Spätlese Das Magazin für aufgeweckte Seniorinnen und Senioren - Berlin.de
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Ausgabe September - Oktober 2019 Spätlese Das Magazin für aufgeweckte Seniorinnen und Senioren 71. Ausgabe der Spätlese Liebe Seniorinnen und Senioren, liebe Leserinnen und Leser! Auch die vorliegende Herbstausgabe der „Spätlese“ widmet dem 40jährigen Bestehen des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf noch einmal den gebührenden Platz. Unsere Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle beantwortet in einem Interview für den Rundfunksender rbb 88,8 die Fragen von Journalistenkollegen Ingo Hoppe zu den guten und den schlechten Zeiten in der „Viele kleine Leute in vielen kleinen Orten, Geschichte von Marzahn-Hellersdorf. die viele kleine Dinge tun, können das An ein anderes Jubiläum in unserem Bezirk erinnert Ursula. A. Kolbe, nämlich an den Gesicht der Welt verändern.“ aus Afrika 125.Geburtstag des Malers Otto Nagel, der bis zu seinem Tode im Jahre 1967 in Biesdorf lebte. In einem anderen Beitrag stellt die Autorin die diesjährige Kunstmesse Art Week Mit einem Schmunzeln auf den Lippen nimmt vor. Im Rahmen der Berlin Art Week werden Kathrain Graubaum vom Halberstädter im September hunderte von Galerien neue Literaturmuseum einen Scherz-Keks in den künstlerische Positionen vorstellen. Fokus: Anläßlich des 300. Geburtstags des Ursula A. Kolbe lädt die Leserinnen und Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim Leser aber auch ins Ermelerhaus am beschäftigt sich der Beitrag mit der heiteren Märkischen Ufer ein, wo Anfang Oktober eine Seite der Aufklärung. Party der Erinnerungen gefeiert wird. Wer Unser Reporter Günter Knackfuß war wieder noch hat, kann da seine Zeche sogar noch zu unterschiedlichen touristischen Terminen mit DDR-Mark begleichen. Hans-Jürgen unterwegs: So folgte er ein letztes Mal der Rudolf informiert über die letzte Sitzung des Spuren Theodor Fontanes im näheren Umland Welterbe-Komitees der Unesco, die das von Berlin; in Lübben/Spreewald wohnte er Erzgebirge, das historische Bergbaugebiet in dem Deutschen Trachtenfest bei und in Sachsen und Böhmen in Tschechien auf Mecklenburg-Vorpommern verbrachte er die seiner Sitzung in Aserbaidschan in die Liste Nacht der nordischen Guts- und Herrenhäuser. schützenswerten Erbes der Welt aufnahm. Zu guter Letzt nehme ich Sie mit in ein Außerdem stöberte er in der Geschichte des Erlebnisdorf im niederösterreichischen Automobilbaus und stieß auf die Tatsache, Mostviertel – in die Schmiedegemeinde dass Opel vor 120 Jahren das erste Auto Ybbsitz. Hier begegnet man der starken baute.„Vom Genie zum armen Schlucker“, mit Tradition des Schmiedehandwerks im Einklang diesen Worten könnte man den Beitrag mit einem sanften Tourismus. unseres Autors Tristan Micke zusammen- Diese Vielfalt der Herbstausgabe will das fassen. Auf informative Weise beleuchtet sein Redaktionsteam auch weiterhin „am Glühen Artikel den 250. Geburtstag Alexander von halten“. Humboldts aus einem interessanten Blick- Ihr Hans-Jürgen Kolbe winkel.
Inhaltsverzeichnis „Marzahn-Hellersdorf ist ein sehr dynamischer Bezirk“ ...........3 Vom Blick zurück ins Heute und Morgen ..................................5 Jahrestage 2019 – September/Oktober......................................7 Otto Nagel und sein 125. Geburtstag ..........................................8 Erzgebirge ist Weltkulturerbe.....................................................9 Das erste Auto feiert Geburtstag............................................... 10 Zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts..................... 12 Zeitgenössische Kunst wieder im Berliner Fokus..................... 14 Ein „Scherz-Keks“ im Fokus .....................................................16 Trachten und Musik – ein Fest für die Sinne ........................... 18 Party der Erinnerungen im Ermelerhaus ................................. 19 Letzte Spur FONTANE ..............................................................21 „Ein Schmied, ein Schlag, ein Gulden“... ..................................22 MitsommerRemise – ein Rückblick .........................................24 Herbst ........................................................................................ 27 Reiseführer Slowenien ..............................................................28 Die berühmteste Klappbrücke der Welt................................... 28 www.magazin-spätlese.net ! von 29 2 !
Aus dem Bezirk „Marzahn- Hellersdorf ist ein sehr dynamischer Bezirk“ von Ingo Hoppe Foto: rbb24/Marat Zakirov Marzahn-Hellersdorf wächst seit einigen Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle Jahren - das birgt Konflikte. Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) sagt im Interview mit Ingo Hoppe für den rbb 88,8, warum der Bezirk altert, warum es dort viele Hartz-IV-Empfänger gibt - und über welche Klischees sie sich aufregt. Ingo Hoppe: Frau Pohle, wir haben mal rumgefragt bei den Menschen, die in Ihrem Bezirk leben - und die haben oft gesagt: Was uns stört, ist die schlechte Verkehrsanbindung. Die S- Bahn fährt nicht häufig genug. Kann man daran noch ein bisschen was drehen? Dagmar Pohle: Ja, wir sind dazu mit der BVG und der Bahn im Gespräch, weil wir merken, dass Straßenbahnen, Busse und S-Bahnen voll sind. Als Außenbezirk sind wir darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen mit den Öffentlichen fahren. Dazu kommt, dass auch viele aus Brandenburg hier bei uns ihr Auto abstellen, manchmal auch an Stellen, wo es uns nicht so recht ist, und dann öffentlich weiterfahren. Deshalb brauchen wir einfach einen dichteren öffentlichen Personennahverkehr. Ingo Hoppe: Wenn man die Menschen in Marzahn-Hellersdorf fragt, wie sie sich fühlen, ist deren Stimmung viel besser als das Image des Bezirks... Dagmar Pohle: Ja, das ist so, das erlebe ich seit vielen Jahren. Alle Versuche, die wir bisher unternommen haben, das mal zu ändern, sind noch nicht wirklich gelungen. Ingo Hoppe: Die Gärten der Welt haben auch nichts gebracht? Dagmar Pohle: Das ist genauso: Wenn ich Menschen treffe, die noch nie dort waren, und ich ihnen sage: 'Geht doch mal hin.' - dann sagen sie nachher immer: 'Das ist ja toll - warum sind wir nicht schon eher hingegangen!' Das soll jetzt keine Journalistenschelte sein, aber ich habe immer das Gefühl: Wenn jemand etwas über Marzahn-Hellersdorf recherchiert und alte Beiträge guckt, findet er immer nur bestimmte Standardsätze, die die Klischees bedienen. Ingo Hoppe: Plattenbauten zum Beispiel. Dabei gibt es da auch Unmengen Einfamilienhaus- Siedlungen, das ist vielen gar nicht so bekannt. Dagmar Pohle: Genau. Als jetzt gerade zum Sommerpausenstart etwas gealterte Architekten der Meinung waren, man müsste in Buch neu bauen, war ein Satz dabei, der mich wirklich tierisch aufgeregt hat: Es solle nicht zu einer Schlafstadt wie Marzahn-Hellersdorf werden. Da habe ich gedacht: Hallo? Was ist denn das? Das hat mit uns gar nichts zu tun. Ingo Hoppe: Die Bewohnerinnen und Bewohner, die wir befragt haben, beklagen auch fehlende gute Spielplätze und zu wenig Schulen. Marzahn-Hellersdorf ist lange geschrumpft, www.magazin-spätlese.net ! von 29 3 !
