Impact Free Impact Free 42 - Dezember 2021 - Hochschuldidaktisches Journal - Gabi Reinmann
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[0] Impact Free Hochschuldidaktisches Journal Impact Free 42 – Dezember 2021 HAMBURG IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[0] Impact Free Was ist das? Impact Free ist eine Publikationsmöglichkeit für hochschuldidaktische Texte, - die als Vorversionen von Zeitschriften- oder Buch-Beiträgen online ge- hen, oder - die aus thematischen Gründen oder infolge noch nicht abgeschlossener Forschung keinen rechten Ort in Zeitschriften oder Büchern finden, oder - die einfach hier und jetzt online publiziert werden sollen. Wer steckt dahinter? Impact Free ist kein Publikationsorgan der Universität Hamburg. Es handelt sich um eine Initiative, die allein ich, Gabi Reinmann, verantworte, veröffent- licht auf meinem Blog (http://gabi-reinmann.de/). Herzlich willkommen sind Gastautoren, die zum Thema Hochschuldidaktik schreiben wollen. Texte von Gastautorinnen können dann natürlich auch in de- ren Blogs eingebunden werden. Und was soll das? Impact Free war gedacht als ein persönliches Experiment. Falls zu wenige Texte über einen gewissen Zeitraum zusammengekommen wären, hätte ich das Vorhaben wieder eingestellt. Dem ist aber nicht so, sodass ich Impact Free bis auf Weiteres fortsetze. Inzwischen sind die Texte auch über die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg hier erreichbar. In diesem Journal mache ich in Textform öffentlich, was mir wichtig erscheint: (a) Gedanken, bei denen ich so weit bin, dass sie sich für mehr als Blog-Posts eignen, (b) Texte, die aus diversen Gründen noch nicht geeignet sind für andere Publikationsorgane, (c) Texte, die in Reviews abgelehnt wurden oder infolge von Reviews so weit hätten verändert werden müssen, dass es meinen Inten- tionen nicht mehr entspricht, (d) Texte mit hoher Aktualität, für welche andere Publikationswege zu langsam sind, (e) inhaltlich passende Textbeiträge von anderen Autorinnen. Genderschreibweise und Textlänge sind bewusst variabel und können frei gewählt werden. Kontaktdaten an der Universität Hamburg: Prof. Dr. Gabi Reinmann Universität Hamburg Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL) Leitung | Professur für Lehren und Lernen an der Hochschule Jungiusstraße 9 | 20355 Hamburg reinmann.gabi@googlemail.com gabi.reinmann@uni-hamburg.de https://www.hul.uni-hamburg.de/ http://gabi-reinmann.de/ IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[1] MAPPING MEMORY? Herausforderung des Verblassens von Erinne- rungsspuren an den historischen Nationalsozia- BEGRÜNDUNGSLINIEN UND lismus ansetzen. Eines der wohl bekanntesten MÖGLICHKEITEN DER Projekte in diesem Zusammenhang ist die in Kooperation zwischen der USC Shoah Founda- DIGITALEN VERORTUNG VON tion, dem Institute for Visual History and Edu- ERINNERUNG IN VERMITT- cation (USC SF) und dem Institute for Creative Technologies (ICT) im Projekt Dimension in LUNGSKONTEXTEN AN EINEM Testimony entstandene Überführung von Inter- BEISPIEL AUS DER views mit Shoah-Überlebenden und anderen Zeitzeug*innen von Genoziden1 in Videobio- LEHRER*INNENBILDUNG grafien, die eine Interkation mit diesen zulassen (vgl. USC Shoah Foundation 2018). TAMARA RACHBAUER & KATHRIN Zusätzliche Herausforderungen, die die EVELINE PLANK Corona-Pandemie hinsichtlich der Arbeit von Gedenkstätten, Archiven und anderen Lern- und Forschungseinrichtungen derzeit hinsicht- lich eingeschränkter Zugangsmöglichkeiten mit Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Trans- sich bringt, erzwingt eine massive Beschleuni- formationen