In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter

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In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
Paradoxie willkommen

In der Ungewissheit handlungsfähig
bleiben oder mit
dem Autopiloten ins Unwetter
Von Hans A. Wüthrich, Dirk Osmetz, Stefan Kaduk

                         Das Ende der Gewissheit: Täglich erleben wir Unsicherheit,
                         Unübersichtlichkeit, Unschärfe und Unkontrollierbares.
                         In der Managementrhetorik verabschieden wir uns von der
                         stabilen und eindeutigen Welt. Doch unser tägliches
                         Handeln in Organisationen steht in krassem Gegensatz
                         dazu. «Mehr desselben» lautet das Reaktionsmuster im
                         alltäglichen Wahnsinn. Bessere Konzepte, neue Tools und
                         effizientere Stellschrauben werden verlangt. Dieses
                         Muster erscheint umso reizvoller, je mehr wir uns unsicher
                         fühlen und uns die Beherrschbarkeit abhanden kommt.
                         Technokratisch geschult versuchen wir, mit einer kausalen
                         Logik immer neue Wege zur Beherrschung komplexer
                         Systeme zu finden.

                         Im Rahmen eines vierjährigen, von der Stiftung der
                         Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und
                         Management unterstützten Forschungsprojektes an der
                         Universität der Bundeswehr in München konnten wir
                         sieben Führungsmuster identifizieren, die immer wieder
                         angewandt werden – meist ohne sie zu hinterfragen.

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In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
Muster 1:                                              Muster 5:
Führung muss steuern!                                  Führung muss den kurzfristigen Erfolg
Der Kapitän gehört auf die Brücke.                     suchen! Langfristig sind wir alle tot.
Spätestens in Krisenzeiten muss die Führungs-          Bei allen Forderungen nach Nachhaltigkeit: Das
kraft das Ruder übernehmen und klare Marsch-           Problem tritt jetzt auf, die Lösung muss hier und
routen ausgeben, und pragmatische Massnah-             heute erbracht werden. Es hilft wenig, wenn
men sollen das Unternehmen wieder auf Kurs             Unternehmer und Führungskräfte volle Auftrags-
bringen. Einen Kurs, den nur die kennen, die           bücher für die nächsten zwei Jahre vorweisen
über die notwendige Information verfügen und           können, aber nicht in der Lage sind, kurzfristige
die Zugang zu den relevanten Schalthebeln              Forderungen zu erfüllen oder anstehende Mitar-
haben.                                                 beitergehälter zu zahlen.

