Ins Bild kommen, im Bild sein - Versuch über den Auftritt in un-/bewegten Bildern - Theater der Zeit

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Ins Bild kommen, im Bild sein
Versuch über den Auftritt in un-/bewegten Bildern
von Beate Söntgen

Der Auftritt braucht einen Rahmen, der die Szene, in die eine Figur eintritt, einfasst und abschließt. Es bedarf
einer Grenze, die überschritten werden muss, um diesen Eintritt als solchen zu markieren. Der Moment des
Auftritts verändert die Szene, die gefriert im Augenblick des Umschlags, den der Eintritt einer Figur bewirkt.
Der Auftritt ist also, zumindest seit der Erfindung der Guckkastenbühne im 18. Jahrhundert, verbunden mit
einer spezifischen Bildlichkeit, die in der Theatertheorie der Zeit unter dem Begriff des Tableaus behandelt
wird.406 Die Theaterschriften weisen eine Fülle an Parallelen zwischen Bild und Bühne auf, die das Theater
mit den Mitteln der Malerei reformieren sollen: seien sie von Diderot, der die Bühnenhandlung ausmalt als
Folge von Tableaus, seien sie von Lessing, der mit dem Modell des fruchtbaren Moments die entscheidende
Szene ebenfalls bildlich auffasst. Dieser Beitrag versucht nun umgekehrt zu beschreiben, in welcher Weise
der Auftritt für Bilder verwendet und was dabei gewonnen werden kann. Denn zunächst scheint es ja wenig
Sinn zu machen, eine Darstellungstechnik, die an einen bewegten Körper gebunden ist, auch auf unbewegte
Bilder zu beziehen.

Aus dem Auftritt, verstanden als ein Darstellungsmodell, lassen sich drei auch für Bilder relevante Aspekte
gewinnen. Zum einen lassen sich die narratologischen Möglichkeiten und Grenzen von Bildern präziser
bestimmen. Zum anderen bietet dieses Modell einen erhellenden bildwissenschaftlichen Zugang zum
bewegten Bild, und zwar über die Gemeinsamkeit der Funktion des Rahmens. Drittens birgt der Auftritt
darstellungstheoretische Dimensionen durch seine Verbindung mit dem Begriff des Tableaus. Der Auftritt
konstituiert, wie Bettine Menke herausgestellt hat, das Innen des Darstellungsraumes, und zwar gerade
durch die Aktivierung des Off im On.407Denn jedes Innen ist, um als solches vorkommen zu können, auf ein
Außen angewiesen. Wegen dieser Angewiesenheit des On auf ein Off werden nicht nur die Rahmen,
sondern auch die Rahmenbedingungen von Darstellungen im Auftritt sichtbar. Während Bettine Menke
davon ausgeht, dass gerade dieser Aspekt in der Tableauidee mit ihrer Phantasie der Geschlossenheit des
Bildes verschwindet,408 werde ich anders argumentieren: Die Tableaukonzeption zumindest von Diderot
kehrt, in einer paradoxen Wendung, die Bedingungen des Darstellens hervor und zersetzt die Idee des
einen, geschlossenen Bildes, ohne sie als Darstellungsmodell zu verwerfen.

Es geht, um Missverständnissen gleich vorzubeugen, nicht um eine Geschichte des Auftritts in Bildern,
sondern allein um den Versuch, einige prägnante Merkmale in systematisierender Perspektive zu erfassen.
Dies soll geschehen am Beispiel von zwei Szenen, die im Sinne von Gerhard Neumann die Bedingungen
des Darstellens hervortreten lassen.409 Die eine dreht sich um Jean-Honoré Fragonards berühmtes
Historienbild Coresus und Callirhoe, das ihn im Salon von 1765 zum Hoffnungsträger für die Erneuerung der
französischen Malerei nach Watteau machte und von Diderot ausführlich und überaus eigenwillig
besprochen wurde. Die zweite stammt aus der Gegenwart, The Victim, eine Videoarbeit von Keren Cytter
aus dem Jahr 2006, in der antike Stoffe und Verfahren aufgegriffen und im neuen Medium auf anschauliche
Weise auch darstellungstheoretisch bearbeitet werden. Im Vergleich und über die Figur des Auftritts wird es
möglich, die Konzeption des Tableaus, die Funktion des Rahmens wie auch das Verhältnis von unbewegtem
und bewegtem Bild differenzierter zu verstehen.

Rahmen und Schwellen

Auftritte sind, wie gesagt, angewiesen auf einen Rahmen, um erkennbar zu sein, sind also
Schwellenszenen. Um Schwellen als solche wahrnehmen zu können, braucht es einen gefassten,
gekennzeichneten Raum mit klaren Grenzen. Das heißt, dass das Auftreten und seine Effekte nicht allein
durch ein Zeitmoment determiniert sind, sondern auch, besonders im Falle der Malerei, die Bewegung als
solche ja nicht darstellen kann, durch Räume und das Verhältnis von Körper und Raum. Der Eintritt in die
Szene setzt neben dem Schauraum einen zweiten, meist nicht sichtbaren Raum voraus, ein Off, aus dem
eine Figur sich herauslöst, in Erscheinung tritt und mit ihrem Erscheinen den Schauraum verändert. Und
zwar nicht nur die Konstellation der Personen, sondern auch die Räumlichkeit der Szene, die nun als
geöffnete, perforierte wahrgenommen wird, bevor sie sich im Moment des Auftritts zu neuer Einheit, zum
Gesamtbild einer neuen Situation, eines veränderten Geschehens zusammenfügt. So kommt zur
körperlich-räumlichen Bedingtheit des Auftritts der Aspekt des Bildlichen dazu. Im Theater der die Handlung
pointierenden Tableaus ist der Auftritt der Agent, der den Umschlag von einem Bild ins nächste bewirkt. Es
handelt sich indes um eine prekäre Bildlichkeit, zumindest vor der Folie der Phantasie des in sich
geschlossenen Bildes, die sowohl Diderot als auch Lessing wirkmächtig auch für das Theater beschworen
haben. Das Öffnen, das Perforieren des Bildraums auf der Bühne zeigt die Instabilität des einen Bildes an,
das für das Vor-Augen-Stellen von Handlung so viel leisten soll. Diese Instabilität, die im Changieren von
Bildwerden und Bildsein liegt, prägt aber auch das gemalte Bild, wie sich an Diderots Beschreibung, oder
besser Mise en Scène von Fragonards Gemälde besonders gut zeigen lässt.

Doch zunächst soll aufgerufen werden, welche Funktion der Rahmen, den wir hier als eine Bedingung des
Auftritts verstehen und der zugleich das Verständnis einer Bühnenszene als Bild erst ermöglicht, in der
Malerei hat.410 Der Rahmen ist gleichermaßen Medium der Abtrennung wie der Verschleifung von Bild und
Umraum. Zum einen gehört er zum konkreten Objekt Gemälde, zum anderen ist er, als das Andere des
Gemäldes, das dieses von seiner Umgebung trennt und dessen herausgehobenen Status betont, auch Teil
von eben dieser Umgebung und nicht des Gemäldes.411 Rahmen kennzeichnen Bilder als Ausschnitt, eine
Vorstellung, die die auf Alberti zurückgehende Metapher der Malerei als Fenster412 besonders prägnant zum
Ausdruck bringt. Umgekehrt aber stellen Rahmen auch die Eigenheit und Einheit dessen heraus, was sie
eingrenzend umschließen. Diese doppelte Wirkweise der Trennung und Verbindung, des Fragmentierens
und Vereinheitlichens eignet nicht nur den Rahmen um Bilder, sondern ebenso innerbildlichen Rahmungen
wie Fenstern, Türen, Spiegeln oder Bildern im Bild. August Langen hat die Rahmenschau als eine
Grundform des Sehens und Begreifens beschrieben.413 Sie isoliert, stellt still und führt zu einer Konstellation,
die den Gegenstand des im Rahmen zu Sehenden erst als solchen konstituiert. Im 18. Jahrhundert gerät die
abgrenzende und zur genauen Beobachtung freistellende Funktion der Rahmenschau zum Kennzeichen des
Rationalismus. „Umgrenzung, Bewegungslosigkeit und Zusammenschau“ sowie, und das ist für unseren
Zusammenhang von besonderer Bedeutung, das Verfestigen von Bewegtem zur Situation,414 sind die
Vorteile des Blicks durch den Rahmen, die die Fassbarkeit des Gegenstandes und die Evidenz des im
Rahmen Zusammengefassten gewährleisten. Diese epistemologische Leistung wird nicht nur durch die
Verselbständigung des Rahmens bedroht, der durch die Räume des Rokoko wuchert und deren geradlinige
Ecken ebenso verschleift wie die Differenz von Innen und Außen.415 Auch die Möglichkeit der
Überschreitung zersetzt den zusammenfassenden Effekt der im Rahmen dargestellten Szene, einen Effekt,
der im Falle des Auftretens bewusst und produktiv genutzt wird.

