In and Out Of Iran Die transnationale Verhandlung weiblicher iranischer Identitäten (Berlin, Teheran, Los Angeles) - Judith Albrecht

Die Seite wird erstellt Detlef Weigel
 
WEITER LESEN
In and Out Of Iran Die transnationale Verhandlung weiblicher iranischer Identitäten (Berlin, Teheran, Los Angeles) - Judith Albrecht
Berliner Beiträge
zur Ethnologie                           Judith Albrecht

                            In and Out of Iran
                        Die transnationale Verhandlung
                       weiblicher iranischer Identitäten
                           (Berlin, Teheran, Los Angeles)

Band 33
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf‌bar.

Als Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Ethnologie
(Dr.  phil.) im Fachbereich Politik- und Sozial­wissen­schaften
am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin von
Judith Albrecht im Oktober 2011 eingereicht.
Gutachterinnen: Prof.  Dr.  Ute Luig, Prof.  Dr.  Dorothea Schulz,
Prof.  Dr.  Trudi Hüwelmeier, Prof.  Dr.  Undine Frömming

© 2014 Weißensee Verlag, Berlin
www.weissensee-verlag.de
mail@weissensee-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Weißensee Verlag
Titelfoto: © Harald Geil
Satz: Sascha Krenzin für den Weißensee Verlag
Gesetzt aus der Aptifer Slab LT Pro
Gedruckt auf holz- und säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISSN 1610-6768
ISBN 978-3-89998-221-3
Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
       2.1 Methodische Vorgehensweise: „Multi-sited Ethno­graphy“ . . . . . . . . . . 19
       2.2 Forschen in Großstädten: Teheran, Los Angeles, Berlin . . . . . . . . . . . . . 36
       2.3 Forschen in den eigenen Reihen: Berlin, Teheran, Los Angeles . . . . 53

3 Ursachen der iranischen Diaspora- und Exilbildung . . . . . . . . . . . . . . 58
       3.1 Die autoritäre Modernisierungspolitik der Pahlavi-Dynastie
           (die Jahre 1941 bis 1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
           3.1.1 Aufstieg und Fall Mohammad Mossadeghs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
           3.1.2 Von der „Weißen Revolution“ zur „Islamischen ­Revolution“ . 69
       3.2 Historische Phasen der „Islamischen Revolution“ im Iran . . . . . . . . . . 72
           3.2.1 1978: Beginn der Revolution .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
           3.2.2 1979: Rückkehr Khomeinis und Beginn der
                  Implementierung der Islamischen Republik Iran . . . . . . . . . . . . 75
           3.2.3 Gender und Revolution im Iran .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
           3.2.4 Die gescheiterte Revolution .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

4. Gender und Migration: Wenn Frauen alleine migrieren .. . . . . . . . 101
       4.1 Migration nach Deutschland .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
       4.2 Migration in die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
       4.3 „How to be an Iranian woman in the 21st Century?“: Frauen­
           bilder in der Revolution als konstituierender Teil weib­licher
           iranischer Identitäten in der Diaspora und im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

5. Weibliche Identitäten in Berlin, Los Angeles und Teheran . . . . . 118
       5.1 „Die rebellische Generation“: Exilierte Identitäten politischer
           Aktivistinnen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
           5.1.2 Lebensentwürfe in einem politisierten Raum . . . . . . . . . . . . . . . . 143
           5.1.3 Die Töchter der Revolutionärinnen: ein Generations­
                  konflikt? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

6
5.2 „Welcome to Teherangeles“: Lebenswelten iranischer Frauen
         in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   155
         5.2.1 „Heftar“: Fastenbrechen im Kulturzentrum Ebessina –
               ­Kulturelle Selbstrepräsentation und Positionierung
                ­iranischer Familien in Los Angeles .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                  162
         5.2.2 Iranische Künstlerinnen und die Auseinandersetzung
                 mit dem Bild iranischer Frauen in den USA: Fallstudien
                 zweier Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                            167
         5.2.3 Tahmine: „I am not my art!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                        169
         5.2.4 Asa: „Farsi is not important for my identity!“ . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                 173
     5.3 „Das Leben ging weiter“: Lebensperspektiven iranischer
         Frauen in Teheran .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .               176
         5.3.1 „Ba-Hijab“ und „Bad-Hihab“: Strategischer Umgang mit
                 Verboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         180
         5.3.2 Die Familie im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                190
         5.3.3 Weggehen aus Teheran und Wiederkehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                    196

6 Transnationale Räume und ihre Bedeutung im
  ­Aushandlungsprozess weiblicher Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
     6.1 Kommunikation und die Ordnung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                  206
          6.1.1 Die Internationale Iranische Frauenkonferenz
                (Berlin und Wien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                       209
     6.2 „Blogging Iran“: Das Internet als Kommunikationsforum . . . . . . . . .                                                                              214
         6.2.1 „Heiraten übers Internet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                    217
     6.3 „Empty Hands“: Der Versuch einer transnationalen
         ­Theaterproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .               222
     6.4 „Die Frau im roten Kleid“: Ein transnationaler Mythos . . . . . . . . . . . . .                                                                      227

7 Iranische Frauen als transnationale Akteurinnen . . . . . . . . . . . . . . . . 232

8 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

                                                                                                                                                                7
1      Einleitung

Im Februar 1979 fand im Iran eine Revolution statt. Ähnlich wie jüngst
die Bewegungen des arabischen Frühlings weckte dieses Ereignis weltweit
Hoffnung, löste gar Euphorie aus. Akteur/-innen mit unterschiedlichen
Positionen und Ideologien versammelten sich in dieser Protestbewegung
gegen das Schah-Regime, die von einer islamischen Rhetorik dominiert
und geleitet wurde, auf den Straßen Teherans. Das Ausmaß, mit dem sich
Frauen an der iranischen Revolution beteiligten, war in der Geschichte des
Widerstandes des Landes einmalig. Die Revolution, so schien es, bot ihnen
eine Möglichkeit, vorherrschende patriarchale Geschlechterverhältnisse
herauszufordern und zu verändern. Frauen konnten auf einmal durch ihr
politisches Handeln in einer gesellschaftlichen Domäne agieren, die zuvor
fast ausschließlich Männern vorbehalten gewesen war.

Die Demonstrationen gegen das Schah-Regime stellten neben den Protes-
ten gegen den Vietnamkrieg einen der wichtigsten Bezugspunkte der kul-
turellen Kämpfe der in Europa stattfindenden 68er-Bewegung dar. Ein
Großteil der europäischen Linken hegte zum damaligen Zeitpunkt starke
Sympathien für die iranische Befreiungsbewegung (vgl. Schäfer, Becker
und Bernstorff 2006) und war von der antimonarchistischen und antiim-
perialistischen Bewegung im Mittleren Osten fasziniert. Michel Foucault
etwa hielt sich auf Einladung der italienischen Tageszeitungen Corriere
della Sera im Herbst 1978 zweimal im Iran auf und berichtete voller Be-
geisterung über die politischen Ereignisse, die schließlich zum Sturz des
Schahs und zur Rückkehr Khomeinis führen sollten:

    „Aus dem Iran zurückgekehrt hat man mir natürlich unablässig die
     Frage gestellt: ‚Ist das die Revolution?‘ […] Ich habe nicht geant-
     wortet. Aber ich hatte Lust zu sagen: Das ist keine Revolution im
     buchstäblichen Sinne, eine Weise, sich auf die Füße zu stellen und
     aufzurichten. Es ist die Erhebung von Menschen mit bloßen Hän-
     den, die den ungeheuren Druck auf‌heben wollen, der auf uns al-
     len lastet […]. Es handelt sich vielleicht um die erste große Erhe-
     bung gegen die globalen Systeme, die modernste und die verrück-
     teste Form der Revolte.“ (Foucault 1978: 716)1

1 Die deutsche Übersetzung des Zitates ist dem Artikel „Die verrückteste Form der Revolte-
Michel Foucault und die iranische Revolution“ von Thomas Lemke (2011) entnommen.

