Info-bayern Aktuelles aus dem Verband | Juni 2020 - LVKM

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Aktuelles aus dem Verband | Juni 2020

                                                                                                         Getüpfelt, kariert oder geblümt. – Die

                   s   pezial                                                                        LVKM-Vorsitzende Konstanze Riedmüller
                                                                                                      (3.v.r.) und ihre Kolleginnen der Stiftung
                                                                                                   Pfennigparade mit selbstgenähten Masken.
      c or o n a

                                                                                                 IduciVoloris se inim
                                                                                                 nonsequo excescia
                                                                                       solorum faccus, si cumquis et
                                                                                                            experum
                                                                                                     harumquam qui

Liebe Leserin,
lieber Leser,
es ist ein Spagat, und zwar oft ein existen-     Angehörigen vor einer Infektion zu schüt-     zu viel Risiko? Ist der junge FSJ-Assistent
zieller Spagat, in dem sich viele Familien          zen. Wir alle haben unser Möglichstes      gar unbemerkt ein Virenträger? – Von eini-
mit Kindern mit Behinderung befinden.                    getan und sind mitunter an den        gen Erwachsenen mit Behinderung höre
Der Lockdown war notwendig, um das                         Rand unserer Kräfte gegangen.       ich, dass ihnen die Lockerungen fast zu
Coronavirus einzudämmen. Auch die                               Das Schöne war und ist da-     schnell gehen…
aktuellen Lockerungen sind dringend                        bei die Erfahrung einer großen         Liebe Leserin, lieber Leser, die Heraus-
notwendig; aber die neuen Möglich­                        Solidarität. Das Virus hat auch ein  forderung, mit dem Coronavirus zu leben,
keiten sind für viele Betroffene und Famili-           neues Miteinander, ein Mitfühlen und    wird noch viele Monate unseren Alltag be-
en mit schwierigen Entscheidungen ver­           Mithelfen hervorgebracht, nicht nur bei den   stimmen. Die besonders vulnerablen Men-
bunden.                                          Mitarbeiter*innen der Einrichtungen, auch     schen brauchen weiterhin unseren Schutz,
   Die Ausgangsbeschränkungen und die            insgesamt in der Bevölkerung. Es entstan-     ein umsichtiges und vorsichtiges schritt­
geschlossenen Schulen bedeuteten auch            den wunderbare Initiativen, vom Einkaufs-       weises Öffnen. Wir vom LVKM setzen uns
für unsere Familie, unseren Sohn Johannes        service für alte Menschen und für                   auch weiterhin dafür ein, dass bei
zuhause zu betreuen. Seit zehn Wochen            Menschen mit Behinderung bis zu                       allen (Lockerungs-) Maßnahmen
sind mein Mann und ich überwiegend im            Musikdarbietungen und Kultur­                         Menschen mit Behinderung und ih-
Homeoffice und wechseln uns ab in der            events vor den Balkonen, um Be-             2m        re Familien mitbedacht werden. Ich
Pflege und Betreuung unseres 18-jährigen         wohner*innen das Zuhause-bleiben-                    wünsche uns allen die Kraft durchzu-
Sohnes mit Komplexer Behinderung.                Müssen durch Kreativität zu erleichtern.        halten, das notwendige Nervenkostüm,
Homeoffice gestaltet sich bei uns häpp-            Die Lockerungen lassen die Gesellschaft     um schwierige Situationen zu meistern, und
chenweise, verteilt über den ganzen Tag          aufatmen. Auch die HPTs und Schulen öff-      ein weiterhin solidarisches Miteinander,
und oft bis spät in die Nacht hinein. So sieht   nen schrittweise, dringend notwendige         dass uns hoffentlich auch über diese Krise
der Alltag in vielen Familien aus. Allein­            Therapien können wieder stattfinden.     hinaus erhalten bleibt.
erziehende Mütter oder Väter, Familien                    Doch die zunehmende Öffnung
in kleinen Wohnungen oder in finan-                        konfrontiert Menschen mit Behin-    In herzlicher Verbundenheit
ziellen Nöten, Familien mit Kindern                        derung, Mütter und Väter mit Kin-   Ihre
mit sehr schweren und mehrfachen                           dern mit Behinderung mit Ent-
Behinderungen oder gar mit herausfor-                    scheidungen, die eine existenzielle
                                                                                                                                                     Juni 2020