Schwellenfiguren zeigen in Bildern die Übertretung an, und zwar meist, aber nicht nur von innerbildlichen
Rahmen. Rahmen grenzen den Raum der Szene ein und ab von einem anderen Raum, der durch den
Rahmen weggeblendet und gleichermaßen wachgehalten wird. Innerbildlich können das Räume
unterschiedlichster Qualität sein: weitere imaginäre Innenräume, ein Außenraum, der sich in Teilen, so bei
Fenstern oder Türen, auch zeigen kann, oder auch nichtirdische Sphären. Eine der schwierigsten, aber auch
produktivsten Schwellenfiguren ist der Engel der Verkündigung, mit dem die Malerei lange, bis zu den
Realismen ab dem 17. Jahrhundert und darüber hinaus, als Darstellungsproblem gekämpft hat. Denn der
Engel als unsichtbares Wesen hat nicht nur den Raumwechsel, sondern auch den Eintritt in die Sichtbarkeit
als Auftritt in der irdischen Welt zu bewältigen. Aus der Fülle der Beispiele sei Francesco del Cossas
Dresdener Verkündigung aus den Jahren 1470 bis 1472 gewählt (Abb.1), ein Bild, das vor innerbildlichen
Rahmungen nahezu überquillt.

Die Szene spielt in einer streng symmetrischen, frontal präsentierten und prächtig geschmückten
Palastarchitektur, die sich in zwei Bogen öffnet. Der eine rahmt Maria vor ihrem Interieur, dem sie
zugeordnet und zugleich entrückt ist. Gabriel erscheint kniend mit erhobenem Arm, der den
bedeutungsvollen Redegestus anzeigt, im anderen Bogen auf der linken Seite. Die Sphären von Engel und
Maria sind strikt getrennt, streng genommen sieht Gabriel sie nur durch die Säule hindurch, die ein Symbol
der Gegenwart Gottes ist. Dieser erscheint auch im Bild, winzig klein und von der Taube begleitet, die sich
auf den Weg zu Mariens Ohr aufmacht, im Stückchen Himmel über Gabriel. Der Erzengel berührt mit der
Fußspitze den Bildrahmen und vermittelt so zwischen drei Sphären, zwischen Himmel, Erde und dem Raum
des Betrachters. Sein Eintritt in die Szene, von Gott bewirkt, wie die Achse von der Hand an der Säule über
den Heiligen Geist zu Gottvater anzeigt, verändert die häusliche Szene Mariens, wie er ihr ganzes Leben
verändern wird. Das heilige Buch, in dem sie ihr Schicksal lesend vorwegerkannt hat, liegt nun zugeschlagen
auf dem Tisch. Maria hat sich erhoben, ist in den Vorraum getreten und nimmt unter der Würdeformel des
Bogens demütig das Wort Gottes an, das in ihrem Leib Fleisch werden wird. Engel und Gottvater erhalten,
um im irdischen Rahmen erscheinen zu können, menschliche Gestalt, die ihr göttliches Wesen verhüllt; ihr
Auftritt im Bild vergegenwärtigt ein Off, das nur im Modus der Entstellung sichtbar werden kann. Maria wird
folgerichtig auch nicht als Sehende dargestellt: Sie hat die Augen niedergeschlagen, und die Säule versperrt
die Sicht auf das überirdische Wesen. So weit, so klassisch, was die Rahmungen, die Raumaufteilung, den
Auftritt des Engels und seine Effekte betrifft.

Es gibt aber noch eine weitere Figur im Bild, fast eine Auftrittsfigur, wenn ihr Tempo nicht so gemächlich
wäre, eine Schnecke, deren tragende Bedeutung für die Darstellung Daniel Arasse herausgestellt hat.416 Die
theologischen Aspekte seien für unseren Zusammenhang in den Hintergrund geschoben, und zwar
zugunsten der Schwellenfunktion des Tierchens. Die Schnecke kriecht, unproportional groß im Verhältnis zu
den anderen Figuren, auf dem unteren Bildrand entlang, sie ist nicht Teil des Bildes, sondern auf ihm, auf
der Oberfläche der bemalten Leinwand, ist auch durch ihre Größe weniger der Szene als dem Raum des
Betrachters zugewiesen. Wie der Fuß des Engels aktiviert die Schnecke diesen Raum als ein besonderes
Off der Szene, die uns, als Zeichen göttlichen Heilsgeschehens, zur Bekräftigung des Glaubens vor Augen
gestellt wird. Anders als die innerbildlichen Zeugen im Hintergrund des Engelbogens, die die überirdische
Erscheinung nicht erkennen können, ist diese für uns, wenn auch entstellt, sichtbar gemacht.

Abb. 1: Francesco del Cossa: Verkündigung an Maria, um 1470 bis 1472
Als eine Figur, die aus dem Rahmen fällt, als eine Figur der Unähnlichkeit mit dem Schöpfergott, dem sie
zugleich über die Hand an der Säule in einer Achse zugeordnet ist, macht die Schnecke, so Arasse, das
Wunder der Darstellung deutlich, das durch die winzigen Figürchen von Gottvater und Taube nicht sichtbar
bewirkt wird: den Eintritt des Schöpfers in sein Geschöpf, der die Sichtbarwerdung des Unsichtbaren
bedeutet, und zwar nicht im Modus der Abbildung dessen, was ohnehin nicht abbildbar ist, sondern im
Modus einer Wahrnehmbarkeit, die durch Unähnlichkeit erzeugt wird.417

Abb. 2: Pieter de Hooch: Die Mutter, 1661 bis 1663

Auf Cossas Gemälde zeigt sich nahezu paradigmatisch die Verquickung narratologischer, bildtheoretischer
und in diesem Fall auch theologischer Aspekte in der Figur des Auftritts als einer Figur, die den Schauraum
mitsamt den darin dargestellten Handlungen verändert, die diversen Räume des Off aktiviert und den
prekären Status von Sichtbarkeit reflektiert. Wenn menschliche Figuren Schwellen in Bildern überqueren, tun
sie dies meist und vor allem im Dienste der Visualisierung einer Geschichte, wie Wolfgang Kemp in seiner
Studie zur Bilderzählung in der frühen Neuzeit herausgestellt hat.418 Die Malerei des holländischen 17.
Jahrhunderts hat sich obsessiv mit der Staffelung und Schachtelung von Räumen befasst, in
Innenraumdarstellungen, die von sesshaften und von Schwellenfiguren bevölkert sind. Sie halten das Außen
des dargestellten, offensiv perforierten Innen wach, sei es der imaginäre Außenraum eines Interieurs oder
aber das Außen des Betrachters, der in solchen Bildern seinen indirekten, doch deutlich wahrnehmbaren
Auftritt hat. Theologische Aspekte sind nicht verschwunden, sie verbleiben in Latenz, während
Darstellungsfragen in den Vordergrund gerückt sind.

