INTERNATIONALE MIGRATION IN DER LANGFRISTIGEN PERSPEKTIVE - KFW RESEARCH

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KfW Research

    Internationale Migration
 in der langfristigen Perspektive
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Herausgeber
KfW Bankengruppe
Abteilung Volkswirtschaft
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Redaktion
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Abteilung Volkswirtschaft
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Dr. Katrin Ullrich
Telefon 069 7431-9791

Copyright Titelbild
Quelle: www.naturalearthdata.com / eigene Darstellung

Frankfurt am Main, Dezember 2018
Kurzfassung
Migration ist ein komplexes Phänomen mit vielen Fa-          ●   Eine junge und schnell wachsende Bevölkerung
cetten, bei dem aktuell vor allem das Thema Flucht in        in Entwicklungsländern bildet den Pool, aus dem sich
der Öffentlichkeit diskutiert wird. Grundlegend werden       Auswanderung speist. Damit sich dieses Potenzial rea-
internationale Wanderungsbewegungen jedoch von               lisiert, müssen jedoch weitere Faktoren wie ein wirt-
wirtschaftlichen und strukturellen Ursachen und ihrer        schaftlicher Strukturwandel hinzukommen.
Veränderung im Zuge der Entwicklung bestimmt. Dazu
gehören der demografische Wandel, die Industrialisie-        • Im Verlauf des wirtschaftlichen Strukturwandels
rung und Veränderungen des Arbeitsmarktes sowie die          verändern sich die Anreize für eine Migration. In vielen
Finanzsystementwicklung. Je nach Kontext und im Zu-          Entwicklungsländern stagniert die Industrialisierung
sammenspiel können sie internationale Migration för-         oder es setzt im Vergleich zu heutigen Industrieländern
dern oder reduzieren, was zu unterschiedlichen Migra-        verfrüht eine Deindustrialisierung ein. Erst wenn sich
tionsmustern für Volkswirtschaften führt.                    die Industrialisierung fortsetzt oder ein Wachstumsmo-
                                                             dell gefunden wird, welches vergleichbare Beschäfti-
Die Zahlen zu internationaler Migration auf globaler         gungs- und Einkommenserzielungsmöglichkeiten be-
Ebene zeigen,                                                reitstellt, werden auch die Anreize für eine Migration
                                                             geringer werden.
• dass internationale Migration vergleichsweise selten
stattfindet. Nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung lebt   • Beim durchschnittlichen Einkommen pro Kopf be-
außerhalb seines Heimatlands. Migration innerhalb von        steht für die Entwicklungsländer noch viel Aufholbedarf
Ländern findet hingegen häufiger statt.                      zu den Industrieländern, sodass eine weitere Anglei-
                                                             chung die Anreize für eine Migration senken würde.
• dass internationale Migration überwiegend innerhalb        Wenn allein die Einkommensunterschiede zwischen
der Weltregionen stattfindet. Mehr als die Hälfte der        Ländern das Ausmaß der internationalen Migration be-
Migranten bewegt sich innerhalb der eigenen Weltregi-        stimmen würden, müssten jedoch viel stärkere Wande-
on.                                                          rungsbewegungen zu beobachten sein als dies tat-
                                                             sächlich der Fall ist. Gleichzeitig werden nicht alle Ein-
• dass die Zahl der Migranten und der Herkunftsländer        wohner eines Landes im gleichen Ausmaß von der
angestiegen sind, aber nach wie vor eine kleine Zahl         Entwicklung profitieren, sodass Auswanderung einen
von Ländern das Ziel ist.                                    Ausweg aus relativer Benachteiligung bildet.

• dass auch Anfang der 1990er-Jahre die Zahl der             Neben den genannten strukturellen Bedingungen wird
Geflüchteten schon einmal substanziell zugenommen            die Auswanderung durch weitere Faktoren beeinflusst
hatte. Im Verhältnis zur Weltbevölkerung erreichte sie       und überlagert. Dies zeigt das Schlaglicht auf vier afri-
damals sogar einen höheren Wert als 2015/2016.               kanische Länder, wobei die oft dürftige Datenlage ei-
                                                             ne tiefer gehende Analyse erschwert. In der Demokra-
Die strukturell-ökonomischen Faktoren von Volkswirt-         tischen Republik (DR) Kongo und der Zentralafrikani-
schaften verändern sich langfristig und beeinflussen         schen Republik mit niedrigem Entwicklungsstand und
die Wanderungsbewegung der Bevölkerung:                      gewaltsamen Konflikten wird die Migration durch
                                                             Fluchtbewegungen bestimmt. Äquatorialguinea mit ei-
● Ein substanzieller Teil der Weltbevölkerung lebt in        nem hohen BIP pro Kopf, aber sehr ungleicher Ein-
Ländern, für die mit zunehmender wirtschaftlicher            kommensverteilung erlebt Arbeitsmigration, während
Entwicklung zunächst mit stärkerer Auswanderung zu           für Mauritius zirkuläre Migration und Klimaveränderun-
rechnen ist. Erst wenn ein Land ein oberes mittleres         gen wichtige Themen sind.
Einkommensniveau erreicht hat, stabilisiert sich die
Auswanderung und nimmt in der weiteren Entwicklung
ab.

                                                                                                                 Seite 1
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Struktur des Berichts                                       Diese langfristigen Strukturveränderungen im Entwick-
Internationale Migration ist ein komplexes Phänomen.        lungsprozess überlagern sich gegenseitig und bestim-
Dies beginnt bei der Definition und Messung und reicht      men in ihrer Gesamtheit das grundsätzliche Migrati-
bis zur Erklärung von Ursachen und Wirkungen in den         onsmuster eines Landes. Hinzu kommen kürzerfristige
betroffenen Ländern. Der vorliegende Bericht zeigt die-     Entwicklungen, insbesondere Ereignisse wie Kriege
se Komplexität auf und konzentriert sich auf langfristige   und Umweltkatastrophen, die zu Fluchtbewegungen
Entwicklungen.                                              führen und die langfristige Migration dominieren kön-
                                                            nen. Klimaveränderungen als Migrationsursache wir-
Dazu wird zunächst ein Überblick über die Definitions-      ken ebenfalls langfristig. Die Bedeutung dieser Fakto-
und Meßprobleme gegeben und der Umfang internati-           ren wird am Beispiel von vier afrikanischen Ländern
onaler Migration beschrieben sowie die Entwicklung im       gezeigt, deren Entwicklungsstand paarweise vergleich-
Zeitablauf eingeordnet:                                     bar ist, die jedoch sehr unterschiedliche Nettomigrati-
                                                            onsraten aufweisen:
  Migration ist ein globales Phänomen
  Schwierige Datenlage erschwert Analysen                    Demokratische Republik Kongo:
                                                             Vom Ein- zum Auswanderungsland
  Anteil der Migranten an der Bevölkerung auf
  globaler Ebene ist relativ konstant                        Zentralafrikanische Republik:
                                                             Dürftige Informationsbasis, Flucht und Vertreibung
  Erzwungene Migration: Flucht und Vertreibung               dominieren
  Flucht als Reaktion auf Konflikte
                                                             Äquatorialguinea:
  Klimawandel und Umweltkatastrophen als                     Unverändert Ziel von Arbeitsmigration
  Fluchtursachen
                                                             Mauritius:
Das Wissen über Migrationsursachen ist ausbaufähig           Umweltflüchtlinge und Bemühen um zirkuläre
und konzentriert sich auf die Wirkungen in den Ziellän-      Migration
dern sowie ökonomische Erklärungsansätze. Von den
Migrationsursachen werden an dieser Stelle die lang-        Weitere wesentliche Facetten der Migration, z. B. die
fristigen Strukturveränderungen von Volkswirtschaften,      Folgen für den Arbeitsmarkt im Herkunfts- und Zielland,
die mit ihrer Entwicklung einhergehen und die Rah-          Reaktionen der Migrationspolitik, die Bedeutung von
menbedingungen für Migration auf der Makroebene             Migrationsnetzwerken oder die Bedeutung von Rück-
bilden, betrachtet:                                         überweisungen für die Herkunftsländer sowie Migrati-
                                                            onsursachen auf der Meta- und Mikroebene würden
  Migration und Entwicklungsstand                           den Rahmen des vorliegenden Berichts sprengen, so-
  Mit wirtschaftlicher Entwicklung der Niedrigein-          dass auf ihre Betrachtung an dieser Stelle verzichtet
  kommensländer ist mehr Migration zu erwarten              wird.
  Migrationsübergang und demografischer
  Übergang
  Junge Bevölkerung als Migrationspotenzial
  Migrationsübergang und Strukturwandel
  Industrialisierung und Urbanisierung verändern
  Rahmenbedingungen für Migration
  Migration als Möglichkeit der Einkommens-
  absicherung
  Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern
  als wesentlicher Einflussfaktor für Migration
  Ungleichheit zwischen Ländern als Migrations-
  ursache
  Ungleichheit innerhalb von Ländern bildet
  Migrationsanreiz