                                                                                        9
Das mediale Interesse an der Protestbewegung und den Umbrüchen im
Iran war groß. Gleichzeitig nahm das Fernsehen als Nachrichtenmedium
eine wichtigere Funktion in einer zunehmend globalisierten Welt ein, die
medialen Bilder der protestierenden Menschenmassen wurden in die Welt
getragen und zirkulierten in den verschiedenen Fernsehkanälen. Tatsäch-
lich wurden die politischen Umbrüche im Iran auf diese Weise zu der ers-
ten Revolution der Geschichte, die im Fernsehen übertragen wurde, durch
den Fernsehjournalismus erfuhren ihre Bilder eine große visuelle Präsenz.

Der Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini war im Januar 1979
aus dem französischen Exil in den Iran zurückgekehrt. Nach Khomeinis
Rückkehr übernahmen die Islamisten nicht nur die politische Führung
des Landes, sondern die iranische Revolution, die ein Zusammenspiel un-
terschiedlicher politischer und religiöser Kräfte gewesen war, wurde welt-
weit als eine „Islamische Revolution“ propagiert und die religiöse Motiva-
tion zur wirkmächtigen Größe der Protestbewegung. Die „Islamische Revo-
lution“ stellte die erste Massenprotestbewegung des 20. Jahrhunderts dar,
die in einer Theokratie endete.

Im April 1979 wurde die iranische Monarchie durch ein Referendum abge-
schafft und durch die neue Staatsform der „Islamischen Republik“ ersetzt,
die mit der Verfolgung und Exekution vieler an der Revolution beteiligten
Aktivist/-innen einherging. Die Revolution und die darauf folgende Im-
plementierung der islamischen Republik, ebenso wie der Krieg mit dem
Nachbarland Irak von 1980 bis 1988 hatten zur Folge, dass über vier Milli-
onen Menschen ihr Land verließen. Für die Teile der Bevölkerung, die das
Schah-Regime positiv bewertet hatten, war sein Untergang mit dem Ver-
lust eines Systems verbunden, mit dem sie sich identifiziert hatten (vgl.
Agha 1997). Andere Teile der Bevölkerung hatten sich die Befreiung von ei-
nem diktatorischen Herrschaftssystem erhofft, sahen sich nun mit einem
anderen totalitären Regime konfrontiert und waren desillusioniert. Die
Mitglieder linker Gruppierungen hatten zwar mit dem Sturz des Schah-Re-
gimes ihr wichtigstes politisches Ziel erreicht. Die nach der Revolution ein-
setzenden, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen widerspra-
chen jedoch in einem solchen Maße ihren politischen Vorstellungen, zu-
mal das neue Regime mit ihrer systematischen Verfolgung begann, dass
sie schließlich aus dem Iran flüchteten.

In den Gesprächen und Interviews, die ich mit Iraner/-innen innerhalb
und außerhalb des Irans führte, wurde immer wieder berichtet: „Es gab

10
ein Land und ein Leben vor diesem Geschehen und ein Land und ein Le-
ben danach.“ Die iranische Revolution stellt eine historische Zäsur dar. Für
viele waren die Revolution und ihre Auswirkungen ein Grund, ihr Land zu
verlassen. Diejenigen, die blieben, sahen sich durch die Re-Islamisierungs-
politik und den ideologischen Neuauf‌bau des Landes mit einer neuen, sich
verändernden Welt in der Heimat konfrontiert. Bibliotheken, Konzertsäle,
Hotels, Restaurants, Bars, Theater und Kinos wurden zunächst geschlossen,
Straßen umbenannt, Denkmäler gestürzt, Häuser und Gärten enteignet,
neue Bekleidungs- und Verhaltensregeln eingeführt. „Langsam ­w ichen
aus Teheran alle Farben“, beschrieb eine meiner Interviewpartnerinnen
die Veränderungen in ihrer Stadt.

Vor allem säkulare Frauen und Frauengruppen, die durch ihre Initiative
und ihr Engagement die Revolution wesentlich mitgetragen hatten, muss-
ten nun erleben, wie sie ihre Rolle als politische Akteurinnen in der Öffent-
lichkeit wieder verloren.

Die anfängliche Euphorie in der westlichen Welt über die Ereignisse wich
bald einem Entsetzen über die verheerenden Zustände im postrevolutio-
nären Iran. Michel Foucaults Reportagen ernteten nun heftige Kritik. Fou-
caults Analyse verbleibe auf einer moralischen Ebene und werde den kom-
plexen politischen und historischen Ereignissen im Iran nicht gerecht.
Seine Äußerungen wurden als Ausdruck einer unreflektierten Zustim-
mung zu einer religiös-doktrinären Herrschaftsordnung verstanden, die
nicht weniger grausam sei als das autokratisch-korrupte Regime, das ihr
vorausging (vgl. Lemke 2011).

Das internationale Interesse wendete sich nach und nach von der irani-
schen Gesellschaft ab, und lange Zeit blieben iranische Lebensrealitäten
insbesondere von Frauen ein blinder Fleck auf der medialen Landkarte.

 Als im Jahre 2003 die iranischen Anwältin und Menschenrechtsaktivis-
 tin Shirin Ebadi der Friedensnobelpreis verliehen wurde, rückte erstmals
 wieder eine iranische Frau als politische Akteurin in den Fokus des öffent­
 lichen Interesses. Die erste muslimische Nobelpreisträgerin wurde für ihre
„Bemühungen für Demokratie und Menschenrechte“ in ihrem Land geehrt.
 Seither sind iranische Frauen wieder vermehrt ins internationale politi-
 sche und mediale Interesse gerückt, und meist sind es gerade Bilder und
 Geschichten iranischer Frauen, die von den Medien aufgegriffen werden.
 Es scheine fast so, kommentierte eine junge iranische Studentin in den
 USA dieses Phänomen, als ob es im Iran keine Männer mehr gäbe:

                                                                          11
„Media is showing only women from Iran: the women in chador holding
      a gun, or on the other side the women is going to vote, and women dem-
      onstrating on the street, (as) if man wouldn’t exist. The propaganda in
      Iranian television, but also the Western media are creating a distorted
      image. This women has become an icon which is not used in a very
      honest way. As a woman that comes from that culture, I don’t feel com-
      fortable with the way they are objectifying femininity.“
                                               (Interview Shirin, 26.8.2008)

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen zwei Generationen iranischer
Frauen und ihre Lebenswelten in drei unterschiedlichen Städten: Berlin,
Teheran und Los Angeles. Im vorliegenden Buch zeige ich die Zusammen-
hänge und Wechselwirkungen zwischen den Geschlechterverhältnissen
und den historischen und politischen Transformationsprozessen im Iran
und der iranischen Diaspora auf.

Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, so das Argument, sind eng
mit den vergangenen und gegenwärtigen politischen Prozessen des Irans
verwoben. Fragen der Geschlechterpolitik sind also keine Randerschei-
nung politischer Prozesse, sondern zentraler Bestandteil des gesellschaft-
lichen und politischen Selbstverständnisses in diesem Land. Umgekehrt
gilt genauso, dass keine Arbeit über iranische Geschlechterverhältnisse
verfasst werden kann, ohne auf die Geschichte der „Islamischen Revolu-
tion“ von 1978/79 und die darauf folgende Re-Islamisierung in der islami-
schen Republik Iran einzugehen.

Die Sozialwissenschaftlerin Minoo Moallem beschreibt die iranische Revo-
lution als einen „transnationalen Schirm“, unter dem sich unterschiedliche
Ideologien und Lebensweisen – säkulare, religiöse, modernistische, tradi-
tionelle – versammelten (vgl. Moallem 2005). In diesem Sinne verstehe ich
die Revolution als eine hybride und widersprüchliche Bewegung.

An das Bild der wahlweise entweder verschleierten oder ­unverschleierten
Frau knüpfen sich heute wie damals konkrete politische Vorstellungen.
Anfang der 1980er Jahre war es das Bild der schwarz gewandeten, Tschador
tragenden Frauen, das als Symbol für die Durchsetzung der islamischen
Revolution stand. Im Jahr 2009 waren dies die Bilder von in enge Mäntel
gehüllten und Make-up tragenden jungen Iranerinnen, die auf den Stra-
ßen demonstrierten. Diese Bilder, die in den „westlichen“ Medien auf‌tauch-
ten, vermittelten, dass trotz des rigiden islamischen Regimes zunehmend
ein „unislamisches“, „westliches“ Modell iranischer Frauen durch eine isla-

12
mische Fassade hindurchscheint. Geht es um einen Blick auf den Zustand
der iranischen Gesellschaft, werden seit den politischen Umbrüchen von
1979 oftmals Bilder von verschleierten Frauen von den internationalen Me-
dien, der Politik oder der Kunst aufgegriffen.

Aber wie setzen sich iranische Frauen selber mit diesen Frauenbildern und
ihrem Status als Ikonen auseinander? Wie gehen sie mit dieser wirkungs-
mächtigen Symbolik um? Fühlen sie sich „gemeint“ und wahrgenommen
oder erzeugen derlei Zuschreibungen eher Widerstände? Welche Rolle neh-
men die Medien in der Rezeption und Reproduktion von Bildern und Sym-
boliken ein? Symbole sind hierbei nicht nur als Medien des kulturellen Ge-
dächtnisses zu begreifen, sondern erfahren ihrerseits eine spezifische me-
diale Gestaltung, die von bestimmten Erinnerungsinteressen und Erinne-
rungskonkurrenzen geprägt sind.

Die weit verbreitete Annahme, dass der Islam als monolithische Religion
alle Aspekte der iranischen Gesellschaft kontrolliere, hat zur Folge, dass
im „westlichen“ Diskurs über Iran immer noch eine automatische Verbin-
dung zwischen nationaler Zugehörigkeit und einer religiösen islamischen
Identität vorausgesetzt wird. Insbesondere in der Diskussion über weibli-
che muslimische Identitäten wird häufig ein stark vereinfachendes Bild
gezeichnet. Dabei steht allzu oft die Diskriminierung „der islamischen
Frau“ im Vordergrund, die allein durch ihre religiöse Zugehörigkeit er-
schöpfend beschrieben zu sein scheint.

In dieser Arbeit begebe ich mich auf die Suche nach anderen Aspekten
weiblicher iranischer Identitäten. Dabei beziehe ich mich auf einen kon-
struktivistischen Identitätsbegriff, der Identitäten nicht einfach als gege-
ben hinnimmt, sondern vor allem danach fragt, aufgrund welcher gesell-
schaftlicher und politischer Prozesse sie zustande kommen.

Das Buch widmet sich also den Aushandlungsprozessen von Identitäten
und kann als Bestandsaufnahme und Analyse einer Suche iranischer
Frauen verstanden werden, die in ihrer Sprache und in ihrem Handeln
versuchen, den wirkungsmächtigen Zuschreibungen der Islamischen Re-
publik Iran und einer „westlichen“ Welt, die das Religiöse beharrlich in den
Vordergrund stellen, etwas anderes entgegenzusetzen.

In Kapitel 2 „Methoden“ reflektiere ich den Prozess und die Bedingungen
meiner Forschung in Teheran, Berlin und Los Angeles, die ich zwischen den
Jahren 2004 und 2006 zu diesem Thema durchgeführt habe. Desweiteren

                                                                         13
fuhr ich 2007 und 2008 für die Arbeit an einem Dokumentarfilm wieder
in den Iran. Bei diesen Aufenthalten traf ich viele der Frauen, die in die-
sem Buch zu Wort kommen wieder. Da der Fokus der Arbeit auf den trans-
nationalen Netzwerken der Frauen liegt und der transnationalen Ausein-
andersetzung mit Frauenbildern und weiblichen Identitäten, erschien es
mir sinnvoll, den Forschungsstil der multi-sited ethnography (Marcus 1995)
zu nutzen. In einer Forschung, die dem Prinzip der multi-sited ethnography
folgt, steht der Ethnologin eine Art „Methodenbaukasten“ zu Verfügung, in
dem unterschiedliche Techniken zusammengeführt werden, die ich vor-
stellen und deren Anwendung ich diskutieren werde. Anschließend zeige
ich, wie sich das „Aufspüren“ thematischer Zusammenhänge und relevan-
ter Orte in diesem konkreten Forschungsvorhaben gestaltete.

Da die „Islamische Revolution“ von 1978/79 und ihre Auswirkungen hier
als wichtiger biografischer Einschnitt für die Akteur/-innen zu begreifen
sind, wird Karl Mannheims Generationen-Konzept bei der Beschreibung
und Analyse vorgestellt, in dem er davon ausgeht, dass sich erst im Zusam-
menhang von radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen, wie sie beispiels-
weise durch soziale Revolutionen ausgelöst werden, Generationseinheiten
auch „zu einer neuen Gestalt gebenden Einheit“ entwickeln können.

Des Weiteren beschreibe ich im Zuge der Methodenvorstellung die unter-
schiedlichen Facetten einer Forschung in Megastädten wie Teheran und
Los Angeles und der Großstadt Berlin, um anschließend in Kapitel 2.3 „For-
schen in den eigenen Reihen“ auf den Umstand einzugehen, dass viele mei-
ner Interviewpartnerinnen selbst Akademikerinnen sind, die über die ira-
nische Gesellschaft schreiben, forschen und akademische Diskurse mitge-
stalten.

Kapitel 3 „Ursachen der Diaspora- und Exilbildung“ beginnt mit einen Über-
blick über die politischen und gesellschaftlichen Prozesse von 1941 bis 1978
und fährt dann mit der Beschreibung der gesellschaftspolitischen und öko-
nomischen Umstände fort, die zur „Islamischen Revolution“ von 1978/79
führten. Die „Islamische Revolution“ kann als historische Zäsur gesehen
werden, die zu einer Exil- und Diasporabildung von über vier Millionen
Iraner/-innen führte. Sie stellt einen zentralen Teil des kollektiven Gedächt-
nisses von Iraner/-innen in- und außerhalb des Irans dar. Des Weiteren dis-
kutiere ich die emischen Bezeichnungen der transnationalen iranischen
Community und inwiefern die Begriffe Diaspora und Exil in den jeweili-
gen Kontexten (USA, Deutschland) von Iraner/-innen verwendet werden.