Abb. 3: Pieter de Hooch: Eine Dame und ein junger Mann mit einem Brief, 1670

Pieter de Hooch hat seine Räume durch innerbildliche Rahmungen, durch Türen, Fenster, Durchblicke, aber
auch Bilder im Bild geöffnet auf Außenwelten unterschiedlichster Qualität.419 Im Bild einer Mutter an der
Wiege (Abb. 2) dient die Öffnung auf das Außen nicht der Darstellung einer konkreten Welt, sondern dem
Auftritt des Lichtes, dem ein kleines Kind an der Schwelle mit gebannter Aufmerksamkeit entgegensieht. Die
Mutter hingegen ist ganz ins Innere des Wohnraums und die Sorge um den in der Wiege verborgenen
Säugling vertieft, erhellt vom überirdischen Glanz, der ihren Leib pointiert und sie in eine mariologische
Perspektive rückt.420 Ein durch und durch irdischer Bote hat die Schwelle eines anderen Haushalts
überschritten und hält der Dame des Hauses einen Brief entgegen (Abb. 3). Der neugierige Blick des Kindes,
das auf einer weiteren Schwelle innehält, und die ängstliche Haltung des Hundes weisen darauf hin, dass es
sich um einen Fremden handelt, der mit seiner vermutlich amourösen Nachricht421 die Ruhe des Haushalts
stört.

Abb. 4: Pieter de Hooch: Der Liebesbote, um 1668 bis 1670

In einer weiteren Darstellung stürmt der Briefbote geradezu ins Haus und veranschaulicht mit der
vornübergeneigten, drängenden Haltung die Unruhe, die er im Inneren des Hauses und der Frau
verursachen wird durch seine Botschaft (Abb. 4). Sein Fuß ist noch auf der Schwelle zum Außenraum, der
sich in der schmalen Öffnung des Türrahmens als dichter Stadtraum zeigt, während die Frau durch eine
kleine Flucht weiterer Innenräume ganz dem Haus zugeordnet wird. Was diese beiden Bildchen
narratologisch aufbieten, sind die Liebesverstrickungen, die den Haushalt von außen bedrohen,422 aber
auch die dichte Verwobenheit von Innen- und Außenraum in einer Kultur, die in ihrem Selbstverständnis auf
Innerlichkeit orientiert ist.

Abb. 5: Nicolaes Maes: Lauscherin, 1657

Dass der tugendhafte, stets von Agenten des Außen bedrohte holländische Haushalt auch als Schauraum
zu verstehen ist, machen die vielen Handbücher mit ihrer Anleitung zur gottgefälligen, aber vor allem von
den Nachbarn begutachteten Ausstattung ebenso deutlich wie die Fülle an gemalten Haushalten, die
Vorbilder zum Nachleben geben. Auf Nicolaes Maes’ Darstellung eines Interieurs, das wie ein Puppenhaus
gerahmt und zur Betrachtung geöffnet ist, steht im Vordergrund eine Magd, die diesen Schauaspekt und
damit das Off des Zuschauerraumes offensiv in Szene setzt (Abb. 5). Dieser Haushalt ist ein geteilter: das
Familienmahl im erhöhten Wohnraum, unten im Keller eine Verführungsszene mit einer weiteren Magd und
einem Fremden. Die Magd im Bildvordergrund hat sich wie eine Chorfigur aus dem Fond der Szene gelöst
und kommentiert diese, indem sie, uns adressierend durch einen direkten Blick, einen Finger an den Mund
führt, um uns zur stillschweigenden Teilhabe aufzufordern.423 Ihr Auftritt verläuft invertiert, aus der Szene
heraus auf das Publikum zu, er wirkt sich aber dennoch auf diese aus, indem er die um den Tisch
Versammelten zu Ahnungslosen werden lässt, das Liebespaar seiner Intimität beraubt und weitere Zeugen
beider Szenen involviert. Solche direkten Formen der Adressierung sind jedoch die Ausnahme. Die meisten
Szenen werden, wie bei de Hooch, als in sich geschlossene Szenen präsentiert, in der die Instanz des
Betrachters als heimlicher Beobachter installiert wird.

Trotz der Dominanz der Auftretenden sind es nicht diese selbst, die durch den Auftritt in die Aufmerksamkeit
gehoben werden. Diese gilt vor allem den weiblichen Figuren, die schon da waren und wirken, als wären sie
immer schon im Bild gewesen, und der Szene, die dem Auftritt vorausgegangen ist und nun durch den
Auftritt retroaktiv imaginär rekonstruiert wird. Es sind sämtliche Szenen ruhiger, in sich absorbierter
Häuslichkeit, derer prekärer Status durch den Auftritt eines meist männlichen Agenten des Außen
hervorgehoben wird. Erst durch ihn wird die durch die notwendigen Öffnungen des Hauses, Türen und
Fenster, immer schon gegebene Perforierung des Innen wachgerufen. In die Zukunft wirkt der Auftritt,
narratologisch gesehen, als Anstoß sich auszumalen, was etwa der Brief bei der Empfängerin ausrichtet, ob
es bei inneren Gefühlsregungen bleibt und wie diese verfasst sind oder ob dem vermuteten Ansinnen – der
Inhalt des Briefes ist ja nicht entzifferbar – stattgegeben wird. Der Rahmen, der den Auftritt als solchen
ermöglicht, das Interieur und seine Öffnungen, legt in den Bildern alltäglichen Lebens das semantische Feld
für die Deutung der Figuren und Situationen fest. Und zugleich ist der Rahmen der Ort, an dem die durch ihn
hergestellte und in ihm dargestellte Ordnung bedroht wird durch seine Durchlässigkeit auf das Außen. Auch
in diesen Bildern geht es um die Frage, ob und in welcher Weise eine derart verfahrende Malerei sichtbar
machen kann, was verborgen oder nicht darstellbar ist, in unseren Gemälden das Innenleben der weiblichen
Figuren, das erst durch den Auftritt weiterer Figuren sich als solches zeigen kann.

Vom Tableau zur Bilderkette: Diderot betrachtet Fragonard

Diese enge semantische Verklammerung von Rahmen und Figuren ist nicht immer gegeben. Sie ist typisch
für die Darstellung alltäglicher Situationen, die zu Beginn der Moderne privilegiert wird für den Ausdruck
wahrer Gefühle, so bei Diderot, der das Interieur zum idealen Rahmen wahrer Darstellung erhoben hat.424
 Bei der Historie, die nach wie vor als ranghöchste Gattung gilt, der das Genre im besten Falle gleichgesetzt
werden kann, gibt es oft eine architektonische Rahmung, die rein repräsentativen oder hinweisenden
Charakter hat. So auch im berühmten Bild von Fragonard, Coresus und Callirhoe (Abb. 6), das im Folgenden
genauer angeschaut werden soll, und zwar durch die Brille von Diderot. Erst seine Beschreibung macht das
Bild zu einer Darstellung, die vom Modell des Auftritts regiert wird.

Abb. 6: Jean Honoré Fragonard: Coresus und Callirhoe, 1765

Auf den ersten Blick hat diese Darstellung rein gar nichts mit dem Thema Auftritt zu tun: Alle sind in die
Szene absorbiert, alle sind schon im Bild, keiner betritt die Szene und keiner schaut aus dem Bild heraus.
Auch die Differenz zwischen markierten Auftritten, wie sie die beschriebenen Bilder kennzeichnen, und
unmarkierten hilft hier nicht weiter, denn alle sind, wie gesagt, schon da. Das Bild verkörpert ein Tableau im
besten Sinne, eine in sich geschlossene und damit schlüssige Szene, und entspricht damit dem im 18.
Jahrhundert stark gemachten Ideal der vierten Wand, der Absorption aller Protagonisten in die Szene, die
den Betrachter abspaltet und leugnet. Und Diderot war derjenige, der dieses Ideal wirkmächtig beschrieben
hat.425 In seinem Salon zu Fragonards Coresus und Callirhoe liest sich die Vorstellung vom Tableau jedoch
anders: Hier verdeutlicht Diderot, wie sehr auch eine solche in sich geschlossene Szene durch die Idee des
Auftritts determiniert ist.426 Erst der Text erhellt, dass Bilder, um narrativ aufzugehen, eine Kette von
Auftritten, sichtbar oder latent, markiert oder unmarkiert, implizieren. Damit wird aber das, was als stabile
Einheit mit scharfen Rändern gedacht ist, perforiert, geöffnet und prekär.