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Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

Migration ist ein globales Phänomen                                       Staaten, die Auswanderung unterbinden, verhindern so
Die Debatte in Europa und Deutschland wird seit 2015                      eine "Abstimmung mit den Füßen" über die gesell-
von der Geflüchtetenbewegung, insbesondere über die                       schaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Beispie-
Balkanrouten und das Mittelmeer, bestimmt. Dabei sind                     le hierfür sind Nordkorea oder, historisch, die Staaten
Flucht und Migration weder neue Phänomene, noch                           des ehemaligen Ostblocks. Gleichzeitig versuchen
sind sie auf Europa beschränkt. Dies zeigen die Dis-                      Staaten, Umfang und Zusammensetzung der Einwan-
kussionen um (illegale) Einwanderung in die USA, ent-                     derung zu steuern und zu kontrollieren. Denn es gibt
weder direkt aus Mexiko oder aus anderen lateinameri-                     zwar ein Recht auf Auswanderung, aber kein Recht auf
                                                                                                               2
kanischen Staaten über Mexiko als Transitland, Berich-                    Einwanderung in ein anderes Land.
te über die Flucht der Rohingya aus Myanmar oder die
Einwanderungspolitik Australiens. Aber auch ältere                        Vorbehaltlich aller Unwägbarkeiten bei der Erfassung
Debatten über die potenziellen Wanderungsbewegun-                         internationaler Migration zeigt sich, dass diese ein
gen nach dem Fall der Berliner Mauer zwischen den                         weltweites Phänomen ist. Kaum ein Land beherbergt
westlichen und östlichen Bundesländern in Deutsch-                        keine Migranten (siehe Grafik 1). Die USA als klassi-
land oder diejenigen nach dem Beitritt der osteuropäi-                    sches Einwanderungsland weisen 14 % Migranten an
schen Staaten zur EU zeigen die Facetten des Themas                       der Bevölkerung aus. Auf diesem Niveau bewegen sich
Migration auf. In letzterem Fall hatten nur Irland, UK                    auch Deutschland und Australien mit 15 und 17 %. In
und Schweden von Beginn an eine unbeschränkte Ar-                         Kanada, Kasachstan und Neuseeland sind es schon 20
beitnehmerfreizügigkeit gewährt. Die anderen EU-                          bis 23 %. Spitzenreiter mit deutlichem Abstand sind je-
Staaten hingegen hatten – befürchtend, dass zu viele                      doch die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und
Personen einwandern – von der Möglichkeit Gebrauch                        Kuweit, wo 74 bis 88 % der Bevölkerung Migranten
gemacht, den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten für                           sind.
Staatsangehörige aus den Beitrittsländern für bis zu
                                1
sieben Jahre einzuschränken.                                              Schwierige Datenlage erschwert Analysen
                                                                          Die Analysen von Migration als Grundlage für eine in-
Menschen sind mobil, sie wandern und verlegen ihren                       formierte Debatte werden dadurch erschwert, dass es
Lebensmittelpunkt. Das Spektrum reicht von der Be-                        unterschiedliche Definitionen von Migration gibt und
siedlung neuer Lebensräume bis zum Umzug innerhalb                        Begriffe nicht trennscharf verwendet werden (siehe
einer Stadt. Dabei überschreiten sie – im Rahmen der                      Kasten 1). So wird in Deutschland zwischen Asylbe-
internationalen Migration – Ländergrenzen. Ein Land                       werber und Geflüchtetem, Migrant und Person mit Mig-
zu verlassen ist dabei auch eine Möglichkeit, mit der                     rationshintergrund, Einwanderer und Zuwanderer un-
                                                                                       3
Personen ihre Meinung zur politischen, gesellschaftli-                    terschieden. Auch für die statistische Erfassung defi-
chen und wirtschaftlichen Entwicklungen offenbaren.                       nieren Staaten Migration unterschiedlich, selbst wenn

Grafik 1: Globale Verteilung von Migranten
Anteil der im jeweiligen Land lebenden Migranten in Prozent, 2010–2015.

   0,1–0,8            0,8–2,0            2,0–4,6             4,6–12,3              12,3–88,4              keine Daten

Quelle: WDI, basierend auf United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2017). World Population Prospects:
The 2017 Revision.

                                                                                                                                     Seite 3
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es – wie in der EU – Anstrengungen zur Vereinheitli-                rer ein Land innerhalb von 5 Jahren wieder verlässt.
                                                     4
chung und Bereitstellung vergleichbarer Daten gibt.                 Dies geschieht entweder, um in das Herkunftsland zu-
                                                                                                                         11
So ist es möglich, das Ereignis der internationalen Mig-            rückzukehren oder in ein Drittland weiterzuwandern.
ration abhängig vom Geburtsland, der Staatsbürger-
schaft oder dem Wohnort in Kombination mit der Länge                 Kasten 1: Definitionen Migranten und Migration
                               5
des Aufenthalts zu definieren. Unterschiede in natio-                Migration bezeichnet die auf einen längerfristigen
nalen Statistiken ergeben sich oft daraus, ob auch die               Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des
eigenen Staatsbürger, Studenten, Asylsuchenden oder                  Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien,
                                         6
irreguläre Migranten mit erfasst werden. In mehr als                 Gruppen oder Bevölkerungen.
                                                                                                    12

der Hälfte der Länder und Territorien, die in der UN-
Statistik ausgewiesen werden, werden im Ausland Ge-                  Allgemein wird Migration als jeder dauerhafte oder
borene als Migranten gezählt (siehe Tabelle 1). Aus-                 zeitweilige Wohnsitzwechsel definiert. Aussagekräf-
länder i. S. v. ausländischen Staatsangehörigen bilden               tiger ist jedoch, sie als räumlichen Transfer von einer
bei einem Fünftel der Länder die Basis für die Statistik.            sozialen Einheit oder Nachbarschaft zu einer ande-
Gegebenenfalls werden hier auch Geflüchtete hinzuge-                 ren zu definieren, der frühere soziale Bindungen be-
rechnet. Die schwierigen Bedingungen bei der Daten-                  lastet oder aufbricht.
                                                                                            13

erhebung führen dazu, dass nicht registrierte Migranten
sowie fehlende Zahlen geschätzt werden müssen.                       Laut International Organisation for Migration (IOM)
                                                                                                                           14

                                                                     ist ein Migrant jede Person, die eine internationale
Tabelle 1: Erfassung von Migranten in der                            Grenze überschreitet oder überschritten hat oder
UN-Statistik                                                         innerhalb des Landes ihren Lebensmittelpunkt räum-
                    Anzahl der       Anteil an    Anteil an den
                   Länder und              der       Migranten
                                                                     lich verlegt, unabhängig von (1) ihrem rechtlichen
                    Territorien    Länderzahl                        Status, (2) ob die Migration freiwillig oder unfreiwillig
im Ausland
                           132              57               64
                                                                     passierte, (3) welche Gründe es für die Wanderung
Geborene                                                             gab und (4) wie lange der Aufenthalt ist.
Im Ausland
Geborene+                    48             21               17
Geflüchtete                                                          Die Vereinten Nationen definieren Migranten als
Ausländer*                   25             11                5      Personen, die sich seit mehr als einem Jahr in einem
Ausländer*+                                                          fremden Land aufhalten, unabhängig von den Ursa-
                             19              8               13
Geflüchtete
                                                                     chen (freiwillige oder unfreiwillige Migration), und der
Ausländer*+
im Ausland                    1              0                1      Art (reguläre oder irreguläre Migration). Touristen
Geborene                                                             und Geschäftsleute gelten demnach nicht als
Ausländer*+                                                          Migranten. Andere Kurzzeitmigranten wie z. B.
im Ausland
                              1              0                0      Saisonarbeiter, die für kurze Zeit zum Pflanzen oder
Geborene+
Geflüchtete                                                          Ernten landwirtschaftlicher Produkte reisen, werden
Projektionen                  4              2                0                            15
                                                                     hingegen miterfasst.
Projektionen
                              2              1                0
+Geflüchtete
Gesamt                     232             100              100     Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Messung von
                                                                                           16
Migranten als im jeweiligen Land lebende Personen,                  Migrationsbwegungen. Dies wird schon allein deut-
*ausländische Staatsangehörigkeit.                                  lich, wenn man sich die praktische Erfassung der Aus-
Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs   und Einwandernden vor Augen führt. In Deutschland
(2015). Trends in International Migrant Stock: The 2015 revision    beispielsweise regelt das Bundesmeldegesetz, §17:
(United Nations database, POP/DB/MIG/Stock/Rev.2015),               "wer aus einer Wohnung auszieht und keine neue
eigene Berechnungen.
                                                                    Wohnung im Inland bezieht, hat sich innerhalb von
Zahlen zu den im jeweiligen Land lebenden Migranten                 zwei Wochen nach dem Auszug bei der Meldebehörde
                                                                                   17
bilden nur eine Momentaufnahme, da z. B. Rückkehrer                 abzumelden." Bei Nichtbefolgen ist dies eine Ord-
nicht erfasst werden und daher nur sehr begrenzte In-               nungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu
                                                                                18
formationen zum Umfang der Rückkehrmigration vor-                   1.000 EUR belegt ist. Fraglich ist, ob dies einen hin-
        7
liegen. Historiker schätzen die Rückkehrerquote wäh-                reichend großen Anreiz bietet, sich abzumelden, zumal
rend der Auswanderungswelle von Europa nach Ame-                    sich die betreffende Person nicht mehr im Land aufhält.
                                         8
rika im 19. Jahrhundert auf 30 bis 40 %. Aber auch ak-              Wegen der Erfassungsprobleme sind Zahlen zu Migra-
tuell sind die Rückkehrerquoten – bei allen Unterschie-             tionsbewegungen für deutlich weniger Länder als zu
                       9
den zwischen Ländern – wohl substanziell. So schätzt                den im jeweiligen Land lebenden Migranten verfüg-
                                                                         19
die OECD, dass zwischen 20 und 50 % der Einwande-                   bar.