jetzt wächst der Bezirk wieder. Sie ziehen auch Familien an, weil die Mieten nicht so hoch sind. Schule ist ein Thema für Sie, oder? Dagmar Pohle: Schule ist auf jeden Fall ein Thema. Ich will mal die Zahlen nennen: Anfang der 1990er Jahre haben in Marzahn-Hellersdorf 310.000 Einwohnerinnen und Einwohner gewohnt. Dann sind wir geschrumpft bis 2004/05 auf 242.000 Einwohnerinnen und Einwohner - und jetzt sind wir bei knapp 270.000. In der Zeit, als wir geschrumpft sind, standen Wohnungen leer, brauchten wir nicht alle Schulen und Kindertagesstätten. 4.900 Wohnungen sind abgerissen worden, aber eben auch viele Gemeinschaftseinrichtungen. Leerstehende Gebäude werden zerstört, sind einfach in einem Kiez nicht zu ertragen, und es konnte nicht alles nachgenutzt werden. Jetzt wären wir froh, wenn wir diese Gebäude noch hätten. Wir haben sie nicht - und deshalb bauen wir auch neu. Die ersten neuen Schulen sind eröffnet, beziehungsweise werden jetzt zum Schuljahresbeginn eröffnet - und wir müssen weitere Schulen bauen. Wir haben auch an bestimmten Standorten Ergänzungsbauten in der Planung, die jetzt sukzessive umgesetzt werden. Wir sind ja ein sehr dynamischer Bezirk in der Bevölkerungsentwicklung - und alle, die schon lange dabei sind, wissen, dass es auch mal wieder weniger werden kann. Ingo Hoppe: Im Moment altert der Bezirk, obwohl so viele Familien mit Kindern kommen oder die jungen Einwohner Kinder bekommen. Dagmar Pohle: Wir liegen über dem Berliner Durchschnitt. Jahrzehntelang, kann man fast sagen, lagen wir deutlich drunter - jetzt liegen wir drüber. Das hat etwas damit zu tun, dass viele, die wann auch immer in den Bezirk Marzahn-Hellersdorf kommen, sich hier wohlfühlen und auch bleiben. Wer geht, sind die jungen Leute. Sie haben die Schule abgeschlossen, gehen in die Ausbildung und zum Studium. Interessant ist für mich, die ja schon sehr lange im Bezirk lebt, dass sie dann, wenn sie eine Familie gründen, wiederkommen. Ich finde, das spricht für den Bezirk. Ingo Hoppe: Zu meiner Überraschung ist der Anteil von Hartz-IV-Empfängern doch sehr hoch im Bezirk, es gibt auch viele Alleinerziehende, was ja oft damit einhergeht. Sind Sie nicht überrascht? Dagmar Pohle: Nein, ich bin nicht überrascht, weil ich natürlich die Situation in meinem Bezirk kenne. Sie müssten noch eine andere Zahl des Bezirkes dazusetzen - und die macht auch das Problem des Bezirkes deutlich, vor allen Dingen in unseren Großsiedlungen: Wir liegen unter dem Arbeitslosen-Durchschnitt des Landes Berlin, wir haben die viertniedrigste Zahl der zwölf Bezirke. Wir haben einen sehr hohen Anteil von Menschen, die erwerbstätig sind, deren Einkommen aber nicht ausreichend ist und die deshalb auf weitere finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Das betrifft insbesondere Alleinerziehende: Familien mit ein, zwei, drei Kindern, aber nur einem Einkommen. Da bedarf es Transferzahlungen. Es sind oft Arbeitstätigkeiten, mit denen sie nicht gerade zu den Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdienern gehören. Ingo Hoppe: Die letzte Frage, die ich all ihren Kolleginnen und Kollegen stelle, ist die Kristallkugel-Frage: Wo sehen Sie Ihren Bezirk in zehn Jahren? Dagmar Pohle: Ich habe jetzt 40 Jahre Marzahn-Hellersdorf in unterschiedlicher Art und Weise miterlebt und bin sehr optimistisch, dass der Bezirk weiterhin eine positive Entwicklung nimmt. Zurzeit wird sehr viel gebaut. Wohnungsneubau, der zum Glück - und darauf achten wir sehr - nicht dazu führt, dass unsere Grünflächen sich reduzieren oder dass wir Innenhöfe extrem zubauen. Deshalb glaube ich, dass in zehn Jahren Marzahn-Hellersdorf ein sehr angesehener Wohnort wird, in dem auch - wir haben nämlich sehr große Gewerbeflächen - die Wirtschaft sich www.magazin-spätlese.net ! von 29 4 !
weiterentwickelt. Damit müssen dann auch die Menschen gar nicht mehr so durch die Gegend fahren, sondern sie finden auch Arbeit bei uns im Bezirk. Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Ingo Hoppe für rbb 88,8. Der Autor gestattete der „Spätlese“ freundlicherweise den Nachdruck dieser leicht gekürzten Fassung. Aus dem Bezirk Vom Blick zurück ins Heute und Morgen von Ursula A. Kolbe In den vergangenen Wochen und Monaten zog immer wieder ein Jubiläum die Aufmerksamkeit Bild: Hans-Jürgen Kolbe auf sich: Das 40jährige Jubiläum des Berliner Stadtbezirks Marzahn-Hellersdorf, auf die Titelseiten der Broschüren Gründung des Stadtbezirks Marzahns am 5. Januar 1979 und die Fusion mit dem Stadtbezirk Hellersdorf am 1. Januar 2001, der am 1. Juni 1986 gegründet worden war. Seitdem entwickelt der jüngste Bezirk eine besondere Dynamik. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal kurz, dass das Durchschnittsalter vor 40 Jahren bei 27 Jahren lag und es heute mit über 43,5 Jahren über dem Berliner Durchschnitt liegt. Der älteste Stadtteil ist der rund um die Marchwitzastrasse, jüngster ist der Stadtteil Hellersdorf – Nord. Heute leben rund 270.000 Menschen in Marzahn-Hellersdorf als unseren Heimat- und Zukunftsort, wie es treffender Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle mit Blick auf das Jubiläum nicht ausdrücken konnte. Und natürlich lag es nahe, dass für alle Einwohnerinnen und Einwohner und ihre Gäste zur großen Geburtstagsfeier Mitte Juni in den Gärten der Welt diese Entwicklung festgehalten worden ist: Das Bezirksamt hat seine Imagebroschüre „Berlins beste Aussichten“ verteilt, vom rührigen Heimatverein des Bezirks Marzahn - Hellersdorf e. V. gab es die Broschüre „40 Jahre Marzahn- Hellersdorf. Eine Chronik“: Bezirksamts-Broschüre „Berlins beste Aussichten“ Das Bezirksamt Marzahn – Hellersdorf als Herausgeber hat in Zusammenarbeit mit der apercu Verlagsgesellschaft mbH den Titel dieser Jubiläums-Broschüre nicht zufällig gewählt. Mit diesem Slogan wirbt der Bezirk schon seit einigen Jahren für sich. Und dieses Exemplar ist ein weiterer Mosaikstein, den über Jahrzehnte durch Vorurteile und Medienberichte beschädigten Ruf des Bezirks zu verbessern. Aber die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die zunächst eigenständigen Bezirke Marzahn und Hellersdorf wuchsen schnell auf insgesamt über 300.000 Einwohner. Nach der Wende aber sank die Zahl auf 230.000. Inzwischen nähert sie sich wieder der Marke von 270.000 an. Es siedelten und siedeln sich Unternehmen an, und das ist auch der Schwerpunkt: Die wirtschaftliche Entwicklung im Bezirk. Vorgestellt werden insgesamt 34 Firmen und Unternehmen, die hier ihren Sitz oder wichtige Standorte haben. Jörg Franzen, Vorstandsvorsitzender der Gesobau, z. B. stellt das Engagement der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft im Bezirk vor. Sie begann mit einem Bestand von 120 Wohnungen. Bis www.magazin-spätlese.net ! von 29 5 !