Muster 2:                                              Muster 6:
Führung muss kontrollieren!                            Führung muss beschleunigen!
Vertrauen hat seine Grenzen.                           Zeit ist Geld.
Aufgrund der vielen unterschiedlichen An-              Der Zeitwettbewerb lässt uns keine Wahl, wir
spruchsgruppen und der begrenzt verfügbaren            müssen uns mit der Geschwindigkeitsspira-
Information braucht es klare Regeln, nach denen        le drehen. Spätestens seit Frederick Winslow
die Systeme ausgelegt werden. Die Regeln sind          Taylor, der mit der Stoppuhr in der Hand sein
nur sinnvoll, wenn ihre Einhaltung kontrolliert        «Scientific Management» begründete, ist es ein-
wird. Ohne Kontrolle und Überwachung bleibt            deutig: Zeit ist der entscheidende Faktor im wirt-
jeder Regelverstoss folgenlos, dem «Systemver-         schaftlichen Wettbewerb. Mit Sorge blicken wir
fall» werden Tür und Tor geöffnet.                     nach Asien und müssen uns eingestehen, dass
                                                       sich das Rad dort viel schneller dreht. Es gilt:
Muster 3:                                              «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!»
Führung muss standardisieren!                          und «Wer bremst, verliert!»
Skaleneffekte durch Normierung.
Wie sollte Führung anders funktionieren als            Muster 7:
mittels Standards und Normen? Es braucht               Führung muss sich an Rahmenbedingungen
Fixpunkte, an denen man sich orientieren kann.         orientieren! Man kann nicht alles ändern.
Nur so ist Vergleichbarkeit möglich. Ohne einen        Ein System wie das Wirtschaftssystem ist in
Standard der Messbarkeit und der Referenz              einen äusseren Rahmen eingebettet, und es wäre
könnten zwar Individuen interagieren, die Ver-         ausgesprochen naiv zu glauben, wir könnten uns
netzung des Wirtschaftssystems im Gesam-               mit den eigenen begrenzten Möglichkeiten diesem
ten würde jedoch funktionsuntüchtig sein. Erst         entziehen. Sicherlich wären viele Manager bereit,
durch normierte und standardisierte Tätigkeiten        sich vermehrt dem sozialen Engagement zu wid-
konnte die industrielle Revolution eingeleitet         men, neueste Umweltstandards einzuhalten oder
werden, wurden Fliessproduktion und Arbeits-           sich dem aggressiven Preiskampf zu widerset-
teilung ermöglicht.                                    zen, dabei könnten sie Gefahr laufen, selbst auf
                                                       der Strecke zu bleiben. Die Umstände lassen ein
Muster 4:                                              abweichendes Verhalten einfach nicht zu.
Führung muss rational entscheiden!
Gefühle haben keinen Platz.                            In der Ungewissheitsgesellschaft muss der Er-
Wo würden Unternehmen stehen, wenn sie nicht           folg dieser Führungsmuster jedoch begrenzt
durch bewährte rationale Entscheidungsmetho-           bleiben. Organisationen bestehen aus Men-
den klare Abwägungen träfen und den Nutzen             schen und zeichnen sich durch Nichtlinearität so-
messbar machten? Wie liessen sich schlüssige           wie Vernetzung aus. Verlässliche linear-kausale
Antworten auf die anstehenden Fragen finden?            Wirkungszusammenhänge wünschen wir uns
Mit Hilfe systematischer Datensammlungen und           vergebens. Deshalb lohnt es sich, die Führungs-
-vergleiche gelingt die Objektivierung. Rationalität   muster und antrainierten Reflexionsblockaden
schafft zudem Akzeptanz und führt zu besten            auf den Prüfstand zu stellen. Die Forderung nach
Lösungen.                                              einem radikalen «Musterbruch» liegt nahe, und
                                                       die Lösung scheint im jeweiligen Gegenmuster