Seite 4
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

 Anteil der Migranten an der Bevölkerung ist auf                            ten aus einem Land, das der gleichen Weltregion an-
                                                                                                                      26
 globaler Ebene relativ konstant                                            gehört wie das Zielland (siehe Grafik 3).
 Der Anteil internationaler Migranten an der Bevölke-
 rung ist auf globaler Ebene seit dem 2. Weltkrieg ver-                      Kasten 2: Internationale Migration als eine Form
                         20
 gleichsweise konstant. In den 1960er-Jahren wurden                          von Mobilität
 – je nach Datenquelle – 2,4 oder 3,1 % der Weltbevöl-                       Bei internationaler Migration zählt die Überschrei-
 kerung als internationale Migranten gezählt. Bis 2017                       tung einer Landesgrenze als definierendes Merkmal,
                            21
 stieg der Anteil auf 3,4 %. Damit lebt die große Mehr-                      während interne Migration innerhalb von Staaten
 heit der Weltbevölkerung (bei Rückkehrern: wieder) im                       stattfindet. Die zurückgelegte Entfernung spielt bei
 Land ihrer Geburt bzw. in dem Land, dessen Staats-                          dieser Einteilung keine Rolle. So zählt ein Umzug
 bürger sie sind (siehe Grafik 2 und Kasten 2).                              von Los Angeles nach New York als interne Migrati-
                                                                             on, obwohl 3.700 km Luftlinie zwischen den beiden
 Grafik 2: Bevölkerungsentwicklung und Anzahl von                            Städten liegen. Von Tripolis bis Berlin sind es
 Migranten global                                                            2.200 km und von Bordeaux bis Warschau
 Migranten als im jeweiligen Land lebende Personen.                          1.800 km, wobei im ersten Fall nicht nur Landes-
                                                                             grenzen überschritten werden, sondern auch der
            300                                            8                 Kontinent gewechselt wird.
                                                           7
            250
                                                           6                 Internationale Migration wird als quantitativ weniger
            200
                                                               Milliarden

                                                           5                                                                    27
                                                                             bedeutsam eingeschätzt als die interne Migration.
Millionen

            150                                            4
                                                                             Je größer die zurückgelegte Entfernung und die
                                                           3
            100                                                              Dauer des Umzugs, desto geringer die gemessene
                                                           2                            28
            50                                                               Migration. Für die Erfassung interner Migration
                                                           1
             0                                             0
                                                                             muss entsprechend die Entscheidung getroffen wer-
                  19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20                     den, ob ein Umzug in eine andere Stadt, einen ande-
                  60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 17
                                                                             ren Verwaltungsdistrikt oder ein anderes Bundesland
                  Migrantenbestand lt. WDI (l. S.)                           als Wanderung gezählt wird. Ebenso ist zu definie-
                  Migrantenbestand lt. GBMD (l. S.)                          ren, wie dauerhaft die Wohnsitzverlagerung erfolgen
                  Bevölkerung (r. S.)                                              29
                                                                             muss.
 WDI: World Development Indicators, GBMD: Global Bilateral Migra-
 tion Database
                                                                            Grafik 3: Migranten nach Herkunfts- und Zielregion
 Quellen: WDI, GBMD, UN.
                                                                            Migranten als in der jeweiligen Weltregion lebende Personen,
 In Anbetracht der relativ geringen internationalen Mig-                    Anteile der Herkunftsregionen in Prozent

 ration verwundert es kaum, dass die Globalisierung
 und internationale Integration der Arbeitsmärkte gerin-
 ger ausfällt als die Globalisierung von Handel und Ka-
       22                                                                          Afrika
 pital. Dazu ist die internationale Migration von Ar-                                                         Asien                Europa
 beitskräften gemessen an den Einkommensunter-
 schieden zu gering, obwohl die Mehrheit der internatio-
                                              23
 nalen Migranten als Arbeitsmigranten zählt. Aber indi-
 rekt hat die vorhandene Migration in Verbindung mit
 den Auswirkungen des verstärkten Handels und inter-
                                                                                   Latein-                                           Oze-
 nationaler Investitionen sowie die Verbreitung von                                                       Nord-
                                                                                   amerika                                           anien
                          24                                                                             amerika
 technischem Fortschritt die nationalen Arbeitsmärkte                             u. Karibik
                   25
 stark verändert.

 Auch wenn der Anteil an der Weltbevölkerung ver-
                                                                                 Afrika     Asien    Europa
 gleichsweise stabil ist, hat sich die Zahl internationaler
 Migranten über den betrachteten Zeitraum fast verdrei-                         Lateinamerika   Nordamerika      Ozeanien   Nicht anderweitig
                                                                                und Karibik                                 genannt
 facht. Sowohl die Süd-Süd-Wanderung als auch die
 Nord-Süd-Wanderung haben zugenommen. Trotzdem                              Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs
                                                                            (2015). Trends in International Migrant Stock: Migrants by Destina-
 findet die internationale Migration vor allem innerhalb
                                                                            tion and Origin (United Nations database,
 der Weltregionen statt. Mit Ausnahme Nordamerikas                          POP/DB/MIG/Stock/Rev.2015).
 und Ozeaniens kommt mehr als die Hälfte der Migran-

