Musikstunde Partitur des Lichts - Tiepolos Bilderwelten (5) - Von Doris Blaich - SWR

Die Seite wird erstellt Sandra Heine
 
WEITER LESEN
Musikstunde
Partitur des Lichts – Tiepolos Bilderwelten (5)

Von Doris Blaich

Sendung:    2. Juli 2021 (Erstsendung: 19. Oktober 2019)
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR2 2019
Mit Doris Blaich, guten Morgen. Partitur des Lichts – Tiepolos Bilderwelten, so heißt diese
Musikstunden-Woche. In der fünften und letzten Folge gehen wir mit Giovanni Battista
Tiepolo an den Königshof von Madrid, wo er das Schloss mit Fresken ausmalt – und wir
werfen einen Blick auf sein zeichnerisches Spätwerk.

Die Reichen und Mächtigen in Europa sind seine Kunden: Giovanni Battista Tiepolo hat
Bilder für den englischen und französischen König gemalt, für die Zarin von Russland, für
den Fürstbischof von Würzburg, für Adelsfamilien und kirchliche Würdenträger in Italien.
Tiepolos Heimatstadt Venedig ist bis heute voll von seinen Fresken, Ölgemälden und
Altarbildern. Jetzt möchte der spanische König Carlos der Dritte unbedingt Fresken von
diesem berühmten Künstler in seinem neuerbauten Palast in Madrid.

Aber Tiepolo zögert. Er ist 66 Jahre alt und würde seinen Lebensabend nach der vielen
Reiserei eigentlich gerne in Venedig verbringen. Außerdem plagen ihn die Gicht und die
Schmerzein in seinen alten Knochen – kein Wunder, er hat ja praktisch sein Leben lang auf
wackligen Holzgerüsten in kalten Kirchen und Palazzi Wände bemalt. Aber da macht der
spanische König über seinen Botschafter in Venedig Druck.

Und Tiepolo sieht ein: jeder Widerstand wäre zwecklos und so ein königlicher Auftrag ist ja
eigentlich auch sehr reizvoll. Im März 1762 macht er sich also auf die Reise, wieder
begleiten ihn seine beiden Söhne Giandomenico und Lorenzo. Zwei Monate sind sie
unterwegs – Tiepolo wird seine Heimat nie mehr wiedersehen.
Zum Abschied von Venedig ein traditionelles Venezianisches Gondellied. Cecilia Bartoli
singt.

Take 26                                                                               4’00
Traditional:
Venezianisches Gondellied: Mi credeva d’esser sola Take 26
Cecilia Bartoli (Mezzosopran)
Il pomo d’oro
(Begleit-CD zum Buch „Gondola“ von Donna Leon. Diogenes-Verlag 2013)

Cecilia Bartoli und das Ensemble Il pomo d‘oro mit einem Venezianischen Gondellied.

März 1762. Tiepolos Koffer für seine Spanienreise sind schon gepackt, da gibt er noch
schnell ein Interview für die Zeitung „Nuova Veneta Gazetta“. Für seine jungen
Malerkollegen hat er diesen Rat:
„Die Maler müssen mit großen Werken zu reüssieren versuchen, die den Wohlhabenden und
dem Adel gefallen, denn diese entscheiden über den Erfolg eines Künstlers, nicht die
anderen Klassen, die sich keine wertvollen Bilder leisten können. Der Künstler muss daher
stets das Erhabene, das Heroische und die Vollkommenheit vor Augen haben.“ Aber
Venedig ist damals von einer schweren Finanzkrise gebeutelt, da ist es gar nicht so einfach,
Aufträge von Wohlhabenden und Adligen an Land zu ziehen.