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In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
zu liegen. Was wären die Konsequenzen? Füh-         Nicht-Steuerbarkeit steuern
                     rung würde auf jegliche Steuerung verzichten        Nach wie vor sollten wir den Versuch unterneh-
                     und allem blind vertrauen. Synergien wären          men, unsere Systeme zu steuern. Auch wenn
                     belanglos. Entschieden würde nach Gefühl. Si-       das natürlich nicht funktionieren kann, weil wir es
                     tuationen und ihre Chancen blieben ungenutzt,       – spätestens dann, wenn der Mensch ins Spiel
                     denn Führung wäre in der Zukunft gefangen.          kommt – nicht mit trivialen Maschinen zu tun
                     Führung würde nach Stillstand streben und           haben. Steuern ja, aber im Bewusstsein, dass
                     Sachzwänge ignorieren. Wir kämen mit den Ge-        erstens ein gewünschtes Ergebnis niemals kausal
                     genmustern also vom Regen in die Traufe.            herbeigeführt werden kann und dass zweitens
                                                                         stets unklar ist, wer überhaupt steuert. Das Ma-
                                                                         nagement, das System selbst oder beide.
                     Führen im Sowohl-als-auch-Prinzip:
                     Sie werden wahrscheinlich fragen: Was sollen
                     wir denn tun? Steuern oder loslassen? Miss-         Vertrauter Kontrolle misstrauen
                     trauen oder vertrauen? Normieren oder Vielfalt      Viele Unternehmen sind augenscheinlich Miss-
                     zulassen? Doch genau von diesem Dualismus           trauensorganisationen, die eher den Kontroll-
                     des Entweder-oder-Prinzips wollen wir uns ver-      systemen, weniger aber ihren Mitarbeitenden
                     abschieden. Wir entwickeln kein neues Muster        vertrauen. Alles und noch mehr ist geregelt
                     auf gleicher Ebene und plädieren nicht für ein      – Prophylaxe für den Worst Case! Aber auch-
                     Fallenlassen veralteter Ideologien. Vielmehr        grenzenloses Vertrauen wäre utopisch und naiv.
                     möchten wir neue Möglichkeiten im Sowohl-           Die wirkliche Herausforderung besteht darin zu
                     als-auch-Muster skizzieren. Im Arbeitsleben         akzeptieren, dass das meiste unkontrolliert ge-
                     sind wir täglich mit Paradoxien konfrontiert. So    schieht und dass die gewohnten Kontrollinstru-
                     bemühen wir uns etwa um eine verlässliche           mente eine trügerische Gewissheit vermitteln.
                     Planung und wollen wissen, wie die Zukunft aus-     Werfen wir also einen misstrauischen Blick auf
                     sehen wird. Doch das könnte nur gelingen, wenn      die typischen Kontrollinstanzen, die man im
                     die Welt determiniert wäre und wir deren Ge-        eigenen Umfeld manchmal nicht mehr sofort
                     setze kennen würden. Die Folge wäre: Es gäbe        erkennt.
                     keine Spielräume mehr, Planung würde zur Vor-
                     hersage und das Ergebnis wäre eindeutig – für
                     alle. Eine langweilige wie utopische Vorstellung.   Vielfalt standardisieren
                                                                         Standardisierung ist hochgradig sinnvoll. In
                     In unserem Forschungsprojekt haben wir über         Deutschland wird der volkswirtschaftliche Nut-
                     40 «Musterbrecher» analysiert, denen es ge-         zen von Normen auf 15 Milliarden Euro pro Jahr
                     lingt, mit Paradoxien sinnvoll umzugehen und aus    geschätzt. So überrascht es nicht, dass Führung
                     einer anderen Haltung heraus zu führen. Dazu        heute grossenteils auf Normierung und Standar-
                     gehören folgende Beispiele: der Abtprimas des       disierung der Systeme und der Mitarbeitenden
                     Benediktiner-Ordens, der ehemalige Bürger-          abzielt. Beherrschbarkeit ist das Ziel, Gleichheit
                     meister der Zwei-Millionen-Stadt Curitiba in Bra-   das Mittel. Leider führt das oft zu anfälligen
                     silien, die Chefredakteurin des Wirtschaftsma-      Monokulturen. Der paradoxe Ausweg: ständiges
                     gazins «brand eins», die Gründerin der «Berliner    Hinterfragen – sowohl der Vielfalt als auch des
                     Schule für Bühnenkunst und unternehmerische         Standards selbst. Denn eine starre ideale Posi-
                     Fähigkeiten», den ersten deutschen Offizier im       tion zwischen Standard und Vielfalt kann es nicht
                     Kosovo-Einsatz, den Pionier der beziehungsorien-    geben.
                     tierten Altenpflege der Caritas, den Miterfinder
                     der «Sendung mit der Maus», den ehemaliger
                     Chef des Zürcher Zoos sowie diverse Unterneh-       Rational(e) Gefühle zulassen
                     mer und Manager aus Firmen wie beispielsweise       Das Management strebt traditionell nach ratio-
                     betapharm, PA Consulting Group, RWE Rhein-          nalen Entscheiden, es ist auf der Suche nach dem
                     Ruhr AG, Lantal Textiles, W. L. Gore & Associ-      «Goldenen Schnitt». Wenn wir genauer hinse-
                     ates. Die Analyse der genannten Beispiele er-       hen, wird jedoch klar: Rationalität benötigen wir
                     gab, dass Manager lernen müssen, sinnvoll und       primär zur nachträglichen Begründung emotional
                     produktiv mit sieben Paradoxien umzugehen:          bereits getroffener Entscheidungen. In letzter