                                                                                                                                                Seite 5
KfW Research

Die Migrationsbewegungen haben sich im Lauf der Zeit        auf. Insofern zeigt sich der höchste Anteil von in ande-
                     30
deutlich verändert. Die Wahrnehmung, dass Ausmaß,           re Länder Geflüchteten an der Bevölkerung in den Kon-
Diversität und Entfernungen der internationalen Migra-      fliktregionen im Nahen Osten und Afrika (siehe Gra-
tion zugenommen haben, ist vor allem auf Verände-           fik 4).
rungen der räumlichen Migrationsmuster und damit auf
unterschiedliche Erfahrungen auf regionaler Ebene zu-        Kasten 3: Definition von Flucht
                31
rückzuführen. In der Tat haben die Entfernungen zu-          Während im alltäglichen Sprachgebrauch eine "Per-
genommen, die zurückgelegt werden, und mehr Länder           son, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen
sind durch Wanderungsbewegungen verbunden. Dabei             oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen
hat vor allem die Zahl der Herkunftsländer zugenom-          hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz
men, während nach wie vor eine relativ kleine Zahl von                              37
                                                             zurückgelassen hat" als Flüchtling bezeichnet wird,
                                            32
Zielländern die globale Migration dominiert. Dies im-        gilt eine solche Person in der Amtsprache erst dann
pliziert, dass sich die Auswanderungsmuster stark äh-        als Flüchtling, wenn ihr Asylantrag positiv beschie-
neln, d. h. es gibt zwar mehr Herkunftsländer, aber ei-      den ist. Hier spielt nicht die subjektive Ursache oder
ne starke Überschneidung bei den Zielländern.                Dringlichkeit der Migration eine Rolle, sondern der
                                                             juristische Tatbestand.
Wäre eine Migration bar aller Hindernisse und Res-
sourcenbeschränkungen möglich, würden lt. Gallup-            Um als Geflüchteter im Sinn der Genfer Flüchtlings-
Umfrage 14 % der Erwachsenen weltweit permanent in                       38
                                                             konvention und des Flüchtlingshilfswerk der Ver-
ein anderes Land umziehen. Dieser Wert ist deutlich          einten Nationen (UNHCR) klassifiziert zu werden,
höher als der Anteil der Bevölkerung, der tatsächlich        muss eine Verfolgung auf Grund von Rasse, Religi-
         33
migriert. Die Bevölkerung in Neuseeland, Australien          on, Nationalität, politischer Meinung oder Zugehörig-
und Ozeanien, in Nordamerika und in Europa würde             keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorlie-
netto anwachsen, wenn diese Migrationsabsichten um-               39
                                                             gen. Hinzu kommen Asylsuchende, deren Flücht-
gesetzt würden. Die anderen Regionen der Welt hin-           lingsstatus noch nicht bestimmt ist.
gegen würden verlieren.
                                                                          40
                                                             Für das IOM zählt eine Person als Geflüchteter,
Erzwungene Migration: Flucht und Vertreibung                 die die Kriterien des UNHCR-Statuts erfüllt und für
Die Abgrenzung zwischen internationaler Migration und        den Schutz des Hohen Kommissars der Vereinten
Flucht in andere Länder ist kaum trennscharf zu treffen.     Nationen infrage kommt, unabhängig davon, ob sie
Auf der einen Seite sind Geflüchtete auch Migranten,         sich in einem Land befindet, das Vertragspartei des
da sie – unabhängig vom Motiv für die Wanderung – ih-        Übereinkommens von 1951 oder des Protokolls von
ren Lebensmittelpunkt über Landesgrenzen hinweg              1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ist, o-
und für einen längeren Zeitraum verlegen. Auf der an-        der ob sie vom Aufnahmeland im Rahmen eines die-
deren Seite werden sie insofern von Migranten unter-         ser Instrumente als Geflüchteter anerkannt wurde
schieden, als dass für sie die Genfer Flüchtlingskon-        oder nicht.
vention und das New Yorker Zusatzprotokoll gelten
                  34
(siehe Kasten 3). Diese juristische Definition trifft auf    Heimatlose oder Vertriebene sind Personen, die aus
die gemischten Motive der betroffenen Personen. Denn         ihrem Heimatland oder ihrer Gemeinde geflüchtet
es sind in der Regel mehrere Motive – insbesondere           sind und zwar aus anderen Gründen als denen, die
eine Mischung aus Armut und Unsicherheit –, die Ge-          sie zu einem Geflüchteten im Sinn des UNHCR wer-
flüchtete dazu bewegen, ein Land zu verlassen. Au-           den lassen. Dies können beispielsweise interne Kon-
ßerdem können sich diese Motive während der Wande-           flikte oder Natur- und andere Katastrophen sein.
                                                                                                              41

rung verändern. Personen, die zunächst wegen wirt-
schaftlicher Motive ihre Heimat verlassen, können auf
                                           35               Im Westjordanland und Gaza sind fast die Hälfte der
ihrer Wanderung zu Geflüchteten werden.
                                                            Bevölkerung Geflüchtete, in Jordanien rd. 1/3 und im
                                                            Libanon fast 1/4. In der Türkei, die in den vergangenen
Die Zahl der in andere Länder Geflüchteten ist seit
                                                            Jahren absolut die meisten Geflüchteten weltweit auf-
2012 deutlich angestiegen. Im Jahr 2017 gab es
                                                            genommen hat, erreichen sie einen Anteil von rd. 4 %
weltweit 25,4 Mio. internationale Geflüchtete
                                                            der Bevölkerung. Die Konflikte in Afrika und im Nahen
(19,9 Mio. Personen unter UNHCR-Mandat und
                                                            Osten haben zu der bekannten Geflüchtetenbewegung
5,4 Mio. Palästinenser unter UNRWA-Mandat) und
                                                            nach Europa geführt, sodass in der Konsequenz auch
3,1 Mio. Asylsuchende, das ist die höchste Zahl seit
                       36                                   europäische Länder einen im weltweiten Vergleich
Beginn der Erfassung. Die meisten von ihnen halten
                                                            substanziellen Geflüchtetenanteil an der Bevölkerung
sich in den jeweiligen Nachbarländern und -regionen

Seite 6
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

aufweisen. Allerdings übersteigt dieser nur in Schwe-                                                               Unsicherheiten und Schwierigkeiten verbunden ist.
den, Norwegen, Österreich, Malta, Deutschland und
der Schweiz die 1 Prozent-Marke.                                                                                    Die durchschnittliche Dauer des Exils ist von 14 Jahren
                                                                                                                    im Jahr 2012 auf 10 Jahre im Jahr 2017 gesunken.
Grafik 4: Verteilung von Geflüchteten weltweit                                                                      Mehr als die Hälfte der Geflüchteten befindet sich seit
                                                                                                                                                 46
Anteil der Geflüchteten an der Bevölkerung im Zielland in Prozent,                                                  weniger als 4 Jahren im Exil. Dies liegt insbesondere
Stand 2017.                                                                                                         an neu hinzugekommenen Geflüchteten, die die durch-
                                                                                                                    schnittliche Dauer drücken. Gleichzeitig gibt es rund
                                                                                                                    3 Mio. Afghanen, die nach dem Einmarsch der Sowjet-
                                                                                                                    union aus ihrem Land geflohen sind und seit 37 bis
                                                                                                                    40 Jahren im Exil leben.

                                                                                                                    Auch wenn erst seit dem Jahr 2000 die Zahl der Ge-
                                                                                                                    flüchteten systematisch erhoben wird, erreichten die er-
                                                                                                                    fassten Geflüchtetenzahlen Anfang der 1990er-Jahre
                    0,00–0,01              0,01–0,03    0,03–0,15     0,15–0,61      0,61–30,63       keine Daten
                                                                                                                    schon einmal einen sehr hohen Wert von rd. 17 Mio.
                                                                                                                    Personen unter UNHCR-Mandat (siehe Grafik 5). Im
Geflüchtete lt. Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR einschl.
Personen, denen ein flüchtlingsähnlicher humanitärer Status gewährt                                                 Verhältnis zur Weltbevölkerung war dieser Wert sogar
wurde, und Personen, denen vorübergehenden Schutz gewährt wur-                                                      höher als der aktuelle (0,32 zu 0,26 %). Die Geflüchte-
de ohne Asylsuchende.                                                                                               ten stammten hauptsächlich aus dem früheren Jugo-
Quelle: World Bank (WDI); eigene Berechnungen.                                                                      slawien, wo sie vor "ethnischen Säuberungen" während
                                                                                                                    des Krieges flohen. Die Bürgerkriege in Somalia und
Auch Venezuela weist einen hohen Anteil von Geflüch-
                                                                                                                    Liberia, politische Unterdrückung in Togo, der Krieg
teten und Personen in flüchtlingsähnlicher Situation an
                                                                                                                    zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Macht-
der Bevölkerung im globalen Vergleich auf. Diese
                                     42                                                                             kampf in Tadschikistan und der ethnische Konflikt in
kommen vor allem aus Kolumbien, welches massive
                      43                                                                                            Bhutan haben Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls hohe
Binnenvertreibungen und Konflikte zwischen Regie-
                                                                                                                    Zahlen an Geflüchteten generiert. Aber nicht nur in den
rung und Paramilitärs zu erleiden hatte. Gleichzeitig hat
                                                                                                                    Zahlen, sondern auch in der Diskussion ähneln sich die
die wirtschaftliche und politische Krise in Venezuela
                                                                                                                    damalige und die heutige Situation. Das Flüchtlings-
selbst zu einer Auswanderungswelle geführt. Seit 2014
                                                                                                                    hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) konstatiert
haben mehr als 1,5 Mio. Venezuelaner das Land ver-
        44                                                                                                          Anfang der 1990er-Jahre eine Abkühlung in der Will-
lassen. Allerdings hat nur ein Teil der Personen einen
                                                                                                                    kommenskultur einschließlich eines "allgemeineren Ge-
Asylantrag gestellt (rd. 280.000 Personen) oder einen
                             45                                                                                     fühls der Müdigkeit über die scheinbare Hartnäckigkeit
alternativen legalen Status beantragt (rund
                                                                                                                    der Flüchtlingsprobleme" 47 und einen restriktiveren
570.000 Personen). Mehr als die Hälfte hat hingegen
                                                                                                                    Kurs der Länder in der Flüchtlingspolitik.
keinen regulären Status, was mit den entsprechenden

Grafik 5: Internationale Geflüchtete

                                   25                                                             Ende der Kolonialzeit und Kalter Krieg          Konflikte im Nahen Osten
                                           2. Weltkrieg und Nachkriegszeit
                                           (1940 bis 1960):                                       (1960 bis 2000):                                (2000 bis heute):
                                           9 fluchtauslösende Ereignisse,                         32 fluchtauslösende Ereignisse,                 5 fluchtauslösende Ereignisse,
Flüchtlinge (Millionen Personen)

                                   20      mind. 81,6 Mio. Vertriebene                            mind. 46,5 Mio. Vertriebene                     mind. 25,4 Mio. Vertriebene

                                   15

                                   10

                                   5

                                   0
                                    1951         1957          1963           1969          1975           1981      1987        1993      1999        2005       2011        2017

Anmerkung: Internationale Geflüchtete lt. UNHCR, ohne UNWRA, Asylsuchende oder Binnenvertriebene.

