INTERNATIONALE MIGRATION IN DER LANGFRISTIGEN PERSPEKTIVE - KFW RESEARCH
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KfW Research Internationale Migration in der langfristigen Perspektive
Impressum Herausgeber KfW Bankengruppe Abteilung Volkswirtschaft Palmengartenstraße 5-9 60325 Frankfurt am Main Telefon 069 7431-0, Telefax 069 7431-2944 www.kfw.de Redaktion KfW Bankengruppe Abteilung Volkswirtschaft research@kfw.de Dr. Katrin Ullrich Telefon 069 7431-9791 Copyright Titelbild Quelle: www.naturalearthdata.com / eigene Darstellung Frankfurt am Main, Dezember 2018
Kurzfassung Migration ist ein komplexes Phänomen mit vielen Fa- ● Eine junge und schnell wachsende Bevölkerung cetten, bei dem aktuell vor allem das Thema Flucht in in Entwicklungsländern bildet den Pool, aus dem sich der Öffentlichkeit diskutiert wird. Grundlegend werden Auswanderung speist. Damit sich dieses Potenzial rea- internationale Wanderungsbewegungen jedoch von lisiert, müssen jedoch weitere Faktoren wie ein wirt- wirtschaftlichen und strukturellen Ursachen und ihrer schaftlicher Strukturwandel hinzukommen. Veränderung im Zuge der Entwicklung bestimmt. Dazu gehören der demografische Wandel, die Industrialisie- • Im Verlauf des wirtschaftlichen Strukturwandels rung und Veränderungen des Arbeitsmarktes sowie die verändern sich die Anreize für eine Migration. In vielen Finanzsystementwicklung. Je nach Kontext und im Zu- Entwicklungsländern stagniert die Industrialisierung sammenspiel können sie internationale Migration för- oder es setzt im Vergleich zu heutigen Industrieländern dern oder reduzieren, was zu unterschiedlichen Migra- verfrüht eine Deindustrialisierung ein. Erst wenn sich tionsmustern für Volkswirtschaften führt. die Industrialisierung fortsetzt oder ein Wachstumsmo- dell gefunden wird, welches vergleichbare Beschäfti- Die Zahlen zu internationaler Migration auf globaler gungs- und Einkommenserzielungsmöglichkeiten be- Ebene zeigen, reitstellt, werden auch die Anreize für eine Migration geringer werden. • dass internationale Migration vergleichsweise selten stattfindet. Nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung lebt • Beim durchschnittlichen Einkommen pro Kopf be- außerhalb seines Heimatlands. Migration innerhalb von steht für die Entwicklungsländer noch viel Aufholbedarf Ländern findet hingegen häufiger statt. zu den Industrieländern, sodass eine weitere Anglei- chung die Anreize für eine Migration senken würde. • dass internationale Migration überwiegend innerhalb Wenn allein die Einkommensunterschiede zwischen der Weltregionen stattfindet. Mehr als die Hälfte der Ländern das Ausmaß der internationalen Migration be- Migranten bewegt sich innerhalb der eigenen Weltregi- stimmen würden, müssten jedoch viel stärkere Wande- on. rungsbewegungen zu beobachten sein als dies tat- sächlich der Fall ist. Gleichzeitig werden nicht alle Ein- • dass die Zahl der Migranten und der Herkunftsländer wohner eines Landes im gleichen Ausmaß von der angestiegen sind, aber nach wie vor eine kleine Zahl Entwicklung profitieren, sodass Auswanderung einen von Ländern das Ziel ist. Ausweg aus relativer Benachteiligung bildet. • dass auch Anfang der 1990er-Jahre die Zahl der Neben den genannten strukturellen Bedingungen wird Geflüchteten schon einmal substanziell zugenommen die Auswanderung durch weitere Faktoren beeinflusst hatte. Im Verhältnis zur Weltbevölkerung erreichte