14
In Kapitel 3.1.2 „Gender und Revolution“ wird anhand der Auseinanderset-
zung mit Genderrollen in der Revolution hergeleitet, dass Geschlechter-
beziehungen und die politische Regulierung von Körpern eng mit histori-
schen und politischen Prozessen im Iran verbunden sind und keine Rand-
erscheinung politischer Prozesse, sondern zentraler Bestandteil des gesell-
schaftlichen und politischen Selbstverständnisses waren und sind.

Der Abschluss des Kapitels 3.1.3 „Die gescheiterte Revolution“ ist dem Phä-
nomen des Scheiterns der Akteurinnen und ihrer Ideologien gewidmet,
die zu einem Bruch mit dem Islam und mit linkspolitischen Ideologien ge-
führt haben. Die Konsequenz der Re-Islamisierung und die damit einher-
gehende Verfolgung von Seiten der islamistischen Regierungen zwangen
Frauen zu einer Neuorientierung in der Diaspora, im Exil ebenso wie im
Iran.

In Kapitel 4 „Gender und Migration“ steht der Aspekt der genderspezifi-
schen Migrationsforschung im Vordergrund. Diese wird zu dem konkre-
ten Fall iranischer Frauen in Verbindung gesetzt, die aufgrund der spezi-
ellen soziopolitischen Umstände in großer Zahl alleine migrierten. In den
Kapiteln „Migration nach Deutschland“ und „Migration in die USA“ gebe
ich einen Überblick über die Geschichte iranischer Migration in die jewei-
ligen Länder.

Im letzten Teil von Kapitel 4 „How to be an Iranian women in 21st Century?
Frauenbilder in der Revolution als konstituierender Teil weiblicher Identitäten“
wird die Frage der Ikonisierung von Frauen während der Revolution auf-
gegriffen und der Frage nachgegangen, welche Rolle die Medien in der Ver-
breitung von Bildern und Symboliken einnehmen. Des Weiteren wird die
Frage aufgeworfen, wie sich Frauen heutzutage zu ihrer Rolle als nationale
Ikonen und Symbole in Beziehung setzen und sich Zuschreibungen und
Symboliken verändern und umgedeutet werden.

Somit leitet der Abschluss des Kapitels 4 gleich das ethnographische Ka-
pitel 5 „Lebenswelten iranischer Frauen in Berlin, Teheran und Los Ange-
les“ ein. Der ethnographische Teil stellt das Kernstück des Buches dar. Hier
werden die unterschiedlichen Lebenswelten der Frauen beschrieben, die
lokalen Kontexte genauer untersucht und die konstituierenden Struktu-
ren wie soziale Herkunft, aber auch politische und kulturelle Strukturen
des Landes diskutiert, die Einfluss auf Genderrollen und Identitäten haben.

                                                                             15
In Kapitel 6 „Transnationale Räume und ihre Bedeutung im Aushandlungs-
prozess weiblicher Identitäten“ wende ich mich speziellen transnationalen
Räume zu, in denen die Akteure/‑innen aus Berlin, Los Angeles und Tehe-
ran reell oder virtuell aufeinander treffen. Hierbei habe ich die Internatio-
nale Iranische Frauenkonferenz, das Internet und das transnationale Pro-
jekt einer Theaterproduktion als repräsentative Beispiele transnationaler
Räume und Kommunikation ausgewählt und beschrieben. Da transnati-
onale Räume machtbesetzte Orte sind, ist es wichtig, sie einer Machtana-
lyse zu unterziehen und zu beschreiben, welche konstituierenden Struk-
turen, welche Mächte und Gesetzlichkeiten wirken. Dafür beziehe ich Mi-
chel Foucaults Essay „Die Ordnung des Diskurses“ und seinen diskursana-
lytischen Ansatz ein und diskutiere dies in dem Kapitel „Kommunikation
und die Ordnung des Diskurses“. Das Kapitel endet mit der Fallstudie des „My-
thos der Frau im roten Kleid“, der mit der Emigration von über vier Millionen
Iraner/-innen in die Welt getragen wurde.

Der Abschluss der Arbeit rückt die iranischen Frauen und deren Rolle als
transnationale Akteurinnen in den Mittelpunkt. Ihre Haltung und soziale
Praxis kann als vielschichtig gesehen werden und ist auf mehr Ebenen als
nur in der Grauzone zwischen passiver Anpassung und aktiver Subversion
angesiedelt. In einem Ausblick wage ich die These, dass eine enge Verbin-
dung von Politik und Geschlechterrollen bzw. die politische Auf‌ladung be-
stimmter Körperbilder auch in der Rezeption der neueren gesellschaftspo-
litischen Entwicklungen im Iran zu finden ist.

16
2     Methode

Ausgangspunkt meiner Forschung war Berlin, die Stadt, in der ich lebe
und arbeite. Ich hatte aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als
Deutschlehrerin in einem Asylbewerberheim im Jahr 2000 viele iranische
Sprachschüler/-innen in meiner Klasse unterrichtet. Nach den Studenten-
demonstrationen von 1999/2000 waren erneut viele Iraner/-innen nach
Deutschland gekommen und hatten einen Asylantrag gestellt.

Mit der Zeit entwickelte sich ein intensiver Kontakt zu einigen der Kurs­
teilnehmer/-innen. Gemeinsame Nachmittage und Abende, an denen ich
Fragen stellte und sie mir viel aus dem Iran und über die Gründe ihres
Weggehens erzählten, führten im Sommer 2001 zu meiner ersten Reise in
den Iran.

Bei diesem Aufenthalt besuchte ich die Familien meiner Bekannten. Da sie
aufgrund des laufenden Asylverfahrens nicht zurückgehen konnten, war
ich Überbringerin von Fotos und Berichten aus Berlin und kehrte mit vie-
len Geschichten und Geschenken der Familien an ihre Verwandten zurück.

2002 drehte ich den Dokumentarfilm „Salam Berlin“ über drei iranische
Asylbewerber und ihr Leben in der Grauzone von Anerkennung und Ab-
schiebung im Asylverfahren. Während des Drehens lernte ich über die
drei Protagonisten meines Films einige Iraner/-innen kennen, die schon
seit Anfang der 1980er-Jahre in Berlin lebten. Somit entstand über meh-
rere Jahre ein intensiver Kontakt zu vielen Iraner/-innen mit unterschied-
lichen Migrationshintergründen in Berlin.

