In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Paradoxie willkommen In der Ungewissheit handlungsfähig bleiben oder mit dem Autopiloten ins Unwetter Von Hans A. Wüthrich, Dirk Osmetz, Stefan Kaduk Das Ende der Gewissheit: Täglich erleben wir Unsicherheit, Unübersichtlichkeit, Unschärfe und Unkontrollierbares. In der Managementrhetorik verabschieden wir uns von der stabilen und eindeutigen Welt. Doch unser tägliches Handeln in Organisationen steht in krassem Gegensatz dazu. «Mehr desselben» lautet das Reaktionsmuster im alltäglichen Wahnsinn. Bessere Konzepte, neue Tools und effizientere Stellschrauben werden verlangt. Dieses Muster erscheint umso reizvoller, je mehr wir uns unsicher fühlen und uns die Beherrschbarkeit abhanden kommt. Technokratisch geschult versuchen wir, mit einer kausalen Logik immer neue Wege zur Beherrschung komplexer Systeme zu finden. Im Rahmen eines vierjährigen, von der Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management unterstützten Forschungsprojektes an der Universität der Bundeswehr in München konnten wir sieben Führungsmuster identifizieren, die immer wieder angewandt werden – meist ohne sie zu hinterfragen. index 2| 2006 34
Muster 1: Muster 5: Führung muss steuern! Führung muss den kurzfristigen Erfolg Der Kapitän gehört auf die Brücke. suchen! Langfristig sind wir alle tot. Spätestens in Krisenzeiten muss die Führungs- Bei allen Forderungen nach Nachhaltigkeit: Das kraft das Ruder übernehmen und klare Marsch- Problem tritt jetzt auf, die Lösung muss hier und routen ausgeben, und pragmatische Massnah- heute erbracht werden. Es hilft wenig, wenn men sollen das Unternehmen wieder auf Kurs Unternehmer und Führungskräfte volle Auftrags- bringen. Einen Kurs, den nur die kennen, die bücher für die nächsten zwei Jahre vorweisen über die notwendige Information verfügen und können, aber nicht in der Lage sind, kurzfristige die Zugang zu den relevanten Schalthebeln Forderungen zu erfüllen oder anstehende Mitar- haben. beitergehälter zu zahlen. Muster 2: Muster 6: Führung muss kontrollieren! Führung muss beschleunigen! Vertrauen hat seine Grenzen. Zeit ist Geld. Aufgrund der vielen unterschiedlichen An- Der Zeitwettbewerb lässt uns keine Wahl, wir spruchsgruppen und der begrenzt verfügbaren müssen uns mit der Geschwindigkeitsspira- Information braucht es klare Regeln, nach denen le drehen. Spätestens seit Frederick Winslow die Systeme ausgelegt werden. Die Regeln sind Taylor, der mit der Stoppuhr in der Hand sein nur sinnvoll, wenn ihre Einhaltung kontrolliert «Scientific Management» begründete, ist es ein- wird. Ohne Kontrolle und Überwachung bleibt deutig: Zeit ist der entscheidende Faktor im wirt- jeder Regelverstoss folgenlos, dem «Systemver- schaftlichen Wettbewerb. Mit Sorge blicken wir fall» werden Tür und Tor geöffnet. nach Asien und müssen uns eingestehen, dass sich das Rad dort viel schneller dreht. Es gilt: Muster 3: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!» Führung muss standardisieren! und «Wer bremst, verliert!» Skaleneffekte durch Normierung. Wie sollte Führung anders funktionieren als Muster 7: mittels Standards und Normen? Es braucht Führung muss sich an Rahmenbedingungen Fixpunkte, an denen man sich orientieren kann. orientieren! Man kann nicht alles ändern. Nur so ist Vergleichbarkeit möglich. Ohne einen Ein