sie und überlagert. Dies zeigt das Schlaglicht auf vier afri- damals sogar einen höheren Wert als 2015/2016. kanische Länder, wobei die oft dürftige Datenlage ei- ne tiefer gehende Analyse erschwert. In der Demokra- Die strukturell-ökonomischen Faktoren von Volkswirt- tischen Republik (DR) Kongo und der Zentralafrikani- schaften verändern sich langfristig und beeinflussen schen Republik mit niedrigem Entwicklungsstand und die Wanderungsbewegung der Bevölkerung: gewaltsamen Konflikten wird die Migration durch Fluchtbewegungen bestimmt. Äquatorialguinea mit ei- ● Ein substanzieller Teil der Weltbevölkerung lebt in nem hohen BIP pro Kopf, aber sehr ungleicher Ein- Ländern, für die mit zunehmender wirtschaftlicher kommensverteilung erlebt Arbeitsmigration, während Entwicklung zunächst mit stärkerer Auswanderung zu für Mauritius zirkuläre Migration und Klimaveränderun- rechnen ist. Erst wenn ein Land ein oberes mittleres gen wichtige Themen sind. Einkommensniveau erreicht hat, stabilisiert sich die Auswanderung und nimmt in der weiteren Entwicklung ab. Seite 1
KfW Research Struktur des Berichts Diese langfristigen Strukturveränderungen im Entwick- Internationale Migration ist ein komplexes Phänomen. lungsprozess überlagern sich gegenseitig und bestim- Dies beginnt bei der Definition und Messung und reicht men in ihrer Gesamtheit das grundsätzliche Migrati- bis zur Erklärung von Ursachen und Wirkungen in den onsmuster eines Landes. Hinzu kommen kürzerfristige betroffenen Ländern. Der vorliegende Bericht zeigt die- Entwicklungen, insbesondere Ereignisse wie Kriege se Komplexität auf und konzentriert sich auf langfristige und Umweltkatastrophen, die zu Fluchtbewegungen Entwicklungen. führen und die langfristige Migration dominieren kön- nen. Klimaveränderungen als Migrationsursache wir- Dazu wird zunächst ein Überblick über die Definitions- ken ebenfalls langfristig. Die Bedeutung dieser Fakto- und Meßprobleme gegeben und der Umfang internati- ren wird am Beispiel von vier afrikanischen Ländern onaler Migration beschrieben sowie die Entwicklung im gezeigt, deren Entwicklungsstand paarweise vergleich- Zeitablauf eingeordnet: bar ist, die jedoch sehr unterschiedliche Nettomigrati- onsraten aufweisen: Migration ist ein globales Phänomen Schwierige Datenlage erschwert Analysen Demokratische Republik Kongo: Vom Ein- zum Auswanderungsland Anteil der Migranten an der Bevölkerung auf globaler Ebene ist relativ konstant Zentralafrikanische Republik: Dürftige Informationsbasis, Flucht und Vertreibung Erzwungene Migration: Flucht und Vertreibung dominieren Flucht als Reaktion auf Konflikte Äquatorialguinea: Klimawandel und Umweltkatastrophen als Unverändert Ziel von Arbeitsmigration Fluchtursachen Mauritius: Das Wissen über Migrationsursachen ist ausbaufähig Umweltflüchtlinge und Bemühen um zirkuläre und konzentriert sich auf die Wirkungen in den Ziellän- Migration dern sowie ökonomische Erklärungsansätze. Von den Migrationsursachen werden an dieser Stelle die lang- Weitere wesentliche Facetten der Migration, z. B. die fristigen Strukturveränderungen von Volkswirtschaften, Folgen für den Arbeitsmarkt im Herkunfts- und Zielland, die mit ihrer Entwicklung einhergehen und die Rah- Reaktionen der Migrationspolitik, die Bedeutung von menbedingungen für Migration auf der Makroebene Migrationsnetzwerken oder die Bedeutung von Rück- bilden, betrachtet: überweisungen für die