Nach längerer Beschäftigung mit der Geschichte und Politik des Irans und
durch meine eigenen Erfahrungen im Iran sowie in der iranischen Com-
munity in Deutschland kristallisierten sich die Rolle der iranischen Frauen
und die Diskurse über iranische Frauen als besonders politisch und ideolo-
gisch aufgeladen heraus. Die öffentlichen Diskurse über iranische Frauen
sowie das islamische Frauenbild und die tatsächlichen Lebenswelten der
Frauen, die ich sowohl in Berlin als auch in Teheran kennen gelernt hatte,
befanden und befinden sich in einem dynamischen Spannungsverhältnis
zueinander. So hat die weit verbreitete Annahme, dass der Islam als mo-
nolithische Religion alle Aspekte der iranischen Gesellschaft kontrolliere,
zur Folge, dass in westlichen Diskursen (z. B. medialen, politischen) über
Iran häufig eine automatische Verbindung zwischen nationaler Zugehörig-

                                                                        17
keit und einer religiösen islamischen Identität vorausgesetzt wird. Insbe-
sondere in der Diskussion über eine weibliche muslimische Identität wird
häufig ein sehr einheitliches Bild der islamischen Frauen gezeichnet, bei
dem die weibliche Rolle, ihre Legitimation durch die Religion und ihre Dis-
kriminierung im Vordergrund stehen. Diese Zuschreibungen erschöpfen
sich des Öfteren in einer dichotomen Einteilung, die entweder die klassi-
sche Opferrolle oder den Typus der Widerständlerin hervorhebt. Aus die-
sem Grund sehen sich die Iranerinnen im Exil und der Diaspora mit der Zu-
ordnung zu einem islamischen Frauenbild konfrontiert, dem sie eigentlich
entkommen wollten. In der Selbstzuschreibung dieser Frauen spielt Reli-
gion häufig nur insofern eine Rolle, als sie diese als Fremdzuschreibung
im Iran und in der Diaspora erfahren, die ihrerseits den religiösen Aspekt
beharrlich hervorhebt.

In den vergangenen Jahren hat man nun in unterschiedlichen wissenschaft-
lichen Disziplinen begonnen, die Rolle der Frauen in islamischen Gesellschaf-
ten differenzierter zu beurteilen. Die meisten dieser Arbeiten versuchen, die
Vielschichtigkeit der weiblichen Muslimischen Identität hervorzuheben.
Man stellt zum Beispiel die Frage nach einer spezifisch weiblichen Musli-
mischen Identität, die nicht durch die klassische Opferrolle oder den Typus
der Widerständlerin gekennzeichnet ist. (Ask 1998; Fawzi & Marbrow 1995)

Im Falle des Irans sind es hauptsächlich iranische Akademikerinnen, die
in den Sozial-, Geschichts- und Literaturwissenschaften über die Frauen
ihres Landes schreiben. Autorinnen wie die in Washington lebende Lite-
raturprofessorin Azar Nafisi mit ihren Roman „Reading Lolita in Teheran“,
die in Los Angeles beheimatete Sozialarbeiterin Satare Farman Farmaian
oder die im Iran arbeitende Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ver-
öffentlichten autobiografische Romane und zeichneten ein facettenreiches
Bild ihrer Leben im Iran. Anhand der vielfältigen literarischen, wissen-
schaftlichen und künstlerischen Äußerungen von Iranerinnen zu ihrer ge-
sellschaftlichen Rolle wird einmal mehr deutlich, dass Identitäten mul-
tiple Konstrukte sind, vielschichtig und divers. Ihre Verhandlung ist ein
komplexer, häufig konfliktiver vielschichtiger Prozess, den ich in dieser
Arbeit analysieren und diskutieren möchte.

In den Sozialwissenschaften wird meist davon ausgegangen, dass Identi-
täten als gesellschaftliche Produkte in einem Prozess entstehen, dessen
Herzstück die Spiegelung des Eigenen im Anderen ist. So gesehen ist eine
Identität niemals nur eine positive Formulierung dessen, was man ist, son-

18
dern auch eine Negation dessen, was man nicht ist. Anhand dieser Nega-
tion des Anderen wird das Eigene erkannt und wiedererkannt. Jede Verfes-
tigung oder Reproduktion dieses Erkennens und Wiedererkennens ist ih-
rerseits ein Ausschluss all dessen, was nicht erwähnt, gezeigt, ausgedrückt,
konserviert oder entwickelt wird. Die Formulierung der eigenen – und
auch der anderen – Identität ist ein fortdauernder kommunikativer Pro-
zess, in dessen Verlauf ständig neue Grenzziehungen oder Grenzöffnungen
verhandelt werden und das kulturelle Repertoire sich verändert und dif-
ferenziert. Die verschiedenen Sichten auf das Eigene und das Andere ar-
beiten sich somit aneinander ab, und unterschiedliche Perspektiven ver-
schränken sich miteinander.

2.1     Methodische Vorgehensweise: „Multi-sited Ethno­graphy“
Ich beschäftigte mich insbesondere mit den transnationalen Netzwerken
der Frauen und deren Auseinandersetzung mit Frauenbildern und weib-
lichen Identitäten.

      „Im Gegensatz zu den Konnotationen von ‚international‘ steht hier
       der Aspekt zeitlich andauernder, grenzüberschreitender Beziehun-
       gen im Vordergrund, in denen nicht Staaten, sondern individu-
       elle Akteure oder Organisationen die Handelnden sind. Transna-
       tionale Beziehungen sind zwar, wie Foner (1997) für Migranten in
       New York City des 19. Jahrhunderts nachweist, kein absolut neues
       Phänomen, die Dimensionen der Prozesse und Beziehungen sind
       heute jedoch ohne historisches Vorbild.“ (Kokot 2002: 99)

In meiner methodischen Vorgehensweise nutzte ich den von dem ameri-
kanischen Kulturanthropologen George Marcus entworfenen Forschungs-
stil der „multi-sited ethnography“.

      „Im Deutschen spricht man vom multi-lokalen oder mobilen For-
       schen (Schlee 1985: 203, Werthmann/Grätz/Hahn 2004: 327), ­womit
       zunächst betont wird, dass man sich nicht mehr auf einen Ort
       oder eine Region bei der Erforschung menschlicher ­Gesellschaften
       oder Gruppierungen konzentriert, sondern die Methoden der sta-
       tionären Feldforschung (Malinowski 2001, vgl. Spittler 2001) auf
       verschiedene Orte und Schauplätze kulturellen Geschehens (Fog
       O­lwig/Hastruo 1997, Gupra/Ferguson 1997) ausweitet.“
                                                   (Weißköppel 2005: 1)

                                                                           19
3       Ursachen der iranischen Diaspora- und
        Exilbildung

     „Die iranische Emigration nach Europa und Nordamerika im 20.
      Jahrhundert ist eng mit den politischen und gesellschaftlichen
      Veränderungen in der jüngeren iranischen Geschichte verbunden.“
                                                      (Agha 1997: 36)

Die Verfassungsbewegung von 1890–1920, der Militärputsch von Reza Khan
mit folgendem Beginn der Pahlavi-Herrschaft (1924) und der Militärputsch
gegen den Premierminister Mossadegh (1953) können als historische po-
litische Ereignisse genannt werden, die vor allem Teilen der iranischen
Ober- und Mittelschicht Gründe lieferten, ihr Land zu verlassen. Die „Is-
lamische Revolution“ von 1978/79, die darauf folgende Implementierung
der Islamischen Republik, die mit der Verfolgung, Verhaftung und Exeku-
tion politisch Andersdenkender einherging17, und der gleichzeitig stattfin-
dende achtjährige Krieg mit Irak können jedoch als wichtigste Ursachen
für die iranische Diaspora- und Exilbildung gesehen werden. Kollektive
und individuelle Erinnerungen an diese soziopolitischen Umbrüche stel-
len hier einen wichtigen konstituierenden Teil der diasporischen und exi-
lierten Identitäten dar, über die ich schreibe.

Sozialwissenschaftler/-innen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten
vielseitig mit dem Begriff der Diaspora auseinandergesetzt, der mit einem
vermehrten Interesse der Wissenschaften zu Fragen der Migration und
Globalisierung einherging.