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In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
Konsequenz bestimmen wir über unsere indivi-         da jede beliebige Regel gebrochen werden kann.
duelle Rationalität. Wir legen fest, mit welcher     Die Frage ist: Wie hoch ist der Preis dafür? Die
Rationalität wir unsere Entscheidungen begrün-       wichtigste Erkenntnis dabei ist, wir selbst sind
den. Allein diese rein rationale Überlegung zwingt   unser grösster Sachzwang.
uns, der Emotionalität mehr Raum zu geben.
                                                     Die genannten Paradoxien teilweise anzuwenden
                                                     ist unausweichlich, um nicht pathologisch zu
Kurzsichtig weit blicken                             enden. Dies ist primär eine Frage der Haltung
Führung muss mit dem Hier und Jetzt zurecht-         und keine Frage der Tools.
kommen. Oft wird verständlicherweise die ak-
tuelle Problemsituation zum Brennpunkt. Dies
hat zur Folge, dass kaum noch etwas ernsthaft        Lernen von «Musterbrechern»:
hinterfragt wird. Es regiert der kurzfristige Re-    Wenn wir im Folgenden an einigen Stellen auf
flex. Wir irren jedoch zu glauben, es gebe keine      die Erlebnisse mit diesen, von uns so bezeichne-
Alternative zu einem Muster der Schnellschüsse.      ten «Musterbrechern» verweisen, tun wir dies
Schliesslich erfordert professionelles Handeln       nicht, weil wir damit Erfolgsstorys präsentieren
zwingend strategisch-nachhaltige Überlegungen.       wollen. Den Masterplan zum «Musterbruch» gibt
Taktisches Geschick und operative Effizienz           es nicht. Den Weg in die Paradoxie zwischen
alleine führen nicht zum Ziel. Es gilt also sowohl   sieben Mustern und Gegenmustern muss jeder
kurzfristig-opportunistisch als auch nachhaltig      selbst wählen und gehen. Hier einige Beispiele,
zu agieren. Das ist nicht neu, weshalb die para-     die einen kleinen Einblick geben:
doxe Ergänzung lautet: Wenn Nachhaltigkeit ein
bewegliches Ziel bleibt und nicht bloss ein Fest-      Es geht nicht mehr darum, nachträglich zu
halten an Altem bedeutet, ist sie die Vorausset-       erklären, was gestern anders war, als wir vor-
zung für kurzfristig-opportunistisches Handeln.        gestern geplant hatten.

                                                     • Jan Wallander, neuer Direktor der Svenska
Im Beschleunigen innehalten                            Handelsbanken, hat in der grössten Unterneh-
Durch eine noch bessere Terminplanung hoffen           menskrise der Bank 1970 die Planungs- und
wir, dass wir die Zeit in den Griff bekommen. In       Steuerungseinheit zerschlagen und komplett
Wahrheit ist es umgekehrt: Die Zeit drückt uns         auf Budgetvorgaben für die 560 Filialen und
ihren Rhythmus auf, sie hält uns in ihrer immer        die insgesamt 9000 Mitarbeitenden verzich-
gleichen, eintönigen Umklammerung gefangen.            tet. Seine Überzeugung: Die Mitarbeitenden
Selbst in unserer Freizeit kokettieren wir damit,      mit Kundenkontakt wissen am besten, wel-
dass wir uns in einem Zustand terminlicher Über-       che Vorgaben sie sich zu setzen haben. Die
lastung befinden. Bei genauerem Hinsehen er-            Folge: Die Svenska Handelsbanken wurde die
kennen wir, dass ein Bremsen zur richtigen Zeit        erfolgreichste im skandinavischen Raum.
paradoxerweise beschleunigend wirkt. Wer sich
in einer Zeit ohne Zeit bewusst Zeit nimmt, ist      • Klaus Kobjoll, der Inhaber des mehrfach aus-
nicht nur für sein Umfeld angenehmer und prä-          gezeichneten Tagungshotels Schindlerhof in
senter, sondern handelt vermutlich auch zeit-          Nürnberg kontrolliert sein Unternehmen, indem
effizienter.                                            er allen Mitarbeitenden vom Lehrling bis zum
                                                       Küchenchef absolute Transparenz und Einblick
                                                       gewährt. Das «Mitwissen» fördert die Selbst-
Sachzwänge frei wählen                                 verantwortung der einzelnen Angestellten.
Täglich stossen wir auf Rahmenbedingungen, auf
die Realität begrenzende Umstände – sie zu igno-       Der einzige Standard ist das ständige Hinterfra-
rieren, wäre mitunter fatal. Einerseits klagen wir     gen des Standards selbst.
vielfach über die Dominanz von Sachzwängen.
Andererseits vermitteln sie uns das beruhigende      • Bei W.L. Gore & Associates, bekannt für seine
Gefühl, nichts dafür zu können, weil etwa «der         Produkte Goretex® und Windstopper®, besteht
Markt» diese oder jene Entscheidung provoziere.        der Standard darin, dass man auf Standards
Diese Exkulpation greift allerdings nur bedingt,       verzichtet und vielmehr auf die Vielfalt und