Roland Barthes hat die Darstellungstheorie von Diderot primär von der Figur des Rahmens her verstanden:

Die gesamte Ästhetik Diderots beruht bekanntlich auf der Gleichsetzung der Theaterbühne mit dem
gemalten Bild: das perfekte Stück ist eine Abfolge von Bildern, das heißt, eine Galerie, eine Ausstellung: die
Bühne bietet dem Zuschauer ‚ebensoviele wirkliche Bilder wie es in der Handlung für den Maler günstige
Momente gibt‘. Das Bild (in der Malerei, im Theater, in der Literatur) ist ein unumkehrbarer, unzersetzbarer,
reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern, der seine ganze unbenannte Umgebung ins Nichts verweist und all
das ins Wesen, ins Licht, ins Blickfeld rückt, was er in sein Feld aufnimmt.427
Den Grund für die Notwendigkeit, den Auftritt aus dem prägnanten Moment, der im Bild festgehalten werden
soll, zu verbannen und das Bild als Einheit mit undurchdringlichen Grenzen zu verstehen, hat Bettine Menke
in der Einleitung dieser Sektion herausgestellt:

Jeder Auftritt wird als Übertritt über die Schwelle in den dramatischen Rahmen das durch die Rahmung
Ausgeschlossene und Abgeschnittene, das Off, mit- und einschleppen, im Verhältnis oder als Verhalten zu
dem er sich ausbilden muss. Das macht das potentiell Krisenhafte des Auftritts aus: als manifeste
Bezogenheit alles im Schauraum sich Zeigenden aufs Off jen- oder diesseits des Rahmens, das faktische
Off der Bühne, die Backstage oder ihre Rückseite, wie auch das Off der Darstellung, das Gestaltlose.
(Insofern träte die dramatische Rahmung, die sich über die zeitliche Erstreckung des Theaters erstellen
müsste, als solche genau dort in Erscheinung, wo sie durch den Auftritt als Zutritt von woanders her irritiert
würde; daher scheint Diderots Konzept des Dramas als einander ablösender Tableaus die Auftritte gänzlich
aus diesen verbannen und sie zwischen diese, die als in sich geschlossene Darstellungen gedacht werden
können sollen, verlegen zu wollen.)428

Der Auftritt zerstört also die Merkmale des fest gerahmten Bildes, die August Langen als Umgrenzung,
Bewegungslosigkeit und Zusammenschau beschrieben hat, und deren Effekte: die Fassbarkeit der
dargestellten Situation und die Evidenz der Darstellung. Die Idee der Bilderkette, als die Diderot das
Theaterstück entwirft, verlagere, so Bettine Menke, den Auftritt in das Zwischen, in die Lücke zwischen den
Bildern, so dass diese als Folge geschlossener Einheiten figurieren können. Nun wäre es naheliegend, wenn
Diderot in der Beschreibung eines gemalten Bildes, das als Inbild des absorbierten Modus gilt, eben
Fragonards Coresus und Callirhoe, gerade die feste Fügung und die stabilen Grenzen betonen würde. Doch
ist, wie so oft bei Diderot, das Gegenteil der Fall: Diderot entfaltet seine Beschreibung des Gemäldes als
Bilderkette, in der sich das Personal von Tableau zu Tableau verdichtet, bis endlich das vollendete Gemälde
vor Augen steht. Von unserem Fokus her betrachtet handelt es sich nicht nur um eine Bilderkette, sondern
auch um ein imaginäres Defilee von Auftrittsszenen, das nicht nur die Bedeutung des Auftritts für das
szenische Geschehen markiert. Sichtbar wird auch die Perforierung des einen Bildes, wenn es denn narrativ
Sinn machen soll, auf das Vorher und Nachher der Geschichte wie auf die Räume des Off.

Die Story, die Fragonard zum Thema macht, ist rasch erzählt. Sie stammt aus Pausanias’ Beschreibungen
des Griechenlandes: Der große Dichter und Hohepriester Coresus liebt unglücklich die gleichgültige
Callirhoe und bittet Bacchus um Rache. Dieser lässt die Einwohner der Stadt wahnsinnig werden und fordert
Callirhoe als Sühneopfer, durch das die Ordnung wiederhergestellt werden kann. Doch in der Stunde der
Rache, als Callirhoe schon auf dem Altar liegt, ersticht Coresus anstelle des geliebten Opfers sich selbst.
Dies ist die Szene, die Fragonard ins Bild gesetzt hat, in einem wahrhaft theatralen Ambiente. Der Altarraum
ist rot ausgeschlagen und von Säulen gerahmt, jedoch nach allen Seiten hin geöffnet: zum Außenraum des
Tempels, auf irdische und himmlische Zuschauer und nach vorn zum Tempelraum, in dem auch wir, die
Betrachter, perspektivisch situiert sind. Das Bild zeichnet sich durch eine Form der Verdichtung aus, die
Michael Fried unter der Überschrift der Absorption als Kennzeichen moderner Malerei beschreiben hat:429
 Sämtliche Figuren sind, in höchster emotionaler Bewegtheit, auf das Hauptgeschehen orientiert, das durch
Spotlight als solches nahezu übermarkiert und damit theatralisiert ist.

Doch interessiert uns hier weniger die paradoxale Konstellation von Absorption und Theatralität als vielmehr
das Im-Bild-Sein der Protagonisten, das Diderot plastisch als Ins-Bild-Kommen in Szene setzt. Die
Darstellung gibt sich als Traumbericht, das Setting ist die platonische Höhle, in der die Zuschauer gefesselt
und mit fixiertem Blick auf ein Schattenspiel schauen, das durch Stimmen hinter der Leinwand belebt wird.
Die Bilderkette dient natürlich vor allem dazu, Handlung und die durch sie bewirkten Emotionen, also das,
was bei Diderot immer das Wichtigste ist, zu entfalten. Aber da er der festen Überzeugung ist, dass die
malerische Einrichtung einer Szene im Tableau diese auf den dichtesten narrativen und emotionalen Punkt
bringen kann, erfahren wir in der Zersplitterung des einen Bildes in viele auch etwas über mögliche Weisen
des Ins-Bild-Kommens. Diese lassen sich so umreißen: Auftritt bedeutet das offensive Eintreten einer Figur
in die Szene oder ein Ins-Auge-Fallen durch schweifende Blicke des Betrachters.

Coresus, der handelnde Held, erscheint, heißt es, und zwar als erster, was hervorhebt, dass er die Figur ist,
die auch auf dem Gemälde zuerst ins Auge fällt (601). Der junge Priester hat also einen Auftritt, umrahmt
von den verrückt gewordenen Frauen seiner Stadt, mit denen er sich im Zeichen des Bacchus betrinkt. Die
Frauen treten rasch ab, in einem Tableau, das sie durch die Straßen ziehend und die Bewohner
verschreckend vorstellt. Coresus bleibt allein zurück, nur um auf die unbeugsame Jungfrau zu treffen, die
keinen Auftritt hat, sondern – wie auch immer – schon in der Szene war, unbemerkt und überdeckt von den
rasenden Frauen. Durch den Schnitt eines neuen Tableaus ist sie da, mit Coresus allein, wie es auch die
Lichtführung auf dem Gemälde suggeriert. Dann, im nächsten Bild, öffnet sich der Tempel vor Diderots
Augen: Er ist leer, ist die zukünftige Bühne für ein schreckliches, ergreifendes Geschehen, eine Bühne, die
sich durch eine Folge von Auftritten füllt: zunächst der Priestergehilfe, der sich an den Kandelaber kauert,
dann Coresus selbst, schließlich der zweite Priestergehilfe, der an seiner Seite bleibt. Callirhoes Eintritt in
die Szene wird eigens vermerkt: „Ich sah nun ein junges Mädchen auftreten“ (603). Ihre Handlung vollzieht
sich schweigend, die Rollen sind klar, und folgsam sinkt das Mädchen ohnmächtig auf die Opferstatt,
gehalten vom Gehilfen. Damit ist die Konstellation der zentralen Szene eingerichtet. Bevor es zum
Höhepunkt der Handlung kommt, wird noch der Umraum gefüllt, durch weitere Auftritte und durch
schweifende Blicke, die ins Auge fallen lassen, was – vielleicht – schon da war, so auch die überirdischen,
dunstig in der Himmelszone angesiedelten Gäste, die Diderot als Verkörperungen der Verzweiflung und des
fürchterlichen Amor liest.