befördern unter anderem das „Ver- gung bereits laufender Entwicklungen hin zu ei- schwinden der Zeitzeug*innen“ und die He- ner Art digitalen Wende des Holocaust-Geden- rausforderungen coronabedingter Einschrän- kens (vgl. Erbbrecht-Hartmann, 2020) und der kungen eine Art digitaler Wende im Holocaust- damit im Zusammenhang stehender Vermitt- Gedenken (vgl. Ebbrecht-Hartmann 2020). lungsarbeit. So werden mittlerweile unter ande- Dieser Digital Turn impliziert eine räumliche rem digitale Plattformen und Netzwerke ge- Dimension, die insbesondere in Vermittlungs- nutzt, um interaktive Erinnerungsaktionen zu kontexten derzeit noch kaum Beachtung findet. initiieren, beispielsweise durch die israelische An diesem Desiderat setzen wir unter Berück- Gedenkstätte Yad Vashem, die anlässlich des sichtigung der „Re-Figuration des Raums“ Holocaust Remembrance Days 2020 eine inter- (Knoblauch & Löw 2019) an, um im Anwen- nationale Name-Reading-Campaign ausrief dungsbereich der universitären Lehrer*innen- (vgl. Yad Vashem, 2020). Ein weiteres Beispiel Bildung Begründungsaspekte und didaktische stellen für Social Media aufbereitete Videotage- Möglichkeiten einer digitalen Verortung von bücher dar, die darauf abzielen, die Lebensspu- Erinnerungszeichen zu eruieren. ren Verfolgter zeitgemäß dort zugänglich zu machen, wo sich insbesondere junge, jugendli- Ausgangslage und Einordnung che Lerner*innen ohnehin aufhalten: Auf Insta- Je weiter sich ein historisches Ereignis von der gram, TikTok & Co. Darunter fällt unter ande- Lebenswelt Lernender entfernt, desto stärker rem der von Matti Kochavi verantwortete Insta- verblassen dessen Spuren, desto undeutlicher gram-Account evas.stories2, der das Tagebuch lassen sie sich entziffern und desto mehr Vor- der 1944 von den Nazis in Auschwitz ermorde- stellungskraft ist entsprechend gefordert. Kön- ten ungarischen Jüdin Eva Heymann aufgreift nen beispielsweise nicht länger Zeitzeug*innen und deren Einträge bis zu ihrer Deportation in von einer Begebenheit berichten, werden an- englischsprachige Posts und Stories überträgt dere Formen des Erinnerns relevanter. Vor dem (vgl. Henig & Ebbrecht-Hartmann, 2020). Ein Hintergrund gesellschaftlicher Transformatio- ganz ähnliches Format haben der Südwestrund- nen und insbesondere in Bezug auf die „mindes- funk (SWR) und der Bayerische Rundfunk tens seit 20 Jahren (…) durch publizistische, po- (BR) für den deutschsprachigen Bereich aufge- litische und pädagogische Debatten“ geisternde legt und dabei mit der Biografie von Sophie Metapher vom „Verschwinden der Zeitzeugen“ Scholl gearbeitet.3 (Skriebeleit, 2011) wurde bereits digital ge- stützte Erinnerungsarbeit erprobt, die an der 1 2 Im Programm wird unter anderem mit Interviews von Auf Instagram ist der Account einsehbar unter: Überlegenden, Befreier*innen des Zweiten Weltkriegs @evas.stories 3 Auf Instagram ist der Account einsehbar unter: @ich- und Überlebenden des Massakers von Nanking (1937) gearbeitet. binsophiescholl IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[2] Darüber hinaus entstehen verstärkt Virtual-Re- caust Education auch räumlich gedacht werden ality-unterstützte bis gänzlich virtuelle Rund- kann. Wir beschäftigen uns mit potentiellen Be- gänge durch institutionalisierte Gedenkstätten, gründungslinien und damit, welche Möglich- beispielsweise an der KZ-Gedenkstätte Maut- keiten sich daraus für die Vermittlungsarbeit hausen,4 sowie digitale, auf Geokoordinaten zu- ableiten lassen. Auf der Grundlage eines relati- rückgreifende Erinnerungslandschaften wie die onalen Raumverständnisses (vgl. Löw, 2001) App