derndem Verhalten trifft es am schlimms-             Bedeutung haben können: Welche Kon-
ten. Menschen mit Behinderung, die in            takte hat mein Kind in der HPT? Bedeutet
Wohngruppen leben, konnten wochenlang            der Transport zur Einrichtung im Sammel-      Konstanze Riedmüller
nicht besucht werden. – Ja, es sind massi-       bus ein zu großes Risiko? Könnte die The-     Landesvorsitzende
                                                                                                                                                   info-bayern

ve Einschränkungen, aber sie waren und           rapeutin den Virus übertragen? Birgt eine
sind nötig, um uns, unsere Kinder, unsere        Gruppengröße von soundso viel Personen        (Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 12.5.2020)
Info-bayern Aktuelles aus dem Verband | Juni 2020 - LVKM
„         Protokoll
                        Marion Schwärzer:

              Liam
              will Action
                 Unser zehnjähriger Sohn Liam ist nun seit
              dem 6. März im Homeschooling. Normaler-
              weise besucht er die Außenklasse des Fritz-
              Felsenstein-Hauses in einer Regel-Grund-
              schule. Da Liam muskelerkrankt und dauer-
              beatmet ist, gehört er in doppelter Hinsicht
              zur Risikogruppe. Wegen eines angebore-
              nen Gendefekts sitzt er im Rollstuhl und         Der zehnjährige Liam ist dauerbeatmet und seit Anfang März im Homeschooling. Seine Mutter
              muss über ein Tracheostoma beatmet wer-          Marion Schwärzer betreut ihn großteils. Aktuell macht sie sich große Sorgen wegen der
                                                               Lieferprobleme bei medizinischen Material zur Beatmung.
              den. Daher haben wir ihn auch schon eine
              Woche vor der angeordneten Schulschlie-          und einer versierten Krankenschwester.             Müll einzusammeln, einfach um etwas Sinn-
              ßung von der Schule genommen.                    Zum Glück hatten wir uns für Liam kurz zu-         volles zu tun.
                 Liam benötigt rund um die Uhr intensiv-       vor ein I-Pad angeschafft. So richtig einge-         Bislang haben wir nur sporadisch darüber
              medizinische Pflege und Überwachung. Da-         spielt hat sich der Unterricht zuhause erst in     nachgedacht, wie wir mit den Lockerungen
              bei sind wir natürlich auf den Pflegedienst      der letzten Woche, mit konkretem Wochen-           umgehen. Das Wichtigste für uns ist, ge-
              angewiesen. Wegen des Pflegenotstands            plan und zwei bis drei Videochats mit der          sundheitlich auf der sicheren Seite zu blei-
              kämpfen wir schon seit vielen Monaten da-        Lehrerin.                                          ben. Deshalb werden wir wohl vorerst wei-
              rum, ausreichend geschulte Pflegekräfte zu          Mit dem Rausgehen und Kontakte-Pfle-            ter Homeschooling machen. Wenn Liam im
              bekommen. Nun kam die Coronakrise hinzu          gen sind wir sehr zurückhaltend. Ich gehe          Fritz-Felsenstein-Haus zur Schule ginge,
              und seitdem ist es ein ständiges Abwägen         nur mit meiner 78-jährigen Mutter hin und          würden wir uns vielleicht geschützter füh-
              zwischen dringend benötigter Unterstützung       wieder spazieren, da sie alleine lebt. Gerne       len, zumal er dort auch von weniger Men-
              und zusätzlichem Risiko durch Außenkon-          würde ich mich auch mal mit einer Freundin         schen umgeben ist.
              takte. Ich selbst bin gelernte Kinderkranken-    zum Walken treffen; aber vorsichtshalber
              schwester und arbeite als Schulbegleiterin,      belasse ich es bisher lieber beim Telefonie-
              bin aber zurzeit in Kurzarbeit und ganztags      ren. Unsere größte Angst ist natürlich, dass
              zuhause. Mein Mann ist Beamter der Be-           sich Liam oder einer von uns mit dem Coro-
              rufsfeuerwehr. Glücklicherweise müssen wir       navirus anstecken könnte. Denn bislang ist
              uns in finanzieller Hinsicht zurzeit noch kei-   es auch schon schwierig, wenn Liam für
              ne großen Sorgen machen. Mit in unserem          Routineuntersuchungen ins Krankenhaus
              Haushalt lebt auch unsere 21-jährige Toch-       muss. Daher haben wir Therapien und an-
              ter, die noch in Ausbildung ist.                 dere eigentlich erforderliche stationäre
                 Wie gestaltet sich unser Familienleben in     Krankenhausaufenthalte verschoben und
              Zeiten von Corona, speziell auch für Liam?       eingeschränkt.
              Der Tag beginnt mit Atemtherapie und Hus-           Liam selbst vermisst am meisten seine
              tenassistenz, damit sich das angesammelte        Schulkameraden; der einzige Kontakt, den
                                                                                                                  In Zeiten von Corona fällt das „wilde Spielen“
              Sekret in Liams Atemwegen löst. Die Grund-       er zu Gleichaltrigen hat. Der Austausch und        mit den Schulkameraden aus. Nun sind andere
              pflege, Ganzkörperwaschung, Zähneputzen          das „wilde Spielen“ in den Pausen fehlen           Spiele sein tägliches Highlight.
              und Hautpflege übernehme meist ich. Das          ihm sehr. Und die Kommunikation per
              Homeschooling war für unsere Familie zu-         WhatsApp-Video ist leider kein ausreichen-            Große Sorgen machen uns aktuell die
              nächst eine Herausforderung. Es lief an-         der Ersatz. Liam, der eigentlich eine richtige     Lieferengpässe für medizinisches Material.
              fangs noch etwas unstrukturiert ab. Meist        Quasselstrippe ist, wird dabei nur schlecht        Nicht nur Handdesinfektion und Mundschutz
              bekamen wir Arbeitsblätter, die ausge-           verstanden und deshalb muss Mama dann              waren nicht lieferbar, auch für die Beatmung
              druckt, sortiert und dann von Liam bearbei-      zwangsläufig dabeisitzen und übersetzen.           dringend benötigte Schlauchsysteme, Bak-
              tet werden sollten. Das Pensum war für Liam      Liam bräuchte halt mehr Action... Daher            terienfilter und Absaugkatheter sind zurzeit
  Juni 2020