2023 will sie im Bezirk rund 500 Millionen Euro investieren. Dabei sollen rund 2.800 Wohnungen neu gebaut werden, rund 1.250 allein im und am Stadtgut Hellersdorf; die Hälfte davon mit Fördermitteln und einer Miete von 6.50 Euro netto kalt pro Quadratmeter. Tom Lüders ist der Geschäftsführende Direktor der Berlin.Industrial.Group (BIG), und seine rasant wachsende Unternehmensgruppe setzt auf technische Innovationen für die industrielle Produktion. Zu ihr gehören u. a. die Firmen Scansonic, Pionier der modernen Lasertechnologie, und Gefertec, Schrittmacher bei der Nutzung von Druckverfahren in der Metallurgie. Die BIG zog 2015 von Weißensee auf ein fünf Hektar großes Grundstück am Boxhagener Ring. Sie hat inzwischen rund 320 Mitarbeiter und strebt zweistellige Wachstumsraten an. Mit Berliner Forschungseinrichtungen ist sie eng vernetzt. „Wir haben im Bezirk Platz für Wachstum gefunden und Raum für Ideen“, so der BIG- Geschäftsführende Direktor. Broschüre des Heimatvereins Marzahn – Hellersdorf e. V.: „40 Jahre Marzahn – Hellersdorf. Eine Chronik“ Auch der Heimatverein hat es sich nicht nehmen lassen, zum 40. Gründungsjubiläum mit der Chronik des Bezirks von 1973 bis 2018 seinen eigenen Beitrag beizusteuern. Sein Vorsitzender Wolfgang Brauer hat es zum Ausdruck gebracht, als er im Vorwort hervorhob, das mit dieser Chronik gezeigt werden soll, was hinter der Überschrift „40 Jahre Marzahn – Hellersdorf. Eine Chronik“ steht. Und weiter:“ Natürlich spielen die Baugeschichte vor und nach 1990 und die ihnen zugrunde liegenden politischen Entscheidungen eine tragend Rolle. Aber das Entscheidende im Leben einer Kommune – mit mittlerweile fast 270.000 Einwohnern handelt es sich um eine Großstadt, größer als die Landeshauptstädte Magdeburg oder Kiel – sind die in ihr lebenden Menschen und die Art und Weise, wie sie ihre Lebensumstände gestalten. Daher haben wir in diese Chronik auch die wesentlichen Daten zur politischen Geschichte, zur Wirtschaftsgeschichte, zur Kulturentwicklung und zur Gestaltung der infrastrukturellen und sozialen Einrichtungen einschließlich derer von Gesundheitswesen und Gesundheitswirtschaft aufgenommen.“ Ja, der Bezirk ist ein Werk von vielen. Auch seine aufgeschriebene Geschichte kann nur das Werk vieler sein. Diese vor uns liegende Broschüre ist ein lebendiger Beweis dafür und an dieser Stelle gilt die besondere Wertschätzung den Autorinnen Dr. Christa Hübner, Dr. Renate Schilling und dem dritten im Bunde, dem Autor Dr. Manfred Teresiak; alle drei Historiker und Vorstandsmitglieder des Heimatvereins. In aufwendigen Recherchen erarbeiteten sie die Chronik, die für viele Marzahner und Hellersdorfer so manch Denkwürdiges in Erinnerung ruft. Der erste Eintrag beginnt mit dem 27. März 1973: „Das Politbüro des ZK der SED bestätigt eine Vorlage zur Entwicklung des komplexen Wohnungsbaus in Ostberlin. Biesdorf-Nord wird als Standort für den Bau von 20.000 Wohnungen bis 1980 und 15.000 nach 1980 benannt.“… Am 25. März 1983 heißt es: „Das Spree-Center in der Hellersdorfer Straße 77 – 83 wird als erstes nach 1990 im Bezirk Hellersdorf errichtetes Einkaufszentrum eröffnet.“… 12. Mai 1994: „An der Landsberger Allee/Allee der Kosmonauten wird der 21 Meter hohe Neubau einer traditionellen Bockwindmühle nach Plänen der holländischen Firma Harrie Beijik eingeweiht. Aus Anlass der Einweihung findet das erste Marzahner Mühlenfest statt. Am 5. Mai hatte sich der Mühlenverein Berlin-Marzahn e. V. mit dem Ziel gegründet, den Betrieb und die bauliche Erhaltung der Mühle zu unterstützen…. Ach, man vergräbt sich in den Inhalten. Überhaupt könnte über beide Broschüren auch an dieser Stelle noch viel mehr geschrieben werden. Aber lesen Sie selbst, sind beide zusammen doch eine Einheit. Wie es auch Bürgermeisterin Dagmar Pohle im Geleit zur Heimatverein-Broschüre www.magazin-spätlese.net ! von 29 6 !
schrieb: “Ich habe die Chronik mit Gewinn gelesen, mich an Manches erinnert, was mir entfallen war, Neues entdeckt und erfahren und diese oder jene Erinnerung korrigiert auf Grund der gründlichen Recherche und Darstellung…“ Was ich selbst nur bestätigen kann, lebe ich mit meiner Familie doch seit August 1980 in einer der schönen Neubauwohnungen Marzahns. Aus dem Bezirk Jahrestage 2019 – September/Oktober von Kempen Dettmann Die Geschichte der Dörfer Marzahn, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf, die heute Bild: Hans-Jürgen Kolbe den Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf bilden, erweckt immer wieder das Interesse unserer Leser. Heimatmuseum Marzahn-Hellersdorf in der ehemaligen Dorfschule in Alt-Marzahn Alle fünf Ortsteile gehörten einst zum Landkreis Niederbarnim und wurden 1920 durch das Groß-Berlin-Gesetz nach Berlin eingemeindet. So ist es auch seit mehreren Jahren zu einer guten Tradition geworden, dass der Heimatverein Marzahn- Hellersdorf e.V. alljährlich ausgewählte Daten von Jahrestagen herausgibt. Es handelt sich um eine Übersicht von wichtigen Jahres- und Gedenktagen, die den Bezirk betreffen. Denn Marzahn und „seine Dörfer“ sind ja schon viel, viel älter als der jetzige Bezirk. Bedeutsame Ereignisse, die Entstehung historischer Bauten, Geburts- und Todestage bekannter Persönlichkeiten des Bezirks sind in dieser Zusammenstellung zu finden. Wir schauen in die Monate September und Oktober: 125 Jahre Am 1. September 1894 wird der Kaufmann Alexander Scheuer geboren. Er lebt seit etwa 1926 in Mahlsdorf und verlegt 1933 sein Woll-, Weiß- und Kurzwarengeschäft dorthin. Am 13. Januar wird er in das Getto Riga deportiert, am 2. November 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz verbracht und dort ermordet. Am 3. September 2018 wird für ihn ein Stolperstein vor seinem Haus in der Hönower Straße 213 verlegt. Der Maler und Kulturpolitiker Otto Nagel wird am 27. September 1894 geboren. Von 1951 bis zu seinem Tod 1967 lebt er in Biesdorf. 1968 wird die Königstraße nach ihm benannt, 1969 die Polytechnische Oberschule in der Schulstraße in Biesdorf. 100 Jahre Der Unternehmer Wilhelm von Siemens verstirbt am 14. Oktober 1919. Er ist seit 1889 Besitzer des von seinem Vater zwei Jahre zuvor gekauften Rittergutes und Schlosses Biesdorf. Seit 2000 trägt das Gymnasium an der Allee der Kosmonauten seinen Namen. 75 Jahre Der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime Hugo Härtig (KPD) aus Kaulsdorf wird am 11. September 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. 60 Jahre Am 10. Oktober 1959 wird im Schloss Biesdorf der erste Ostberliner Dorfclub eröffnet. Er verfügt www.magazin-spätlese.net 7! von 29 !