Memento Wien oder die digitale Erinne- setzen wir uns insbesondere mit den Möglich- rungslandkarte Österreich (DERLA)5, um hier keiten einer digitalen Verortung der Erinnerung nur einige wenige Beispiele zu nennen. an den Nationalsozialismus und die damit im Zusammenhang stehenden Genozide, Gewaltta- Mit dem kulturellen Gedächtnis als zentralen ten aber auch Lebensspuren im sozialen Nahr- Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses be- aum der Lernenden auseinander und veran- schreibt die Kulturwissenschaftlerin Aleida schaulichen dies am Beispiel eines Lehrformats Assmann insbesondere die tradierte, durch Wie- aus der universitären Lehrer*innen-Bildung. derholung geprägte und unter anderem über Texte und Riten getragene Weitergabe über Ge- nerationen hinweg. In ihren Überlegungen Vom Digital zum Spatial Turn? räumt sie den Medien eine wesentliche Rolle als Zur Re-Figuration von Träger dieses kulturellen Gedächtnisses ein, die Erinnerungsräumen sich je nach Entwicklungsstand auch auf dessen Verfasstheit auswirken können (vgl. Assmann, Augmented Space – mediale Erweite- 2006). Die digitale Transformation von Erinne- rungen und der historische Lernort rungskultur und von Formaten der Holocaust Mit voranschreitender Entfernung zum histori- Education im Übergang zum kulturellen Ge- schen Ereignis, das in Bezug auf den National- dächtnis involviert nun auch eine räumliche Di- sozialismus derzeit unter anderem vom bereits mension respektive vollzieht sie sich vor dem erwähnten „Verschwinden der Zeitzeug*innen“ Hintergrund einer räumlichen Re-Figuration, gekennzeichnet ist, werden die Verbindungen die eng mit einer zunehmenden Mediatisierung zur eigenen Lebenswelt für Lernende zuneh- kommunikativen Handelns verknüpft ist (vgl. mend abstrakter. Vor diesem Hintergrund ge- Löw & Knoblauch, 2019). Welches Potential winnen insbesondere historische Orte als Me- birgt etwa die räumliche Darstellung transnati- dium der Geschichtsvermittlung an Bedeutung, onaler Verfolgungsbewegungen und entspre- die „als Träger unserer Erinnerung, die wir mit chender Lebensspuren? Aber auch: Inwiefern Zeitzeugen verbinden“ (Pirker, 2021) fungie- wird Erinnerung durch das Schaffen gänzlich ren. virtueller Räume „ent-ortet“ und welche Konse- quenzen bringt dies gegebenenfalls mit sich? O- Nun sind viele historische Orte nicht nur in vie- der: Welche Rolle können Räume in physischer lerlei Hinsicht überformt, sondern auch hin- Form wie auch im Virtuellen als Träger von Er- sichtlich ihrer Zugänglichkeit begrenzt; die da- innerung anlässlich des zunehmenden Verblas- mit im Zusammenhang stehende Vermittlungs- sens historischer Spuren spielen? Die Auseinan- arbeit ist entsprechend herausgefordert. Viele dersetzung mit dieser räumlichen Dimension ist ehemalige NS-Tatorte sind auch jenseits ein in der Holocaust Education auf Forschungs- Corona-bedingter Beschränkungen nicht sicht- und Praxisebene bislang allenfalls nachrangig bar oder nicht begehbar, weil diese beispiels- bearbeiteter Gegenstand. weise (noch) nicht als Erinnerungszeichen mar- kiert wurden, wie das ehemalige KZ-Außenla- Mit der Feststellung eines „Spatial Turns“ ger Passau II, dessen Pinnnadel in der Erinne- (Soja, 1989; 1996)6 im Bereich der Holocaust rungslandkarte noch fehlt. Studies (vgl. Fogu, 2016) im Hinterkopf werfen wir im vorliegenden Beitrag die Frage auf, wie Einige Orte befinden sich in Privatbesitz und dieser skizzierte „Digital Turn“ in der Holo- sind daher nicht öffentlich zugänglich, wie das 4 Die Anwendung des Mauthausen Memorial stellt ein Graz und _erinnern.at_) ist unter anderem auch Memento