              allerdings oft nicht zu schaffen; ich musste     spielen wir viel mit ihm, das ist sein tägliches   nicht lieferbar. Da denkt man sich schon:
              ihn dann beruhigen und ihm den Druck neh-        Highlight. Er liebt Phantasie- und Rollen-         Hätte ich mir nur größere Vorräte angelegt!
              men. Dann kamen Online-Meetings hinzu,           spiele, dreht kleine Filmchen mit Spielfigu-       In den letzten Tagen macht sich auch Liam
              was einige praktische und technische Her-        ren und entwickelt selbst auch Spielideen.         zunehmend Gedanken über all das. Er sieht
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              ausforderungen mit sich brachte. Sowohl          Natürlich stehen auch Computerspiele hoch          gerne die Kindernachrichten auf KiKA und
              Liams Lehrerin als auch wir Eltern – berufs-     im Kurs. Bei einem Ausflug mit seinem              denkt über seine eigene Situation nach. Ich
              bedingt nicht allzu sehr mit Computertechnik     E-Rolli hat er – mit Hilfe der Kranken-            glaube, das alles sickert bei ihm langsam in
              erfahren – brauchten hier Hilfe von Kollegen     schwester – angefangen, herumliegenden             die Tiefe.
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                                                                                                                                             pe

                                                                                                                                     ona s
Fritz-Felsenstein-Haus: Interview mit Gregor Beck

                                                                                                                                      or
Alle tragen den Durchhaltekurs mit                                                                                                           c

