusammenschluss im
gung im Jahr 1996 an der Freien Universität Berlin        ethnologischen Berufsverband favorisiert worden.
formiert hatten und die schliesslich ein Jahr später      Da aber auch Mediziner, Theologen und Soziologen
zur Gründung der AG Medical Anthropology in der           Mitglied sind, hat sich die AG für die Bezeichnung
Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde e. V.              “Medical Anthropology” entschieden. Dieser Be-
(DGV) auf deren Tagung des ethnologischen Be-             griff ist der jungen amerikanischen Tradition dieses
rufsverbandes in Frankfurt führten. Die Tagung, auf       Faches entlehnt, das an den Universitäten gelehrt
der sich die Gründungsmitglieder zusammenfan-             wird und wissenschaftliche Verbindungen zu unter-
den, war von den Initiatoren eines viersemestrigen        schiedlichen Disziplinen knüpft. War der Haupt-
studentischen Projekttutoriums zum Thema Medi-            grund für den Zusammenschluss in der AG Medical
cal Anthropology am Institut für Ethnologie der           Anthropology die fachliche Verankerung, so verfol-
Freien Universität Berlin veranstaltet worden. Die        gen die Mitglieder zugleich ein besonderes theoreti-

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4                                                                                            Angelika Woilf

sches Interesse: sie fühlen sich dem kulturell-inter-   einzelnen regionalen Kontexten in unterschied-
pretativen Ansatz und/oder der critical medical an-     licher Weise in bestehende Formen des Umgangs
thropology verpflichtet (vgl. GOOD 1994). Im            mit Kranksein eingegliedert wurde, dass sie denen
weiteren Verlauf der Einleitung soll dieser besonde-    gegenübergestellt und/oder weiterentwickelt wurde.
re theoretische Hintergrund erläutert werden. Daran     Dies lenkte das Forschungsinteresse der Medical
schliesst sich eine Beschreibung der bisherigen Ar-     Anthropology mehr auf die Wissensformen, Bewer-
beitsschwerpunkte der AG an. Der Beitrag endet mit      tungen und Strategien von „PatientInnen“ oder
einer Benennung der eher praktischen Aktivitäten        „KlintentInnen“, anstatt wie zuvor von den Sicht-
und der Angebote der AG Medical Anthropology.           weisen der jeweiligen HeilexpertInnen auszugehen.
                                                        In diesem Prozess wurde die Biomedizin, um in der
                                                        Terminologie der 70er zu sprechen, selbst als “eth-
2.   Von der soziokulturellen Bedingtheit der           nomedicine” entdeckt und somit zum Forschungs-
     Biomedzin2                                         gegenstand der Medical Anthropology, und zwar
                                                        sowohl in nicht-westlichen als auch in westlichen
Lange Zeit hatte die Biomedizin3 die uneinge-           Settings. In dieser Auseinandersetzung stellte sich
schränkte Macht zu definieren, was bspw. als            sehr schnell heraus, dass der medizinische Pluralis-
Krankheit gelten kann oder wie der Körper zu kon-       mus auch innerhalb der Biomedizin selbst zu finden
zipieren sei. In den 1980er Jahren wurde dieser De-     ist: “Biomedicine is not one, but many medicines.”