     „The veteran anthropologist, Clifford Geertz (1986: 118–119), argued
      that so long as the worlds they were studying really were ‚there‘
      (as Malinowski found them and as Lévi-Strauss remembered them)
      the task of fieldwork was a practical problem, not a theoretical one.
      The perception that there were seminal changes in cultural in-
      teractions arising from migration was first adequately theorized

17 Während Khomeinis Herrschaft wurde die Bilanz an Toten und politisch Verfolgten in der
neuen Islamischen Republik Iran noch beklemmender. „So war 1989 in einem Flugblatt, das
Anhänger der Volksmudschaheddin in Deutschland und Österreich verteilten, zu lesen, von
1979 bis 1989 habe es im Iran 90.000 Hinrichtungen und 150.000 Inhaftierungen politisch Ver-
folgter gegeben.“ (Agha 1997: 322)

58
by anthropologists. The subjects of their studies were no longer
     ‚there‘: they had by means of migration escaped the cages of their
      anthropological zoos“. (Cohen 1997: 134)

Während der Begriff „Exil“ einer recht genauen Definition18 unterliegt,
ist der Begriff der Diaspora vielfach theoretisiert und in ethnografischen
Beschreibungen von Migrationsprozessen und Migrant/-innengruppen
als Kategorisierung und Klassifizierung genutzt worden. Seit Beginn der
1990er Jahre haben akademische Debatten die Vielfalt gezeigt und disku-
tiert, die sich hinter dem Konzept „Diaspora“ verbirgt: von der traumati-
schen Geschichte der jüdischen, armenischen Gemeinschaft und der black
community bis hin zu unterschiedlichen migrantischen Gruppen, die sich
selber als Diaspora bezeichnen und „neue Diasporen“ bilden (vgl. Cohen
1997). Die Diasporaforschung hat sich derart ausgeweitet, dass es hinsicht-
lich der Problematik der Terminologie und unterschiedlicher Sichtweisen
schwierig wird, allen Erkenntnissen gerecht zur werden. Dennoch ist es
wichtig, die Frage, wie sich diasporische Identitäten konstituieren und ver-
orten, anhand vorhandener empirischer Kenntnisse zu durchdenken und
neue eigene Vermutungen anzustellen, so vorläufig und unvollständig sie
auch sein mögen. Denn ethnographische Arbeiten zu Di­asporen (vgl. Grei-
ner und Kokot 2009) wie auch mein eigener empirischer Zugang machen
deutlich, dass sich Lebenswelten und Realitäten von transnationalen Com-
munities19 nicht in ein einziges klassifikatorisches Modell einordnen las-
sen und man stattdessen eher von vielen verschiedenen Diasporen spre-
chen muss. Im Gegensatz zu dominanten eher essentialistischen Diskur-
sen von diasporischen Eliten zeigen ethnographische Arbeiten, dass dias-

18 Exil ist das sichere Land, in das jemand flieht, der aus politischen Gründen nicht mehr in
seinem Land leben kann oder darf. „Der Begriff Exil (lat. exilium, exsul) bezeichnet die Ab-
wesenheit eines Menschen oder einer Volksgruppe aus der eigenen Heimat aufgrund dorti-
ger Verbannung, Vertreibung, Ausbürgerung, religiöser oder politischer Verfolgung. Im Un-
terschied zur Emigration, die den Tatbestand jeglicher Auswanderung umfasst, geht die Er-
fahrung des Exils stets mit Einschränkungen und Beschneidungen des Individuums einher.
Exil ist der unfreiwillige Verlust sprachlicher, sozialer und kultureller Wurzeln.“
19 Ich verwende den Begriff „transnational community“ im Sinne von Thomas Faist: „Trans-
national communities can also be of a larger kind, primarily held together by symbolic ties
of common ethnicity or even nationhood. For example, refugees who have pursued nation-
building or political opposition projects in their home countries typically try to develop and
entertain dense transnational ties. Transnational communities are characterized by a conti-
nuous involvement in a pentagonic relationship with state and non-state entities in the coun-
tries of emigration and immigration.“ (Faist 2000: 208)

                                                                                          59
porische Identitäten konstruiert werden und somit stetigen Veränderun-
gen unterliegen und im Laufe der Zeit auch umdefiniert werden. Diese Ver-
änderungen stehen in engem Zusammenhang mit den jeweiligen konsti-
tuierenden Kontexten und Machtstrukturen, in denen sich die Personen
der Community befinden.

     „The word derives from the Greek dia, ‚through‘, and speirein, ‚to
      scatter‘. According to Webster’s Dictionary in the United States, di-
      aspora refers to a ‚dispersion home‘. Hence the word embodies a no-
      tion of a centre, a locus, a ‚home‘ from where the dispersion occurs.
      It invokes images of multiple journeys. The dictionary also high-
      lights the world’s association with dispersion of the Jew after the
      Babylonian exile. Here, then, is an evocation of a diaspora with a
      particular resonance within European cartographies of displace-
      ment: one that occupies particular space in the European psyche,
      and is emblematically situated within Western iconography as the
      diaspora par excellence. Yet to speak of late twentieth-century di-
      asporas is to take such ancient diasporas as a point of departure
      rather than necessarily as ‚models‘ or what Safran (1991) describes
      as the ‚ideal type‘“. (Brah 1996: 181)

Im Sinne der poststrukturalistischen Soziologin Avtar Brah verstehe ich
den Begriff der Diaspora als einen interpretativen Rahmen für eine Ana-
lyse von Modalitäten in Migrationsprozessen.

     „The concept began to suggest fruitful ways of examining the rela-
      tionality of these migrancies across fields of social relations, sub-
      jectivity and identity“. (Brah 1996: 16).

Robin Cohen schreibt hierzu in seinem Buch „Global Diasporas“ (1997: 9), es
könne nicht darum gehen, lediglich die Theorie mit empirischen Beispie-
len zu illustrieren, sondern vielmehr die Frage zähle, inwieweit theoreti-
sche Überlegungen zu Diasporen einen analytischen Raum schaffen, der
mit den empirischen Erkenntnissen korrespondiert. Avtar Brah hebt her-
vor, dass es daher für eine Analyse und Beschreibung von Diasporen von
zentraler Wichtigkeit ist, die spezifischen soziopolitischen und kulturellen
Bedingungen, unter denen die Reisen, die „diasporic journeys“, stattgefun-
den haben, zu untersuchen:

     „In other words, it is necessary to analyse what makes one diasporic
      formation similar to or different from another: whether, for in-

60
4.     Gender und Migration: Wenn Frauen
       alleine migrieren

Lange Zeit standen weibliche Lebenswelten und Erfahrungen im Kontext
von Migration nur marginal im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerk-
samkeit. Obwohl Frauen mindestens so häufig wie Männer migrieren, wur-
den sie in der Migrationsforschung bis vor kurzem überhaupt nicht oder
nur als „Anhängsel“ männlicher Migranten wahrgenommen (vgl. Hahn
2000). Die sozialen Rollen, die Frauen in Fragen der Migration somit zuge-
schrieben wurden, beschränkten sich auf private Räume, das Hausfrauen-
dasein und die Erziehung der Kinder. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf
der weiblichen Arbeitsmigration und hierbei auf Arbeiten im Niedriglohn-
sektor (beispielsweise Putz- und Pflegearbeiten) und der Prostitution und
dem damit im Zusammenhang stehenden internationalen „Frauenhandel“.
Weibliche Migration stellt jedoch ein sehr viel komplexeres Feld an sozia-
len Rollen und weiblichen Identitäten dar. Frauen migrieren oftmals aus
den gleichen Gründen wie Männer, flüchten vor Kriegen oder politischer
Verfolgung, wollen studieren oder arbeiten und folgen nicht nur ihrer Fa-
milie oder ihrem Ehemann in ein neues Leben.