Wie wirkt sich die Coronakrise auf Men-                                                              kenhaus. Dieses Sparkonzept geht nun nach
schen mit Behinderung aus; auf die                                                                   hinten los.
Familien und auf die Einrichtungen der
Behindertenhilfe? Wo liegen die Proble-                                                                 Aktuell werden nun in allen Be-
me? Und welche Lösungen wurden ge-                                                                   reichen Lockerungen vorgenommen…
funden? Das haben wir unsere Mitglieds-                                                              Ja, mittlerweile haben die meisten „die Nase
vereine gefragt. Exemplarisch berichtet                                                              voll“ vom In-der-Wohnung-Sitzen. Der Lock-
Gregor Beck aus dem LVKM-Vorstand                                                                    down war schwierig zu organisieren. Doch
und Geschäftsführer des Fritz-Felsen-                                                                je mehr Lockerungen, desto schwieriger wird
stein-Hauses in Königsbrunn bei Augs-                                                                es für uns, vor allem für die Risikogruppen.
burg über die unzähligen Herausforde-                                                                Schon bisher waren die erlaubten Kontakte
rungen dieser Pandemie:                                                                              sehr kompliziert zu organisieren. Alle müs-
                                                                                                     sen dazu einen Mund-Nasen-Schutz tragen;
   info-bayern: Wie sah der Lockdown                                                                 manche können das nicht aufgrund von
im Fritz-Felsenstein-Haus aus?                                                                       Atemproblemen; manche sind kognitiv nicht
Gregor Beck: Seit dem 16. März ist unsere                                                            in der Lage zu verstehen, warum das not-
Schule geschlossen und 270 Kinder und Ju-        Gregor Beck: „Der Lockdown war schwierig zu         wendig ist. Wir haben daher meist eine prag-
gendliche mit Behinderung sind im Home-          organisieren. Doch je mehr Lockerungen, des-        matische Lösung gewählt und ein Treffen
                                                 to schwieriger wird es für uns, vor allem für die
schooling. Es gab ja anfangs sehr strenge        Risikogruppen.“                                     „am Zaun“ arrangiert, bei dem es für alle Be-
staatliche Regeln, dadurch konnten wir in                                                            teiligten einfach ist, den Abstand zu wahren.
den ersten Wochen die Familien quasi nicht       rer Bewohner im Stationären Wohnen ent-             Die meisten Angehörigen trugen das mit. Für
unterstützen. Doch je komplexer die Behin-       scheiden, ob er oder sie bleibt oder in die         unsere Mitarbeitenden war und ist es keine
derung, desto größer ist die Herausforde-        Familie zurück umzieht. Einige haben sich           angenehme Aufgabe, diese freiheitsentzie-
rung, nicht nur wegen des Unterrichts zuhau-     entschieden, in ihre Familien zu wechseln.          henden Maßnahmen ständig zu überwachen
se, sondern aufgrund der generellen Situa-       Um die Betreuung unserer Bewohner*innen             und auf Abstand zu bestehen. Seit dieser
tion, sich in der Familie rund um die Uhr, um    auch tagsüber durchgehend möglich zu ma-            Woche sind Besuche im Stationären Woh-
den Sohn oder die Tochter zu kümmern. Un-        chen, haben Fachkräfte der Tagesbetreuung           nen wieder möglich. Wir sind gerade dabei,
sere Schüler haben, wie an anderen Schulen       und der Schule, die ja beide geschlossen            strenge Hygieneregeln dafür auszuarbeiten.
auch, schriftlich oder per Videochat Aufga-      waren, im Wohnen ausgeholfen. Für den
ben bekommen. Wie gut das lief, war sehr         Fall, dass eine Corona-Infektion in der                Sind denn schon wieder Kinder
davon abhängig, wie die Eltern mit digitalen     Wohngruppe auftritt, mussten wir prophy-            in der Schule?
Geräten ausgerüstet und im Umgang ver-           laktisch einen Isolationsbereich einrichten.        Seit Ende April sind neun Schülerinnen und
siert waren. Fünf der Kinder und Jugend­         Dazu haben wir in der Förderstätte, die ja          Schüler der Abschlussklasse der Mittel­
lichen konnten nicht zurück in ihre Familien,    zurzeit noch leer steht, einen Bereich sepa-        schule wieder in der Schule. Nun werden es
so dass wir für sie eine durchgehende Be-        riert und mit Betten hergerichtet.                  schrittweise mehr. Doch im Plan des Kultus-
treuung organisiert haben. Mitunter sind wir                                                         ministeriums findet sich keine Aussage dar-
bis an die Grenze des Erlaubten gegangen,          Eine Quarantäne in der eigenen                    über, wie das Hochfahren im Schulbereich
um unsere Familien zu unterstützen. Dieses       Wohnung zu organisieren für den Fall,               für Kinder mit erhöhtem Risiko gestaltet wer-
Virus hat die gefährliche Eigenschaft, vulne-    dass man sich infiziert oder sich                   den soll. Welche Bedingungen müssen er-
rable Menschen besonders zu schaden, das         aufgrund eines Viruskontaktes                       füllt sein, damit das Kind wiederkommen
beeinträchtigt das Lebensgefühl sehr stark.      isolieren muss, ist wohl einfacher…?                kann? Ist er oder sie gesundheitlich stabil
Bei uns ist jedes zweite bis dritte Kind Risi-   Ja, prinzipiell ist das beim Einzelwohnen na-       genug? Wie gestaltet sich der Transport zur
kopatient aufgrund von Atemwegserkran-           türlich einfacher. Und man kann dadurch ei-         Schule? Welche Form von Unterricht und
kungen, geschwächtem Immunsystem oder            nen Aufenthalt im Krankenhaus verhindern.           Pflege benötigt das Kind oder der Jugend­
der allgemeinen körperlichen Konstitution.       Wir wissen ja auch, wie problematisch es            liche? Kann das Kind überhaupt einen
                                                 sein kann, als Mensch mit Behinderung im            Mund-Nasen-Schutz tragen? Für all das
   Mit welchen Herausforderungen                 Krankenhaus gut versorgt zu werden…                 müssen wir Sorge tragen und Strukturen
                                                                                                                                                             Juni 2020