finitionsanspruch zunehmend in Frage gestellt und       (HAHN & KLEINMAN 1983:315).4
nicht mehr nur die fehlenden soziokulturellen Di-           Für die aufkommende critical medical anthropo-
mensionen der Biomedizin kritisiert (HADOLT, die-       logy (CMA) mit ihren Bezügen zu marxistischen
ser Band). Vielmehr wurde die scheinbare Objekti-       Denktraditionen und zur politischen Ökonomie
vität der Biologie und der Medizin selbst zu einem      (BAER 1982, MORSY 1979, TAUSSIG 1980, YOUNG
Forschungsthema. Techniken und Prozesse der             1982) wurde die Analyse der Biomedizin unter den
Wissensvermittlung in ihren eigenen Stätten, den        Gesichtspunkten von gesellschaftlichen Machtver-
medizinischen Schulen und Universitäten, wurden         hältnissen, Verteilung von Ressourcen und der Le-
untersucht (KONNER 1989) und deren gesellschaft-        gitimation und Reproduktion von sozialer Un-
liche Bedingtheit analysiert (GOOD 1994).               gleichheit ein zentrales Anliegen. Neben ihrem In-
    Ein wichtiger Ausgangspunkt für diese Ver-          teresse an der von gesellschaftlichen Verhältnissen
schiebungen in der Medical Anthropology war die         bestimmten Kontrolle von medizinischem Wissen
sich Ende der 1970er Jahre durchsetzende Einsicht,      gab sie aber auch wichtige Anstöße für eine Ausein-
dass in den meisten Gesellschaften nicht nur ein me-    andersetzung mit der Konstitutierung eben jenes
dizinisches System vorhanden ist, das sich als “eth-    Wissens. Von der Prämisse ausgehend, dass medizi-
nomedicine” spezifizieren lässt, sondern gleich         nische Praxis gleichzeitig ideologische Praxis ist
mehrere nebeneinander. Arbeiten zu diesem Medi-         (YOUNG 1982:271), waren Allan YOUNG und Jean
zinpluralismus (LESLIE 1980), die in vielen Teilen      COMAROFF (1982) unter den ersten in der Medical
der Welt durchgeführt wurden (z.B. LESLIE 1976          Anthropology, die sich mit den soziokulturellen Be-
für Indien, KLEINMAN 1980 für China, JANZEN             dingtheiten von Krankheitskategorien und des phy-
1978 und COMAROFF 1981 für Afrika), stellten un-        sischen Körper befassten und wie diese in der Bio-
ter anderem den offenkundigen Pragmatismus dar,         medizin konstruiert werden.
mit dem Menschen die verschiedenen therapeuti-              Laut COMAROFF spiegeln sich sowohl im vor-
schen Angebote nacheinander oder gar gleichzeitig       herrschenden ätiologischen Modell der Biomedizin
in Anspruch nehmen – trotz ihrer inhaltlichen In-       als auch in den daraus abgeleiteten therapeutischen
kompatibilität zueinander. In dieser Vielfalt von       Maßnahmen die im Westen tief verwurzelten Di-
Medizinen stellt die Biomedizin nur eine, wenn          chotomien von Natur – Kultur, Körper – Geist und
auch in verschiedenen Gesellschaften unterschied-       Individuum – Gesellschaft wider. Der sich darauf
lich gewichtete Option dar. Anstatt indigene Heil-      gründende „biologische Reduktionismus“ erlaube
praktiken zu ersetzen – wie dies im Zuge von Neo-       Krankheit und Körper nur in biologischen Begriffen
kolonialismus und Globalisierung von vielen erwar-      zu fassen. Die gesellschaftlichen (und somit von
tet wurde – zeigte sich, dass die Biomedizin in den     Werten und Gruppeninteressen durchdrungenen)

                                                                     VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung
Einleitung                                                                                             5

Möglichkeitsbedingungen medizinischen Wissens         Völkerkunde, die Anthropologische Gesellschaft
blieben dabei ebenso ausgeklammert wie die mora-      Wien und die Schweizerische Ethnologische Gesell-
lischen, sozialen und politischen Dimensionen in      schaft) die Disziplinarität der Ethnologie zum The-
der Anwendung dieses Wissens. Der Status jener        ma ihrer Tagung „Interdisziplinarität: Ethnologie
biologischen „Fakten“ über Krankheit und Körper,      und ihre Nachbardisziplinen“ in Heidelberg, Okto-
die in den letzten zweihundert Jahren den Charakter   ber 1999, machte, kam dem inhaltlichen Interesse
unumstößlicher, objektiver und ahistorischer Wahr-    der AG daher entgegen. Dem Panel gingen zwei