System wie das Wirtschaftssystem ist in Standard der Messbarkeit und der Referenz einen äusseren Rahmen eingebettet, und es wäre könnten zwar Individuen interagieren, die Ver- ausgesprochen naiv zu glauben, wir könnten uns netzung des Wirtschaftssystems im Gesam- mit den eigenen begrenzten Möglichkeiten diesem ten würde jedoch funktionsuntüchtig sein. Erst entziehen. Sicherlich wären viele Manager bereit, durch normierte und standardisierte Tätigkeiten sich vermehrt dem sozialen Engagement zu wid- konnte die industrielle Revolution eingeleitet men, neueste Umweltstandards einzuhalten oder werden, wurden Fliessproduktion und Arbeits- sich dem aggressiven Preiskampf zu widerset- teilung ermöglicht. zen, dabei könnten sie Gefahr laufen, selbst auf der Strecke zu bleiben. Die Umstände lassen ein Muster 4: abweichendes Verhalten einfach nicht zu. Führung muss rational entscheiden! Gefühle haben keinen Platz. In der Ungewissheitsgesellschaft muss der Er- Wo würden Unternehmen stehen, wenn sie nicht folg dieser Führungsmuster jedoch begrenzt durch bewährte rationale Entscheidungsmetho- bleiben. Organisationen bestehen aus Men- den klare Abwägungen träfen und den Nutzen schen und zeichnen sich durch Nichtlinearität so- messbar machten? Wie liessen sich schlüssige wie Vernetzung aus. Verlässliche linear-kausale Antworten auf die anstehenden Fragen finden? Wirkungszusammenhänge wünschen wir uns Mit Hilfe systematischer Datensammlungen und vergebens. Deshalb lohnt es sich, die Führungs- -vergleiche gelingt die Objektivierung. Rationalität muster und antrainierten Reflexionsblockaden schafft zudem Akzeptanz und führt zu besten auf den Prüfstand zu stellen. Die Forderung nach Lösungen. einem radikalen «Musterbruch» liegt nahe, und die Lösung scheint im jeweiligen Gegenmuster 35 index 2|2006
zu liegen. Was wären die Konsequenzen? Füh- Nicht-Steuerbarkeit steuern rung würde auf jegliche Steuerung verzichten Nach wie vor sollten wir den Versuch unterneh- und allem blind vertrauen. Synergien wären men, unsere Systeme zu steuern. Auch wenn belanglos. Entschieden würde nach Gefühl. Si- das natürlich nicht funktionieren kann, weil wir es tuationen und ihre Chancen blieben ungenutzt, – spätestens dann, wenn der Mensch ins Spiel denn Führung wäre in der Zukunft gefangen. kommt – nicht mit trivialen Maschinen zu tun Führung würde nach Stillstand streben und haben. Steuern ja, aber im Bewusstsein, dass Sachzwänge ignorieren. Wir kämen mit den Ge- erstens ein gewünschtes Ergebnis niemals kausal genmustern also vom Regen in die Traufe. herbeigeführt werden kann und dass zweitens stets unklar ist, wer überhaupt steuert. Das Ma- nagement, das System selbst oder beide. Führen im Sowohl-als-auch-Prinzip: Sie werden wahrscheinlich fragen: Was sollen wir denn tun? Steuern oder loslassen? Miss- Vertrauter Kontrolle misstrauen trauen oder vertrauen? Normieren oder Vielfalt Viele Unternehmen sind augenscheinlich Miss- zulassen? Doch genau von diesem Dualismus trauensorganisationen, die eher den Kontroll- des Entweder-oder-Prinzips wollen wir uns ver- systemen, weniger aber ihren Mitarbeitenden abschieden. Wir entwickeln kein neues Muster vertrauen. Alles und noch mehr ist geregelt auf gleicher Ebene und plädieren nicht für ein – Prophylaxe für den Worst Case! Aber auch- Fallenlassen veralteter Ideologien. Vielmehr