über einen Vortrags- und Konzertsaal, ein Fersehzimmer, eine Zweigstelle der Volksbücherei und eine Bauernstube als Tagungsraum. 40 Jahre Der VEB Elektroprojekt und Anlagenbau (EAB) verlagert am 14. September 1979 seinen Sitz in die Marzahner Rhinstraße. Am 2. August 1990 wird aus Teilen des EAB die Elpro AG gebildet. Eine Stele in Gestalt einer stilisierten Richtkrone wird am 24. Oktober 1979 an der Marchwitzastraße aufgestellt. Sie erinnert an das Richtfest, das am 2. September 1977 für das erste Gebäude der Großsiedlung Marzahn stattfand. Am 4. Oktober 1979 wird die erste kommunale Poliklinik Marzahns am Helene-Weigel-Platz fertiggestellt. 30 Jahre Im FreizeitForum an der Marzahner Promenade 55 wird am 15. Oktober 1989 die Schwimmhalle eröffnet. Die U-Bahn-Linie 5 fährt seit 30 Jahren bis Hönow. Was heute selbstverständlich ist, war damals ein Kraftakt, der durch den Bau der Großsiedlung Hellersdorf notwendig wurde. 20 Jahre Am 11. September 1999 wird die ehemalige Dorfschule Marzahn als Bezirksmuseum (heute: Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf) eröffnet. 10 Jahre Der Förderkreis „Freunde der Gärten der Welt“ gründet sich am 1. September 2009. Aus dem Bezirk Otto Nagel und sein 125. Geburtstag von Ursula A. Kolbe Der Berliner Künstler Otto Nagel, seit 1970 Ehrenbürger der Stadt, steht im Fokus des Bild: Marcel Gäding/lichtenbergmarzahnplus.de „Initiativkreis Otto Nagel 125“, um seines 125. Geburtstages am 27. September zu gedenken und Dr. Klaus Freier, Juliane Witt, Dana Wolfram, Dr. Heinrich Niemann (v.l.n.r.) vor dem Nagel-Bild „Wochenmarkt am sein Wirken als Maler, Publizist und Gesundbrunnen“ im Erdgeschoss von Schloss Biesdorf Kulturpolitiker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Dem Initiativkreis gehören der Verein „Freunde Schloss Biesdorf“, das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, das Otto-Nagel-Gymnasium, Familienangehörige, die beiden letzten noch lebenden Meisterschüler des Künstlers, das Bezirksamt Berlin-Mitte und das DDR-Kunstarchiv Beeskow an. Otto Nagel wurde am 27. September 1894 im Wedding geboren und lebte die letzten 15 Jahre seines Lebens in der Otto-Nagel-Straße in Biesdorf. Er hat die Berliner Kunstgeschichte mit geprägt, war im künstlerischen und gesellschaftlichen Anspruch mit Käthe Kollwitz und Heinrich Zille eng verbunden. So nahm er nach 1945 auch beim kulturellen Neuaufbau als Präsident der Akademie der Künste in der DDR einen wichtigen Platz ein. www.magazin-spätlese.net ! von 29 8 !
Zahlreiche Ehrungen Im Heino-Schmieden-Saal des Schlosses Biesdorf hatte Dr. Heinrich Niemann für den Initiativkreis das Programm vorgestellt. So finden am 27. September zu Ehren Otto Nagels zwei Festveranstaltungen statt: Vormittags ehren die Schülerinnen und Schüler des Otto-Nagel- Gymnasiums ihren Namenspatron in der Aula ihrer Schule, verbunden mit der erstmaligen Verleihung eines Otto-Nagel-Preises, berichtet Kunstlehrerin Dana Wolfram. Abends findet eine festliche Begegnung im Schloss Biesdorf unter Mitwirkung der Enkelin Salka Schallenberg und der Präsentation von Werken des Künstlers statt. Eine gute Idee ist auch, die entsprechenden Straßenschilder in Biesdorf mit seinen Lebensdaten zu ergänzen. Der Senat gedenkt an diesem Tag des Künstlers an seinem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde. Am 20. Oktober gibt es eine Stadtrundfahrt zu den Stätten des Lebens und Wirkens von Otto Nagel in Berlin. Darüber hinaus finden Vorträge, Lesungen und Führungen statt. Der Verlag Frey hat als „Wedding-Bücher 1 + 2“ zwei Bücher zu Otto Nagel neu aufgelegt. Würdigung vom Meisterschüler Übrigens war auch der 85jährige ehemalige Meisterschüler Ronald Paris mit seiner Frau Isolde aus Rangsdorf ins Schloss Biesdorf gekommen, um mit ein paar Erinnerungen aus den 60er Jahren an die Zeit mit seinem Lehrer zu dessen Lebenswerk beizutragen. So z.B., als er das alte Berlin in den 20er und 30er Jahren in seinem Weddinger Atelier gemalt hat: den Briefträger, die Nutte vom Nettelbeckplatz oder den Budiker von der Ecke. In all den Gesprächen mit den Schülern sei Nagel immer gerade, offen für alle gewesen, sagte Paris. Immer habe er die Verbindung zu den einfachen Menschen gesucht. Sein Anliegen sei gewesen, das, was man sehe und erlebe, direkt wiederzugeben, die direkte Betroffenheit des Gegenwärtigen. Dr. Klaus Freier, der stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Freunde des Schloss Biesdorf“, betonte, eines der langfristigen Ziele sei es, das künstlerische Schaffen Otto Nagels dauerhaft zu zeigen. Das sei noch ein sehr langer Weg. Kulturstadträtin Juliane Witt sieht in dem Projekt „Otto Nagel 125“ einen Impuls, der in die Welt hinaus getragen wird. Politik, Wirtschaft, Soziales Erzgebirge ist Weltkulturerbe von Hans-Jürgen Rudolf Erzgebirge/Krušnohoří als Weltkulturerbe anerkannt. So lautete die Erfolgsnachricht. Das Bild: epd Komitee der Unesco nahm das historische Bergbaugebiet in Sachsen und Böhmen in Bergleute im Bergbaumuseum Tschechien auf seiner letzten Sitzung in Aserbaidschan in die Liste schützenswerten Erbes der Welt auf. Diese von den beiden Ländern nominierte Stätte sei von universellem Wert. Delegierte sprachen von einem „Meisterwerk menschlicher Kreativität“. Kooperation von Tschechien und Deutschland Die Region wollte eigentlich schon vor wenigen Jahren das Unesco-Siegel erhalten. Nach Bedenken des Weltdenkmalrats (Icomos) wurde die Bewerbung aber zurückgezogen und www.magazin-spätlese.net ! von 29 9 !