heiten angenommen haben, trage zur „depolitisie-      Vorbereitungsveranstaltungen voraus. Im März
renden“ Rolle der Biomedizin in westlichen und        1999 veranstaltete die AG an der Ludwig-Maximili-
nicht-westlichen Gesellschaften bei. Gerade in der    an-Universität in München den Workshop „Medi-
Behauptung, die Biomedizin sei frei von Werten        zinethnologie im deutschsprachigen Raum: Woher
und Symbolen, so argumentiert COMAROFF                – Wohin?“. Ein wichtiges Anliegen dieses Arbeits-
(ibid.:59), läge ihre wichtigste symbolische und      treffens war es, über eine Bestandsaufnahme der
ideologische Bedeutung. Die Einbeziehung dieser       programmatischen Beiträge, die in der Tradition der
relativ neuen Grundlagen in die eigenen For-          Ethnomedizin geleistet wurden, und dem Vergleich
schungsarbeiten schien den ersten Mitgliedern un-     zu internationalen Entwicklungen in der Medical
serer neuen Arbeitsgruppe bedeutsam, und ihr füh-     Anthropology zu einer Standortbestimmung der AG
len sich auch die meisten der heutigen Mitglieder     und ihrer zukünftigen Arbeitsausrichtungen zu
zugetan.                                              kommen. Einen weiteren Workshop mit dem Titel
                                                      „Ethnologie und Medizin: Grenzen und Grenzüber-
                                                      schreitungen“ veranstaltet die AG im Juli 1999 an
3.   Arbeitschwerpunkte der AG Medical                der Freien Universität Berlin. Inhaltliche Schwer-
     Anthropology                                     punkte bildeten zum einen das wissenschaftliche
                                                      Werk von Ronald FRANKENBERG und sowie die Ar-
Schon die erste Veranstaltung der neuen AG auf der    beiten von Inga-Britt KRAUSE, die beide als Vortra-
DGV-Tagung 1997 in Frankfurt verwies mit dem          gende zur Tagung in Heidelberg eingeladen waren.
Titel „Forschungsperspektiven und Berufsfelder der        Auf der Plenumsveranstaltung der Heidelberger
Medizinethnologie in Deutschland“ auf einen Span-     DGV-Tagung im Oktober 1999 setzte sich dann Ro-
nungsbogen, in welchem sich auch viele der späte-     nald FRANKENBERG als Keynote-Sprecher in sei-
ren Schwerpunktthemen ansiedeln lassen und der        nem Vortrag mit dem Titel „Ethnologie und Medi-
sich entsprechend im thematischen Teil dieses Ban-    zin“ mit den vielfältigen Bezügen zwischen Medical
des wiederfindet. Zum einen wird die Arbeit inner-    Anthropology und Biomedizin auseinander. Er
halb der AG von einem starken Interesse an fachlich   strich insbesondere die unterschiedlichen epistemo-
theoretischer Fundierung getragen, zum anderen        logischen Zugänge der beiden Disziplinen und die
sind viele Mitglieder in praxisorientierten Berufen   Konsequenzen für ihre jeweilige Arbeitspraxis her-
tätig. Diesem Umstand Rechnung zu tragen und          aus. Beim folgenden Panel am Nachmittag leitete
gleichzeitig sowohl die eigene Verortung innerhalb    Bernhard HADOLT zuerst die ideengeschichtlichen
der Sozial- und Kulturanthropologie als auch grenz-   Entwicklungen der Medical Anthropology her und
überschreitend interdisziplinäre Anknüpfungspunk-     formulierte dann fünf Thesen zur Relevanz der Me-
te auszuloten, wurde das Anliegen vieler weiterer     dical Anthropology für die allgemeine Ethnologie,
Panelveranstaltungen.                                 die sich auf Embodiment und Körper, Leiden, Glo-
    Den Beiträgen der Medical Anthropology für die    balisierung, methodologische Herausforderungen
allgemeine Ethnologie ging die AG im Jahre 1999       und schließlich auf den vergleichenden und pro-
in mehreren Veranstaltungen nach. Hintergrund die-    blemorientierten Ansatz der Medical Anthropology
ses Interesses der AG waren unter anderem die Be-     bezogen. Aus einer Position der applied Medical
mühungen, ihren Standort hinsichtlich der Ethnolo-    Anthropology heraus stellte Inga-Britt KRAUSE die
gie und der Biomedizin in deutschsprachigen Län-      Vorzüge des methodologischen und reflexiven Zu-
dern, der Ethnomedizin und der internationalen        gangs der Sozialanthropologie für Kommunika-
Medical Anthropology zu klären. Dass die deutsch-     tionsprozesse zwischen KlinikerInnen und ihren