Quelle: UNHCR, www.washingtonpost.com/graphics/world/historical-migrant-crisis/??noredirect=on&noredirect=on.

                                                                                                                                                                               Seite 7
KfW Research

                                                                                                               50
Flucht als Reaktion auf Konflikte                                                               gezählt. Flüchten sie vor Naturkatastrophen, erhalten
Der Zwang zur Migration entsteht oft im Zusammen-                                               sie bei Überschreiten der Landesgrenze ggf. keinen
hang mit Kriegen und Bürgerkriegen. Flucht kann als                                             Flüchtlingsstatus. Denn bei ihrer Migrationsentschei-
Reaktion auf Konflikte, Gewalt, der Wahrnehmung von                                             dung fehlt der Verfolgungsaspekt für eine Klassifikation
                                                                                                                                      51
Gewalt oder einem generellen Fehlen von Sicherheit                                              als Geflüchteter im Sinn des UNHCR.
erfolgen. Gleiches gilt für politische Instabilität, Men-
schenrechtsverletzungen und Bedrohung der persönli-                                             Die Spannbreite der Schätzungen, wie viele Menschen
chen Sicherheit. Diese Faktoren liegen zwar außerhalb                                           wegen Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen
                                                                                                                                               52
des ökonomischen Bereichs, korrelieren jedoch mit                                               künftig im Ausland leben werden, ist enorm. Seit
diesem, z. B. was die Einkommens- und Beschäfti-                                                2008 wurden jedoch durchschnittlich 24,6 Mio. Men-
                          48
gungssicherheit angeht.                                                                         schen pro Jahr durch Umweltkatastrophen neu vertrie-
                                                                                                ben. Dies ist eine größere Zahl als diejenigen, die we-
Unterschiedliche Ursachen werden mit einem unter-                                               gen Konflikt und Gewalt ihre Heimat verlassen muss-
                                                                                                     53
schiedlichen Ausmaß von Flucht und Migration in Ver-                                            ten. Oftmals handelt es sich jedoch um kurzfristige
bindung gebracht, sei es generelle Gewalt im Vergleich                                          Evakuierungen. Klimaveränderungen hingegen erfol-
zu Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkriege mit und                                             gen über einen langen Zeitraum und schlagen sich bei-
ohne militärische Intervention des Auslands oder ethni-                                         spielsweise in Dürren, Überschwemmungen und einem
sche Rebellion. Die Urheber der Gewalt sowie Form                                               steigenden Meeresspiegel nieder. Die dadurch ausge-
und Dauer des Konflikts wurden in ihrer Auswirkung                                              löste Migration ist nicht nur die Folge der direkten Wir-
auf internationale und Binnenmigration ebenfalls unter-                                         kungen des Klimawandels, sondern auch die Folge ih-
sucht. Die Studienergebnisse zu generalisieren ist we-                                          rer Interaktion mit ökonomischen, sozialen und politi-
gen der starken Kontextabhängigkeit jedoch schwie-                                              schen Migrationsursachen.
     49
rig.
                                                                                                Dabei verlassen Personen verletzliche Gebiete nicht
Klimawandel und Umweltkatastrophen als Flucht-                                                  nur, sondern wandern auch in diese ein, beispielsweise
ursachen                                                                                        in Küstenstädte. Durch die Auswirkungen des Klima-
Menschen flüchten auch vor Naturkatastrophen und                                                wandels wird zwar die Notwendigkeit, betroffene Ge-
den Auswirkungen des Klimawandels. Gemäß interna-                                               biete zu verlassen, voraussichtlich ansteigen. Gleich-
tionaler Konvention werden Personen, die ihr Heim                                               zeitig können die gleichen Auswirkungen jedoch die in-
aufgrund von Gewalt, Verletzung von Menschenrech-                                               dividuellen Ressourcen reduzieren, die für eine Migra-
ten, natürlichen oder von Menschen verursachten Ka-                                             tion notwendig sind. In letzterem Fall wird Migration
                                                                                                           54
tastrophen verlassen müssen, als Binnenvertriebene                                              verhindert. Bei einer hohen Verletzlichkeit gegenüber

Grafik 6: Interaktion von Migrationsursachen

                                                            Makro                                                         Mikro

                       Gesellschaftlich                                                                                   Persönliche Eigenschaften/Haushaltsmerkmale
                       •   Streben nach Bildung                                            Demografisch
                       •   Familiäre Verpflichtungen                                                                      Alter, Geschlecht, Bildung, Vermögen,
                                                                                           •   Bevölkerungsgröße/         Familienstand, Vorlieben,
                                                                                               -dichte                    Ethnizität, Religion, Sprache
                                                                                           •   Bevölkerungsstruktur
                                                                                           •   Krankheitsprävalenz

                                                         Räumliche und/oder zeitliche
 Umweltbedingt                                             Variabilität und Differenz                                                                                   Migrieren
                                                       zwischen Herkunfts- und Zielland
 Risiken und Gefahren
 Ökosystemleistungen, inkl.
 • Landproduktivität                                                                                                         ENTSCHEIDUNG
 • Bewohnbarkeit                                         sukzessiv           tatsächlich
 • Versorgungssicherheit
     (Ernährung, Wasser,                                                                                                                                                Bleiben
     Energie)
                                                                              wahrge-
                                                         plötzlich
                                                                              nommen

                                                                                           Politisch
                                                                                           •   Diskriminierung/Verfol-
                                                                                               gung                       Meso
          Ökonomisch                                                                       •   Politische Führung/Frei-
                                                                                               heit                       Intervenierende Faktoren:
          •   Beschäftigungschancen                                                        •   Konflikt/Unsicherheit      Hindernisse und Moderatoren
          •   Einkommen/Löhne/Wohlstand                                                    •   Politische Anreize
          •   Erzeugerpreise (z. B. Landwirtschaft)                                        •   Unmittelbarer Zwang        Politische/rechtliche Rahmenbedingungen
          •   Verbraucherpreise                                                                                           Kosten des Umzugs
                                                                                                                          Soziale Netzwerke
                                                                                                                          Beziehungen zur Diaspora
                                                                                                                          Vermittlungsagenturen
                                                                                                                          Technologie

Quelle: Foresight: Migration and Global Environmental Change (2011), Final Project Report, The Government Office for Science, London.