Herkunftsländer sowie Migrati- onsursachen auf der Meta- und Mikroebene würden Migration und Entwicklungsstand den Rahmen des vorliegenden Berichts sprengen, so- Mit wirtschaftlicher Entwicklung der Niedrigein- dass auf ihre Betrachtung an dieser Stelle verzichtet kommensländer ist mehr Migration zu erwarten wird. Migrationsübergang und demografischer Übergang Junge Bevölkerung als Migrationspotenzial Migrationsübergang und Strukturwandel Industrialisierung und Urbanisierung verändern Rahmenbedingungen für Migration Migration als Möglichkeit der Einkommens- absicherung Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern als wesentlicher Einflussfaktor für Migration Ungleichheit zwischen Ländern als Migrations- ursache Ungleichheit innerhalb von Ländern bildet Migrationsanreiz Seite 2
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive Migration ist ein globales Phänomen Staaten, die Auswanderung unterbinden, verhindern so Die Debatte in Europa und Deutschland wird seit 2015 eine "Abstimmung mit den Füßen" über die gesell- von der Geflüchtetenbewegung, insbesondere über die schaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Beispie- Balkanrouten und das Mittelmeer, bestimmt. Dabei sind le hierfür sind Nordkorea oder, historisch, die Staaten Flucht und Migration weder neue Phänomene, noch des ehemaligen Ostblocks. Gleichzeitig versuchen sind sie auf Europa beschränkt. Dies zeigen die Dis- Staaten, Umfang und Zusammensetzung der Einwan- kussionen um (illegale) Einwanderung in die USA, ent- derung zu steuern und zu kontrollieren. Denn es gibt weder direkt aus Mexiko oder aus anderen lateinameri- zwar ein Recht auf Auswanderung, aber kein Recht auf 2 kanischen Staaten über Mexiko als Transitland, Berich- Einwanderung in ein anderes Land. te über die Flucht der Rohingya aus Myanmar oder die Einwanderungspolitik Australiens. Aber auch ältere Vorbehaltlich aller Unwägbarkeiten bei der Erfassung Debatten über die potenziellen Wanderungsbewegun- internationaler Migration zeigt sich, dass diese ein gen nach dem Fall der Berliner Mauer zwischen den weltweites Phänomen ist. Kaum ein Land beherbergt westlichen und östlichen Bundesländern in Deutsch- keine Migranten (siehe Grafik 1). Die USA als klassi- land oder diejenigen nach dem Beitritt der osteuropäi- sches Einwanderungsland weisen 14 % Migranten an schen Staaten zur EU zeigen die Facetten des Themas der Bevölkerung aus. Auf diesem Niveau bewegen sich Migration auf. In letzterem Fall hatten nur Irland, UK auch Deutschland und Australien mit 15 und 17 %. In und Schweden von Beginn an eine unbeschränkte Ar- Kanada, Kasachstan und Neuseeland sind es schon 20 beitnehmerfreizügigkeit gewährt. Die anderen EU- bis 23 %. Spitzenreiter mit deutlichem Abstand sind je- Staaten hingegen hatten – befürchtend, dass zu viele doch die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Personen einwandern – von der Möglichkeit Gebrauch Kuweit, wo 74 bis 88 % der Bevölkerung Migranten gemacht, den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten für sind. Staatsangehörige aus den Beitrittsländern für bis zu 1 sieben Jahre einzuschränken. Schwierige Datenlage erschwert Analysen Die Analysen von Migration als Grundlage für eine in- Menschen sind mobil, sie wandern und verlegen ihren formierte Debatte werden dadurch erschwert, dass es Lebensmittelpunkt. Das Spektrum reicht von der Be- unterschiedliche Definitionen von