sprachige Ethnologie (die Deutsche Gesellschaft für   KlientInnen im Bereich der Kinder- und Familien-

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psychiatrie dar. FRANKENBERG schließlich erörterte     Universität Berlin diskutiert worden. Der Aus-
zur Anregung und Revitalisierung der Sozialanthro-     gangspunkt der Beschäftigung mit diesem Thema
pologie die Bedeutung von Embodiment sowie das         war der Aufsatz von Susan Reynolds WHYTE
Versagen von Kultur, wie dieses durch Krankheit        (1989) mit dem richtungsgebenden Thema “Anthro-
und Tod repräsentiert ist (siehe B. HADOLT in die-     pological Approaches to African Misfortune: From
sem Band).                                             Religion to Medicine”. In diesem Beitrag geht sie
    Bereits ein Jahr später konnte die AG ihre erste   der Frage nach, welchen Unterschied es macht und
Tagung organisieren. Diese fand mit dem Titel Me-      zu welchen Unterschieden es führt, wenn Antwor-
dizinische Begrifflichkeiten im Spannungsfeld glo-     ten auf Unglück in Afrika im Rahmen der Reli-
baler Konzepte und lokaler Umsetzungen im Okto-        gion(sethnologie) oder der Medizin(ethnologie) un-
ber 2000 am Institut für Geschichte der Medizin,       tersucht werden. Die AG stellte sich dann der Her-
Abteilung Ethnomedizin an der Universität Wien         ausforderung zu untersuchen, wie sich aus heutiger
statt. Vorausgegangen waren wiederum zwei Ar-          Sicht im deutschsprachigen Raum das Verhältnis
beitstreffen in München und Freiburg, in welchem       zwischen Medizin- und Religionsethnologie defi-
die Mitglieder ihre aktuellen Forschungsarbeiten       niert und wie die seit Langem bestehenden Dichoto-
präsentierten. Die Anregungen zogen sich durch         mien überwunden werden könnten (siehe OBRIST et
alle Arbeiten gleichermassen wie ein roter Faden       al., dieser Band; WOLF, DILGER 2002).
und entpuppten sich am Thema Globalisierung. Zu            In einem zweiten Workshop im Juni 2002 am
unserem Erstaunen gab es zu diesem Zeitpunkt trotz     Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn
einer schon länger geführten sozialwissenschaftli-     wurde das Thema abschliessend anhand eigener,
chen Debatte zur Globalisierung, trotz der Existenz    empirischer Forschungserfahrungen untersucht.
der Weltgesundheitsorganisation als einer global       Neben der Bestimmung des Religionsbegriffs in der
agierenden Institution mit Homogenisierungsbemü-       Ethnologie und der Religionsbegriffe in der Theolo-
hungen im medizinischen Bereich und ungeachtet         gie widmete sich die AG der Unterscheidung zwi-
der vielen Pharmafirmen, die ihre Produkte welt-       schen Glauben und Wissen vs. dem Glauben an
weit vertreiben, kaum Publikationen, die die Berei-    Wissen. Die Schlussfolgerung des Workshops war
che Medizin und Globalisierung miteinander ver-        denn auch, dass strikte Grenzziehungen zwischen
banden. Eine Untersuchung von Globalisierung in        Religion und Medizin ebenso wie zwischen Glau-
der Medizinethnologie bedeutet aber keineswegs         ben und Wissen eine angemessene Beschreibung
nur, die globale Ausbreitung der Biomedizin darzu-     und das Verstehen der Akteursperspektive tendenzi-
stellen, sondern beinhaltet ebenso die Beobachtung     ell verhindern. Diese sollten deshalb problematisiert
und Beschreibung von Umformungen globaler              und in jeweils spezifischen lokalen Kontexten empi-
Konzepte in neue lokale Kontexte. In der Einleitung    risch untersucht werden (siehe OBRIST et al., dieser
des der Tagung folgenden Bandes wurde dann das         Band).
Konzept der medicoscapes entwickelt (HÖRBST,               Ein Workshop am Heidelberger Südasien-Insti-
WOLF 2003). Es lehnt sich an die Begrifflichkeiten     tut im Januar 2003 leitete dann den neuen Themen-
von APPADURAI (1990) an und bietet einen erwei-        komplex Methoden medizinethnologischer For-
terten Analyserahmen. Damit wird es ermöglicht,        schung ein, insbesondere deren spezifische Charak-
die globalen Dynamiken von Prozessen im medizi-        teristika und Probleme im Vergleich mit anderer
nischen Sektor adäquat zu beschreiben (siehe           ethnologischer Forschung. Auf dem Workshop
HÖRBST & KRAUSE, dieser Band).                         „Forschungsmethoden der Medizinethnologie.