überarbeitet. Nun klappte es nach 20 Jahren auf der Vorschlagsliste für den Welterbe-Titel. Die Region bewarb sich auf sächsischer Seite mit 17, auf tschechischer Seite mit 5 Bestandteilen um den Titel. Die ausgewählten Denkmäler, Natur- und Kulturlandschaften repräsentieren als Zeugen einer 800-jährigen Geschichte die wichtigsten Bergbaugebiete und Epochen des sächsisch-böhmischen Erzbergbaus. Hinter dem Antrag stehen drei Landkreise sowie 32 Städte und Gemeinden, die sich in einem Verein zusammengeschlossen haben, um das Erzgebirge zum Welterbe zu machen. Die Menschen – seit Jahrhunderten das Pfund der Region Erzgebirge Der Menschenschlag der Region war von Beginn an ein wesentlicher Baustein, der das Projekt erfolgreich auf den Weg brachte. Das unterstreicht Prof. Dr. Helmuth Albrecht von der TU Bergakademie Freiberg, der das Welterbeprojekt vor allem fachlich intensiv begleitete: „Es war von vorneherein klar, die Umsetzung der ersten Idee kann nicht von oben kommen, sondern muss aus den Menschen herauswachsen. Wir wollten Kommunen, Landkreise, Vereine, Ehrenamtliche und tschechische Partner mitnehmen. Das ist auch eine Erklärung dafür, dass der Prozess so lange dauerte. Stück für Stück konnten wir so die Politik überzeugen: die Menschen der Region wollen das Projekt. Und auch künftig wird unser Welterbe nur durch die hier lebenden Menschen vorangetrieben werden. Da bin ich guter Dinge – wir haben gezeigt, dass wir zusammenhalten können.“ Mehr als 1.000 Beteiligte haben in den Jahren das Vorhaben begleitet und unterstützt. Die Chancen – auf das Erzgebirge schaut die Welt Welterbe werden ist das eine, Welterbe sein das andere. Man habe jetzt die große Chance, das Thema mit Leben zu füllen und den Menschen auf der ganzen Welt zu zeigen, welche Schätze die Region hat. Und zwar nicht nur bergbauliche, sondern auch kulturelle und industrielle, die alle eng mit der mehr als 800-jährigen Bergbauhistorie verknüpft sind. So bringt der Welterbetitel nicht nur einen Schub für die Identifikation der Erzgebirger mit ihrer Heimat sondern auch enorme Chancen für eine Imageaufwertung durch ein weltweites Qualitätssiegel im Tourismus. Ines Hanisch-Lupaschko, Geschäftsführerin Tourismusverband Erzgebirge e. V. zeigt sich richtungsweisend: „Gemeinsam mit unseren touristischen Partnern und den Menschen in der Region ist es unser Ziel, diese interessante Weiterentwicklung nachhaltig zu gestalten, eine neue Qualitätsebene zu erreichen und erweiterte Gästekreise anzusprechen. Der gemeinsame Blick ist auf emotional authentische und erlebbare Angebote gerichtet, so dass ein Mehrwert für unsere Gäste geschaffen werden kann. Der Aufbau eines einheitlichen Qualitätssiegels wird als Prozess gesehen, der mit der Ernennung zum UNESCO-Welterbe beginnt und neue Impulse in der Region setzen wird.“ Gemeinsam wird man sich kommenden Herausforderungen stellen und sich gegenseitig unterstützen. Prof. Dr. Albrecht spricht von einem Touristischen Managementkonzept, bei dem die Konzentration auf die gesamte Region gesehen wird – „Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt“ und dies gilt nicht nur für die Menschen im Erzgebirge, sondern auch für die Gäste in der Erlebnisheimat. Politik, Wirtschaft, Soziales Das erste Auto feiert Geburtstag von Hans-Jürgen Rudolf/dpa-tmn Erst wurden Nähmaschinen und Fahrräder gebaut, doch vor 120 Jahren sattelte Opel auf die Produktion von Autos um. 1899 – vier Jahre nach dem Tod des Firmengründers Adam Opel – startete Sophie Opel auf den Rat ihrer Söhne Carl, Wilhelm und Friedrich die Autoproduktion. www.magazin-spätlese.net ! von 29 10 !
Bild: Dani Heyne/dpa Das erste Modell war eher eine Kutsche ohne Pferd – und zum Fahren des Patentmotorwagens System Lutzmann braucht man fast so viel Erfahrung wie ein Kutscher. Was in einer Werkstatt in Rüsselsheim mit insgesamt 65 handgefertigten Fahrzeugen begann, wurde zum Massenphänomen mit bis heute mehr als 70 Millionen Fahrzeugen. Wer in den Kindertagen des Automobils seinen Wagen starten wollte, der musste buchstäblich ein Flotte Fahrt im ersten Opel: Zwischen 25 und 30 km/h Kraftfahrer sein. Das weiß kaum jemand besser als waren im Patentmotorwagen System Lutzmann schon drin Joachim Zok aus der Klassik-Werkstatt von Opel. Und weil die Hessen in diesem Jahr 120 Jahre Automobilbau feiern, muss er gerade besonders oft die große Kurbel schwingen und darauf hoffen, dass der Einzylinder seines ältesten Falls anspringt. Denn Zok ist einer der wenigen in Rüsselsheim, die genau jenes Auto zum Laufen bringen, mit dem die Geschichte 1899 begonnen hat: den Patentmotorwagen System Lutzmann. Beginn der Fahrzeugproduktion 1899 Entwickelt hat Opel den Wagen nicht selbst, das Metier der Hessen waren erst Nähmaschinen und dann Fahrräder. Doch waren die Opels erfolgreiche Geschäftsleute mit gutem Riecher. Deshalb haben sie früh erkannt, wohin die Reise geht und entsprechend umgesattelt. Dazu hatte man die Patent-Motorwagen-Fabrik F. Lutzman aus Dessau gekauft. Der Vertrag dafür wurde nach Angaben des Unternehmens am 21. Januar 1899 unterschrieben, so dass Opel offiziell dieses Datum als Beginn der Fahrzeugproduktion feiert. Damit konnte sich der Hofschlossermeister, Automobilpionier und Konstrukteur Friedrich Lutzmann seinen Traum von der Massenproduktion erfüllen - selbst wenn Masse damals noch eine andere Bedeutung hatte. Denn bis zum Jahr 1901 sind gerade einmal 65 Patent-Motorwagen gebaut und verkauft worden, berichtet Opel-Klassik-Sprecher Uwe Mertin. Ausgehend vom damaligen Durchschnittslohn von 60 Mark, kostete der damals 2650 Mark teure Opel nach heutigen Maßstäben umgerechnet mindestens 100.000 Euro, so Mertin. Kein Auto sah aus wie das andere. Zwar stehen alle auf einem Rahmen aus Holz, haben den Motor im Heck, und ein kompliziertes System mit Lederriemen, Wellen, Ritzeln und Ketten übernimmt die Kraftübertragung zur Hinterachse. Doch die Zahl der Sitzplätze, Aufbau, Farbe und Antrieb sind unterschiedlich: Anfangs gab es den Wagen mit einem Zylinder, 1,5 Litern Hubraum und etwa 2 kW/3 PS, später wurde ein Zweizylinder mit 3 kW/4 PS eingebaut. Überlebt haben nach heutigem Wissen genau drei Exemplare. Leichte Bedienung Läuft der Wagen, ist er überraschend leicht zu bedienen. Die zwei Gänge wechselt man ohne groß zu kuppeln, das Tempo regelt man mit einem Hebel am Lenkrad, und die Bremse hat buchstäblich Hand und Fuß. Denn egal, ob man außen am Hebel zieht oder das kleine Pedal im Boden tritt, immer wirkt die Kraft auf den Transmissionsriemen - und verpufft fast unbemerkt. Wer nicht rechtzeitig in den Leerlauf schaltet, wird den Motorwagen schwerlich zum Stehen bekommen. Lausig kalt ist es auf dem Bock, der entfernt an eine Kutsche erinnert, nur dass der Fahrer hier hinten sitzt statt vorne und Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert ist. Daneben gibt es beim ersten Opel aber eigentlich nur ein echtes Problem: das Lenken. Denn vor dem Fahrer ragt an einer langen Stange senkrecht aus dem Wagenboden nur eine Kurbel hervor. Und man braucht schon reichlich Kraft, Geduld und Weitsicht, um den Lutzmann um die Kurve zu bekommen. Aber wer einmal versucht hat, eine Kutsche mit vier oder mehr Pferden zu lenken, der wird den Opel der ersten Stunde als Wunder der Wendigkeit anerkennen.Eine eigentliche Kupplung gibt es www.magazin-spätlese.net ! von 29 11 !