In Spanien regiert seit drei Jahren König Karl der Dritte – ein humanistisch gebildeter
Herrscher mit aufklärerischen Reformideen. Er fördert die Bildung in seinem Land und
mindert den Einfluss der Kirche; er bricht mit verkrusteten Gesellschaftsstrukturen, gründet
Waisenhäuser und Hospitäler und holt die Obdachlosen von der Straße. Sich selbst und
seine blaublütige Tradition lässt er natürlich trotzdem feiern. Gerade hat er den neuen
Palacio Real bezogen, ein Prunkbau in Madrid mit über 3000 Räumen. Tiepolo malt eines
seiner Deckenfresken in der Saleta: ein großzügiges Vorzimmer, in dem Botschafter und
andere hochrangige Gäste darauf warten, in den Thronsaal vorgelassen zu werden. Wenn
sie den Blick nach oben wenden, sehen sie die Apotheose der spanischen Monarchie. Mitten
im Bild-Himmel thront die Hispania, die allegorische Figur Spaniens, gekleidet in ein weißes
Seidengewand, umgeben von zwei Löwen, deren Mähne sie völlig angstfrei krault. Hispania
wird in diesem Fresko gleich mit zwei Ehrenkronen bedacht: ein kleiner Putto fliegt mit der
Krone der Tugend herbei und der Götterbote Merkur (gut zu erkennen an seinen
Flügelschuhen) setzt ihr die Königskrone auf – eine richtige Bilderbuchkrone, aus Gold und
Edelsteinen und mit viel rotem Samtplüsch. Rund um Hispania schwebt noch einmal das
ganze    Arsenal    von    antiken   Götter-Figuren,   die   solche   bedeutungsschwangeren
Glorifizierungs-Gemälde traditionell bevölkern. Tiepolo kann dafür gut aus seinen
Musterbüchern schöpfen, die er sich über Jahrzehnte hinweg angelegt hat. Für dieses Bild
kommen noch einige typisch spanische Utensilien dazu: ein Kastell mit altertümlichem Turm,
das steht im spanischen Wappen für Kastilien. Und die Säulen von Gibraltar, hier geschleppt
von dem antiken Kraftprotz Herkules. Gibraltar, dieses Zipfelstück Südeuropas, an dem
Mittelmeer und Atlantik zusammentreffen, ist damals ein ständiger Zankapfel zwischen
Spanien, England und den Niederlanden. Hispania sitzt genau zwischen den beiden Säulen
von Gibraltar und symbolisiert eindeutig ihren Anspruch. Die Säulen von Gibraltar zieren
damals das spanische Wappen, mit der Inschrift „plus ultra“ – „immer weiter“. Gemeint ist
damit Spaniens Herrschaftsanspruch in der Welt – speziell auch in der neuen Welt der
Kolonien. Tiepolos Fresko ist also durch und durch aufgeladen mit politischer Symbolik. In
seinen Pastelltönen und der Weite dieses Götterhimmels wirkt es auf uns trotzdem
erstaunlich verspielt und luftig.

                                                                                          3
So ähnlich wie dieser Fandango von dem spanischen Komponisten Antonio Soler, mit freien
Improvisationen gewürzt vom Ensemble L’Arpeggiata.

M0294741       01-019                                                                9'09
Antonio Soler:
Fandango
L'Arpeggiata
Leitung: Christina Pluhar
[Bild: Modello „Apotheose der spanischen Monarchie“, Modello, Öl auf Leinwand]

L’Arpeggiata unter Leitung von Christina Pluhar mit einem Fandango von Antonio Soler,
quasi aus Tiepolos Playlist – damals nämlich tanzt man in Spanien an jeder Ecke begeistert
Fandango.

Aber zum Tanzen bleibt Tiepolo wenig Zeit: drei große Deckenfresken verlangt der
spanische König Karl der Dritte von ihm – ohne die Hilfe seiner beiden Söhne wäre das nicht
zu schaffen.

Tiepolos Hauptwerke sind monumentale Fresken. Für Ausstellungsmacher ein echtes
Problem, weil man die Fresken natürlich nicht mal schnell aus den Schlössern, Villen und
Palazzi ins Museum verfrachten kann. In der Stuttgarter Tiepolo-Ausstellung hat sich die
Kuratorin Annette Hojer auf zweierlei Weise beholfen: Vom Würzburger Deckenfresko hat sie
eine riesige Abbildung anfertigen lassen und im größten Ausstellungsraum an die Decke
gehängt. Darunter sieht man an der Wand die zahlreichen Skizzen und Erinnerungs-
Zeichnungen, die Tiepolo und sein Sohn dafür gemalt haben – die gehören der Staatsgalerie
Stuttgart und sind das große Pfund, mit dem das Museum hier wuchern kann. Gerade die
Kombination von Rötel-Zeichnungen und farbigem Fresko (auch wenn es nur eine
Nachbildung ist) eröffnet neue Blicke und es macht einfach Spaß, die skizzierten Figuren im
Deckengemälde wiederzufinden.