    Auf der im Herbst 2001 in Göttingen stattfinden-   Kontext, ethische Implikationen und Positionie-
den DGV-Tagung mit dem Titel „Verflechtungen.          rung“ versuchte die AG medizinethnologische For-
Ethnologische Perspektiven zu Gesellschaften im        schung gegenüber anderen Disziplinen und gesell-
Prozess weltweiter Transformation“ veranstaltete       schaftlichen Kontexten/Anforderungen zu positio-
die AG wiederum ein Panel, das sich thematisch mit     nieren. Neben den konkreten Methoden und
interdisziplinären Bezügen befasste. Das Thema         Arbeitstechniken wurden Konsequenzen aus dem
From Religion to Medicine - and back again? War        Umgang mit Leid und Krankheit diskutiert. Die AG
bereits in einem vorausgegangenen Workshop im          kam zu dem Schluss, daß die Medical Anthropology
März 2001 am Institut für Ethnologie der Freien        wohl über einen gewissen „Methodenkanon“ ver-

                                                                    VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung
Einleitung                                                                                                7

fügt, dass sich die Methoden in diesem Kanon je-       schungsfelder bestimmter Regionen darzulegen und
doch nicht wesentlich von den Methoden anderer         dort bestehende wissenschaftliche Diskurse zu cha-
qualitativer Sozialforschung unterscheiden. Der Fo-    rakterisieren. Dabei erging die Bitte an die AutorIn-
kus der Auseinandersetzung verschob sich von den       nen, die Arbeiten sowohl der AG-Mitglieder als
„Methoden der Medical Anthropology“ hin zum            auch anderer deutschsprachiger KollegInnen in die-
„Verhältnis von Methode/Methodologie und dem           ser Wissenschaftslandschaft zu verorten und
spezifischen Forschungsgegenstand und -kontext“.       Schlüsselthemen darzulegen.
Ein internes Arbeitstreffen der AG an der Ludwig-
Maximilian-Universität München befasste sich
dann mit emotionalen Grenzen und Hürden in der         4.   Serviceleistungen
medizinethnologischen Forschung und erarbeitete
eine Struktur für die DGV-Arbeitstagung im Herbst      Neben den thematischen und regionalen Studien hat
2003 in Hamburg, welche mit dem Leitthema „Me-         sich die AG Medical Anthropology auch immer um
thoden und Ansätze der qualitativen Datenanalyse“      eine Vermittlung ihrer Themen in der Öffentlichkeit
dem inhaltlichen Interesse der AG sehr entgegen        bemüht. Hier sind nicht nur die zahlreichen be-
kam (KNIPPER & WOLF, dieser Band).                     schriebenen Veranstaltungen zu nennen, weitere
    Mit der Erörterung methodologischer Herausfor-     Serviceleistungen zeugen von diesen Bemühungen.
derungen kamen gelegentlich konkrete Anwen-            Nicht nur werden InteressentInnen in den öffent-
dungsfragen der Medizinethnologie auf und so lau-      lichen e-mail-Verteiler aufgenommen und kosten-
tete das Thema des nächsten Workshops Applied          los und regelmässig mit wissenschaftlichen Infor-
Medical Anthropology – was passiert jenseits des       mationen aus den weltweiten Netzen versorgt. Auch
Elfenbeinturms? Am Institut für Ethnologie der         bietet die – zumeist ehrenamtlich erstellte – Home-
Freien Universität Berlin wurden im Mai 2004 nicht     page (http://www.medicalanthropology.de) weite-
nur Herausforderungen einer Vernetzung zwischen        ren guten Service in Form einer Literaturliste zur
Forschung, Lehre und Projektarbeit erläutert, son-     Grundlagenliteratur. Interessierte Medizinethno-
dern wurde auch der Frage nachgegangen, wie me-        logInnen und StudentInnen erhalten desweiteren
dizinethnologische Inhalte in verschiedenen nicht-     eine erste Einsicht in unterschiedliche Themenfel-
akademischen und interdisziplinären Arbeitsfeldern     der der Medizinethnologie sowie in medizinethno-
aufgenommen werden und wie MedizinethnologIn-          logisch relevante Lektüre über verschiedene Regio-
nen damit umgehen. Auch die Arbeitsmarktorientie-      nen dieser Welt.