                                                                                                          37   index 2|2006
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In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
Individualität des Einzelnen setzt. So kennt        Beziehungen – Bindungskraft zu sich selbst und
                       man weder Assessment-Verfahren noch vor-            zu anderen. Dies sind einfach und trivial klingende,
                       gezeichnete Karrierepfade, sondern der Kreis        aber mächtige Begriffe, denn sie erschliessen die
                       der Mitarbeitenden entscheidet allein darüber,      so entscheidend andere Haltung.
                       mit welcher Person zusammengearbeitet
                       werden kann.                                        Erstes «Muster des Musterbruchs»:
                                                                           Denkkraft durch verbindliche Reflexion – Wege
                       Zeit in einer Zeit ohne Zeit!                       im Sowohl-als-auch finden!

                     • Der Abtprimas des Benediktiner-Ordens, der          In der eng getakteten Zeit fällt es schwer, den
                       etwa 100 000 Menschen vorsteht und dessen           Nutzen von Reflexion zu sehen. Die operative
                       Terminkalender mit dem eines Topmanagers            Hektik und das bisweilen panische Agieren
                       vergleichbar ist, charakterisiert seine Führung     verzögern Prozesse des Nachdenkens, des Be-
                       dadurch, dass er sich Zeit für die Menschen         sinnens und der Einsicht. Nur selten gönnen wir
                       und deren Probleme nimmt. Er akzeptiert die         uns – auch ohne äusseren Zwang – inspirierende
                       Wichtigkeit des jeweiligen Problems für die         Auszeiten. Doch Reflexion lässt uns mehr sehen
                       Betroffenen und stellt seine eigenen Aufgaben       und sensibel wahrnehmen, lässt uns achtsam
                       nicht über die der anderen.                         und ehrlich agieren. Das Leben in und mit Para-
                                                                           doxien erfordert eine spezifische Denkkraft, die
                       «Ich überlege – mein Bauch entscheidet.»            uns den Zugang zu unseren impliziten Glaubens-
                       Max Grundig                                         sätzen ermöglicht. Führung mit einer anderen
                                                                           Haltung akzeptiert das Sowohl-als-auch-Prin-
                     • Johann Tikart, bis 1997 Geschäftsführer des         zip. Reflexion lässt uns immer wieder bewusst
                       Industriewaagenherstellers Mettler-Toledo in        werden, dass wir die Konstrukteure unserer
                       Albstadt, bekannt als strenger Analytiker und       eigenen Wirklichkeit und Wahrheit sind.
                       scharfer Rationalist, erkannte, dass Menschen
                       nur nach den Rationalitätsvorstellungen des         Zweites «Muster des Musterbruchs»:
                       Unternehmens handeln, solange sie dazu an-          Sprungkraft durch leisen Mut – mit leisem Mut
                       geleitet werden. Wandte der Geschäftsführer         normierte Muster brechen!
                       sich ab, führte der Mitarbeitende die Aufgabe
                       nach seiner eigenen Rationalität durch. Auch        Reflexion als solche ändert nichts, es muss ein
                       erhöhter Druck vermochte dies nicht zu än-          Momentum hinzukommen, indem man mutig die
                       dern. Das veranlasste Tikart dazu, Arbeits-         Dinge angeht, die man als veränderungswürdig
                       zeitregelungen abzuschaffen und jeglicher           erkannt hat. «Musterbrecher» verfügen über
                       Kommunikation zwischen den Mitarbeitenden           «Sprungkraft», über den Mut, Alternativen zu
                       freien Lauf zu lassen. Jeder konnte nach            erproben und zu realisieren, die ganz und gar
                       seiner eigenen Rationalität die Arbeit organisie-   nicht den klassischen Erwartungen entspre-
                       ren. Das einzige Gebot war, jederzeit einsatz-      chen. Das hat nichts mit Tollkühnheit zu tun. Wir
                       und -lieferbereit zu sein.                          denken an Mut in einer anderen Ausprägung:
                                                                           unspektakulär, zurückhaltend, unaufdringlich.
                                                                           Es geht um eine Art von Mut, der dazu befähigt,
                     «Muster des Musterbruchs» – Arbeit an                 sich von fremden Bezugsgrössen zu lösen und
                     der eigenen Haltung:                                  die eigene Identität «durchzuhalten».
                     In unserem Projekt wollten wir herausfinden,
                     was die «Musterbrecher» zu Paradoxievirtuo-           So wie Peter Walter, Gründer und bis 2005
                     sen macht. Dabei lassen sich drei «Muster des         Geschäftsführer der betapharm Arzneimittel
                     Musterbruchs» erkennen, die nicht als Regeln zu       GmbH in Augsburg, Nummer vier der Generi-
                     verstehen sind und auch nicht in Rezepte gefasst      ka-Hersteller in Deutschland. Er hat vor einigen
                     werden können: verbindliche Reflexion – mehr           Jahren gegen die Überzeugung der Geldgeber
                     sehen, sensibler wahrnehmen, achtsam und              den Mut aufgebracht, die strategische Logik der
                     ehrlich agieren; leiser Mut – Mut zur Überwin-        Generika-Branche zu durchbrechen. Mit der zu
                     dung kollektiv akzeptierter Wahrheiten und Mut        Beginn verfolgten und auf der Hand liegenden
                     zum Durchhalten der eigenen Identität; echte          Strategie der Kostenführerschaft fühlte sich