Von vielen Fresken sind außerdem Tiepolos Modell-Zeichnungen erhalten; farbige Ölbilder
auf Leinwand. Auch von dem Fresko in Madrid, das wir gerade angeschaut haben, gibt es
das. Diese Modelli sind Vorab-Versionen und Diskussionsgrundlage für den Auftraggeber,
man kann darauf natürlich schon das Bildprogramm sehen, die Anordnung der Figuren, die
wesentlichen Motive, die Farben und viele andere Details. Wo möglich, hat man in Stuttgart
für die Ausstellung die Modelli zusammengesammelt. Trotzdem: Fresken sind Raum-Kunst

                                                                                            4
und leben von der Luftigkeit eines hohen Schloss- oder Kirchenraums. In dieser Umgebung,
umringt von der Kunst, erlebt sich auch der Betrachter selbst ganz neu.
Die Frage nach der Rolle des Betrachters – die interessiert auch den zeitgenössischen
Künstler Christoph Brech. Vier seiner Arbeiten sieht man in Stuttgart zwischen Tiepolos
Bildern: Video-Installationen, eine Fotografie und einen großen goldenen Zerrspiegel. Sie
alle setzen sich auseinander mit den Fragen, die auch Tiepolo beschäftigt haben: mit dem
Spiel der Perspektiven und Blickachsen, mit Licht und Linien, mit den Sehgewohnheiten des
Betrachters. Christoph Brechs Fotografie „Scuola Grande dei Carmini, Venezia“ zeigt einen
Saal in Venedig, den Tiepolo mit Deckenfresken ausgestattet hat – aber nicht in seiner Weite
und Farbenpracht, sondern in seinem monochromen Terrazzo-Fußboden; darin spiegelt sich
das vielbeschworene Venezianische Licht, das durch die Fenster einfällt. Ein Dialog von
Licht und Schatten, von Ruhe und Bewegung.

M0011896 – 001                                                                         2’14
Frédéric Chopin:
Etüde op. 25 Nr. 1
Maurizio Pollini (Klavier)
[Bild: Christoph Brech: Scuola Grande dei Carmini, Venezia]

Die Etüde As-Dur op. 25 Nr. 1 von Frédéric Chopin, gespielt von Maurizio Pollini.

„Partitur des Lichts“ ist der Titel dieser Musikstunden-Woche, es geht um die Bilderwelten
von Giovanni Battista Tiepolo. Eben haben Tiepolo und seine Söhne die Arbeit an den
Deckenfresken im Palacio Real in Madrid abgeschlossen, da kommt ein neuer Auftrag vom
Spanischen König: Sieben Altarbilder für die Franziskanerkirche in Aranju‘z. Die ist im Jahr
1767 noch im Bau. Tiepolo macht wie üblich erst mal detaillierte Ölskzizzen. Eines dieser
Bilder zeigt, wie der Heilige Franz von Assisi die Stigmata empfängt: Der Legende nach im
Jahr 1224. Franziskus hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, er fastet, betet, meditiert –
da erscheint ihm in einer Vision ein Engel, der die Wunden Christi auf seinen eigenen Körper
überträgt. Auf Tiepolos Skizze sieht man Franz von Assisi im Moment der Vision – ein Buch
und ein Totenschädel deuten es an. Der Heilige lehnt an einem Stein, fast ohnmächtig und
leichenblass; seine Hände zum Himmel hin geöffnet. Vor ihm ein Kreuz aus zwei knorrigen
Ästen, hinter ihm abgestorbene Bäume. Am Himmel kreisen schwarze Vögel: Krähen oder
Raben. Ein schauriges Bild, trotz seiner lichten Farben. Alles darin deutet auf Schmerz, Tod
und Vergänglichkeit.