Nun sind alle da, wie Diderots Satz anzeigt; es gäbe, zumindest von seiner Position in der Höhle aus, nichts
mehr zu sehen (604). Worauf Grimm kontert: „Natürlich nicht! Es gab nämlich nichts weiter zu sehen; das
sind doch alle die Personen des Gemäldes von Fragonard, und sie hatten in Ihrem Traum genau dieselben
Stellungen wie auf seiner Leinwand.“ (604) Nicht ganz: Es folgt noch die Ausmalung der Stichszene und das
Abtasten der affektiven Reaktionen der Zuschauer. Dann faltet sich die Leinwand zusammen, und Diderot
lässt Grimm abschließend ausrufen: „Das ist doch das Gemälde von Fragonard; das ist es mit seinem
ganzen Effekt!“ (606) Und der konnte sich erst entfalten, wenn alle da sind.

Alle sind immer schon da auf dem Gemälde. Aber die unterschiedlichen Weisen des Auftretens, das
imaginierte Ins-Bild-Gekommen-Sein oder das In-den-Blick-Fallen, werden durch Diderots Bilderkette
anschaulich, ja werden thematisch als etwas, das neben der Handlung selbst Aufmerksamkeit verdient als
das überzeugende Vor-Augen-Stellen eines dramatischen Geschehens. Was ebenfalls deutlich wird, ist die
narratologische Zurichtung der Figuren, die nicht einfach im Bild sind: Ihre Mise en Scène ist durch die
Anforderungen der Handlung bestimmt, die ihrerseits gebunden sind an die Bedingungen der Verbildlichung
und das Potential, das die Art der Darstellung der Einbildungskraft bietet, um die Szene auszuspinnen. Und
ein weiterer Aspekt ist für unseren Zusammenhang erhellend: die Markierung des Standorts der
Wahrnehmung, sei es durch Rahmensetzungen, sei es durch Perspektiven. Denn dass das Sehen von der
Position abhängt, von der aus man betrachtet, das weiß der leidenschaftliche Theatergänger Diderot genau.
Die platonische Höhle wird hier nicht primär in darstellungskritischer Perspektive aufgerufen; sie
veranschaulicht auf drastische Weise (der gefesselte Zuschauer mit fixierter Kopfhaltung) die
Standortgebundenheit der Wahrnehmung. Dass auch das eigene Schreiben situationsspezifischen
Bedingungen unterliegt, die die Wahrnehmung lenken, wird gleich zu Beginn des Textes deutlich gemacht.
Der Traum und damit das in ihm entworfene Bild ist genährt, so Diderot, vom Tagesgeschehen: Er habe das
Gemälde besichtigt und am Abend einige Dialoge von Platon gelesen (599).430 Auch die Ähnlichkeit des
geträumten Tempels mit dem Gemalten geht auf Eindrücke zurück: Er habe so viel über das Bild gehört
(602).

Das eine Bild wird zerlegt in viele. Diese Zerlegung zeigt ebenso die Produktivität des einen Bildes an, eine
ganze Geschichte zu veranschaulichen, sowie die Mittel, die der Malerei und der Bildbeschreibung zur
Verfügung stehen, um diese Verdichtung ins Werk zu setzen. Deutlich wird aber in einer paradoxen
Wendung auch, dass die Leistung des Bildes, nämlich die Einbildungskraft einzuladen, eine Szene
auszuspinnen, umgekehrt genau die Einheit zerreißt, die mit dem Tableau beschworen wird: Denn das
imaginäre narrative Ausweiten der Szene öffnet das Dargestellte auf sein Off. Dieses Off wird im Text jedoch
nicht ausgemalt. Woher die Figuren kommen, die nun die Szene bevölkern, wird nicht erläutert, auch werden
die Öffnungen des Tempels in der Beschreibung nicht benannt. Der Auftritt wird hier also nicht als ein
raumgebundenes Geschehen vorgestellt, sondern als eine strukturelle Figur, die für die Visualisierung einer
Geschichte notwendig ist. Im Text, der die Traumszene einleitet, wird aber ein weiteres Off aktiviert: der
Raum, dem die Schattengebilde auf der Leinwand entstammen. Die gefesselten Zuschauer, deren Kopf
fixiert ist, haben dem Eingang zur Höhle den Rücken gekehrt. Dort aber sitzen die Schattenspieler, die
Figürchen ins Licht halten und so das Spiel auf der Leinwand hervorrufen. Aus einem zweiten Off hinter der
Leinwand kommen die Stimmen: „[U]nd ich hörte diesen Gott – oder vielmehr den dienstbaren Schelm, der
hinter der Leinwand stand – ganz deutlich sagen: ‚Sie muss sterben, oder ein anderer an ihrer Stelle!‘“ (602).
Das Off des Zuschauerraumes wird in das Traumbild hineinverlagert, als ein Raum, der für den Träumenden
nur zum Teil sichtbar ist: Wegen der Fixierung des Kopfes überblickt Diderot nicht den gesamten Raum der
Darstellung und stellt sich weitere Zuschauer im hinteren Raum vor (604). Die, die er sieht und denen er,
obwohl er die Szene von außen beschreibt, angehört, werden im Text vergegenwärtigt als durch täuschende
Bilder betrogene, gefesselte Wesen. Das kann dem Betrachter von Fragonards Gemälde nicht passieren,
zumindest nicht, wenn er Diderots Text liest, der die ganze machine der Malerei von Fragonard lobend
offenlegt (608). Der Text hält das Wissen um die Bedingungen des Darstellens und des Wahrnehmens
wach, die die Geschlossenheit des einen Bildes als Ideal ausweisen.

Im derart vorgestellten Bild ist es nicht die faktische Rahmung, die die Szene perforiert. Im Gegenteil, der
gemalte architektonische Rahmen, die Tempelarchitektur, hat einen zusammenfassenden Effekt, der trotz
der offenen Baustruktur die Szene nach innen verdichtet. Es ist vielmehr der beschreibende, der rahmende
Text, der die Einheit der Szene zerreißt. Er zergliedert sie in weitere Szenen, die den dargestellten Moment
überschreiten, und er aktiviert das Off als den Raum, der die Maschinerie des Darstellens offenbart. Diderots
Text veranschaulicht zum einen, dass die Voraussetzung des sprechenden, narrativ erfolgreichen einen
Bildes dessen imaginäre Zergliederung ist. Zum anderen kommen in der Zergliederung die Techniken des
Darstellens zum Vorschein. Und drittens zeigt sich in der Konstellation von Bild und Text die Verwobenheit
von visueller Darstellung und ihrer Beschreibung. Dabei geht es nicht primär um die Kunst der Ekphrasis, die
dem Gemalten einen Resonanzraum im Text eröffnet und zugleich sich selbst zum Glänzen bringt im
gelungenen Vor-Augen-Stellen. Es geht auch, wie Diderot explizit macht in seinen Verweisen auf die
Bedingungen seines Schreibens, um wechselseitige Ein- und Rückwirkungen – von Erwartungshaltungen,
von Voraussetzungen und von standortgebundenen Wahrnehmungen – sowohl auf die Produktion wie die
Rezeption von Bildern und von Texten.
Bilder sind also nicht zu verstehen als festgefügte, unversehrte Entitäten, und das gilt auch für das eine Bild,
das Tableau. Bilder sind vielmehr fragile Gebilde, die die Mittel und die Voraussetzungen des Darstellens
sicht- und lesbar machen. Der Auftritt ist nicht die einzige, aber eine prägnante Figur, an der sich die Öffnung
der Darstellung auf ihre Bedingungen zeigt. Diderots Beschreibung macht deutlich, dass das Im-Bild-Sein
immer ein Ins-Bild-Kommen voraussetzt, entweder als markierter Auftritt im Bild, wie zum Beispiel bei den
Niederländern, oder als ein phantasmatisches Besetzen und Einrichten des Bildraumes durch den
Betrachter, der, den Anleitungen der Darstellung folgend, die Geschichte ausspinnt. Auch die Bilderkette ist
keine Folge in sich abgegrenzter Bilder, sondern eine Reihung geöffneter, sich wechselseitig
durchdringender Szenen.431

So gesehen, ist der Abstand zwischen bewegten und unbewegten Bildern geringer als zunächst zu
vermuten wäre. Das bewegte Bild, so lässt es sich zugespitzt formulieren, treibt hervor, was im unbewegten
angelegt ist: Die Öffnung, ja die Angewiesenheit auf andere Bilder, materielle oder imaginäre, wenn das eine
Bild narrativ Sinn machen soll, und die Öffnung auf das Off der Darstellung sind beiden gemeinsam. Wie
sich nun im bewegten Bild der Auftritt als Agent dieser Öffnung gestaltet, soll im Folgenden Gegenstand
sein.