Migration gibt und siedlung neuer Lebensräume bis zum Umzug innerhalb Begriffe nicht trennscharf verwendet werden (siehe einer Stadt. Dabei überschreiten sie – im Rahmen der Kasten 1). So wird in Deutschland zwischen Asylbe- internationalen Migration – Ländergrenzen. Ein Land werber und Geflüchtetem, Migrant und Person mit Mig- zu verlassen ist dabei auch eine Möglichkeit, mit der rationshintergrund, Einwanderer und Zuwanderer un- 3 Personen ihre Meinung zur politischen, gesellschaftli- terschieden. Auch für die statistische Erfassung defi- chen und wirtschaftlichen Entwicklungen offenbaren. nieren Staaten Migration unterschiedlich, selbst wenn Grafik 1: Globale Verteilung von Migranten Anteil der im jeweiligen Land lebenden Migranten in Prozent, 2010–2015. 0,1–0,8 0,8–2,0 2,0–4,6 4,6–12,3 12,3–88,4 keine Daten Quelle: WDI, basierend auf United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2017). World Population Prospects: The 2017 Revision. Seite 3
KfW Research 10 es – wie in der EU – Anstrengungen zur Vereinheitli- rer ein Land innerhalb von 5 Jahren wieder verlässt. 4 chung und Bereitstellung vergleichbarer Daten gibt. Dies geschieht entweder, um in das Herkunftsland zu- 11 So ist es möglich, das Ereignis der internationalen Mig- rückzukehren oder in ein Drittland weiterzuwandern. ration abhängig vom Geburtsland, der Staatsbürger- schaft oder dem Wohnort in Kombination mit der Länge Kasten 1: Definitionen Migranten und Migration 5 des Aufenthalts zu definieren. Unterschiede in natio- Migration bezeichnet die auf einen längerfristigen nalen Statistiken ergeben sich oft daraus, ob auch die Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des eigenen Staatsbürger, Studenten, Asylsuchenden oder Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, 6 irreguläre Migranten mit erfasst werden. In mehr als Gruppen oder Bevölkerungen. 12 der Hälfte der Länder und Territorien, die in der UN- Statistik ausgewiesen werden, werden im Ausland Ge- Allgemein wird Migration als jeder dauerhafte oder borene als Migranten gezählt (siehe Tabelle 1). Aus- zeitweilige Wohnsitzwechsel definiert. Aussagekräf- länder i. S. v. ausländischen Staatsangehörigen bilden tiger ist jedoch, sie als räumlichen Transfer von einer bei einem Fünftel der Länder die Basis für die Statistik. sozialen Einheit oder Nachbarschaft zu einer ande- Gegebenenfalls werden hier auch Geflüchtete hinzuge- ren zu definieren, der frühere soziale Bindungen be- rechnet. Die schwierigen Bedingungen bei der Daten- lastet oder aufbricht. 13 erhebung führen dazu, dass nicht registrierte Migranten sowie fehlende Zahlen geschätzt werden müssen. Laut International Organisation for Migration (IOM) 14 ist ein Migrant jede Person, die eine internationale Tabelle 1: Erfassung von Migranten in der Grenze überschreitet oder überschritten hat oder UN-Statistik innerhalb des Landes ihren Lebensmittelpunkt räum- Anzahl der Anteil an Anteil an den Länder und der Migranten lich verlegt, unabhängig von (1) ihrem rechtlichen Territorien Länderzahl Status, (2) ob die Migration freiwillig oder unfreiwillig im Ausland 132 57 64 passierte, (3) welche Gründe es für die Wanderung Geborene gab und (4) wie lange der Aufenthalt ist. Im Ausland Geborene+ 48 21 17 Geflüchtete Die Vereinten Nationen definieren Migranten als Ausländer* 25 11 5 Personen, die sich seit mehr als einem Jahr in einem Ausländer*+ fremden Land