nicht. Der Schalthebel liegt unter der Lenkkurbel. Mit ihm können zwei Gänge gewählt oder der Leerlauf eingestellt werden. Die Riemenübertragung ist elastisch genug, um das Rucken beim Gangwechsel zu dämpfen. Auch ein Differenzial braucht es offenbar nicht: Niedrige Geschwindigkeiten, große Kurvenradien und robuste Vollgummireifen sorgen dafür, dass der Lutzmann die Linie hält. Und flott ist er obendrein, selbst wenn das Museumsstück noch den schwächeren Motor im Heck hat und auf gerade einmal 2,6 kW/3,5 PS bei 650 Umdrehungen kommt. "Mit ein bisschen Übung, Geschick und vor allem Mut schafft man 25 oder 30 Kilometer in der Stunde", sagt Zok. Inspektionen alle 15 Kilometer Einst war ein Unfall kein großer Schaden. Viele andere Autos, mit denen man hätte kollidieren können, gab es noch nicht, und Schäden am Lutzmann wurden unterwegs behoben. "Schließlich wurden die Kraftfahrer damals zumeist von Mechanikern begleitet", so Mertin. "Nicht zuletzt deshalb, weil Inspektionen nicht wie heute alle 15.000 oder 25.000 Kilometer, sondern alle 15 Kilometer fällig wurden." Und wer sich damals ein Auto leisten konnte, der hat sich ganz bestimmt nicht selbst die Finger am Ölkännchen schmutzig gemacht. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder Seit den Fünfzigern startete die Marke in allen Fahrzeugklassen durch – Modelle wie Opel Kadett, Rekord und Kapitän prägten die Zeit von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Es folgten Stilikonen wie Opel GT,Manta und Monza. In den Achtzigern und Neunzigern wurden Corsa, Astra und Zafira zu Bestsellern. Kultur, Kunst, Wissenschaft Zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts von Tristan Micke Alexander von Humboldt gilt als einer der Begründer Bild: wikipedia_eduard-ender der wissenschaftlichen Erdkunde, der Klimalehre, der Alexander von Humboldt und sein Begleiter Lehre vom Erdmagnetismus, der Meeres- und Bonpland am Orinoco Pflanzenkunde. Er erforschte den Vulkanismus und verfasste zahlreiche Schriften zu diesen Themen. Er ist einer der letzten Universalgelehrten und in der Welt einer der bekanntesten Deutschen. Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Seine Eltern waren der aus Pommern stammende preußische Offizier Alexander Georg und Marie Elizabeth von Humboldt. Er hatte noch den 1767 geborenen Bruder Wilhelm. Wegen seiner Verdienste im Siebenjährigen Krieg war sein Vater zum Kammerherrn der Kronprinzessin ernannt worden. Der Kronprinz, der spätere Friedrich Wilhelm II., war einer der Taufpaten Alexanders. Nach der Scheidung der Ehe des Thronfolgers im Geburtsjahr Alexander von Humboldts entfielen die Aufgaben des Vaters als Kammerherr und er zog sich ins Privatleben auf Gut und Schloss Tegel zurück. www.magazin-spätlese.net ! von 29 12 !
Ausbildung und Studium Dort kümmerte er sich um eine gute Erziehung und Ausbildung seiner Söhne durch Hauslehrer. Lange Zeit erschien Alexander seinen Erziehern als weniger befähigt als Bruder Wilhelm. Abstrakt aufbereiteter Lernstoff lag ihm weniger. Alexander zeigte besonderes Interesse an der Natur und beschäftigte sich mit Insekten, Pflanzen und Steinen. Er entwaf bereits als Zehnjähriger Karten zum Planetensystem und von Amerika. Dieser Beschäftigung ging er zusätzlich zum Unterricht nach, sodass er schließlich ein größeres Stoffpensum bewältigte als Bruder Wilhelm. Von Vorteil war dabei sein Zeichen- und Maltalent, welches unter Anleitung von Daniel Chodowiecki im Kupferstechen und Radieren geschult wurde. 1786 stellte er in der ersten Kunstausstellung der Berliner Akademie seine Werke der Öffentlichkeit vor. Nach dem Tod des Vaters ging die Planung der Erziehung von Wilhelm und Alexander an die Mutter über. Bei verhältnismäßig bescheidener eigener Lebensführung war ihr Ziel, den Söhnen zu bedeutenden Posten im Staatsdienst zu verhelfen. 1787 gingen beide Söhne nach Frankfurt/Oder an die Viadrina. Wilhelm studierte dort Jura, Alexander Staatswirtschaftslehre. Nebenbei hörte Alexander Altertumswissenschaften, Medizin, Physik und Mathematik. Mit dem Theologiestudenten Wilhelm Gabriel Wegener schloss Alexander von Humboldt 1788 einen "ewigen Freundschaftsbund". Weil er außerdem unverheiratet blieb, wird in einem Teil der Forschungsliteratur die Meinung vertreten, dass Alexander von Humboldt homosexuell gewesen sei. In Frankfurt/Oder offenbar akademisch unterfordert, ging Alexander von Humboldt nach einem Semester wieder zurück nach Berlin. Hier ließ er sich von Carl Ludwig Willdenow in Botanik ausbilden. 1789 immatrikulierte er sich an der Universität Göttingen. 1790 schloss Humboldt das Manuskript seiner Publikation über einige Basalte am Rhein ab. Von Ende März bis Juli 1790 unternahm er zusammen mit dem Naturforscher Georg Förster eine Forschungsreise von Mainz über den Nordrhein nach England und zurück über Paris. Danach setzte Humboldt seine Ausbildung in Staatswirtschaftslehre an der Hamburger Büsch-Akademie fort. Karriere im Staatsdienst 1791 schlug Alexander von Humboldt den Weg als Bergbeamter im Staatsdienst ein. Dazu war noch ein Studium an der Bergakademie in Freiberg nötig. Er erforschte die Pflanzenwelt unter Tage und befasste sich mit den chemischen Problemen der Verbrennung. 1792 erhielt er ein Patent als Bergassessor und wurde mit der Untersuchung des Lotharheiler Schiefers betraut. Bereits nach einem halben Jahr erfolgte die Beförderung Humboldts zum Oberbergmeister. Er wurde mit der Sanierung des Bergbaus im Fichtelgebirge und im Frankenwald beauftragt. Im Fichtelgebirge endeckte er, dass der Haidberg bei Zell teilweise aus stark magnetisiertem Gestein besteht und bezeichnete ihn als "Magnetberg". Humboldt modernisierte den Abbau von Silber, Nickel, Zinn, Eisen und Alaunschiefergestein in der Region Bayreuth sowie den Goldbergbau in Goldkronach, wodurch sich auch die Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter verbesserten. Humboldt entwickelte eine Atemschutzmaske und verbesserte die Sicherheit der Grubenlampen. In Steben gründete er eine Bergschule, die erste Arbeiter-Berufsschule in Deutschland. 1794 traf Alexander von Humboldt in Jena Johann Wolfgang von Goethe. Beide Männer waren daraufhin eng befreundet. Im selben Jahr wurde Humboldt Bergrat und 1795 Oberbergrat. Um sich seinen Forschungen zu widmen, bat er aber den preußischen König um Entlassung aus dem Dienst im Bergbau. Er befaßte sich nun mit Mykologie und der "tierischen Elektrizität". Weltreisen Durch den Tod seiner Mutter war Alexander von Humboldt zu einem vermögenden Erben geworden. Jetzt konnte er seine erträumten Forschungsreisen unternehmen. Er nahm dabei die modernsten Instrumente mit: www.magazin-spätlese.net ! von 29 13 !