Seite 8
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

Klimaveränderungen und verminderter Fähigkeit zu            mögliche Nutzung als Instrumente für Entwicklung. Die
migrieren, können gefangene Bevölkerungen (trapped          komplexe Beziehung zwischen Migration und Entwick-
                       55
populations) entstehen. Entsprechende Aufmerksam-           lung legt nahe, dass nicht einseitig Migration Entwick-
keit verdient der Zusammenhang zwischen Umwelt-             lung bestimmt oder umgekehrt. Vielmehr herrscht zwi-
und Klimaveränderungen, Möglichkeiten zur Einkom-           schen beiden eine interdependente Beziehung.
                                    56
mensdiversifizierung und Mobilität.
                                                            Mit dem Entwicklungsstand von Volkswirtschaften ver-
Wissen über Migrationsursachen begrenzt                     ändern sich die Voraussetzungen und Rahmenbedin-
Die Entscheidung für oder gegen Migration trifft jede       gungen für die Migrationsentscheidungen von Perso-
erwachsene Person – ggf. zusammen mit anderen               nen. Dies schlägt sich auf aggregierter Ebene in typi-
Haushalts- und Familienmitgliedern – für sich selbst.       schen Migrationsbewegungen nieder. Denn die soziale
Dabei spielt eine Vielzahl von ökonomischen und nicht-      und wirtschaftliche Entwicklung kann den Wunsch nach
ökonomischen Faktoren eine Rolle. Ob und welche             einer Auswanderung wecken und Personen in die Lage
                                                                                                     61
Faktoren die Migrationsentscheidung dominieren, lässt       versetzen, diesen Wunsch umzusetzen. Mit der Ent-
sich bei heutigem Kenntnisstand nicht feststellen. In je-   wicklung steigen auch das Qualifikationsniveau der
dem Fall greift eine Verkürzung allein auf Einkom-          Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter und damit die
                                                                                     62
mensunterschiede zwischen Ländern als Migrationsur-         Auswanderungsneigung. Im Zusammenspiel zwi-
sache zu kurz. Denn dann müssten beispielsweise             schen sich verändernden Möglichkeiten und Anreizen
deutlich mehr Arbeiter zwischen den am wenigsten            für sowie Beschränkungen der Migration, auch durch
entwickelten Volkswirtschaften und den Industrielän-        die Ein- und Auswanderungspolitik der Länder, entsteht
               57
dern wandern.                                               ein nicht-linearer Zusammenhang zwischen Migration
                                                            und Entwicklung.
Insgesamt fehlt eine einheitliche Migrationstheorie, die
empirisch getestet werden kann. Untersucht wird eine        Im Ländervergleich lässt sich feststellen, dass – aus-
Vielzahl von Teilaspekten mit unterschiedlichen             gehend von einem niedrigen Entwicklungsstand –
Schwerpunktsetzungen, wobei die Sicht der Zielländer        zunächst sowohl die Auswanderung im Verhältnis zur
                                                   58
und ökonomische Erklärungsansätze dominieren.               Bevölkerung als auch die Nettoauswanderung als
Neben Arbeitsmigration und Flucht gibt es jedoch auch       Differenz von Aus- und Einwanderung i. d. R. umso
die Migration wegen Familienzusammenführung und             höher ausfallen, je höher das durchschnittliche Pro-
Kindererziehung, wegen Heirat, Bildung (Studenten-          Kopf-Einkommen eines Landes ist. Dies gilt, bis der
austausch) oder wegen der Wohnsitzwahl im Ruhe-             Bereich eines oberen mittleren Pro-Kopf-Einkommens
stand, die Migration Hochqualifizierter und umwelt- und     von ca. 6.000 bis 8.000 realen Dollar in Kaufkraftparitä-
                          59                                                              63
klimainduzierte Migration. Hinzu kommt, dass Öko-           ten (PPP Dollar) erreicht ist. Danach ist die Auswan-
nomen sich eher mit den Eigenschaften von Migranten         derung tendenziell umso niedriger, je höher das durch-
sowie den Konsequenzen von Migration im Herkunfts-          schnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist.
und Zielland beschäftigen als mit den Migrationsursa-
chen. Zumindest ist jedoch eine Unterteilung in Migra-      Selbst wenn dieser Mechanismus teilweise hinterfragt
                                                                  64
tionsursachen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene          wird, hat sich – in Übertragung des Querschnittser-
möglich (siehe Grafik 6), wobei im Folgenden makro-         gebnisses auf die zeitliche Dimension – die Erkenntnis
ökonomische Strukturveränderungen und ihr Zusam-            durchgesetzt, dass mit steigendem Entwicklungsstand
menhang mit Migration im Fokus stehen.                      eines Landes zunächst auch die Auswanderung zu-
                                                            nimmt. Ein Land mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkom-
Migration und Entwicklungsstand                             men wird bei realistischen Wachstumsraten jedoch
Mit wirtschaftlicher Entwicklung der Niedrigein-            sehr lange, üblicherweise mehrere Generationen, be-
kommensländer ist mehr Migration zu erwarten                nötigen, um einen Entwicklungsstand zu erreichen, ab
Die Einschätzung des Zusammenhangs zwischen                 dem die Auswanderung wieder abnimmt. Entsprechend
Migration und Entwicklung von Volkswirtschaften             sind die Belege für einen Zusammenhang zwischen
schwankt im Zeitverlauf zwischen Optimismus und             Einkommen und Auswanderung nicht konsistent, da
              60
Pessimismus. Bis in die erste Hälfte der 1970er-            ggf. zu kurze Zeiträume analysiert werden. Dieser um-
Jahre herrschte ein optimistischer Blick vor, gefolgt von   gekehrt u-förmige Verlauf der Auswanderung im Ver-
einer pessimistischen Bewertung – unter den Schlag-         lauf der langfristigen Entwicklung wird als Migrations-
worten Brain Drain und Abhängigkeit – bis Anfang der        übergang bezeichnet, während eine eher kurzfristige
1990er-Jahre. Aktuell überwiegt wieder die positive         Zunahme von Migration beispielsweise durch eine
Sicht mit einem starken Interesse für Themen wie Brain      Handelsliberalisierung als Migrationsbuckel bezeichnet
Gain, Rücküberweisungen und Diasporas sowie ihre            werden.

                                                                                                               Seite 9
KfW Research

Ungefähr ein Drittel der Länder weltweit liegt noch                                              Ländern sind auch jenseits der genannten BIP-pro-
mehr oder weniger weit unter der Grenze für den Um-                                              Kopf-Grenze Nettoauswanderungsländer.
schwung im Migrationsverhalten (siehe Grafik 7). Auch
wenn nicht jedes Land den Migrationsübergang 1:1                                                 Grafik 8: Stilisierter Migrationsübergang
durchläuft, ist in Ländern mit sehr niedrigem Pro-Kopf-
Einkommen bei dessen Erhöhung auch mit einer Zu-

                                                                                                  Nettoein-
                                                                                                 wanderung
nahme der Auswanderung zu rechnen. Dies betrifft
sehr kleine Länder wie Sao Tome and Principe oder
Comoros, aber auch bevölkerungsreiche Staaten wie
Indien und Pakistan, die zusammen rd. 40 % der Welt-

                                                                                                 wanderung
                      65
bevölkerung stellen.

                                                                                                 Nettoaus-
Grafik 7: BIP pro Kopf
Reales BIP pro Kopf (in Tausend realen PPP USD).                                                                                                        Zeit

                                                                                                                Nettomigration
                                   50                                                                           (Einwanderung abzüglich Auswanderung)
reales BIP pro Kopf im Jahr 2014

                                   45
                                   40                                                                                    Auswanderung               Einwanderung

                                   35
                                                                                                 Quelle: de Haas, 2010.
                                   30
                                   25                                                            Der Übergang von einem Nettoaus- zu einem Netto-
                                   20                                            BIP-pro-Kopf-   einwanderungsland ist kein deterministischer und un-
                                   15                                             Grenze für
                                                                                  Migrations-    umkehrbarer Prozess. Zwischen 1960 und 2010 voll-
                                   10                                              übergang      zogen zwar 46 Länder diesen Übergang. Aber gleich-
                                    5
                                    0
                                                                                                 zeitig wurden aus 70 Einwanderungsländern wieder
                                                                                                                         68
                                        0        5         10        15          20       25     Auswanderungsländer. Letzteres gilt beispielsweise
                                            reales BIP pro Kopf zum frühesten erhobenen          für einige lateinamerikanische Länder, die weniger
                                                             Zeitpunkt                           Einwanderung aus Europa erfahren und an Wohlstand
                             1990er-Jahre         1970er-Jahre    1960er-Jahre    1950er-Jahre
                                                                                                 verloren haben.
Reales BIP pro Kopf basierend auf realem BIP in verketteten Kauf-
kraftparitäten.                                                                                  Grafik 9: Migrationsübergang im Ländervergleich
                                                          66
Quelle: PENN World Tables , eigene Berechnungen.

Mit steigendem Entwicklungsstand werden Länder zu-                                                                     42
nehmend attraktiv als Einwanderungsziel und fragen
                                                                                                 Nettomigrationsrate

                                                                                                                       28
                                             67
Arbeitskräfte auch aus anderen Ländern nach. Dies
                                                                                                                       14
läuft den Auswanderungsbewegungen entgegen. Bei
niedrigem Entwicklungsstand überwiegt in der Regel                                                                      0

die Auswanderung die Einwanderung. Mit steigendem                                                                      -14
Wohlstand nehmen der Auswanderungsdruck ab und                                                                         -28
die Einwanderung zu, sodass ein Nettoauswande-
                                                                                                                       -42
rungsland zu einem Nettoeinwanderungsland werden                                                                             500                  5.000              50.000
kann (siehe Grafik 8).                                                                                                             reales BIP pro Kopf (Achse in log-Skalierung)

                                                                                                 Nettomigrationsrate: Zahl der Einwanderer abzüglich der Zahl der
Das Maximum bei der Auswanderung wird i. d. R. bei
                                                                                                 Auswanderer über einen Zeitraum, geteilt durch die Personenjahre,
einem niedrigeren Entwicklungsstand (gemessen als                                                die die Bevölkerung des Aufnahmelandes in diesem Zeitraum gelebt
BIP pro Kopf) erreicht als der Umschwung von einem                                               hat. Reales BIP pro Kopf basierend auf realem BIP in verketteten
Aus- zu einem Einwanderungsland. Bei einer Gegen-                                                Kaufkraftparitäten.