sind die Erwachsenen mit Behinderung             Doch unsere Einzelwohner*innen benötigen            schaffen. Auch die HPTs und die Förder-
konfrontiert?                                    alle mehr oder weniger Assistenz, und das           gruppen laufen wieder an. Der Rest des
Alle Werkstätten, Tages- und Förderstätten       ist das Problem. Denn die Assistent*innen           Schuljahres wird vermutlich ein ständiges
sind geschlossen. Dadurch fehlt nicht nur        sind weder pflegerisch noch pädagogisch             Umorganisieren sein.
                                                                                                                                                           info-bayern

sinnvolle Arbeit und Beschäftigung, auch die     ausgebildet. Der Staat wollte hier sparsam
bislang gewohnte Tagesstruktur und ein           sein und hat auf Fachkräfte verzichtet. Wenn          Die Öffnung der Förderstätten wird
Großteil der Sozialkontakte fallen weg. Als      nun jemand erkrankt und in Quarantäne               wohl noch eine Weile dauern…
der Lockdown kam, musste sich jeder unse-        muss, bleibt nur die Einweisung ins Kran-           Das ist am wenigsten absehbar, da hier die
Info-bayern Aktuelles aus dem Verband | Juni 2020 - LVKM
„            Protokoll
                           Christine Mayer:

              Ich hänge
              vollkommen
              in der Luft
                 Meine Firma hat wegen Corona geschlos-
              sen. Normalerweise arbeite ich in den
              Ulrichswerkstätten der Caritas im Bereich
              Verpackung. Trotz Tetraparese kann ich
              meine linke Hand gut kontrollieren und ver-
              packe dort Kosmetikartikel und ähnliches.
              In unserer Gruppe sind wir 15 Personen in
              einem Raum, das Abstandhalten wäre ein
              echtes Problem.
                 Wie verbringe ich meinen Tag? Ich bin
              30 Jahre alt und lebe in der eigenen Woh-
              nung im Augsburger Stadtteil Bärenkeller.                       Die letzten Wochen hatte Christine Mayer weder Ergo- noch Physiotherapie. Zum Glück hat sich
              Von 9 Uhr morgens bis abends um 10 betreut                      das seit letzter Woche geändert. Doch wann sie wieder zum Arbeiten in die Werkstatt gehen
                                                                              kann ist unklar, und Abstandhalten wäre dort ein echtes Problem, sagt sie.
              mich der Assistenzdient PAsst des Fritz-Fel-
              senstein-Hauses. Insgesamt sind es zehn bis                     ich bislang noch niemanden besucht oder                         therapie bekommen habe und nach der
              elf Assistentinnen, die mir beim Waschen,                       getroffen. Mein Immunsystem ist nicht so gut                    Reha quasi von vorne anfangen musste.
              Anziehen, Toilettengang und Kochen helfen.                      beieinander und ich will da lieber auf Num-                     Nach fünf Wochen habe ich nun endlich
              Sobald wir den Abstand nicht halten können,                     mer sicher gehen. Die meisten wohnen auch                       Physiotherapie, zum Glück gleich hier in der
              tragen sie ihre teils selbst genähten Masken.                   über einer Stunde Fahrtzeit von mir entfernt.                   Nachbarschaft. Seit letzter Woche, als klar
              Einige meiner Assistentinnen arbeiten im                        Ein Besuch wäre ziemlich aufwändig. Von                         war, dass sich alles noch länger hinzieht,
              Hauptberuf im Pflegeheim. Sie sollen vorü-                      meiner Familie vermisse ich am meisten mei-                     habe ich dann auch angefangen, mit dem
              bergehend nicht zu mir kommen, weil die An-                     ne Nichten und Neffen. Der Kleinste ist sie-                    Fahrrad-Heimtrainer eine halbe Stunde pro
              steckungsgefahr zu hoch ist.                                    ben Monate alt und ich würde zu gerne mit                       Tag zu trainieren.
                 Meist sitze ich in meinem Schlafzimmer                       ihm kuscheln. Ansonsten bin ich wenig drau-                       Was ist das Schlimmste für mich in der
              und die Assistentin im Wohnzimmer. Ich liebe                    ßen, eigentlich nur zum Einkaufen.                              Coronakrise? Dass ich weder weiß, wann
              Musik und habe eine Sammlung von fast                              Wegen des Lockdowns aufgrund der Co-                         noch wie meine Arbeitsstelle je wieder öff-
              10.000 Songs. Die höre ich am PC oder                           ronakrise hatte ich die letzten Wochen we-                      net. Da hänge ich vollkommen in der Luft.
              schaue Filme im Internet an oder ich kommu-                     der Ergo- noch Physiotherapie. Dabei hatte                      – Und das Gute? Ich habe hier zuhause
              niziere mit Freunden über die sozialen Me­                      ich eine Operation an beiden Hüften, um                         mehr Ruhe. Auf der Arbeit ist es oft sehr
              dien. Manchmal häkele ich mit den Fingern                       besser (mit Unterstützung) laufen zu können                     laut, wenn alle durcheinanderreden. Und…
              mit der Strickliesl. – Das Alleinsein bin ich                   und mehr Beweglichkeit zum Beispiel beim                        (überlegt) mir gefällt es, mal ein bisschen
              gewöhnt. Doch langsam vermisse ich meine                        Aufstehen vom Bett oder der Toilette zu be-                     Pause von meinen Eltern zu haben. Mit de-
              Freundinnen. Als Rollstuhlfahrerin gehöre ich                   kommen. Das Problem war, dass ich in der                        nen habe ich bisher nur über den Balkon
              ja automatisch zur Risikogruppe. Daher habe                     anschließenden Reha die falsche Physio-                         geplaudert.

              vulnerabelste Gruppe der Betreuten ist.                            Was gibt Ihnen Zuversicht in dieser                          len sich diesen Anforderungen, immer wie-
              Auch der Großteil der Therapien ist bislang                     schwierigen Zeit?                                               der ganz schnell, ganz viel umorganisieren
              ausgefallen. Die Mitarbeiterinnen und Mitar-                    Wir haben bei unseren Mitarbeitenden eine                       zu müssen.
              beiter der HPT, der Tagesbetreuung und der                      unglaublich starke Unterstützungsmentalität.
              Förderstätte sind allesamt in Kurzarbeit. Nur                   Der Großteil ist willens und auch sehr flexi-                   Alles Gute und herzlichen Dank
  Juni 2020

              Einzelne konnten Hausbesuche mit Schutz-                        bel, andere Aufgaben zu übernehmen. Da                          für das Interview.
                                                                                                                                                                                          e zi a
              ausrüstung machen oder haben versucht,                          herrschen eine hohe Motivation und Moral.
                                                                                                                                                                                     sp         l
              per Videochat Therapien anzuleiten.                             Alle tragen den Durchhaltekurs mit und stel-
                                                                                                                                                                        c o r o na
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