grenzenloses Vertrauen wäre utopisch und naiv. möchten wir neue Möglichkeiten im Sowohl- Die wirkliche Herausforderung besteht darin zu als-auch-Muster skizzieren. Im Arbeitsleben akzeptieren, dass das meiste unkontrolliert ge- sind wir täglich mit Paradoxien konfrontiert. So schieht und dass die gewohnten Kontrollinstru- bemühen wir uns etwa um eine verlässliche mente eine trügerische Gewissheit vermitteln. Planung und wollen wissen, wie die Zukunft aus- Werfen wir also einen misstrauischen Blick auf sehen wird. Doch das könnte nur gelingen, wenn die typischen Kontrollinstanzen, die man im die Welt determiniert wäre und wir deren Ge- eigenen Umfeld manchmal nicht mehr sofort setze kennen würden. Die Folge wäre: Es gäbe erkennt. keine Spielräume mehr, Planung würde zur Vor- hersage und das Ergebnis wäre eindeutig – für alle. Eine langweilige wie utopische Vorstellung. Vielfalt standardisieren Standardisierung ist hochgradig sinnvoll. In In unserem Forschungsprojekt haben wir über Deutschland wird der volkswirtschaftliche Nut- 40 «Musterbrecher» analysiert, denen es ge- zen von Normen auf 15 Milliarden Euro pro Jahr lingt, mit Paradoxien sinnvoll umzugehen und aus geschätzt. So überrascht es nicht, dass Führung einer anderen Haltung heraus zu führen. Dazu heute grossenteils auf Normierung und Standar- gehören folgende Beispiele: der Abtprimas des disierung der Systeme und der Mitarbeitenden Benediktiner-Ordens, der ehemalige Bürger- abzielt. Beherrschbarkeit ist das Ziel, Gleichheit meister der Zwei-Millionen-Stadt Curitiba in Bra- das Mittel. Leider führt das oft zu anfälligen silien, die Chefredakteurin des Wirtschaftsma- Monokulturen. Der paradoxe Ausweg: ständiges gazins «brand eins», die Gründerin der «Berliner Hinterfragen – sowohl der Vielfalt als auch des Schule für Bühnenkunst und unternehmerische Standards selbst. Denn eine starre ideale Posi- Fähigkeiten», den ersten deutschen Offizier im tion zwischen Standard und Vielfalt kann es nicht Kosovo-Einsatz, den Pionier der beziehungsorien- geben. tierten Altenpflege der Caritas, den Miterfinder der «Sendung mit der Maus», den ehemaliger Chef des Zürcher Zoos sowie diverse Unterneh- Rational(e) Gefühle zulassen mer und Manager aus Firmen wie beispielsweise Das Management strebt traditionell nach ratio- betapharm, PA Consulting Group, RWE Rhein- nalen Entscheiden, es ist auf der Suche nach dem Ruhr AG, Lantal Textiles, W. L. Gore & Associ- «Goldenen Schnitt». Wenn wir genauer hinse- ates. Die Analyse der genannten Beispiele er- hen, wird jedoch klar: Rationalität benötigen wir gab, dass Manager lernen müssen, sinnvoll und primär zur nachträglichen Begründung emotional produktiv mit sieben Paradoxien umzugehen: bereits getroffener Entscheidungen. In letzter index 2| 2006 36
Konsequenz bestimmen wir über unsere indivi- da jede beliebige Regel gebrochen werden kann. duelle Rationalität. Wir legen fest, mit welcher Die Frage ist: Wie hoch ist der Preis dafür? Die Rationalität wir unsere Entscheidungen begrün- wichtigste Erkenntnis dabei ist, wir selbst sind den. Allein diese rein rationale Überlegung zwingt unser grösster Sachzwang. uns, der Emotionalität mehr Raum zu geben. Die genannten Paradoxien teilweise anzuwenden ist unausweichlich, um nicht pathologisch zu Kurzsichtig weit blicken enden. Dies ist primär eine Frage der Haltung