In der Beschäftigung mit der iranischen Migration seit 1979 fällt eine be-
sonders große Anzahl an Frauen, die alleine migriert sind, ins Auge. Die
Frauen verließen Iran meist aufgrund der politischen Situation des Landes.
Das bedeutet, dass die vielfache Begründung einer wirtschaftlichen Not
für weibliche Migration hier nicht zutrifft. Die meisten der Frauen haben
ein akademisches Studium oder eine Berufsausbildung durchlaufen. Mit
ihnen verließ ein Teil der iranischen Intelligenzia das Land. Viele dieser
Frauen waren Teil der iranischen Bildungs- und/oder ökonomischen Elite
des Landes. Andere lassen sich der iranischen städtischen Mittelschicht zu-
ordnen. Sie sind vor allem als politische Akteurinnen zu sehen, als Frauen,
die den auf Gender-Unterschieden basierenden Repressalien und der frau-
enspezifischen Verfolgung der islamischen Republik Iran entfliehen woll-
ten.

     „When migration is massive and motivated by political convulsions
      at home, it is likely that immigrants remain morally tied to kin
      and communities left behind and, hence, are more likely engage
      in a variety of activities to bridge the gap and sustain a common
      bond.“ (Portes 1999: 464)

                                                                          101
Ein weiteres Motiv für Migration von Iranerinnen besteht im Studium oder
einer Weiterbildung. Mit der Ausbildung im Ausland ist oftmals Hoffnung
verbunden, die Chance zu vergrößern, an dem internationalen Arbeits-
markt partizipieren zu können. Im Prozess der Immigration und Neuori-
entierung in einem fremden Land, sind Frauen oftmals mit anderen Prob-
lemen als Männer konfrontiert.30

      „Genderspezifische Migrationsforschung betont […], dass geschlechts-
       spezifische Asymmetrien auf ökonomischer, soziokultureller und
       politischer Ebene für Frauen andere Bedingungen und Möglichkei-
       ten von Mobilität schaffen als für Männer. Ohne diese geschlechts-
       spezifischen Asymmetrien zu untersuchen, können Muster weibli-
       cher Migration nicht verstanden werden.“ (Parnreiter 2005: 43)

 Hinterfragt werden sollte dabei, warum Frauen in bestimmten Fällen wan-
 dern oder warum sie eben nicht in der Migration mobilisiert werden.

In den neuen gesellschaftlichen Zusammenhängen müssen sich Frauen oft-
mals mit anderen Zuschreibungen auseinandersetzen als Männer, beispiels-
weise mit der Rolle des Opfers. Im spezifischen Falle iranischer Frauen ist
es die Rolle der „unterdrückten Muslimischen Frau“, die ihnen von gesetzli-
cher, bürokratischer Seite, aber auch in gesellschaftlich informellen Berei-
chen entgegengebracht wird.

 Es geht also in der Beschäftigung mit weiblicher Migration darum, Frauen
 als eigenständige soziale Akteurinnen wahrzunehmen und zu beschreiben,
 die Prozesse der Migration und der transnationalen Vernetzung aktiv ge-
 stalten. Die seit den späten 70er-Jahren zunehmende Präsenz und Wahr-
 nehmung von Frauen im internationalen Migrationsgeschehen hat auch die
 theoretischen Auseinandersetzungen zu Fragen des Transnationalismus be-
 einflusst und führte dazu, dass viele Forscher/-innen mittlerweile von ei-
 ner „Feminisierung der Migration“ sprechen (vgl. Kofman, 2000, Mahler und
 Pessar 2001). Vor diesem Hintergrund fordern sie, „die Einführung der Kate-
 gorie gender in die Analyse transnationaler Migrationsphänomene.“ (Söke­
 feld 2007: 1)

 30 Tahere Agha schreibt über die Frauenspezifischen Probleme auf der Flucht aus dem Iran:
„Mädchen und Frauen waren auf diesen Fluchtrouten nicht nur starken körperlichen Strapazen
 ausgesetzt, sondern teilweise auch mit sexuellen Übergriffen durch männliche Fluchthelfer kon-
 frontiert.“ (Agha 1997: 57) Siehe hierzu Kapitel 4.1. meiner Arbeit „Die rebellische Generation“.

102
Die Genderkategorie stellt ein signifikantes organisatorisches Prinzip des
sozialen Lebens dar. Hierbei werden genderspezifische Positionen entwi-
ckelt und Perspektiven eingenommen.

Prozesse der Migration und transnationaler Vernetzungen sind von die-
sen genderspezifischen Kriterien geprägt und Gender stellt nicht nur eine
messbare Variable, sondern eine relationale Kategorie dar, die sich auf
beide Geschlechter bezieht. Hierbei darf Geschlecht nicht isoliert von an-
deren Identitäten wie beispielsweise race und ethnicity gesehen und be-
schrieben werden. Die transnationale Orientierung von Migrant/-innen
zwingt die Wissenschaft bestehende theoretische Konzepte von Ethnizi-
tät und Nationalität zu hinterfragen und neu zu konzeptualisieren.

     „However, transnational practices cannot be construed as if they
      were free from the constraints and opportunities that contextuality
      imposes. Transnational practices, while connecting collectivities lo-
      cated in more than one national territory, are embodied in specific
      social relations established between specific people, situated in une-
      quivocal localities, at historically determined times. The ‘locality’ thus
      needs to be further conceptualized.“ (Guarnizo and Smith 1998: 11)

In transnationalen Kontexten wie im Falle dieser Forschung galt es nun, zu
untersuchen wie sich die Beziehung von Gender, Nationalität und Religion
und die Verhandlung von Geschlechterrollen über Grenzen hinweg gestaltet
und verändert haben. Entscheidend war hier bei der Beschreibung dieser
Prozesse, dass Frauen als Akteurinnen in den Mittelpunkt gerückt wurden.

Georges Fouron und Nina Glick Schiller schreiben in „All in the family:
Gender, Transnational Migration, and the Nation-State“:

     „Much less has been said about the social reproduction of gender
      in transnational spaces. Theses spaces are created as people emi-
      grate, settle far from their homelands, and yet develop networks
      of connection that maintain familial, economic, religious, and po-
      litical ties to those homelands“. (Glick Schiller & Fouron 2001: 539)

In der speziellen Beschäftigung mit iranischen Transmigrantinnen31 und
bei Fragen nach individuellen und kollektiven Identitäten spielt das Zu-

 31 Ich beziehe mich hier auf Nina Glick-Schillers Definition von Transmigrant/-innen:
„‚transmigrants“ sind gezwungen sich mit verschiedenen hegemonialen Konzepten und Iden-

                                                                                   103
sammenwirken von Gender, Religion und Nationalität eine herausragende
Rolle. Darüber hinaus ist die Frage nach Veränderungen und Kontinuitä-
ten im soziopolitischen Selbstbild der iranischen Transmigrantinnen ent-
scheidend, beispielsweise in Verbindung mit feministischen Diskursen.