                                                                                              5
Diese Spannung liegt auch in unserem nächsten Musikstück: eine Passacaglia aus dem
barocken Italien. Sie ist anonym überliefert und 1677 im Druck erschienen. Das Fundament
im Bass, ein Ostinato aus ein paar wenigen Tönen, wird die ganze Zeit wiederholt. Darüber
liegt die schlichte Melodie eines Strophenliedes mit dem Refrain: „Bisogna morire“ – Man
muss sterben.

Mit ganz einfachen Worten formuliert dieser Text das Gesetz der Vergänglichkeit: „Ein jeder
muss sterben. Man stirbt beim Singen, beim Spielen, beim Musikmachen. Man stirbt beim
Tanzen, beim Essen und Trinken. Egal ob alt oder jung, tapfer oder feige: Ein jeder muss
sterben. Wenn du nicht darüber nachdenkst, dann hast du wohl deine Sinne verloren. Dann
bist du tot und kannst wiederum sagen ‚Ein jeder muss sterben’“.

1993478         01-011                                                               4'20
Anonymus:
„Passacaglia della vita“ (Sopran, Countertenor, Violine, Basso continuo)
Suzie Le Blanc (Sopran)
Steve Dugardin (Countertenor)
Tragicomedia
Leitung: Erin Headley

Ein Lied vom Tod – und auch vom Leben: die „Passacaglia della vita“, anonym überliefert
aus dem barocken Italien. Suzie Le Blanc und Steve Dugardin waren die beiden Sänger, die
Instrumente kamen vom Ensemble Tragicomedia.

Tiepolos Altarbilder hängen keine drei Jahre. 1770 ersetzt man sie schon durch andere
Gemälde von jüngeren Malern, im Stil des Klassizismus: Strenge Formen, klare Konturen
heißt die neue Devise – Tiepolos aufgebauschte Wolken, seine verspielten Puttos, seine
ausladenden Allegorien sind aus der Mode.

Der Maler Anton Raphael Mengs wird in Madrid zum Gegenspieler des alten Tiepolo. Ihr
Zeitgenosse Johann Joachim Winkelmann, Archäologe und in seinem Kunstgeschmack der
neueren Richtung zugetan, fällt ein vernichtendes Urteil: „Thiepolo“ so sagt Winkelmann,
„macht mehr an einem Tage, als Mengs in einer Woche; aber jenes ist gesehen und
vergessen; dieses bleibt ewig.“ Aber auch diese Aussage blieb dem Zeitgeschmack
unterworfen.

Schauen wir zum Abschluss nochmal auf die Zeichnungen von Tiepolo. Sein zeichnerisches
Talent war es letztlich, das es ihm ermöglichte, so virtuos und schnell seine Gemälde auf

                                                                                            6
Leinwand und Zimmerwände zu bannen. Über 3000 Zeichnungen von Tiepolo sind erhalten,
er hat sie leider nie datiert. Sie zeigen seinen ganzen Kosmos von Figuren und Formen:
Faltenwürfe und Tennisschläger, Puttos und Mohren, Gesichter und Schmuckstücke, Tiere,
Hände und Füße in unterschiedlichster Perspektive.

Manche davon zeugen von einem ziemlich derben Humor – wie zum Beispiel die Karikatur
eines sitzenden Mannes. Mit wenigen Feder- und Pinselstrichen malt Tiepolo da einen
massigen älteren Zeitgenossen, mit fast hässlichen Gesichtszügen – in majestätischer Pose
sitzt er auf einem Nachtstuhl und verrichtet seine stinkenden Geschäfte.
Wolfgang Amadeus Mozart, der immer etwas übrig hatte für zotige Witze, hätte daran seine
helle Freude gehabt. Deshalb kommt jetzt von ihm eine musikalische Karikatur: das Finale
aus dem „Musikalischen Spaß“. Das spielt mit derben Jagdmotiven, die absichtlich schräg
intoniert und grotesk zertrillert werden. Eine überzogen gelehrte Fuge versandet immer
wieder in der Ratlosigkeit; gezielt gesetzte falsche Töne produzieren Kakophonie.