Führung muss mit dem Hier und Jetzt zurecht- und keine Frage der Tools. kommen. Oft wird verständlicherweise die ak- tuelle Problemsituation zum Brennpunkt. Dies hat zur Folge, dass kaum noch etwas ernsthaft Lernen von «Musterbrechern»: hinterfragt wird. Es regiert der kurzfristige Re- Wenn wir im Folgenden an einigen Stellen auf flex. Wir irren jedoch zu glauben, es gebe keine die Erlebnisse mit diesen, von uns so bezeichne- Alternative zu einem Muster der Schnellschüsse. ten «Musterbrechern» verweisen, tun wir dies Schliesslich erfordert professionelles Handeln nicht, weil wir damit Erfolgsstorys präsentieren zwingend strategisch-nachhaltige Überlegungen. wollen. Den Masterplan zum «Musterbruch» gibt Taktisches Geschick und operative Effizienz es nicht. Den Weg in die Paradoxie zwischen alleine führen nicht zum Ziel. Es gilt also sowohl sieben Mustern und Gegenmustern muss jeder kurzfristig-opportunistisch als auch nachhaltig selbst wählen und gehen. Hier einige Beispiele, zu agieren. Das ist nicht neu, weshalb die para- die einen kleinen Einblick geben: doxe Ergänzung lautet: Wenn Nachhaltigkeit ein bewegliches Ziel bleibt und nicht bloss ein Fest- Es geht nicht mehr darum, nachträglich zu halten an Altem bedeutet, ist sie die Vorausset- erklären, was gestern anders war, als wir vor- zung für kurzfristig-opportunistisches Handeln. gestern geplant hatten. • Jan Wallander, neuer Direktor der Svenska Im Beschleunigen innehalten Handelsbanken, hat in der grössten Unterneh- Durch eine noch bessere Terminplanung hoffen menskrise der Bank 1970 die Planungs- und wir, dass wir die Zeit in den Griff bekommen. In Steuerungseinheit zerschlagen und komplett Wahrheit ist es umgekehrt: Die Zeit drückt uns auf Budgetvorgaben für die 560 Filialen und ihren Rhythmus auf, sie hält uns in ihrer immer die insgesamt 9000 Mitarbeitenden verzich- gleichen, eintönigen Umklammerung gefangen. tet. Seine Überzeugung: Die Mitarbeitenden Selbst in unserer Freizeit kokettieren wir damit, mit Kundenkontakt wissen am besten, wel- dass wir uns in einem Zustand terminlicher Über- che Vorgaben sie sich zu setzen haben. Die lastung befinden. Bei genauerem Hinsehen er- Folge: Die Svenska Handelsbanken wurde die kennen wir, dass ein Bremsen zur richtigen Zeit erfolgreichste im skandinavischen Raum. paradoxerweise beschleunigend wirkt. Wer sich in einer Zeit ohne Zeit bewusst Zeit nimmt, ist • Klaus Kobjoll, der Inhaber des mehrfach aus- nicht nur für sein Umfeld angenehmer und prä- gezeichneten Tagungshotels Schindlerhof in senter, sondern handelt vermutlich auch zeit- Nürnberg kontrolliert sein Unternehmen, indem effizienter. er allen Mitarbeitenden vom Lehrling bis zum Küchenchef absolute Transparenz und Einblick gewährt. Das «Mitwissen» fördert die Selbst- Sachzwänge frei wählen verantwortung der einzelnen Angestellten. Täglich stossen wir auf Rahmenbedingungen, auf die Realität begrenzende Umstände – sie zu igno- Der einzige Standard ist das ständige Hinterfra- rieren, wäre mitunter fatal. Einerseits klagen wir gen des Standards selbst. vielfach über die Dominanz von Sachzwängen. Andererseits vermitteln sie uns das beruhigende • Bei W.L. Gore & Associates, bekannt für seine Gefühl, nichts dafür zu können, weil etwa «der Produkte Goretex® und Windstopper®, besteht Markt» diese oder jene Entscheidung provoziere. der Standard darin, dass man auf Standards Diese Exkulpation greift allerdings nur bedingt, verzichtet und vielmehr auf die Vielfalt und 37 index 2|2006