Beispiel für eine virtuelle Führung dar: Wien als Beispiel zu nennen: https://www.mauthausen-memorial.org/de/Besuchen/Vir- https://www.memento.wien/about/ 6 Eine Art „Wiederentdeckung“ des Raums durch die tuelle-Tour#map|| 5 Neben dem Projekt „DERLA“ (Centrums für Jüdische Kultur- und Sozialwissenschaft beschrieb der Geograph Studien der Karl-Franzens-Universität Graz, Zentrum für Edward Soja (1989; 1996) als Spatial Turn. Informationsmodellierung der Karl-Franzens-Universität IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[3] Gebäude des ehemaligen KZ-Außenlagers Co- Digitale Anwendungen können aber auch auf losseum im Regensburger Stadtteil Stadtamhof. andere Weise mit dem historischen Lernort ge- Je nach Situation der Lehrenden und Lernenden koppelt sein oder gänzlich neue virtuelle Erin- kann der Umstand eine Einschränkung darstel- nerungsräume schaffen. Ohne eine zeitliche Er- len, dass die entsprechenden Orte schlicht zu weiterung zu bieten, ermöglicht die digitale Ab- weit entfernt, nicht barrierefrei zugänglich oder bildung des physischen Orts in seinem aktuellen pädagogisch nicht aufbereitet sind. Vielfach Zustand auch jenen Personen den Zugang, die sind relevante historische Orte in ihrem gegen- nicht vor Ort sein können – wie im Fall der 360- wärtigen Zustand eben kaum mehr als eine Ra- Grad-Tour durch die Gedenkstätte Neu- senfläche oder ein paar bauliche Überreste, die engamme in Hamburg. Dabei ähnelt die Posi- im Vermittlungskontext ein hohes Maß an his- tion der Nutzer*innen der von Besucher*innen torischer Vorstellungskraft fordern. der Gedenkstätte in Präsenz: Sie können die An- wendung nutzen, um sich an der Gedenkstätte Bereits vor dem „Digital Turn“ wurde an Ge- umzusehen, spezifische Orte aufzusuchen, sich denkstätten direkt vor Ort mit medialen Erwei- dort zu informieren und Details einzusehen. Im terungen gearbeitet, um die erforderliche An- Fokus steht die Informationsvermittlung. schaulichkeit zu unterstützen, etwa mit Hilfe der jeweiligen Architektur, durch entsprechend Durch die Animation weiterer Zeitschichten eingespielte Audio-Dateien oder mittels ange- können im Virtuellen auch gänzlich neue brachter Schilder. In diesem Zusammenhang Räume entstehen – angedockt an ein konkretes spricht Lev Manovich (2006) vom so genannten historisches Ereignis und einen entsprechenden „Augmented Space“, vom erweiterten Raum. Ort. Mit Secret Annex hat die niederländische An der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Gedenkstätte Anne Frank House eine solche nördlichen Oberpfalz beispielsweise, wo ein Anwendung entwickelt. Dabei wird das in ei- Großteil des ehemaligen Lagerkomplexes unter nem Amsterdamer Hinterhaus gelegene Ver- anderem durch die „pragmatische Nachnut- steck von Anne Frank in dessen Zustand im Jahr zung“ nicht mehr unmittelbar sichtbar ist, ma- 1942 rekonstruiert. So wird nicht der Besuch chen die in Kooperation mit dem Architektur- der Gedenkstätte in deren gegenwärtigem Zu- büro kochbüro entworfenen Glasstelen beim stand abgebildet, sondern vielmehr ein interak- Rundgang über das Gelände die nicht mehr tiver Rundgang durch ein Gebäude ermöglicht, (komplett) vorhandenen Zeitspuren sicht- das es in diesem Zustand nicht mehr gibt. bar(er). Diese Beobachtungen zum digital erweiterten Die nun verstärkt entstehenden digitalen An- Raum an und mit historischen Orten betten wir wendungen werden teilweise ebenfalls direkt im Folgenden zunächst in einen raumsoziologi- am historischen Ort selbst eingesetzt, um diesen schen Rahmen, bevor wir eine exemplarische zu erweitern. An der KZ-Gedenkstätte Dachau