überstellung von realem BIP pro Kopf und Nettomigra-                                             Quelle: Penn World Tables 69, UN; eigene Berechnungen.
tionsraten sind Länder mit einem BIP pro Kopf von we-
                                                                                                 Die Tatsache, dass es vor allem Länder mit hohem
niger als 11.500 realen Internationalen Dollar im
                                                                                                 Pro-Kopf-Einkommen sind, die Nettoeinwanderungs-
Durchschnitt Nettoauswanderungsländer. Länder mit
                                                                                                 länder sind, bestimmt entsprechend die geografische
einem BIP pro Kopf oberhalb dieser Grenze sind im
                                                                                                 Verteilung der Nettomigrationsraten global (siehe Gra-
Durchschnitt Einwanderungsländer (siehe Grafik 9). Al-
                                                                                                 fik 10). Insbesondere die Hocheinkommensländer und
lerdings ist auch die Heterogenität in diesem Zusam-
                                                                                                 damit die Industrieländer auf der Nordhalbkugel erfah-
menhang beträchtlich. Eine substanzielle Anzahl von

Seite 10
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

ren eine Nettoeinwanderung. Aber auch in Südafrika,                                     Analog zum Migrationsübergang nimmt das Bevölke-
Australien und den Hocheinkommensländern im Nahen                                       rungswachstum mit zunehmendem Entwicklungsstand
Osten überwiegt die Ein- die Auswanderung. Die Netto-                                   eines Landes zunächst zu und dann ab (demografi-
                                                                                                                                 74
auswanderungsländer werden – wenig überraschend –                                       scher Übergang, siehe auch Kasten 4). Dieser Pro-
von Syrien angeführt, da hier Fluchtbewegungen den                                      zess begann in Europa um 1800 und ist auch in den
Zusammenhang von Nettowanderung und wirtschaftli-                                       heutigen Industrieländern noch nicht abgeschlossen.
chem Entwicklungsstand überlagern.                                                      Dies wird erst dann der Fall sein, wenn die Bevölke-
                                                                                                                 75
                                                                                        rung nicht weiter altert. In heutigen Entwicklungslän-
Grafik 10: Nettomigrationsraten                                                         dern läuft der Prozess schneller ab als in den heutigen
                                                                                                          76
Zahl der Einwanderer abzüglich der Zahl der Auswanderer pro                             Industrieländern.
1.000 Einwohner, 2010 bis 2015
                                                                                         Kasten 4: Wirtschaftliche Entwicklung und
                                                                                         Lebenserwartung
                                                                                         Mit der wirtschaftlichen Entwicklung und höherem
                                                                                         Einkommen geht eine steigende Lebenserwartung
                                                                                                                 77
                                                                                         einher (Preston-Kurve ). Dabei ist der Zugewinn an
                                                                                         Lebenserwartung für Länder mit niedrigem Pro-Kopf-
                                                                                         Einkommen am höchsten. Für Länder mit hohem
                                                                                         Pro-Kopf-Einkommen schwächt sich der Zusam-
 (-)41,8–(-)2,6   (-)2,6–(-)0,9   (-)0,9–(-)0,2   (-)0,2–2,4   2,4–56,5   keine Daten    menhang ab. Im Zeitablauf ist die Lebenserwartung
Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs,
                                                                                         jedoch global – für Länder aller Einkommens-
                                                                                                               78
Population Division (2017). World Population Prospects: The 2017                         niveaus – gestiegen. Dazu hat insbesondere der
Revision.                                                                                allgemeine medizinische Fortschritt beigetragen.
In Europa warten Litauen, Bosnien-Herzegowina und                                        Dabei ist es gut möglich, dass das Einkommen als
Lettland mit den höchsten Nettoauswanderungsraten                                        Signal für den allgemeinen Entwicklungsstand steht
auf. Sie liegen auch im internationalen Vergleich unter                                  und über indirekte Wege wie ein steigendes Bil-
den ersten 15 Ländern, obwohl zumindest Litauen und                                      dungsniveau wirkt. Die direkten Effekte eines höhe-
Lettland zu den Hocheinkommensländern zählen. Da-                                        ren Einkommensniveaus auf die Gesundheit erge-
mit sollten sie im Migrationsübergang schon deutlich                                     ben sich durch bessere Ernährung, Zugang zu sau-
weiter fortgeschritten sein und entsprechend weniger                                     berem Wasser und Abwasser sowie medizinischer
Aus- und mehr Einwanderung erfahren. Dieses grund-                                       Versorgung. In der Regel wird für den Rückgang der
legende Muster wurde jedoch in beiden Ländern durch                                      Sterblichkeit eine Kombination dieser Faktoren ver-
                                                                                                               79
den Beitritt zur Europäischen Union und vor allem die                                    antwortlich gemacht.
negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der globalen
                                                     70
Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 überlagert.                                      In Übertragung dieser Längsschnittbetrachtung auf den
Dies zeigt sehr deutlich, dass der wirtschaftliche Ent-                                 Querschnitt sollten Länder mit geringerem Entwick-
wicklungsstand nur eine Dimension ist, die bei Umfang                                   lungsstand ein höheres Bevölkerungswachstum auf-
und Struktur der internationalen Migration eine Rolle                                   weisen als Länder mit höherem Entwicklungsstand.
spielt.                                                                                 Voraussetzung ist, dass sich die weniger entwickelten
                                                                                        Länder schon im demografischen Übergang befinden,
Migrationsübergang und demografischer Übergang                                          aber noch nicht so weit fortgeschritten sind wie die In-
Junge Bevölkerung als Migrationspotenzial                                               dustrieländer. In der Tat lässt sich ein Muster in der
Auch wenn eine umfassende Datenbasis fehlt, deuten                                      Bevölkerungsentwicklung im Querschnitt herstellen,
die verfügbaren Ergebnisse darauf hin, dass vor allem                                   wenn Länder nach ihrem Pro-Kopf-Einkommen einge-
                              71
jüngere Personen wandern. Dies zeigen Zahlen zur                                        teilt werden (siehe Grafik 11). Das Bevölkerungs-
                                                72
Ein- und Auswanderung für europäische Länder und                                        wachstum der Niedrigeinkommensländer ist mit jährlich
                                                    73
Analysen der globalen Nettomigrationsbewegungen .                                       2,8 % im Durchschnitt am höchsten, das der Hochein-
Die Erwartung, dass sich die Wanderung gemessen als                                     kommensländer mit 1,1 % am geringsten.
Lebenszeiteinkommen lohnt, ist für jüngere Personen
aufgrund des längeren potenziellen Erwerbslebens hö-                                    Mit dem demografischen Übergang verändert sich
her als für Ältere. Gleichzeitig müssen auch Ressour-                                   auch die Altersstruktur der Bevölkerung. Wenn eine
cen aufgebracht werden, um die Wanderung zu finan-                                      Bevölkerung schneller wächst, weil die Säuglingssterb-
zieren. Dies dürfte jüngeren Personen tendenziell                                       lichkeit abnimmt, erzeugt dies eine junge Bevölkerung.
schwerer fallen.                                                                        Ökonomisch relevant ist, dass der Anteil der Bevölke-

                                                                                                                                          Seite 11
KfW Research

 rung im erwerbsfähigen Alter steigt und diese dem Ar-                                                 Es ist daher davon auszugehen, dass das Migrations-
 beitsmarkt länger zur Verfügung stehen. Dies bewirkt                                                  potenzial in diesen Ländern noch steigt. Demgegen-
 auch, dass die Zahl der Kinder und Alten im Verhältnis                                                über haben die großen Schwellenländer Russland,
 zu den Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen                                                      China, Brasilien und in etwas geringerem Maß Indien
 15–64 Jahren sinkt (Abhängigkeitsquotient). Während                                                   und Südafrika aktuell ein vorteilhaftes Verhältnis von
 in der Mehrheit der Hocheinkommensländer der Ab-                                                      erwerbsfähiger Bevölkerung zu Kindern und Alten.
 hängigkeitsquotient zunimmt, können vor allem Länder
 mit niedrigem und unterem mittleren Einkommen laut                                                    Grafik 12: Demografische Dividende
 den Prognosen der UN mit einem noch weiter sinken-                                                    Anzahl der Länder, die im jeweiligen Jahr ihren minimalen Abhängig-
 den Abhängigkeitsquotienten rechnen. Insbesondere                                                     keitsquotienten erreichen
 die Niedrigeinkommensländer werden ihr Minimum
 nicht vor Ende des Prognosezeitraums 2050 erreichen                                                   20                                         Projektionen
 (siehe Grafik 12).
                                                                                                       15
 Grafik 11: Bevölkerungswachstum und Entwick-
 lungsstand
                                                                                                       10
 Durchschnitt 2011 bis 2014. Länderklassifikation lt. Weltbank.
                                  10                                                                   5
                                         inkl. Mittelwerte der Ländergruppen
Bevölkerungswachstum in Prozent