M0335528      01-014                                                                    4'14
Wolfgang Amadeus Mozart:
4. Satz: Presto aus: Ein musikalischer Spaß für 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Bass KV 522
Le Concert des Nations
[Bild: Karikatur eines sitzenden, verwachsenen Mannes, Berlin, Staatliche Museen,
Kupferstichkabinett]

Das Finale aus Mozarts musikalischem Spaß, gespielt von Le Concert des Nations.

Tiepolo – das möchte die Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart zeigen, ist ein Maler, der
mit den Grenzen spielt. Er unterläuft alte, hehre Traditionen mit der Frische des Humors;
etwa wenn er in seinem Ölgemälde „Der Raub der Europa“ einen kleinen Putto auf eine
Wolke stellt und ihn im hohen Bogen herunterpinkeln lässt. Oft sind in Tiepolos Bildern auf
den zweiten Blick die Gesetze der Logik raffiniert unterwandert. Blicke und Gesten laufen ins
Leere. In seinen Radierungen mit dem Titel „Vari Capricci“ treibt Tiepolo das Verwirrspiel auf
die Spitze: Er holt verschiedene Requisiten aus dem Fundus, die alle mit Bedeutung
aufgeladen sind: Totenschädel, Eulen, Knochen, alte Bücher. All das scheint zunächst
schlüssig miteinander kombiniert – es scheint aber nur so. Einen Sinn kann man in diesen
Bildern auch mit den größten interpretatorischen Verrenkungen nicht erkennen, sie
widersetzen sich absichtlich den Gesetzen der Vernunft.

                                                                                               7
Und spielen stattdessen mit den Zwischenwelten von Traum und Fantasie. Damit reichen
Tiepolos Ideen weit hinein in die Moderne und werden zum Beispiel für den Spanier
Francisco de Goya eine wichtige Anregung. Die Kuratorin Annette Hojer formuliert es in
ihrem Ausstellungskatalog so:

„Es war eine spezifisch künstlerische Intelligenz, die Tiepolo zum Vorbild für Goya machte
und die es dem Venezianer erlaubte, trotz der in ganz Europa spürbaren Umbrüche die alte
Weltordnung in seinen Bildern zugleich aufrechtzuerhalten und subtil zu hinterfragen. So
beruhen die subversiven Elemente in der Kunst Tiepolos auf allein ästhetischen Strategien
der Verfremdung: Sie fordern die Reflexion des Betrachters über seine Wahrnehmung
heraus und bieten dadurch eine neue Perspektive auf traditionelle Inhalte, jedoch sind sie
nicht entstellend oder sarkastisch und haben auch keine sozialkritische Dimension.
Obwohl sich Parallelen zwischen Tiepolos Kunstverständnis und den neuen Ideen der
Aufklärung aufzeigen lassen, konnte seine Malerei mit ihrer brillanten Farbigkeit, ihrem
Motivreichtum und ihren aufwendigen Inszenierungen weiter als Inbegriff der Fantasie und
damit Fortsetzung der ruhmreichen venezianischen Tradition verstanden werden.“
… schreibt die Kunsthistorikern Annette Hojer.

Die wilde Kombination von Motiven, die eigentlich nicht zusammengehören – daran findet
auch eine ganze Generation von Komponisten Gefallen. Die beiden ältesten Söhne von
Johann Sebastian Bach zum Beispiel spielen virtuos mit solchen Brüchen: mit Melodien, die
ins Leere laufen, mit Gesten, die dann plötzlich ins Gegenteil umknicken, mit harmonischen
Regelbrüchen. Hören wir eine Fantasie von Carl Philipp Emanuel Bach, in der er all das
zelebriert.