Lehrveranstaltung aus der universitären Leh- etwa wird den Besucher*innen im Kontext der rer*innen-Bildung veranschaulichen. Online-Anwendung Die Befreiung im Rahmen einer virtuellen oder vor Ort stattfindenden Zur Re-Figuration – Metaprozesse an Tour über das Lagergelände ein multiperspekti- Erinnerungsorten vischer Blick eröffnet, indem verschiedene Zeitschichten übereinandergelegt werden. Die Insbesondere, aber nicht ausschließlich die zu- Nutzer*innen können entweder auf eine Y- nehmende Mediatisierung kommunikativen ouTube-Variante zurückgreifen oder unmittel- Handelns kennzeichnet aktuelle raumbezogene bar vor Ort mit einer Augmented-Reality-App Transformationen im Spannungsfeld zwischen arbeiten, um während des Rundgangs durch die Moderne und Post- oder Spätmoderne. Gegen- Gedenkstätte historische Fotos mit ihrem wärtige Veränderungen, Konflikte und Ängste Smartphone oder Tablet über die aktuelle Rea- haben laut Martina Löw und Hubert Knoblauch lität zu legen und dabei Erinnerungen von Zeit- (2019) zentral damit zu tun, wie das Verhältnis zeug*innen anzuhören. Das Angebot ist in Ko- der Menschen zu ihren Räumen verhandelt wird operation mit dem BR entstanden und zielt laut respektive die räumliche Strukturierung ihrer der Zuständigen darauf ab, die Distanz zwi- sozialen Praxis. schen dem virtuellen und dem realen Raum zu So kommt es nicht nur zur Umformung bislang verringern, ohne dabei die notwendigen Gren- bekannter räumlicher Anordnungen, sondern zen aufzulösen. auch zu Konflikten zwischen dem Festhalten an der bekannten räumlichen Ordnung und neuen IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[4] raumbezogenen Deutungen und Realitäten. In Endgeräts zurückgreifen, eine für den spezifi- diesen Veränderungen erkennen die Sozio- schen Lernanlass entwickelte AR-App dazu ho- log*innen eine gemeinsame Figur, die sie als len oder mit einer nicht vor Ort anwesenden „Re-Figuration des Raumes“ bezeichnen. So Person chatten und deren Einschätzung einho- charakterisieren Löw und Knoblauch (2019) die len. Daraus ergeben sich grundsätzlich ver- Moderne über ein klassisches Modell befestig- schiedenste Problemstellungen, aber auch Po- ter Grenzen und zentralistischer Nationalstaa- tentiale. ten, während Post- und Spätmoderne sich zu- Mit Translokalisierung beschreiben Löw und nehmend über Entgrenzung und Transnationali- Knoblauch (2019) die neue Kopplung verschie- sierung ausweisen, inklusive der mit der Re-Fi- dener Orte: Ein Ort, zu dem Personen sich in ei- guration einhergehenden Konflikte und rück- ner großen räumlichen Distanz befinden, kann läufigen Tendenzen, wie wir sie aktuell an un- beispielsweise für diese viel näher und vertrau- terschiedlichen Stellen ausfindig machen kön- ter erscheinen oder relevanter sein als die un- nen – Stichwort „Mauerbaufieber“, wie es mittelbar umgebende physische Lebenswelt. Brown bereits 2017 treffend ausgedrückt hat. Zudem verbinden sich entfernt liegende Orte Löw und Knoblauch (2019) formulieren ent- auf unterschiedlichen Ebenen stärker und sicht- sprechende Metaprozesse, die für die digitale, barer miteinander. Das kann für Gedenkorte raumbezogene Transformation von Erinnerung- und Vermittlungsarbeit in mehrfacher Hinsicht sorten und -prozessen und der damit verbunde- interessant sein. Den Adressat*innen der Ange- nen Vermittlungsarbeit interessant sein können. bote kann zum Beispiel die Geschichte des Nah- Zunächst beschreiben sie den Prozess der Poly- raums weit weniger bekannt sein als die Histo- kontextualisierung: Im Handeln werden immer rie entfernterer Orte. Darin liegt allerdings auch mehr und gegebenenfalls