Individualität des Einzelnen setzt. So kennt Beziehungen – Bindungskraft zu sich selbst und man weder Assessment-Verfahren noch vor- zu anderen. Dies sind einfach und trivial klingende, gezeichnete Karrierepfade, sondern der Kreis aber mächtige Begriffe, denn sie erschliessen die der Mitarbeitenden entscheidet allein darüber, so entscheidend andere Haltung. mit welcher Person zusammengearbeitet werden kann. Erstes «Muster des Musterbruchs»: Denkkraft durch verbindliche Reflexion – Wege Zeit in einer Zeit ohne Zeit! im Sowohl-als-auch finden! • Der Abtprimas des Benediktiner-Ordens, der In der eng getakteten Zeit fällt es schwer, den etwa 100 000 Menschen vorsteht und dessen Nutzen von Reflexion zu sehen. Die operative Terminkalender mit dem eines Topmanagers Hektik und das bisweilen panische Agieren vergleichbar ist, charakterisiert seine Führung verzögern Prozesse des Nachdenkens, des Be- dadurch, dass er sich Zeit für die Menschen sinnens und der Einsicht. Nur selten gönnen wir und deren Probleme nimmt. Er akzeptiert die uns – auch ohne äusseren Zwang – inspirierende Wichtigkeit des jeweiligen Problems für die Auszeiten. Doch Reflexion lässt uns mehr sehen Betroffenen und stellt seine eigenen Aufgaben und sensibel wahrnehmen, lässt uns achtsam nicht über die der anderen. und ehrlich agieren. Das Leben in und mit Para- doxien erfordert eine spezifische Denkkraft, die «Ich überlege – mein Bauch entscheidet.» uns den Zugang zu unseren impliziten Glaubens- Max Grundig sätzen ermöglicht. Führung mit einer anderen Haltung akzeptiert das Sowohl-als-auch-Prin- • Johann Tikart, bis 1997 Geschäftsführer des zip. Reflexion lässt uns immer wieder bewusst Industriewaagenherstellers Mettler-Toledo in werden, dass wir die Konstrukteure unserer Albstadt, bekannt als strenger Analytiker und eigenen Wirklichkeit und Wahrheit sind. scharfer Rationalist, erkannte, dass Menschen nur nach den Rationalitätsvorstellungen des Zweites «Muster des Musterbruchs»: Unternehmens handeln, solange sie dazu an- Sprungkraft durch leisen Mut – mit leisem Mut geleitet werden. Wandte der Geschäftsführer normierte Muster brechen! sich ab, führte der Mitarbeitende die Aufgabe nach seiner eigenen Rationalität durch. Auch Reflexion als solche ändert nichts, es muss ein erhöhter Druck vermochte dies nicht zu än- Momentum hinzukommen, indem man mutig die dern. Das veranlasste Tikart dazu, Arbeits- Dinge angeht, die man als veränderungswürdig zeitregelungen abzuschaffen und jeglicher erkannt hat. «Musterbrecher» verfügen über Kommunikation zwischen den Mitarbeitenden «Sprungkraft», über den Mut, Alternativen zu freien Lauf zu lassen. Jeder konnte nach erproben und zu realisieren, die ganz und gar seiner eigenen Rationalität die Arbeit organisie- nicht den klassischen Erwartungen entspre- ren. Das einzige Gebot war, jederzeit einsatz- chen. Das hat nichts mit Tollkühnheit zu tun. Wir und -lieferbereit zu sein. denken an Mut in einer anderen Ausprägung: unspektakulär, zurückhaltend, unaufdringlich. Es geht um eine Art von Mut, der dazu befähigt, «Muster des Musterbruchs» – Arbeit an sich von fremden Bezugsgrössen zu lösen und der eigenen Haltung: die eigene Identität «durchzuhalten». In unserem Projekt wollten wir herausfinden, was die «Musterbrecher» zu Paradoxievirtuo- So wie Peter Walter, Gründer und bis 2005 sen macht. Dabei lassen sich drei «Muster des Geschäftsführer der betapharm Arzneimittel Musterbruchs» erkennen, die nicht als Regeln zu GmbH in Augsburg, Nummer vier der Generi- verstehen sind und auch nicht in Rezepte gefasst ka-Hersteller in Deutschland. Er hat vor einigen werden können: verbindliche Reflexion – mehr Jahren gegen die Überzeugung der Geldgeber sehen, sensibler wahrnehmen, achtsam und den Mut aufgebracht, die strategische Logik der ehrlich agieren; leiser Mut – Mut zur Überwin- Generika-Branche zu durchbrechen. Mit der zu dung kollektiv akzeptierter Wahrheiten und Mut Beginn verfolgten und auf der Hand liegenden zum Durchhalten der eigenen Identität; echte Strategie der Kostenführerschaft fühlte sich index 2| 2006 40
Walter nicht mehr wohl. Trotz vollkommener Aus- einmal zu erlernende Fähigkeit. Haltung ist nur tauschbarkeit der Produkte gelang es ihm, eine erlebbar, nicht modellierbar, denn Modellierung Differenzierung der besonderen Art zu realisie- zwingt Haltung in einen Raster, in dem Leben- ren. Und zwar nicht im Stil eines oberflächlichen digkeit verloren geht. Was kann ich als Führungs- «Andersseins», sondern durch glaubwürdiges kraft aber dennoch tun? Engagement. betapharm etablierte kostenfreie psychosoziale Beratungsdienste. Der Slogan Arbeit in der «Musterbrecher-Werkstatt»! «Die Medizin kümmert sich um die Krankheit Ausgangspunkt ist unsere Überzeugung, dass – des Menschen, betaCare kümmert sich um den mehr oder weniger ausgeprägt – in jeder Organi- Menschen mit seiner Krankheit» ist ernst zu neh- sation eine «Musterbrecher»-Haltung vorhanden men, vor allem, wenn man weiss, dass das Un- ist. Jede Organisation handelt paradox, etwa ternehmen sein Angebot nicht an die Produkte indem sie Regeln nur dann einhalten kann, wenn koppelt, die es selbst vertreibt. Es ist gelungen, sie bisweilen gebrochen werden. Diese Parado- sich durch authentisches Engagement in einem xiepotenziale gilt es zu erkennen, zu nutzen und Feld zu positionieren, das gewöhnlich nur vom auszubauen. Das gelingt unter anderem mit Hilfe Denken in Grössenvorteilen geprägt ist. Natür- einer Inhouse-Methodik, die unternehmensspe- lich hat sich der Erfolg auch ökonomisch ausge- zifisch und gemeinsam mit den Betroffenen für zahlt. Die paradoxe Einsicht liegt jedoch darin, den realen Fall gestaltet ist. Wir konfrontieren dass er sich niemals eingestellt hätte, wenn das Führungskräfte mit den vorhandenen Para- wirtschaftliche Kalkül die alleinige Motivation ge- doxien, die meist unter einem Mantel der klas- wesen wäre. sischen Führungsmuster versteckt sind. Wir erzwingen eine erste mutige Reflexion. Führung Drittes «Muster des Musterbruchs»: muss sich beispielsweise wieder darüber be- Bindungskraft durch echte Beziehung – Kraft zur wusst werden, dass Kontrolle ohne Vertrauen Bindung entwickeln! nicht möglich ist. Der Steuerungsmechanismus eines Budgets verursacht hohe Opportunitäts- Beziehung muss im Kontext der beiden anderen kosten. Diese Einsichten sind ein erster Schritt, Begriffe «Reflexion» und «Mut» gesehen wer- wieder mit sich und seinem Umfeld in Beziehung den. Reflexion der eigenen Prämissen hilft, sich zu kommen. kennen zu lernen. Die Ehrlichkeit