                                  8

                                  6                                                                    0
                                                                                                        1950 1961 1972 1983 1994 2005 2016 2027 2038 2049
                                  4
                                                                                                        Niedrige Einkommen              Niedrige mittlere Einkommen
                                  2                                                                     Höhere mittlere Einkommen       Hohe Einkommen
                                  0
                                                                                                       Quelle: UNCTAD, eigene Berechnungen.
                                  -2
                                                                                                       Der demografische Übergang kann zwar nicht als di-
                                  -4                                                                   rekte Erklärung für den Migrationsübergang herange-
                                       500              5.000               50.000
                                                                                                       zogen werden. So gibt es Hinweise, dass der Zusam-
                                              Reales BIP pro Kopf (log-Skalierung)
                                                                                                       menhang zwischen Bevölkerungswachstum und Migra-
                        Niedrige Einkommen                       Niedrige mittlere Einkommen                                           81
                        Höhere mittlere Einkommen                Hohe Einkommen
                                                                                                       tion zumindest nicht linear ist. In Ländern mit junger
                                                                                                       und schnell wachsender Bevölkerung steht jedoch ein
 Quelle: Penn World Tables, eigene Berechnungen.                                                       größerer Pool von Personen für eine internationale
 Das Bevölkerungswachstum und die Altersstruktur der                                                   Migration zur Verfügung. Damit sich dieses Potenzial
 Bevölkerung sind global unterschiedlich verteilt (siehe                                               realisiert, müssen jedoch weitere Faktoren wie ein wirt-
 Grafik 13). Während vor allem in Afrika und im Nahen                                                  schaftlicher Strukturwandel und Veränderungen des
 Osten die Bevölkerung im weltweiten Vergleich am                                                      Arbeitsmarktes hinzukommen.
 schnellsten wächst, ist der Abhängigkeitsquotient in
 den Ländern Subsahara-Afrikas vergleichsweise hoch.                                                   Im Umkehrschluss gilt diese Argumentation auch für
 In diesen Ländern ist es die große Anzahl von Kindern,                                                die demografische Dividende. Die positiven Auswir-
 die den Abhängigkeitsquotienten in die Höhe treibt.
                                                      80                                               kungen einer jungen und wachsenden Bevölkerung auf
                                                                                                                                                          82
                                                                                                       das Wirtschaftswachstum können substanziell sein.

Grafik 13: Demografischer Wandel aus globaler Sicht
Bevölkerungswachstum in Prozent, Durchschnitt 2010–2015                                                Demografische Dividende als 1/Abhängigkeitsquotient

                    (-)1,7–0,4               0,4–1,1   1,1–1,7    1,7–2,7      2,7–7,4   keine Daten     0,9–1,3   1,3–1,8    1,8–1,9   1,9–2,2     2,2–5,7      keine Daten

Quelle: UNCTAD, eigene Berechnungen.

 Seite 12
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive

Um die demografische Dividende tatsächlich einzufah-           Kasten 5: Strukturveränderungen im Wirt-
ren, muss der Arbeitsmarkt aufnahmefähig sein, so-             schaftsmodell und internationale Migration
dass die Arbeitskräfte produktiv eingesetzt werden             Neben der Industrialisierung können auch andere
(können). Wenn dies nicht der Fall ist, sind – neben           strukturelle Anpassungen des Wirtschaftsmodells die
den ausbleibenden Wachstumswirkungen – auch die                internationale Migration verändern. Dazu gehören
Opportunitätskosten einer Auswanderung geringer.               beispielsweise die Abkehr von der Importsubstitution
                                                               und Öffnung der Wirtschaft für den internationalen
Migrationsübergang und Strukturwandel                          Handel und Direktinvestitionen wie in Mexiko, ver-
Industrialisierung und Urbanisierung verändern                 bunden mit der Möglichkeit zur Privatisierung von
Rahmenbedingungen für Migration                                                           86
                                                               kommunalem Landbesitz. Ein anderes Beispiel ist
Ein hohes Bevölkerungswachstum und eine junge Be-              die Transformation in Polen von einer zentralen
völkerung allein reichen als Migrationsursache nicht                                                   87
                                                               Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Im Ver-
aus. Vielmehr ist es das Zusammenspiel von Bevölke-            gleich war der Schockeffekt der Transformation für
rungswachstum und wirtschaftlichen Strukturverände-            die Auswanderungswahrscheinlichkeit in Polen stär-
rungen im Zuge der Entwicklung, welche das Migrati-            ker ausgeprägt, da auch die Veränderungen im öko-
onsgeschehen verändert. Denn erst dieses Zusam-                nomischen Modell grundlegender ausgefallen sind
menspiel bestimmt die Beschäftigungsmöglichkeiten in           als in Mexiko.
den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft sowie
die wirtschafltichen und gesellschaftlichen Rahmenbe-
                                                              Zugleich erzeugt die Industrialisierung Arbeitsnachfra-
dingungen, die die individuellen Migrationsentschei-
                                                              ge, die Anziehungskraft für internationale Migration hat.
dungen mitgestalten. Dabei wird die Industrialisierung
                                                              Durch die internationale Arbeitsteilung entsteht ein
– und Urbanisierung – vor allem mit der Stadt-Land-
                                      83                      segmentierter Arbeitsmarkt in den (neuen) Industrie-
Wanderung in Verbindung gebracht. Sie wirkt sich je-
                                                              ländern, bei dem Einheimische tendenziell sichere und
doch auch auf die internationale Migration aus. Denn
                                                              gut bezahlte Arbeitsplätze im primären Arbeitsmarkt
auch bei internationaler Migration ist i. d. R. eine Stadt,
                                84                            erhalten. Migranten hingegen sind vorwiegend im se-
oft eine große Stadt, das Ziel.
                                                              kundären Arbeitsmarkt und Dienstleistungssektor mit
                                                              niedrigeren Löhnen, weniger Anforderungen an Fähig-
Der Strukturwandel verändert die Sektorzusammenset-
                                                              keiten und Fertigkeiten und weniger Sicherheit zu fin-
zung einer Volkswirtschaft. Dies lässt sich zum einen              88
                                                              den. Trotz des Abstands bei Humankapital und
am Beitrag der Sektoren zur Wirtschaftsleistung und
                                                              Schulbildung, Produktivität und Einkommen sowie Er-
zum anderen am Beitrag zur Beschäftigung ablesen.
                                                              werbsbeteiligung zwischen Entwicklungs- und OECD-
Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Industriesektor
                                                              Ländern sind die Erwerbsbeteiligung und der Bildungs-
und darunter dem Verarbeitenden Gewerbe. Die Be-
                                                              stand der Einwanderer dem des Ziellandes recht ähn-
deutungszunahme des Verarbeitendes Gewerbes er-                    89
                                                              lich. Dies weist auf eine Selbstselektion der Einwan-
folgt zunächst zu Lasten des primären Sektors, bevor
                                                              derer hin.
es dem Dienstleistungssektor Wertschöpfungs- und
Beschäftigungsanteile abgeben muss.
                                                              Die heutigen Entwicklungs- und Schwellenländer
                                                              durchlaufen allerdings nicht mehr den typischen Struk-
Für die Migration ist der sich im Zuge des Strukturwan-
                                                              turwandel nach der Erfahrung der heutigen Industrie-
dels verändernde Arbeitskräftebedarf ausschlagge-
                                                              länder (siehe Kasten 6 für die historische Erfahrung).
bend. Zunächst werden Arbeitskräfte in der Landwirt-
                                                              Vielmehr sind folgende Muster zu verzeichnen, wobei
schaft freigesetzt, da deren Intensivierung zu einem
                                                              nur noch Subsahara-Afrika Potenzial für eine substan-
geringeren Arbeitskräftebedarf führt. Gleichzeitig sin-
                                                              zielle Industrialisierung zugeschrieben wird (siehe Ta-
ken mit weniger Beschäftigungsmöglichkeiten die Op-                     90
                                                              belle 2):
portunitätskosten einer Wanderung für die Landbevöl-
kerung. Diese wandern oftmals zu den Produktionsstät-
                                                              • Länder, die im Industrialisierungsprozess zu den In-
ten innerhalb des Landes, können jedoch auch interna-
                                                              dustrieländern aufholen, sind vor allem in Ostasien zu
tional mobil werden. Insbesondere eine gleichzeitig zur
                                                              finden. Das Musterbeispiel ist Südkorea.
Industrialisierung stattfindende Handelsliberalisierung
kann die internationale Migration verstärken (siehe
                 85                                           • Für mindestens 30 Länder wird konstatiert, dass der
auch Kasten 5).
                                                              Industrialisierungsprozess stagniert. Beispielhaft wer-
                                                              den Indien und Mexiko, Indonesien und Thailand zitiert.

                                                                                                                Seite 13
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