auch neue Raumkon- die Chance, entfernte physische Orte näher zu struktionen zugleich wirksam, das heißt Men- bringen, die mit der Geschichte vor Ort in Ver- schen müssen zur gleichen Zeit unterschiedli- bindung stehen und darüber anzustoßen, Erin- chen Raumlogiken und Sinnrelationen folgen. nerungsarbeit als transnationale Aufgabe be- Das gilt es beispielsweise zu bedenken, wenn an greifen zu lernen. einer Gedenkstätte während der Führung unter- Unter Berücksichtigung der spezifischen Her- schiedliche Zeitspuren aufeinandertreffen, die ausforderungen und Problemstellungen, die sich räumlich einschreiben, wenn etwa die tat- sich aus diesen Entwicklungen ergeben, können sächlich noch vorhandenen materiellen Spuren digitale Raumtechnologien auch an deren Po- auf den wie auch immer medial erweiterten tentialen ansetzen, um beispielsweise dabei zu Raum treffen. So können Besucher*innen in helfen, raumbezogene Beschränkungen und Flossenbürg beispielsweise gleichzeitig die in Barrieren zu überwinden. Es können Beziehun- der Nachkriegszeit entstandene Wohnsiedlung gen zu entfernten Orten (und Zeiten) angebahnt auf dem ehemaligen Lagergelände ansehen und respektive Zugänge dort eröffnet werden, wo in einem zweiten Schritt durch die bereits er- beispielsweise ehemalige NS-Tatorte noch wähnte Glasstelle eine Fotografie aus den Jah- nicht (genug sichtbar) markiert, also noch keine ren des Lagerbetriebs darüber legen, um bei- Erinnerungszeichen gesetzt wurden respektive spielsweise die Bebauung durch Baracken zu denen Informationen über die schlichte Be- nachvollziehen zu können. Alleine an dem noch nennung des Orts hinweg fehlen oder die nicht erhaltenen Gebäude der ehemaligen Wäscherei pädagogisch bespielt werden. Interaktive digi- lassen sich verschiedene Zeitspuren ablesen. So tale Zugänge können zum Beispiel durch das In- wird das „Bestandsgebäude“ mittlerweile für einander-Blenden und Aufeinander-Beziehen eine Ausstellung mit verschiedenen Angeboten verschiedener Zeiträume bestehende Konzepte des erweiterten Raums genutzt. der Vermittlungsarbeit erweitern, materielle Die bereits erwähnte zunehmende Mediatisie- Zeugnisse bewahren und die historische Vor- rung des kommunikativen Handelns bringt mit stellungskraft unterstützen. sich, dass zugleich in verschiedenen Raumlogi- An diesen Überlegungen knüpfen wir im für die ken kommuniziert wird: in der Regel gleichzei- universitäre Lehrer*innen-Bildung entworfe- tig virtuell und von Angesicht zu Angesicht. So nen Lehrformat „Erinnerung digital verORTen“ können die Teilnehmer*innen einer Führung in an. einen Austausch mit weiteren Teilnehmenden sowie mit dem Guide treten, gleichzeitig aber auch auf ungefilterte Informationen des eigenen IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[5] Das Pilotprojekt „Erinnerung als Erinnerungszeichen ausgewiesene histori- sche Orte im World Wide Web zunächst digital digital verORTen“ verortet und darüber markiert und sind letztlich „Geschichte spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im darüber per einfachem Klick auch im realen Raum“ Raum erreichbar. (Schlögel, 2011, S. 68) „Digitale Medien prägen nicht nur die heutige gesell- Zu jedem Zeichen werden auf fachwissen- schaftliche Kommunikation, sie bestimmen auch zuneh- schaftlicher Recherche basierende Text-Infor- mend unser Verständnis der Vergangenheit und schaffen mationen („lesen“) erarbeitet sowie eine digi- neue Formen des Erinnerns und der Vermittlung von Ge- tale Bilderkarte mit einem Podcast („anhören“) schichte“ (Hein, 2010) weiterführende Links und Geodaten zur Verfü- gung gestellt. Diese