Amerikanische Forschungsreise 1799-1804 Humboldt sammelte in Amerika Pflanzen und Fossilien, studierte die Düngeeigenschaften von Guano (Vogelkot); betrieb geographische und geologische Forschungen, protokollierte ein heftiges Erdbeben und machte astronomische Beobachtungen. Ihm ging es dabei vor allem um das "Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt." Auf seiner Reise musste Humboldt immer wieder die grausame Behandlung der Sklaven beobachten, was ihn zu einem entschiedene Gegner der Sklaverei machte. Zum Ende der Reise war Humboldt zu Gast bei Präsident Thomas Jeffersen in Washington und in Philadelphia. Nach seiner Rückkehr lebte Humboldt 20 Jahre in Paris, der damaligen Hauptstadt der Wissenschaft. Dann zwangen ihn finanzielle Engpässe zurück nach Berlin. Sein zwischen 1805 und 1839 entstandenes 34-bändiges Reisewerk, welches unvollendet blieb, hatte ihn ruiniert. Russlandexpedition (1829) Die Expedition führte Alexander von Humboldt über Moskau, Kasan, Perm nach Jekaterinburg. Die Route ermöglichte geologische Forschungen und ein reichhaltiges Sammeln von geologischem Material. Auf dieser Reise verbrachte Humboldt seinen 60. Geburtstag. Der Zarin sagte Humboldt Diamantenfunde im Ural voraus, die dann tatsächlich eintraten. Lebensende Wegen seines guten Gespürs für den Umgang mit Menschen wurde Alexander von Humboldt von Preußen mehrmals in diplomatischen Missionen eingesetzt. 1848 hatte die Revolutionswelle auch Deutschland erreicht. Humboldt begrüßte zwar das Streben nach Reformen, lehnte jedoch das brutale Vorgehen der Revolutionäre ab. Er nahm aber an ihrer Siegesfeier Teil und lief an der Spitze des Trauerzuges der Märzgefallenen mit. Bis kurz vor seinem Tode arbeitete Humboldt an seinem 1834 begonnenen Lebenswerk, dem "Kosmos", in dem er das gesamte Wissen der Welt vereinen wollte. Am 6. Mai 1859 starb Humboldt verarmt in seiner Berliner Wohnung in der Oranienburger Straße 67. Sein Vermögen hatte er in seine Forschungen investiert. Beigesetzt wurde Alexander von Humboldt im Familiengrab im Schlosspark von Tegel, einem Ehrengrab der Stadt Berlin. Kultur, Kunst, Wissenschaft Zeitgenössische Kunst wieder im Berliner Fokus von Ursula A. Kolbe Die Berlin Art Week – Zum nunmehr achten Mal lädt Bild: dpa sie die Berliner und Gäste aus aller Welt zu einem vielfältigen Programm aus Messen, Ausstellungen, Urban Interventions, Preisverleihungen und Sonderausstellungen an bewährte und neue Orte ein. Zwei Messen, 17 Museen und Ausstellungshäuser, 15 Privatsammlungen, 20 ausgewählte Projekträume und zahlreiche Galerien machen die Hauptstadt zu einem internationalen Treffpunkt der zeitgenössischen Kunst. „Mit der Berlin Art Week gelingt es jedes Jahr aufs Neue, die verschiedensten Akteure der Berliner Kunstszene zusammenzubringen“, so Moritz van Dünen, Geschäftsführer der landeseigenen Kulturprojekte GmbH, „Das eigene Engagement der unterschiedlichen Partner, ein vielfältiges Programm und der rege Zuspruch der Besucherinnen www.magazin-spätlese.net ! von 29 14 !
und Besucher unterstreichen die Bedeutung Berlins als internationalen Kunst- und Kulturstandort, an dem aktuelle Themen der zeitgenössischen Kunst verhandelt werden.“ Erneut stehen auch die beiden jährlich zu Berlin Art Week stattfindenden Kunstmessen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die art berlin zeigt im dritten Jahr der Kooperation mit der Art Cologne junge sowie international etablierte Galerien in den Hangars 5 und 6 des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Die sechste Ausgabe Positions Berlin Art Fair präsentiert im Hangar 4 ausgewählte Galerien mit künstlerischen Positionen der zeitgenössischen und modernen Kunst. Gleich mehrere Ausstellungshäuser beschäftigen sich im 30. Jahr des Mauerfalls thematisch mit den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte. Ausgehend von der eigenen Lage am ehemaligen Grenzverlauf zeigt der Gropius Bau in Durch Mauern Gehen internationale künstlerische Perspektiven auf von Menschen geschaffene Barrieren, Trennungen und Grenzen. So zeigt die Ausstellung No Photos on the Dance Floor! bei C/O Berlin anhand namhafter Arbeiten aus Fotografie, Video und Film einzigartige Bilder der Berliner Clubkultur der vergangenen 30 Jahre. Das Gesehene wird abends mit bekannten DJs, Sound- und Visual Artists erfahrbar. Den stadtpolitischen Veränderungen und architektonischen Transformationsprozessen in Berlin zwischen 1989 und 2019 spürt die Ausstellung Politik des Raums im Neuen Berlin im n.b.k. nach. Im zentral gelegenen Haus der Statistik am Alexanderplatz findet das Projekt Statista statt. Die Die Kooperation zwischen dem ZK/U—Zentrum für Kunst und Urbanistik und dem KW Institute for Contemporay Art bestimmt mit mehreren Künstlerkollektiven in zehn Aktionsfeldern, wie sich ein auf Gemeingütern basierende Stadtgesellschaft entwickeln lässt. Weitere Höhepunkte sind die Ausstellungen von Bettina Poustchi in der Berlinischen Galerie, von Bjorn Melhus im Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst, von Christopher Kulendran Thomas in Kollaboration mit Annika Kuhlmann im Schinkel-Pavillon, die Gruppenausstellung Magic Media – Media Magic.Videokunst seit den 1970er Jahren aus dem Archiv Wulf Herzogenroth in der Akademie der Künste, die Gegenüberstellung Pablo Picasso x Thomas Scheibitz im Museum Berggruen sowie Ernst Ludwig Kirchner, Gerhard Richter und Jonas Burgert im me Collectors Room. Einzelausstellungen von Anna Virnich in der Schering Stiftung, Iman Issa in der daadgalerie, Tobias Dostal im Haus am Lützowplatz sowie Christina Ramberg im Dialog mit weiteren künstlerischen Positionen ergänzen das vielseitige Ausstellungsprogramm. Darüber hinaus startet das Haus der Kulturen der Welt das diskursive Veranstaltungsprogramm Körper lesen! Corpoliteracy in Kunst, Bildung und Alltag. Die Berliner Festspiele gehen nach dem erfolgreichen Auftakt im letzten Jahr im Rahmen ihrer Programmreihe Immersion hinaus in den Stadtraum und bespielen zur Berlin Art Week mit ihrem Projekt The New Infinity – Neue Kunst für Planetarien und dem Künstlerkollektiv Metahaven erneut den Mariannenplatz. Die nGbK verwandelt U-Bahnhöfe der Stadt mit Kunst im Untergrund – Up in Arms in einen urbanen Ausstellungsraum. Überhaupt gewähren vom Bunker bis zur Privatwohnung 15 Privatsammlungen mit Sonderöffnungszeiten exklusive Einblicke in ihre Sammlungsbestände. Daran beteiligen sich Collection Regard, EAM Collection, Fluentum, haubrok foundation, Julia Stoschek Collection Berlin, Kienzle Art Foundation, Kunstsaele Berlin, Miettinen Collection / Salon Dahlmann, Museum Frieder Burda / Salon, Sammlung Boros, Sammlung Ivo Wessel, SOR Rusche Sammlung, The FeuerleCollection und Wurlitzer Pied à Terre Collection. Zum 10. Mal fördert der Preis der Nationalgalerie, für den 2019 Pauline Curnier Jardin, Simon Fujiwara, Flak Haliti und Katja Novitskova nominiert sind, eine bedeutende, junge Position der Gegenwartskunst. Der Preis der Nationalgalerie wird ebenso wie der VBKI-Preis Berliner www.magazin-spätlese.net ! von 29 15 !