rung in Form der verlangten Kompetenzen und wie            Die Anzahl der AG-Mitglieder stieg kontinuier-
und wo man diese erwerben könnte, standen im           lich auf mittlerweile über 50 Personen an, eine
Zentrum des Interesses. Eine Angewandte Medizin-       ebenso grosse Anzahl an Interessenten wird zusätz-
ethnologie muss sich in die gesellschaftspolitische    lich regelmässig bspw. über den e-mail-Verteiler
Debatte einmischen, Position beziehen, in die Öf-      mit Informationen versorgt. Der Vorteil einer Mit-
fentlichkeit treten, so eine aus dem Workshop resul-   gliedschaft besteht denn nun in der Integration in
tierende Forderung. Eine stärkere öffentliche Prä-     den internen Verteiler, in welchem bspw. weltweite
senz und ein intensiveres Engagement des Faches in     Stellenausschreibungen kursieren, so wie Vergün-
praktischen Arbeitsfeldern wird auch zukünftigen       stigungen bei Publikationen von AG-Mitgliedern.
Absolventen neue Berufsperspektiven eröffnen           Die Bedeutung und der Wert eines inhaltlichen Aus-
können (siehe ADAM & STÜLB, dieser Band).              tauschs muss nach der bisherigen Lektüre wohl
    Die im thematischen Teil dieses Bandes versam-     kaum näher erläutert werden. Ein letztes Beispiel
melten Beiträge beschreiben zum einen den Werde-       der guten Arbeit innerhalb der AG sei aber noch ge-
gang und die Diskussionsprozesse der einzelnen         nannt: immer wieder war es in der AG ein Anliegen,
theoretischen Schwerpunkte in der AG, während die      über ethische Implikationen medizinethnologischer
im zweiten Teil verfassten Texte eine Übersicht        Forschung zu reden. Allein dies zu einem Panelthe-
von medizinethnologischen Arbeitsschwerpunkten         ma zu machen war bislang weder Zeit noch Gele-
deutschsprachiger Forschung in unterschiedlichen       genheit. Dennoch wurde das Thema bearbeitet.
geographischen Regionen geben sollen. Anliegen         Dank einer von Stefan Ecks und Elsbeth Kneuper
der Regionalbeiträge war es, dominante For-            erstellten Vorlage war es in drei Sitzungen neben

curare 26(2003)1+2
8                                                                                                          Angelika Woilf

anderen Punkten möglich, eine gemeinsame Ethik-                GOOD B. J. 1994. Medicine, Rationality, and Experience. An
                                                                  Anthropological Perspective. Cambridge: Cambridge Uni-
erklärung zu verabschieden (siehe dieses Heft                     versity Press.
S. 159). Diese bildet damit den Abschluss unserer              GUARNACCIA P. 2001. Introduction: The contribution of medi-
Beiträge zu diesem Heft der Zeitschrift curare, de-               cal anthropology to anthropology and beyond. Medical An-
ren Redaktion mich als Gasteditorin eingeladen hat.               thropology Quarterly 15,4: 423-27.
                                                               HAHN R., KLEINMAN A. 1983. Biomedical practice and anthro-
Andere Mitglieder haben sich in weiteren nicht auf-               pological theory: frameworks and directions. Annual Review
gezählten Engagements ehrenamtlich verdient ge-                   of Anthropology 12: 305-333.
macht. Es sind dieses Engagement und dieser Elan,              HÖRBST V., WOLF A. 2003. Globalisierung der Heilkunde: Eine
                                                                  Einführung. In: WOLF, A., HÖRBST, V. (Hg), a.a.O.: 3-27.
von dem die AG neben ihrem Interesse an einem                  JANZEN J. 1978. The Quest for Therapy in Lower Zaire. Berke-
wissenschaftlichen Austausch getragen wird und                    ley: University of California Press.
die sie hoffentlich noch lange tragen mögen.                   KLEINMAN A. 1980. Patients and Healers in the Context of Cul-
                                                                  ture: An Exploration of the Borderland between Anthropo-
                                                                  logy, Medicine, and Psychiatry. Berkeley: University of
                                                                  California Press.
Anmerkungen                                                    KONNER M. 1989. Becoming a Doctor. Pittsburgh.