Verflüssigte Tableaus. Keren Cytters Dramen

Das Ins-Bild-Kommen einer Figur ist beim laufenden Bild anders gelagert, aber nicht grundlegend anders.
Denn die filmische Aufzeichnung lässt sich als eine Bilderkette verstehen, die zwar anders als im
unbewegten Bild sichtbar durch Schwenks und Überblendungen verflüssigt wird, aber dennoch nicht ohne
Rahmen und Grenzen auskommt. Die Kamera gibt immer und offensiv einen Ausschnitt aus der Welt, die sie
aufzeichnet,432 das heißt, dass die Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen der Welt, die ins Bild
kommt, und der, die außen vor bleibt, aber durch Perspektivwechsel potentiell ins Bild kommen kann, in
filmischen Bildern ebenso gegeben ist wie in gemalten. Gegen die in der Filmtheorie wiederholt formulierte
Annahme, dass sich Malerei und Film in der Rahmenfrage grundlegend unterscheiden, werden hier, ohne
die Differenzen zu ignorieren, die Gemeinsamkeiten geltend gemacht. André Bazin schreibt der Malerei vor
allem eine zentripetale Funktion zu, nämlich die Aufmerksamkeit auf das Innere zu lenken, während die
Filmeinstellung die zentrifugale Eigenschaft besitze, „nur einen Teil von dem, was sich in unbeschränkter
Weise in das Universum verlängert“433, zu zeigen. Dass diese Unterscheidung so nicht haltbar ist, belegt die
Fähigkeit des Verkündigungsengels, unterschiedliche Sphären des Off zu aktivieren.

Keren Cytters Videoarbeiten machen umgekehrt die Funktionen von Rahmen im Film auf besondere und
besonders prägnante Weise deutlich:434 Viele ihrer Videos erscheinen wie eine Kette von Tableaus, die
durch die Bewegung der Kamera in Fluss gebracht werden. Es handelt sich um Geschichten, die keine sind,
jedenfalls keine in dem Sinne, dass sie einen Anfang und ein Ende und einen verständlichen Plot hätten. Die
meisten Videos sind als loop angelegt, der allein schon lineare, auf ein Ende hin konzipierte Erzählweisen
unterbindet. Aufgenommen sind einige der Videos, darunter auch The Victim435 (Abb. 7) mit einer
Handkamera in alltäglichen Settings, eine Technik mit dilettantischer und dokumentarischer Anmutung, die
konterkariert wird durch die präzise rhythmische Struktur der Bilder und des Tons.436 Cytter konzipiert ihre
Videos zunächst als Text, in Form von Skripten, die ihrerseits in Sprache und Schriftbild einen rhythmischen
Aufbau haben. Bevor sie in Videos umgesetzt werden, hat Cytter die Skripte im Ausstellungsraum projiziert,
ein Verfahren, das die Bedeutung der Texte auch in ihrer visuellen Dimension hervorkehrt. Zunächst halten
sich die Videos streng an die Vorlage, doch wird diese im Prozess der Verfilmung abgewandelt. In
Publikationen werden Bildstrecken und Skripte veröffentlicht, eine Form der Präsentation, die den loop
 unterläuft. Denn die Anfänge sind in den gedruckten Fassungen, zumindest im Fall von The Victim, stets
dieselben.

Abb. 7: Keren Cytter: The Victim, 2006

Und dies nicht von ungefähr: Die Stelle, an der der Text einsetzt, ist eine geeignete Nahtstelle, von der aus
sich die Geschichte in zwei Zeiten entfalten kann – als aktuelles Geschehen und als Erinnerung. Denn auch
ein loop schließt narrative oder emotionale Höhepunkte nicht aus, doch das bedeutet, dass es bei fehlender
narrativer Stringenz so etwas wie die Struktur eines Plots geben muss. Diese ist bei The Victim angelegt als
eine Kette von Motiven, die, unterbrochen von Thematisierungen des Darstellens selbst, um
Beziehungsmuster kreisen und im tödlichen Schuss des Opfers kulminieren.

Die schriftliche Darstellung unterscheidet sich in den beiden mir vorliegenden Versionen an einem für
unseren Zusammenhang nicht unerheblichen Punkt. In der früheren Fassung von 2006437 werden, bevor die
Dialoge einsetzen, die fünf Charaktere vorgestellt und charakterisiert. Ein Jahr später entfällt diese
Beschreibung, aber die Dialoge werden unterteilt in 49 Szenen, denen je eine Regieanweisung vorangestellt
ist – eine Präsentationsform, die das Format der Bilderkette aufruft.438 Im Folgenden stütze ich mich aus
diesem Grund auf die spätere Version. Im Vorwort der frühen Fassung gibt es eine einleitende Bemerkung,
die als eine generelle, die Struktur des Videos beschreibende Regieanweisung zu verstehen ist:

Abb. 8: Keren Cytter: The Victim, 2006

The video is based on spoken text and describes the relationships between five characters. When the
characters stop talking, their thoughts are still heard. The characters complete each other’s sentences.
Sometimes the text ties in with the images; at other times there is a comic dissonance between text and
image. The images and characters do not deviate even slightly from the script, which sometimes dictates
unnecessary or illogical images and unnatural behavior on the part of the characters.439

Was durch den loop angelegt ist, die antinarrative Struktur, wird durch die Dissoziierung von Ton und Bild,
die Verschiebungen der Sprecherrollen und die harte Diktatur des Skripts verstärkt. Die fünf Charaktere sind,
in der Folge von Cytters Liste im Vorwort, der Held, der in einer Person Schauspieler und Regisseur ist und
die Kontrolle über Form und Erzählung des Videos hat. Charakter 2, so die Nummerierung von Cytter, ist
das Opfer, das seinem Bewusstsein des Schauspielens nicht entrinnen kann und das sein Leben tragisch
beendet bei einem Dinner. Die Dumme, Charakter 3, geht im Gegenteil ganz in ihrem Spiel auf, ohne Sinn
für Ironie und aufgesogen von der Geschichte, die um sie kreist. Sie ist neurotisch, besorgt und vor allem
eben dumm. Und schließlich gibt es die Zwillinge, die, wenn es sich um ein Theaterstück handeln würde, so
Cytter im Rekurs auf die griechische Tragödie, der Chor wären. Die Zwillinge sind arrogant, beobachten und
kommentieren das Geschehen, sie agieren rein professionell und spielen überzeugend, heißt es bei Cytter.

Die Handlung – oder vielmehr das Motiv, um das sich das turbulente Geschehen dreht – ist der emotionale
Konflikt der Dummen, die nicht weiß, ob der, der kommen wird, ihr Sohn oder ihr Liebhaber ist. Beide sind in
der Person des Opfers verkörpert und verschmelzen zu einer potentiell inzestuösen Figur. Ort des
Geschehens ist die Wohnung der Dummen, mit Bewegungen zwischen der Küche, dem Wohn- und dem
Essbereich. Die Dumme wird vom Held und den Zwillingen instruiert und kommentiert, sie reibt sich auf in
Backen und Kochen, um den Heimkehrenden, das Opfer, das von den Zwillingen als Loser diffamiert wird,
zu bewirten. Der Mann will fliehen mit der Dummen, will sie retten, die für ihn alles verkörpert, aber diese
versteht nicht, sorgt sich allein ums Essen und weist ihn zurück. Dann gehen alle bis auf den Helden, eben
den Regisseur, zu Tisch, hier werden noch einmal alle Fragen und Themen aufgeworfen: Identität („Are we
twins?“), Familienverhältnisse („Is he a son or a lover?“), Gefühle („Love or sex?“, die Einsamkeit des
Opfers). „The choir is undressing the plot“, heißt es aus dem Off. Nach einem selbstmitleidigen Monolog des
Opfers über seinen nahen Tod und den Wunsch, noch einmal Zuwendung zu erhalten, beten alle. Dann ein
Schwenk auf die Zwillinge, ein Schuss fällt, und die Zwillinge drohen die Fassung zu verlieren, die ihnen
aber der rasche Griff nach dem Skript wieder gibt. „The script was correct“, lautet der trockene Kommentar
der Zwillinge auf den Tod des Opfers, den sie vorab mehrfach in holprigem Reim angekündigt hatten: „[H]e
is dead he shot himself in the head.“440 Die Dumme, immer noch zweifelnd, ob es sich um den Sohn oder
den Liebhaber handelt, geht in die Küche und versucht auf Befehl des Zwillingschores sich zu erinnern. Und
hier beginnt alles von vorn.