4.1     Migration nach Deutschland
Migrationsprozesse finden niemals losgelöst von den Beziehungen zwi-
schen den Nationalstaaten, von denen Menschen auf‌brechen, und den Auf-
nahmeländern, in denen sie sich ansiedeln, statt. Iranische Migration ist
somit vor dem Hintergrund der historischen, wirtschaftlichen und politi-
schen Beziehungen von Deutschland und Iran angesiedelt.

      „1873 besuchte mit Naser al-Din Schah erstmals ein persischer
       Kaiser Berlin. Noch im selben Jahr unterzeichnete man auf per-
       sisches Drängen einen deutsch-persischen Freundschaftsvertrag.
       1885 wurde die erste persische Vertretung in Berlin eröffnet. […]
       1888 gelangte Kaiser Wilhelm II. an die Macht. Mit ihm begann die
       Phase einer machtpolitisch orientierten deutschen Orientpolitik.“
                                                       (Küntzel 2009: 25)

Kaiser Wilhelm II. ließ sich im ersten Weltkrieg als „Haj Wilhelm Moham-
med“ bezeichnen und als Held im Kampf gegen Persiens Gegner Russland
und Großbritannien feiern. Reza Schah, der am 15. Dezember 1925 die ira-
nische Regentschaft übernahm, intensivierte den Handel mit Deutschland
zu Lasten Großbritanniens und der Sowjetunion. Das größte Projekt, das
mit deutscher Unterstützung in Angriff genommen wurde, war der Bau
der transiranischen Eisenbahn, deren Strecke vom Kaspischen Meer im
Nordosten bis zum Persischen Golf im Südwesten des Irans reichte. Darü-
ber hinaus hatte der iranische Monarch viele Bauprojekte zusammen mit
Deutschland geplant und realisiert wie beispielsweise die Hörsäle und Ge-
bäude der Universität Teheran, den Teheraner Hauptbahnhof oder minis-
teriale Gebäude. Es waren somit deutsche Firmen, die die persische Indust-
rie in den 1920er Jahren mitbegründeten.32 Aufgrund dieser Verbindungen

titätskonstruktionen auseinanderzusetzen. Ihre alltäglichen Beziehungen und sozialen In-
teraktionen sind transnational ausgerichtet.“ (Glick-Schiller 1992: 5)
32 Einrichtungen von Krankenhäusern und Laboratorien wurden in Deutschland ebenso
produziert wie Waffen- und Chemiefabriken. Die Firma Siemens lieferte Elektromotoren und

104
5.      Weibliche Identitäten in Berlin,
        Los Angeles und Teheran

Um sich den unterschiedlichen Positionen iranischer Frauen in einem
transnationalen Kontext anzunähern, diese zu verstehen und miteinan-
der in Beziehung zu setzen, ist es wichtig, die lokalen Kontexte, in denen
sich die Frauen verorten, näher zu beleuchten. Daher stehen in diesem Ka-
pitel die unterschiedlichen Gruppen von Frauen und ihre Lebenswelten in
Deutschland, den USA und Iran im Zentrum. Die soziale Herkunft und die
Sozialisation in dem speziellen politischen Kontext Iran nehmen ebenso
Einfluss auf die Biographien wie auch die konstituierenden Strukturen wie
Gesetzgebung, Politik, Medien und Kultur des Landes, in das die Frauen mi-
griert sind. Das bedeutet, dass die Frauen sich in ihren Identitäten unter-
schiedlich verorten und ihre soziale Praxis variiert. Dies gilt besonders für
die Tochtergeneration der Frauen, die nach der Revolution das Land verlie-
ßen. Diese neue Generation von Iraner/-innen wurde in Deutschland, USA
oder Iran geboren und sozialisiert und kann auf keine gemeinsame iden-
titätsstiftende Sozialisation im iranischen Kontext und auf keine kollek-
tive Erinnerung zurückgreifen. In der Äußerung einer jungen iranischen
Studentin, die von Iran nach Boston und dann nach New York gezogen war,
wird dies besonders deutlich:

      „On a social very personal level, it is not easy to relate to them (Iranian-
       Americans), because we are just completely different. We look like each
       other, we might have both an Iranian name, but usually the American-
       Iranian person in my age is just like a foreign person to me. So if I make
       friendship with them it is like making a friendship with a canadian or
       european person, I don’t feel right away familiar only we have both an
       Iranian background.“ (Interview Shirin, 26.8.2008)

Beide Generationen von Frauen setzen sich miteinander über die eigene
weibliche Identität auseinander, indem sie ihre spezifische Perspektive auf
die Frauenbilder, die in der Revolution entstanden sind, kommunizieren
und sich zu ihnen positionieren, sie beurteilen oder sich gegebenenfalls
gegen bestimmte Zuschreibungen wehren. Diese historische Zäsur der Re-
volution, so argumentiere ich, wirkt in die zweite Generation hinein und
wird als Maßstab in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Ge-
genwart genutzt und in der Rechtfertigung von Positionen und Meinungen
umgesetzt. Oftmals stehen diese Diskurse, die innerhalb der Diaspora- und

118
Exilgemeinde und im Iran stattfinden, in einem konfliktiven Verhältnis
zu dominanten Diskursen über Iran und islamische Frauen in der Politik
oder in den Medien. Ich beschreibe im Folgenden, wie in den unterschiedli-
chen Kontexten sowohl Erinnerungen an die Revolution, als auch deren ge-
sellschaftliche Auswirkung diskutiert, benutzt und transformiert werden
als wichtiger und konstituierender Teil weiblicher iranischer Identitäten.

5.1 „Die rebellische Generation“: Exilierte Identitäten politi-
     scher Aktivistinnen in Berlin
      Exile is a crooked memory sitting on a bus
      with the slogan: „There is a way and I have gone it several times.“
      The bus is longing for the driver to sleep
      and the driver longing for the bus to stop climbing
      and the exiled longing for „where they are not.“
      Rumi, Darwish, Conrad and Said „They have a country of words.“
      I have not.
                                                          Siah Armajani

Zu Beginn meines ethnographischen Kapitels über die konkreten Veror-
tungen und Lebenswelten iranischer Frauen soll hier zunächst der Kon-
text des Exils und des politischen Aktivismus in den Vordergrund gestellt
werden.

Die Frauen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, waren Protestle-
rinnen, Revolutionärinnen und Zeitzeuginnen. Sie partizipierten am ge-
waltsamen politischen Umbruch ihres Landes, danach waren sie oft sel-
ber verfolgt und inhaftiert oder mussten im Untergrund leben, bevor sie
Iran verlassen konnten. Sie zeichnen sich durch eine atheistische Hal-
tung aus, lehnen die Fremdzuschreibung einer religiösen Muslimischen
Identität ab und empfinden es als problematisch, dass dieser Aspekt ih-
nen von der deutschen Gesellschaft immer wieder beharrlich als wichti-
ger Teil ihrer Identität entgegengehalten wird. Hierbei wird ein konstan-
ter Widerspruch erzeugt, der den sozialen Spielraum der Frauen prägt. Die
Erfahrungen mit dem gewalttätigen islamistischen Regime im Iran führ-
ten hierzulande zu einer Ablehnung des Islam seitens dieser Frauen. Die
Bezeichnung „Muslimin“ und die Zuschreibung einer religiösen Identität,
ebenso wie die mit diesen Zuschreibungen einhergehenden Stereotype,
die ihnen in Deutschland entgegengehalten werden, tragen zu einer noch

                                                                            119
Sie können auch lesen