Geodaten aktivieren das Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit neuer Navigationssystem Google Maps auf dem mo- Formen des Erinnerns und der damit eingeher- bilen Endgerät und leiten einen zu den entspre- gehenden Vermittlungsarbeit sowie auf Basis chenden Orten (siehe Abb. 2 und Abb. 3 auf der der skizzierten raumsoziologischen Überlegun- nächsten Seite) In einem weiteren Schritt wer- gen setzt das mittel- bis langfristig als koopera- den in Kooperation mit vereinzelten Schulen tive, multiprofessionelle Lehrveranstaltung ge- und anderen Einrichtungen medienpädagogi- plante Format „Erinnerung digital verORTen“ sche und -didaktische Empfehlungen erarbeitet, an der Zielstellung an, einen gemeinsamen, sub- die die Bedarfe unterschiedlicher Lerngruppen jektiv bedeutsamen Erinnerungsraum durch die berücksichtigen. digitale Markierung historischer Orte im unmit- telbaren Umfeld zu schaffen. Damit sollen Die fachliche Redaktion wird in der Pilotphase Lehramtsstudierende befähigt werden, sich Er- noch extern vergeben, soll aber im weiteren innerungszeichen im sozialen Nahraum als his- Verlauf von angehenden Geschichtslehrkräften torische Lernorte zu erschließen. Physisch vor- übernommen werden, indem man sie koopera- handene Orte in der eigenen Lebenswelt in ei- tiv einbezieht. nen systematischen Kontext zu setzen, soll die Während in der Pilot- sowie in der ersten Imple- Kontinuitäten zwischen Geschichte und Gegen- mentierungs- und Transferphase die ehemali- wart im unmittelbaren Umfeld der Lernenden gen NS-Tatorte im Fokus stehen, soll ab dem sicht- und darüber begreifbar machen. Wintersemester 2023/24 verstärkt auch die Dieser gemeinsame Erinnerungsraum speist räumliche Veranschaulichung der Lebensspu- sich aus unterschiedlichen Elementen: Neben ren Verfolgter thematisiert werden, die insbe- Bildungsprozessen an formalen Einrichtungen sondere die transnationale Dimension histori- oder auch medialen Repräsentationen zählen scher Ereignisse aufgreift. unter anderem Mahnmale, Museen oder Doku- mentationszentren sowie historische Orte mit und ohne sichtbare Zeichen des Erinnerns dazu (Dicke, 2020). Im Pilot erschließen sich Lehramtsstudierende der Universität Passau im Sommersemester 2022 Erinnerungszeichen im Stadtgebiet Passau, um diese als Lernorte aufbereiten zu können. Dabei recherchieren sie zunächst mar- kierte und noch nicht markierte historische Orte und ergänzen diese um weitere Elemente des gemeinsamen Erinnerungsraums, wie beispiels- weise das Mahnmal am Innsteg. Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht eine ge- meinsam entwickelte Online-Plattform, auf welcher alle von den Studierenden gesammel- ten Erinnerungszeichen in Passau zusammenge- fasst werden (siehe Abb. 1, auf der nächsten Seite). Mittels sogenannter „Digitaler Bilder- karten“ werden insbesondere bislang noch nicht IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[6] Abb. 1: Startseite der Online-Plattform, Screenshot, Eigene Darstellung Abb. 2: Beispiel für einen Gedenk- und Erinnerungsort mit sichtbaren Zeichen des Erinnerns, Screenshot, Eigene Darstellung Abb. 3: Beispiel für eine Digitale Bilderkarte und weiterführende Links, Screenshot, Eigene Darstellung IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