Die Regieanweisungen sind besonders erhellend, was die Frage des Auftritts angeht: In ihnen wird präzise
angegeben, wen die Kamera zu welchem Zeitpunkt ins Bild holt und wer zu welchem Zeitpunkt spricht,
sichtbar oder aus dem Off. Einen klassischen Eintritt in die Szene durch Türen gibt es in nur in einem Fall,
beim Opfer. Ansonsten ist es allein die Kamera, die die Protagonisten ins Bild kommen lässt. Die
Beschreibungen umreißen eine Folge von Tableaus, die akustisch begleitet und unterbrochen werden. Die
filmische Übersetzung des Plots erscheint als eine verflüssigte Bilderkette mit unscharfen Rändern, die aber
dennoch präsent sind: als Rahmen der Wahrnehmungsbedingungen, wie sie durch die Kamera gegeben
sind. „Nothing is clear“, ist der erste, aus dem Off gesprochene Satz in der Fassung, die Cytter im Netz zur
Verfügung stellt. Wir sehen dazu die Dumme, die sich in einer Plansequenz vor einer Wand mit historischen
Schwarzweißphotographien ein Stückchen in die Raumtiefe hineinbewegt, nur um vor einem Mikrophon
anzuhalten und auf Befehl der Offstimme in die Küche zu gehen. Die Kamera folgt ihren Füßen, dann hält
das Bild an in einer Nahaufnahme, die Dumme senkt den Kopf und folgt weiter den Instruktionen. Mit dieser
Eingangssequenz sind wir nicht nur orientiert über das Setting, ein unspektakuläres Interieur und seine
Bewohnerin, über die Unklarheit der Situation und über die Produktionsbedingungen des Videos, sondern
auch über die Weise des Ins-Bild-Kommens. Dies geschieht über die Herrschaft der Kamera und die Befehle
aus dem Off, die entweder der Apparat oder die Zwillinge ausführen, die „go“ schreien oder eine Figur aus
dem Kamerawinkel hinausschieben.

Die Handkamera hat nicht nur einen dokumentarischen, sondern auch einen theatralischen Effekt: Sie macht
den Apparat sowie Auge und Hand dahinter gegenwärtig, also die Instanz, die die Protagonisten im Bild
vorkommen lässt oder ausblendet. Die Handkamera konterkariert die Funktion des Regisseurs, dessen
Kontrollgesten oft ins Leere laufen. Eigentlicher Herr der Darstellung ist jedoch das Skript, das immer wieder
ins Bild kommt, als autoritäre Schrift, die durch das Spiel bestätigt werden muss, auch wenn es droht aus
dem Rahmen zu fallen: „The script was correct“, sagen die Zwillinge nach dem zwar prophezeiten, aber
dann doch schockhaft eintretenden, die Szene fast zerreißenden Tod des Opfers.

Die Kameraführung ist eine Regie des Rahmens, des Ausschneidens aus dem Raum der Szene, um das in
die Aufmerksamkeit zu heben, was das Skript (und nicht der Held und nicht der Kameramensch) für wichtig
hält. Wir haben es mit einem geschlossenen Interieur zu tun, das sich nur öffnet, als das Opfer auftritt, aus
einem Off, das unbestimmt bleibt. Es ist ein zweifacher Auftritt: Als das Opfer durch die Tür eintritt und
seinen Auftritt, flankiert durch ein „He is back“ der Dummen, mit „Hi“ ankündigt, brüllt der Held „out“, während
die Zwillinge ihr „loser“ skandieren und damit auch den verfehlten Versuch des Opfers meinen, sichtbar und
Teil der Szene zu werden. Erst im zweiten Anlauf kann der Mann eintreten. Alle sind von nun an da im Raum
der Szene, die Auftritte werden allein durch die Kameraführung moderiert, durch Schnitte, Standortwechsel
oder Schwenks; nur selten ist es die körperliche Bewegung einer Figur aus dem Off ins Bild hinein. Das
gesamte Video besteht aus Nahaufnahmen, die Einzelfiguren, Konstellationen verschiedener Charaktere
oder bedeutungsvollere Dinge und ein Stückchen Umraum zeigen. Trotz der stellenweise wackligen
Handkamera sind Bild und Ton streng rhythmisiert und verfremden den Effekt des Dokumentarischen und
Dilettantischen. Das heißt, die Auftritte sind in diesem durch eine Folge von Tableaus mit flüssigen
Übergängen organisierten Video als allein apparativ bedingte Formen des Ins-Bild-Kommens angelegt, von
Protagonisten, die immer im Raum, aber nicht immer im Bild sind. Dieses Wissen um die Präsenz aller im
Raum, der immer nur in Teilen im Bild ist, und die Nähe zu den Protagonisten erzeugen einen dichten Raum
der Darstellung, der zugleich distanziert wird durch die aufdringliche Präsenz der darstellerischen Mittel: die
Kamera, die diese Nähe erzeugt und zugleich zu nah an den Darstellern ist, der Regisseur, der sich unter
die Darsteller mischt und Teil der Szene wird, und die Schauspieler, die aus der Rolle fallen.

The Victim greift verschiedenste Genres von unterschiedlichstem Stellenwert auf. Offenkundig sind die
Anklänge ans Reality-TV: die verwirrte Dumme, die ganz auf ihren Haushalt fokussiert ist, der sie an den
Rand der Verzweiflung bringt, das Opfer, „nice and average“, der um ein wenig Liebe kämpft, die Frage, ob
es um Sex oder um Liebe geht, das Ganze so schlecht gespielt, dass ihm Dokucharakter zuwächst – all dies
gehört zum Arsenal eines Genres, das durch eine klar begrenzte Typologie und Lebensnähe im
Durchschimmern der Person durch die Rolle zu überzeugen und zu bewegen sucht. Die hohe Präsenz des
Manuskriptes weist aus, dass wir es mit dem Format scripted reality zu tun haben, das Laienspielern vorgibt,
was sie zu sagen und zu tun haben. Die Gegenwart der Zwillinge als beobachtende und kommentierende
Instanz zerreißt den Reality-TV-Charakter und ruft die antike Tragödie auf, den Chor, aber auch andere
Elemente. So zum Beispiel das Montieren von Versatzstücken und die Thematisierung von oft auf
Familienbande fokussierten Mythen, die eine Bewertung kultureller Institutionen und Praktiken implizieren,
und zwar durch die Darstellung gewaltsamer Konflikte oder Krisen.441 Hinzu kommen Anklänge an die
feministische Videokunst der 1970er Jahre, etwa an Martha Roslers Semiotics of the Kitchen von 1975, und
an jüdische Topoi, die jüdische Mutter, die Bedeutung der Zubereitung von Speisen und die Wirkmacht der
Schrift, der Tora, die zumindest im orthodoxen Judentum als unbedingt gültige Weisung behandelt wird.