M0352851      01-007                                                                 7'26
Carl Philipp Emanuel Bach:
Fantasie für Klavier Nr. 2 C-Dur Wq 59 Nr. 6
Christine Schornsheim (Hammerklavier)

Christine Schornsheim mit einer Fantasie für Klavier von Carl Philipp Emanuel Bach – ein
virtuoses Spiel mit Regelbrüchen, das sich vom strengen Architekturgerüst des Barock
lustvoll abwendet und dieses Regelwerk aber gleichzeitig immer im Hinterkopf mitdenkt.
Und damit ein musikalisches Gegenstück zu Tiepolos fantasievollen Radierungen.

Giovanni Battista Tiepolo stirbt am 27. März 1770 im Alter von 74 Jahren in Madrid. Man
bestattet ihn in der Kirche San Martin, die wird später abgerissen, sodass sein Grabmal

                                                                                            8
verloren ging. Die Nachricht von seinem Tod erreicht Venedig einen Monat später. Tiepolo
hinterlässt seiner Witwe und seinen vielen Kindern ein beträchtliches Vermögen, das er vor
allem in Ländereien angelegt hat. Und natürlich viele seiner wunderbaren Bilder.

Schauen wir zum Abschluss noch auf eines seiner letzten Ölgemälde: Ruhe auf der Flucht
nach Ägypten. Eigentlich mehr ein Landschaftsbild als ein religiöses Gemälde: Schroffe
Felsen dominieren, ein finsterblauer Gebirgsfluss zerklüftet die Landschaft, ein Nadelbaum
lehnt sich bedrohlich schief gegen einen Stein. In dieser unwirtlichen Umgebung
verschwinden die Hauptfiguren beinahe: Maria und Joseph mit dem Jesuskind. Sie kauern
auf einem kleinen Holzsteg, laut der Legende soll gleich ein Engel zur Überfahrt erscheinen;
der ist hier aber weit und breit nicht in Sicht. Ein melancholisches Bild, ein religiöses
Capriccio, das zum Nachdenken anregt.

Die Augen möchten sich hineinvertiefen in die bizarren Formen und Konturen der Landschaft
und sich ausruhen im flächigen Blau des Himmels mit seiner erstaunlichen Leuchtkraft.

Lux aeterna luceat eis – Das ewige Licht möge ihnen leuchten – diese Worte stammen aus
dem lateinischen Requiem, und damit lassen wir die Musikstundenwoche jetzt ausklingen:
eine Vokalbearbeitung von Edward Elgars Nimrod aus den Enigma-Variationen. Ein Stück
aus einer ganz anderen Zeit zwar, aber in seiner musikalischen Leuchtkraft doch auch
verwandt mit der Bilderwelt von Giovanni Battista Tiepolo.

M0393398        01-003                                                                  3'52
Edward Elgar:
Lux Aeterna für Vokalensemble a cappella, bearbeitet nach der Variation "Nimrod" aus den
Enigma-Variationen op. 36
Voces8
[Bild: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Öl auf Leinwand, Staatsgalerie Stuttgart
https://www.staatsgalerie.de/sammlung/sammlung-
digital/nc/suche/_/sgs.tiepolo_2019/_/0/werk/auflistung/record.html]

Lux aeterna aus Edward Elgars Enigma-Variationen, eine Bearbeitung für Singstimmen, hier
gesungen vom englischen Vokalensemble Voces8.
Und das war der Ausklang unserer Musikstunden-Woche zu Giovanni Battista Tiepolos
Bilderwelten.

                                                                                               9
[Die große Tiepolo-Retrospektive in der Staatsgalerie Stuttgart wurde letzte Woche eröffnet,
sie geht noch bis zum 2. Februar. Parallel dazu gibt’s eine zweite Ausstellung mit
Zeichnungen von Tiepolo und seinen Venezianischen Kollegen.]

[Diese Sendung können Sie wie immer nachhören: über die SWR2-App oder – mit gekürzten
Musiken – auf unserer Website swr2.de/tiepolo.
Da finden Sie auch alle anderen Sendungen, Bilder und Filme, mit denen wir die Ausstellung
begleiten.] Frohes Schauen, Hören und Entdecken wünscht Doris Blaich.

                                                                                         10
Sie können auch lesen