                                                               LESLIE C. (Ed) 1976. Asian Medical Systems: A Comparative
                                                                  Study. Berkeley: University of California Press.
1. Ich danke meinen Lehrern Charles LESLIE, der als            –––––. 1980. Special issue on "medical pluralism". Social Sci-
   ein Begründer der Medical Anthropology in mir                  ence and Medicine 14B,4.
   das Interesse und die Freude an dem Fach an der             MOL A., BERG M. 1998. Differences in Medicine: An Introduc-
   University of Delaware im Wintersemester 1990/                 tion. In Berg M., Mol A. Differences in Medicine: Unravel-
   91 weckte, sowie Ute LUIG, die mich in den dar-                ling Practices, Techniques, and Bodies. Durham and
   auffolgenden Jahren meines Ethnologiestudiums                  London: Duke University Press: 1-12.
   mit ihrem Wissenschatz und ihrer Analysekompe-              MORSY S. 1979. The missing link in medical anthropology: the
   tenz tief beeindruckte. Den Mitgliedern der AG sei             political economy of health. Reviews in Anthropology 6:
   für die spannende und erfreuliche Zusammenarbeit               349-63.
   gedankt, Hansjörg DILGER, Viola HÖRBST, Brigit              PFLEIDERER B. 1993. Medizinanthropologie: Herkunft, Aufga-
   OBRIST, Bernhard HADOLT, Tina OTTEN und                        ben und Ziele. In SCHWEIZER T. et al. (Hg). Handbuch der
   Michael KNIPPER für die vielen Jahre kollegialer               Ethnologie. Berlin: Reimer.
   Freundschaft.                                               TAUSSIG T. 1980. Reification and the consciousness of the pati-
2. Ich danke Bernhard HADOLT für massgebliche Bei-                ent. Social Science and Medicine 14B: 3-13.
   träge zu diesem Kapitel.                                    WOLF A., STÜRZER M. (Hg) 1996. Die gesellschaftliche Kon-
3. Als Biomedizin wird eine Heilkunde definiert, die              struktion von Befindlichkeit. Ein Sammelband zur Medizin-
   sich an den Naturwissenschaften mit der Biologie               ethnologie. Berlin: VWB – Verlag für Wissenschaft und
   als Leitwissenschaft orientiert, vgl. HAHN &                   Bildung.
   KLEINMAN (1983: 305f.).                                     WOLF A., DILGER HJ. 2001. Ethnologische Perspektiven auf
4. Für rezentere Beiträge zum Thema von Differenz                 das Verhältnis von Religion und Medizin. Bericht über das
                                                                  Panel der AG Medical Anthropology auf der Tagung der
   innerhalb der Biomedizin siehe z.B. PAYERS 1994,
                                                                  DGV in Göttingen. curare 24,1+2: 191-196.
   MOL & BERG 1998.
                                                               WOLF, A., HÖRBST, V. (Hg.) 2003. Medizin und Globalisierung.
                                                                  Universelle Ansprüche – lokale Antworten. Münster: Lit.
                                                               WOLF A., ECKS S., SOMMERFELD J. 2005. Anthropologie(s)
Literatur                                                         médicale(s) en Allemagne. In SAILLANT F., GENEST S.
                                                                  (Eds). Anthropologie médicale, une approche comparative.
                                                                  Im Druck.
APPADURAI A. 1990. Disjuncture and Difference in the Global    WHYTE S. R. 1989. Anthropological Approaches to African
   Cultural Economy. Public Culture 2,2: 1-24.                    Misfortune. From Religion to Medicine. In JACOBSON-WID-
BAER H. A. 1982. On the political economy of health. Medical      DING A., WESTERLUND D. (eds.). Culture, Experience and
   Anthropology Newsletter 14,1: 1-2+13-17.                       Pluralism. Essays on African Ideas of Illness and Healing.
COMAROFF J. 1981. Healing and cultural transformation: the        Uppsala: Acta Universitatis: 289-301.
   Tswana of Southern Africa. Social Science and Medicine      YOUNG A. 1982. The anthropologies of illness and sickness. An-
   15B,3: 367-378.                                                nual Review of Anthropology 11: 257-85.
–––––. 1982. Medicine: Symbol and Ideology. In Wright P.,
   Treacher A. (Eds). The Problem of Medical Knowledge.
   Edinburgh: Edinburgh University Press.

                                                                               VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung
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