in der Selbstre- flexion ist der erste und entscheidende Schritt. Anschliessend fordern wir das Experiment, das Dies kann nicht ohne eine gehörige Portion Mut die individuelle Umsetzung des «Musterbruchs» geschehen. Es ist mutig, in das eigene Gesicht in Gang setzt. Wir initiieren die Entwicklung von zu schauen, sich die eigenen Schwächen einzu- konkreten Pilotprojekten, in denen, inspiriert gestehen und die eigene Rationalität zu hinterfra- von «Musterbrecher»-Beispielen, die eigenen gen. Wenn man nicht mehr an die antrainierten «Musterbrecher»-Potenziale geborgen werden. Prämissen glauben will, zeugt das von grosser Man muss erst auf Arbeitszeitregelung verzich- Beziehung – zu sich selbst, aber auch zu ande- ten, um zu erkennen, ob die Mitarbeitenden ren, zu den Mitarbeitern und zu den Kunden. dieser neuen Freiheit mit der nötigen Verantwor- Umgekehrt ermöglicht diese Beziehung wieder- tung begegnen. Man muss Budgets abschaffen, um erst Mut und Reflexion. um zu erleben, ob im eigenen System genügend unternehmerische Verantwortung steckt. Diese Versuche müssen in überschaubarem Rahmen Bekanntes mit anderer Haltung tun: und unter Einbezug der Betroffenen unternom- Eine «neu» gelebte Führung benötigt keine neu- men werden. en Instrumente. Sie setzt «leider» lediglich bei der Haltung an, die die Basis im Umgang mit Ich kann also bewusst an meiner eigenen Hal- Paradoxien im Management bildet. Haltung hilft, tung arbeiten; sie für andere, mein Umfeld sich innerlich zu festigen, um mit der äusseren erlebbar machen. Erlebbar wird mein «Muster- Unsicherheit besser umgehen zu können. Die bruch», meine neu gelebte Führung, im reflek- paradoxe Haltungshilfe lautet: Bekanntes mit tierten, mutigen und beziehungsvollen Umgang anderer Haltung tun. Haltung entsteht im mit Paradoxien. Gefordert ist ein «Musterbruch» Prozess immer wieder neu. Sie ist keine nur im Denken, die Veränderung der inneren Haltung 41 index 2|2006
gegenüber Führung. Dieser «Musterbruch» meint Lektüre das Erkennen der Begrenztheit des reflexhaften Handelns. Zu überwinden gilt es die zweiwertige • Wüthrich, H.A. / Osmetz, D. / Kaduk, S.: Musterbrecher – Führung neu leben, Gabler-Verlag, Logik, die uns lehrt, dass im Falle zweier, ein- Wiesbaden 2006, 263 Seiten, mit Illustrationen ander widersprechender Aussagen mindestens von Florian Mitgutsch. ISBN 3-8349-0219-5 eine falsch sein muss. Gefordert ist kein Flic-Flac, sondern die Haltung des Sowohl-als-auch. Wenn • Hans A. Wüthrich,Inhaber des Lehrstuhls für man in der Führung und dem Management nicht Internationales Management, Universität der Bundeswehr München, Partner der B&RSW pathologisch enden will, muss man lernen, mit AG Management Consultants, Zürich Paradoxien umzugehen. Man gewinnt damit eine neue Art von Sicherheit in der Unsicherheit – man • Dirk Osmetz, Ingenieur und promovierter bleibt handlungsfähig. Wirtschaftswissenschaftler, Partner der PhilOs Managementberatung München, Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut für Internationales Paradoxie willkommen! Management, Universität der Bundeswehr München • Stefan Kaduk, promovierter Betriebswirt, sieben Jahre Unternehmensberatung, Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut für Personal- und Organisationsforschung, Universität der Bundeswehr München index 2| 2006 42
Sie können auch lesen