Galerien und der Berlin Art Prize während der Berlin Art Week verliehen. Die diesjährigen Partner sind art berlin, Positions Berlin Art Fair, die Akademie der Künste, Berliner Festspiele/Immersion, Berlinische Galerie, C/O Berlin, daadgalerie, Gropius Bau, Haus am Lützowplatz, Haus der Kulturen der Welt, Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst, KW Institute for Contemporary Art, me Collectors Room, Nationalgalerie – Staatliche Museen – Berlin mit Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart und Museum Berggruen, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), Schering und Schinkel Pavillon sowie das Projekt Atatista, eine Kooperation zwischen dem ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik und den KW Institute for Temporary Art. Auch zahlreiche Privatsammlungen und Projekträume sind wieder mit dabei. Kultur, Kunst, Wissenschaft Ein „Scherz-Keks“ im Fokus von Kathrain Graubaum Die Jugend kichert albern, witzelt und spottet – „... und das ist gut so“, hätte wohl der Dichter Johann Bild: Kathrain Graubaum Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) gesagt. Nach Porzellangruppe von Johann Peter Melchior dem Motto „versäumte Freuden sind „Der Hahnrei im Weinfass“ (aus 1770/75) unwiederbringlich“– wurde der junge Gleim für seine Scherzlieder und für seine exzessive Freundschafts- und Geselligkeitskultur berühmt. Anlässlich des 300. Geburtstages des Dichters zeigt das Halberstädter Literaturmuseum Gleimhaus die Ausstellung „Scherz – Die heitere Seite der Aufklärung“. Das trendy T-Shirt mit der Aufschrift YOLO hat den Weg nach Halberstadt in eines der ältesten deutschen Dichtermuseen gefunden: in das einstige Wohnhaus von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 -1803). YOLO, die Buchstaben für „you only live once“, kennt heute beinahe jede und jeder im jugendlichen Alter. Aber wer kennt Gleim? Aufklärung des Verstandes und der Aufheiterung Allenfalls ältere und zudem literaturinteressierte Generationen haben vom „Vater“ Gleim gelesen oder gehört. Heute würde man sagen: Gleim war der Begründer des analogen Facebook: Er pflegte mehr als 550 Freundschaften und sammelte all die Briefe, die so rege hin und her geschickt wurden. Er ließ über 150 Porträts malen und arrangierte sie in seinem Wohnraum zu einem Freundschaftstempel. Der ist bis heute das Herz des Dichterhauses. So hatte er seine Freunde auch zwischen den Ereignissen der persönlichen Begegnung um sich. Denn die geselligen Runden waren ihm und seinen Gleichgesinnten noch wichtiger als das Briefeschreiben. Von heiteren Kostümfesten, neckischen Rollenspielen und vergnüglichen Tändeleien ist in den Korrespondenzen aus jener Zeit zu lesen – wie auch vom lustvollen geistigen Austausch über Literatur und Kunst. Das 18. Jahrhundert war eben nicht nur die Epoche der Aufklärung des Verstandes,sondern auch der Aufheiterung des Gemütes. Gerade im 300. Geburtsjahr von Johann Wilhelm Ludwig Gleim nimmt in Halberstadt das Museum der deutschen Aufklärung den jungen Dichter in den Fokus – und stellt Bemerkens- wie Staunenswertes ins Rampenlicht: Schon Gleim propagierte „you only live once – Du lebst nur einmal“ als Lebensgefühl und gab YOLO als heitere www.magazin-spätlese.net ! von !29 16
Aufforderung weiter: Genieße das Leben mit all seinen Facetten. Nutze jeden Tag als Chance zum Spaß haben und fröhlich sein. Lebe im Moment. Die heitere Seite der Aufklärung So empfangen denn auch zwei geöffnete Bücherschränke mit Kichern und Räuspern die Besucher der Ausstellung „Scherz – Die heitere Seite der Aufklärung“. Alle Bücher, die in diesen Schränken stehen, haben den „Scherz“ in ihrem Titel – und haben unsichtbare Leser, deren Glucksen zu hören ist. Mit seinem Debüt „Versuch in scherzhaften Liedern“ wurde der junge Gleim 1744 zum Star in der Literaturszene. In Halle hatte er Jura studiert, war gerade nach Berlin gezogen und als 25-Jähriger sehr zum Spaßen und Spotten aufgelegt. Er wurde mit weiteren Scherzliedern über Wein, Liebe und Lebensfreude zum Trendsetter; entsprach die neue jugendliche Lebenslust doch der Befreiung von einer verstaubten Religion, die glauben machte, erst im Jenseits sei die Existenz schön. Gleim brachte die scherzhafte Dichtung in Mode – nach Vorbildern aus verschiedenen Epochen: Aristoteles, Epikur und vor allem der griechische Lyriker Anakreon. Die Büsten aller vier Dichter weisen als illustres Quartett den Ausstellungs-Weg in das 18. Jahrhundert der Aufklärung, der Freundschaft, des Briefes – und eben auch des Scherzes. Ein scherzhafter Ton beflügelt die Geselligkeit – die Halberstädter Domherren, den irdischen Vergnügungen zugeneigt, wollten vermutlich auch darum Gleim als Sekretär für ihr Domstift. Denn dem jungen Juristen in Berlin war der Ruf des lustigen Vogels voraus nach Halberstadt geeilt. 1747 ließ sich Gleim mit einer dauerhaften Anstellung in den Vorharz locken. Der ungezwungene Aufenthalt in der „unverbildeten“ Natur entsprach so ganz seiner Künstlerseele. Nuretwas einsam fühlte er sich hier. So besann er sich auf sein Talent als Netzwerker und scharte einen illustren Kreis Gleichfühlender um sich. Nicht nur in der Lyrik, auch in der Musik (man denke an das Scherzo), in Malerei und Grafik sowie in der Gestaltung von Porzellanplastiken nahm sich die ungebremste Daseinsfreude im Diesseits ihren Raum. Die Ausstellung im Halberstädter Literaturmuseum baut die Brücken, über die der Besucher Zugang findet zur heiter bis spöttischen, versteckten wie offenen Darstellung der „Lebensgelüste“ in den Künsten zur Jahrhundertmitte des Rokoko. Die „Vergnügungen der Jugend“ sind ein typisches Thema jener Zeit. Exponate aus bedeutenden öffentlichen wie privaten Sammlungen aus Deutschland und der Schweiz sowie aus dem Kunsthandel laden die Besucher der Ausstellung zum „Schäferstündchen“ ein. Denn zumeist sind die fröhlichen Begegnungen, die geselligen Spiele, die amourösen Abenteuer und Flirts in einer idyllisch-friedvoll wirkenden Natur angesiedelt, in einem vermeintlich ländlich-einfachen und sorgenfreien Leben der Schäfer und Hirten. Aus den Porzellan-Manufakturen Meißen, Ludwigsburg und Höchst kamen zu jener Zeit Schäfer und Liebesgruppen, deren Motive in ihrer Zweideutigkeit bis heute verstanden werden. Man erinnert sichschmunzelnd an die Metapher etwa für Vogel und Vogelbauer, für Flöte und Ziegenbock. Auch Amor taucht immer wieder als scherzhafter Gott auf, um sein (hinter)listiges Werk zu verrichten. Ebenso die Rokoko-Malerei und -Grafik etwa von Bouchet, Lancret und Pater vermittelt vergnügliche Atmosphäre in naturnahen Landschaften. Neben dem Schäferstück ist das Blindekuh-Spiel unter Mitwirkung von Amor ein beliebtes Motiv. Und wen wundert‘s, dass auch Gläser und Kelche, Kannen und Tassen für die geselligkeitsstiftenden Getränke mit kunstvoll eingravierten „rauschhaften“ Motiven verziert wurden. Wer sich auf Scherz-Suche nach Halberstadt ins Gleimhaus begibt, mag erstaunt sein über eine Erkenntnis: Die brandaktuelle und Ratgeber-füllende Frage, wie es gelänge, mehr im Hier und Jetzt zu leben, ist nicht erst ein Produkt unserer heutigen Zeit. Zu sehen ist die Ausstellung noch bis 15. September 2019. www.magazin-spätlese.net ! von 29 17 !
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