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Walter nicht mehr wohl. Trotz vollkommener Aus-       einmal zu erlernende Fähigkeit. Haltung ist nur
tauschbarkeit der Produkte gelang es ihm, eine        erlebbar, nicht modellierbar, denn Modellierung
Differenzierung der besonderen Art zu realisie-       zwingt Haltung in einen Raster, in dem Leben-
ren. Und zwar nicht im Stil eines oberflächlichen      digkeit verloren geht. Was kann ich als Führungs-
«Andersseins», sondern durch glaubwürdiges            kraft aber dennoch tun?
Engagement. betapharm etablierte kostenfreie
psychosoziale Beratungsdienste. Der Slogan            Arbeit in der «Musterbrecher-Werkstatt»!
«Die Medizin kümmert sich um die Krankheit            Ausgangspunkt ist unsere Überzeugung, dass –
des Menschen, betaCare kümmert sich um den            mehr oder weniger ausgeprägt – in jeder Organi-
Menschen mit seiner Krankheit» ist ernst zu neh-      sation eine «Musterbrecher»-Haltung vorhanden
men, vor allem, wenn man weiss, dass das Un-          ist. Jede Organisation handelt paradox, etwa
ternehmen sein Angebot nicht an die Produkte          indem sie Regeln nur dann einhalten kann, wenn
koppelt, die es selbst vertreibt. Es ist gelungen,    sie bisweilen gebrochen werden. Diese Parado-
sich durch authentisches Engagement in einem          xiepotenziale gilt es zu erkennen, zu nutzen und
Feld zu positionieren, das gewöhnlich nur vom         auszubauen. Das gelingt unter anderem mit Hilfe
Denken in Grössenvorteilen geprägt ist. Natür-        einer Inhouse-Methodik, die unternehmensspe-
lich hat sich der Erfolg auch ökonomisch ausge-       zifisch und gemeinsam mit den Betroffenen für
zahlt. Die paradoxe Einsicht liegt jedoch darin,      den realen Fall gestaltet ist. Wir konfrontieren
dass er sich niemals eingestellt hätte, wenn das      Führungskräfte mit den vorhandenen Para-
wirtschaftliche Kalkül die alleinige Motivation ge-   doxien, die meist unter einem Mantel der klas-
wesen wäre.                                           sischen Führungsmuster versteckt sind. Wir
                                                      erzwingen eine erste mutige Reflexion. Führung
Drittes «Muster des Musterbruchs»:                    muss sich beispielsweise wieder darüber be-
Bindungskraft durch echte Beziehung – Kraft zur       wusst werden, dass Kontrolle ohne Vertrauen
Bindung entwickeln!                                   nicht möglich ist. Der Steuerungsmechanismus
                                                      eines Budgets verursacht hohe Opportunitäts-
Beziehung muss im Kontext der beiden anderen          kosten. Diese Einsichten sind ein erster Schritt,
Begriffe «Reflexion» und «Mut» gesehen wer-            wieder mit sich und seinem Umfeld in Beziehung
den. Reflexion der eigenen Prämissen hilft, sich       zu kommen.
kennen zu lernen. Die Ehrlichkeit in der Selbstre-
flexion ist der erste und entscheidende Schritt.       Anschliessend fordern wir das Experiment, das
Dies kann nicht ohne eine gehörige Portion Mut        die individuelle Umsetzung des «Musterbruchs»
geschehen. Es ist mutig, in das eigene Gesicht        in Gang setzt. Wir initiieren die Entwicklung von
zu schauen, sich die eigenen Schwächen einzu-         konkreten Pilotprojekten, in denen, inspiriert
gestehen und die eigene Rationalität zu hinterfra-    von «Musterbrecher»-Beispielen, die eigenen
gen. Wenn man nicht mehr an die antrainierten         «Musterbrecher»-Potenziale geborgen werden.
Prämissen glauben will, zeugt das von grosser         Man muss erst auf Arbeitszeitregelung verzich-
Beziehung – zu sich selbst, aber auch zu ande-        ten, um zu erkennen, ob die Mitarbeitenden
ren, zu den Mitarbeitern und zu den Kunden.           dieser neuen Freiheit mit der nötigen Verantwor-
Umgekehrt ermöglicht diese Beziehung wieder-          tung begegnen. Man muss Budgets abschaffen,
um erst Mut und Reflexion.                             um zu erleben, ob im eigenen System genügend
                                                      unternehmerische Verantwortung steckt. Diese
                                                      Versuche müssen in überschaubarem Rahmen
Bekanntes mit anderer Haltung tun:                    und unter Einbezug der Betroffenen unternom-
Eine «neu» gelebte Führung benötigt keine neu-        men werden.
en Instrumente. Sie setzt «leider» lediglich bei
der Haltung an, die die Basis im Umgang mit           Ich kann also bewusst an meiner eigenen Hal-
Paradoxien im Management bildet. Haltung hilft,       tung arbeiten; sie für andere, mein Umfeld
sich innerlich zu festigen, um mit der äusseren       erlebbar machen. Erlebbar wird mein «Muster-
Unsicherheit besser umgehen zu können. Die            bruch», meine neu gelebte Führung, im reflek-
paradoxe Haltungshilfe lautet: Bekanntes mit          tierten, mutigen und beziehungsvollen Umgang
anderer Haltung tun. Haltung entsteht im              mit Paradoxien. Gefordert ist ein «Musterbruch»
Prozess immer wieder neu. Sie ist keine nur           im Denken, die Veränderung der inneren Haltung