Durch diese Mischung von Genres, Kontexten und Verfahren ist The Victim, wie fast alle Arbeiten von Cytter,
in hohem Maße selbstreflexiv, was Möglichkeiten und Grenzen des Darstellens und des Mediums angeht.
Oder um es anders, und vermutlich mehr in Cytters Sinne zu formulieren: Die Videos artikulieren eine
bestimmte Wahrnehmungsform, die sich, pathetisch gesagt, als eine Haltung zur Welt beschreiben lässt. Es
ist ein Beobachtungsmodus, allerdings ohne Verzicht auf Teilhabe und Affekte, in einer schrägen Form des
sich Distanzierens von den Bildern, die zugleich nahe rücken. „Curse of perspective“ hat Avi Pitchon diese
Haltung in einem Interview mit Cytter genannt: „It is not about exposing the mechanism behind the illusion: it
is simply a documentation of yourself being constantly flooded and overwhelmed by your awareness of the
mechanisms.“442 Klischees bezeichnet Cytter als eine Form der absoluten Wahrheit, weil sie das
ausdrücken, was berührt.443 Offenlegung der Mechanismen ist dabei kein Hindernis, im Gegenteil: „If the
viewers are not remote or ignored, if their existence is acknowledged, if the film is aware of their presence, it
will influence them more.“ Denn: „Art is there to touch you or enhance you in any way, no matter which“, so
Cytter.444

Wie in einer Versuchsanordnung schauen wir auf die Dumme, die umstellt ist von Darstellungsarbeit und
Befehlen, die sie blindlings ausführt, und die nur einmal, als sie fast in die Kamera eingesogen wird, die
Hand ausstreckt und fragt: „What’s that camera?“ Das Arrangieren der Szene (die Zwillinge werden
aufgefordert den Tisch zu decken), die unterschiedlichen Kamerastandpunkte, die Rollen, die eingenommen
werden, um aus ihnen herauszufallen („One hundred euros is not a salary“), die Stillstellung der Charaktere
in Tableaus, die gleich wieder verflüssigt werden – all dies macht die Darstellungsarbeit sichtbar. Und
dennoch hat das in Szene gesetzte Drama mit antikischer Kontur und Reality-TV-Effekten eine eher
unbestimmt affektive Seite, und zwar durch die Art, wie die Protagonisten in die Sichtbarkeit gebracht
werden, durch die Art ihres Auftritts.

Der Auftritt aktiviert das Off, das zum einen der gerade nicht sichtbare Teil der dargestellten Szene ist und
zum anderen der Raum vor dem Bild.445 Dieses zweite Off hat Johannes Binotto in seiner Studie zum
horschamp verglichen mit dem psychoanalytischen Setting, in dem wahrnehmbar wird, was aus der
Sichtbarkeit gefallen ist. Das erste Off ist im Fall von The Victim eng begrenzt, auf die kleine Wohnung, die
stückweise ins Bild kommt, und zwar nur in den Details, die wir brauchen, um die auf die Figuren fokussierte
Darstellung grob zu situieren. Doch durch die Art der Mise en Scène sind alle Protagonisten immer
gegenwärtig, sind immer im Raum, auch wenn sie nicht im Bild sind. Durch dieses Off sind die horizontalen
Beziehungen, die Beziehungen der Protagonisten untereinander, aktiv, auch wenn sie gerade nicht sichtbar
sind, als ein Netz von unklaren Verhältnissen, in dem die Ebenen zwischen inszeniertem Plot und der Szene
des Darstellens changieren.

Hinzu kommt eine Figur, die nie sichtbar wird: der Mensch, der die Handkamera bedient. Er ist überaus
präsenter Teil der Szene, ein Teil, der sich in den Einstellungen, die sichtbar von der Kamera aus
perspektiviert sind, aufdringlich ins Bewusstsein schiebt als ein dokumentaristisches Element, das im selben
Zug die Darstellungsarbeit akzentuiert. Zugleich aber verschleift der Unsichtbare hinter der Kamera das Off
des sichtbaren Teils der Szene mit dem unbestimmten Raum, aus dem die Darstellungsarbeit heraus zwar
nicht sichtbar, aber wahrnehmbar wird. Es ist der Raum, in dem nicht nur der Kameramensch, sondern auch
der Zuschauer situiert ist. Es ist der Raum vor der Szene, die sich ganz nah auch vor unseren Augen
abspielt, die sich zeigt und in die wir uns, bei aller Verfremdung, imaginär und projektiv eintragen, als Teil der
Szene einer Darstellung. In den Rhythmus des Videos gezogen, beobachten wir uns zugleich beim
Betrachten, und zwar nicht im Modus reflexiver Zersetzung. Durch die Montage von Plots, Genres und
Techniken, durch deren Wahrnehmbarkeit hindurch wirkt die Darstellung als theatrales Spiel, mit ihrer nicht
an ein Ziel kommenden Narrativität und mit der unbestimmten Affektivität. Die Musik trägt nicht unwesentlich
zur Emotionalisierung bei. Es handelt sich um den Anfang eines israelischen Songs, der End of Story heißt
und von einem traurigen Schauspieler handelt.

Die klaustrophobische Atmosphäre des engen Raumes und des loops, die Unfähigkeit der Dummen, ihr
Leben zu verstehen, das verzweifelte Klammern ans Backen und Kochen gegen die emotionale
Überforderung, die Selbsttötung des Opfers, die für einen Moment die artifizielle und kontrollierte Szene
zerreißt und sogar die kühlen Zwillinge kurz verstört, bis zum erstaunten Satz: „The script was correct“, der
zugleich ein Schicksalsmoment einspielt – all dies erzeugt, bei aller Komik und aller Verfremdung, untermalt
von der dramatischen Musik und dem festgefügten Rhythmus der Bilder, eine atmosphärische, ja affektive
Dichte. Diese wird von den reflexiven Einschüssen, der Thematisierung des Schauspiels, der Kamera oder
der Produktionsbedingungen nur distanziert, aber nicht entkräftet. Es ist die Art und Weise des
Ins-Bild-Kommens der Protagonisten, die gleichermaßen die Dichte der Szene und ihre Perforierung auf das
Andere der Darstellung, seine Bedingungen und seine Grenzen, aber auch seine Emotionalität,
verantwortet. Im Changieren zwischen Nähe und Distanz eröffnet The Victim eine besondere, eine
eigenartige Form der ästhetischen Erfahrung: die Erfahrung, die eigene Affizierbarkeit beobachten zu
können.

Auftritte öffnen Bilder, unbewegte wie bewegte, auf ihr Außen. Sie perforieren den Raum der Darstellung auf
sein Off, das die Darstellung als solche zum Vorschein bringt. Auf gemalten Bildern sind alle schon da. Das
Ins-Bild-gekommen-Sein der Figuren präsent zu halten, ist das, was der Betrachter dem einen Bild, dem
Tableau, hinzufügt, angeleitet durch dessen Struktur, die die Unabgeschlossenheit der Szene durch
Raumöffnung oder durch Zeichen körperlicher bzw. affektiver Bewegungen der Figuren anzeigt. Das
imaginäre Ausmalen ist die Bedingung für die Entfaltung einer Erzählung, die wiederum, wenn auch nicht
allein, für die affektive Wirksamkeit der Darstellung verantwortlich ist. Im Film wird ein Auftritt als solcher
sichtbar, wenn Darsteller durch Bewegungen des Körpers oder der Kamera ins Bild kommen, dessen
Rahmen der Apparat festlegt. Durch diesen ist, je nach Perspektivierung, auch die Betrachterinstanz
präsent, denn der Kameramensch ist ja stets auch der erste Betrachter der apparativ gerahmten Szene.
Auch im bewegten Bild wird ein Off aktiviert, das imaginär eingerichtet wird, als der Raum, aus dem heraus
die Darstellung sich entfaltet.

Was sich, hoffentlich, in der Konstellation von bewegtem und unbewegtem Bild gezeigt hat, ist, dass jedes
Bild, das gemalte wie das laufende, auch wenn dieses als Tableau konzipiert ist, geöffnet ist, ja notwendig
geöffnet sein muss auf sein Off, wenn es eine Erzählung und seine Wirkung entfalten will. Damit tritt die
Vorstellung des Tableaus als in sich geschlossener Einheit als Phantasie hervor, die die Fragilität, die
Durchdringung und Determinierung auch des einen Bildes durch sein Außen verdrängt. Der Auftritt ist der
Agent dieser konstitutiven Perforierung des Bildes, sowohl des einen Bildes wie auch der Bilderkette und
ihrer Verflüssigung im Film.

406 Barthes, Roland: „Diderot, Brecht, Eisenstein“, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn,
aus dem Franz. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990, S. 94–102.

407 Menke, Bettine: „On/Off“, in diesem Band.

408 Ebd.

409 Neumann, Gerhard: „Einleitung“, in: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft,
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