[7] The roots of militarism 1866-1945 (pp. 218- Fazit 239). Harvard University Press. Die digitale Wende in der Erinnerungsarbeit Hein, D. (2010). Virtuelles Erinnern. URL: bpb. muss keineswegs mit einer „Ent-Ortung“ ver- https://www.bpb.de/geschichte/zeitge- knüpft sein, die die Bedeutung historischer Orte schichte/geschichte-und-erinnerung/39866/vir- in Frage stellt. Gerade vor dem Hintergrund des tuelles-erinnern (Stand vom 4. August 2021). sich weiter entfernenden zeitlichen Geschehens, des Verblassens materieller Spuren und des Henig, L. & Ebbrecht-Hartmann, T. (2020). Wegfalls von Zeitzeug*innen bergen digitale Witnessing Eva Stories: Media witnessing and Technologien in formalen Kontexten, aber auch self-inscription in social media memory. new jenseits institutionalisierter Orte, nicht nur das media & society, 1-25. Potential, die historische Vorstellungskraft im Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt a. Sinne des „augmented space“ zu unterstützen, M.: Suhrkamp. sondern verstärkt unmittelbar raumbezogene Zugänge zu schaffen. Diese nutzen einerseits Löw, M. & Koblauch, H. (2019). Die Re-Figu- die subjektive Verknüpfung mit dem histori- ration von Räumen. Zum Forschungsprogramm schen Ereignis durch die Verortung von Erinne- des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration rung im sozialen Nahraum der Lernenden und von Räumen“. SFB 1265 Working Paper, Nr. 1, machen andererseits Erinnern als grenzüber- Berlin. greifende, transnational verbindende Aufgabe Mauthausen Komitee Österreich (2021). KZ- erfahrbar. Außenlager Passau II | Mauthausen Guides - Mauthausen Komitee Österreich. URL: https://www.mauthausen-guides.at/aussenla- Literatur ger/kz-aussenlager-passau-ii (Stand vom 5. Au- gust 2021). Assmann, A. (2006). Erinnerungsräume. For- men und Wandlungen des kulturellen Gedächt- Manovich, L. (2006). The Poetics of Augmented nisses. 3. Auf. München, Deutschland: Beck. Space. URL: http://manovich.net/in- dex.php/projects/the-poetics-of-augmented- Brendel, H. & Donig, S. (2021). Aktuelle An- space (Stand: 11. November 2021). sätze zu einer digitalen NS-Mikrogeschichte Bayerns – Die Arbeitsbücher der Waldwerke Pirker, A. M. (2021). Hologramme und Schau- GmbH Passau und die Urteile des Sonderge- spieler: Vorsorgen für die Zeit nach den Zeit- richts München. URL: https://dhistory.hypothe- zeugen. URL: https://www.derstan- ses.org/397 (Stand vom 5. August 2021). dard.de/story/2000128093055/hologramme- und-schauspieler-vorsorgen-fuer-die-zeit-nach- Brunner, M., Schaffner, R., Rammer, S., Stein- den-zeitzeugen (Stand vom 11. November bach, P. & Wurster, H. W. (1996). Mahnmal für 2021). die Opfer des Nationalsozialismus: Dokumen- tation und Aspekte zur Geschichte des „Dritten Schlögl, K (2011). Im Raume lesen wir die Zeit: Reiches“ in Passau (Der Passauer Wolf). Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Passau, Deutschland: Stadt Passau. München: Carl Hanser. Dicke, G. (2020). Außerschulische Lernorte. Skriebeleit, J. (2011). Das Verschwinden der Ludwigsfelde, Deutschland: LISUM. Zeitzeugen. Metapher eines Übergangs. Vor- trag bei der Tagung Zeitzeugen im Museum", Ebbrecht-Hartmann, T. (2020). Commemorat- Görlitz 12.10. 2011 bis 14.10.2011, URL: ing from a distance: the digital transformation https://www.bkge.de/Downloads/Zeitzeu- of Holocaust memory in times of COVID-19. genberichte/Skriebeleit_Verschwin- Media Culture & Society, 1-18. URL: den_der_Zeitzeugen.pdf (Stand vom 22. https://jour- März 2021). nals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/016344372 0983276 (Stand vom 22. März 2021). Soja, E. (1989). Postmodern Geographies: The reassertion of space in critical social Fogu, Claudio (2016). A „Spatial Turn“ in Hol- theory. London: Verso. ocaust Studies? In W. Kantsteine, &. T. Presner (Eds.), Probing the ethics of Holocaust culture. IMPACT FREE 42 (Dezember 2021) Rachbauer & Plank
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