                                                                                                          41   index 2|2006
gegenüber Führung. Dieser «Musterbruch» meint          Lektüre
                     das Erkennen der Begrenztheit des reflexhaften
                     Handelns. Zu überwinden gilt es die zweiwertige        • Wüthrich, H.A. / Osmetz, D. / Kaduk, S.:
                                                                              Musterbrecher – Führung neu leben, Gabler-Verlag,
                     Logik, die uns lehrt, dass im Falle zweier, ein-         Wiesbaden 2006, 263 Seiten, mit Illustrationen
                     ander widersprechender Aussagen mindestens               von Florian Mitgutsch. ISBN 3-8349-0219-5
                     eine falsch sein muss. Gefordert ist kein Flic-Flac,
                     sondern die Haltung des Sowohl-als-auch. Wenn          • Hans A. Wüthrich,Inhaber des Lehrstuhls für
                     man in der Führung und dem Management nicht              Internationales Management, Universität der
                                                                              Bundeswehr München, Partner der B&RSW
                     pathologisch enden will, muss man lernen, mit            AG Management Consultants, Zürich
                     Paradoxien umzugehen. Man gewinnt damit eine
                     neue Art von Sicherheit in der Unsicherheit – man      • Dirk Osmetz, Ingenieur und promovierter
                     bleibt handlungsfähig.                                   Wirtschaftswissenschaftler, Partner der PhilOs
                                                                              Managementberatung München, Lehr- und
                                                                              Forschungstätigkeit am Institut für Internationales
                     Paradoxie willkommen!
                                                                              Management, Universität der Bundeswehr München

                                                                            • Stefan Kaduk, promovierter Betriebswirt,
                                                                              sieben Jahre Unternehmensberatung,
                                                                              Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut
                                                                              für Personal- und Organisationsforschung,
                                                                              Universität der Bundeswehr München

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