aufhalten, unabhängig von den Ursa- 19 8 13 Geflüchtete chen (freiwillige oder unfreiwillige Migration), und der Ausländer*+ im Ausland 1 0 1 Art (reguläre oder irreguläre Migration). Touristen Geborene und Geschäftsleute gelten demnach nicht als Ausländer*+ Migranten. Andere Kurzzeitmigranten wie z. B. im Ausland 1 0 0 Saisonarbeiter, die für kurze Zeit zum Pflanzen oder Geborene+ Geflüchtete Ernten landwirtschaftlicher Produkte reisen, werden Projektionen 4 2 0 15 hingegen miterfasst. Projektionen 2 1 0 +Geflüchtete Gesamt 232 100 100 Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Messung von 16 Migranten als im jeweiligen Land lebende Personen, Migrationsbwegungen. Dies wird schon allein deut- *ausländische Staatsangehörigkeit. lich, wenn man sich die praktische Erfassung der Aus- Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs und Einwandernden vor Augen führt. In Deutschland (2015). Trends in International Migrant Stock: The 2015 revision beispielsweise regelt das Bundesmeldegesetz, §17: (United Nations database, POP/DB/MIG/Stock/Rev.2015), "wer aus einer Wohnung auszieht und keine neue eigene Berechnungen. Wohnung im Inland bezieht, hat sich innerhalb von Zahlen zu den im jeweiligen Land lebenden Migranten zwei Wochen nach dem Auszug bei der Meldebehörde 17 bilden nur eine Momentaufnahme, da z. B. Rückkehrer abzumelden." Bei Nichtbefolgen ist dies eine Ord- nicht erfasst werden und daher nur sehr begrenzte In- nungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu 18 formationen zum Umfang der Rückkehrmigration vor- 1.000 EUR belegt ist. Fraglich ist, ob dies einen hin- 7 liegen. Historiker schätzen die Rückkehrerquote wäh- reichend großen Anreiz bietet, sich abzumelden, zumal rend der Auswanderungswelle von Europa nach Ame- sich die betreffende Person nicht mehr im Land aufhält. 8 rika im 19. Jahrhundert auf 30 bis 40 %. Aber auch ak- Wegen der Erfassungsprobleme sind Zahlen zu Migra- tuell sind die Rückkehrerquoten – bei allen Unterschie- tionsbewegungen für deutlich weniger Länder als zu 9 den zwischen Ländern – wohl substanziell. So schätzt den im jeweiligen Land lebenden Migranten verfüg- 19 die OECD, dass zwischen 20 und 50 % der Einwande- bar. Seite 4
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive Anteil der Migranten an der Bevölkerung ist auf ten aus einem Land, das der gleichen Weltregion an- 26 globaler Ebene relativ konstant gehört wie das Zielland (siehe Grafik 3). Der Anteil internationaler Migranten an der Bevölke- rung ist auf globaler Ebene seit dem 2. Weltkrieg ver- Kasten 2: Internationale Migration als eine Form 20 gleichsweise konstant. In den 1960er-Jahren wurden von Mobilität – je nach Datenquelle – 2,4 oder 3,1 % der Weltbevöl- Bei internationaler Migration zählt die Überschrei- kerung als internationale Migranten gezählt. Bis 2017 tung einer Landesgrenze als definierendes Merkmal, 21 stieg der Anteil auf 3,4 %. Damit lebt die große Mehr- während interne Migration innerhalb von Staaten heit der Weltbevölkerung (bei Rückkehrern: wieder) im stattfindet. Die zurückgelegte Entfernung spielt bei Land ihrer Geburt bzw. in dem Land, dessen Staats- dieser Einteilung keine Rolle. So zählt ein Umzug bürger sie sind (siehe Grafik 2 und Kasten 2). von Los Angeles nach New York als interne Migrati- on, obwohl 3.700 km Luftlinie zwischen den beiden Grafik 2: Bevölkerungsentwicklung und Anzahl von Städten liegen. Von Tripolis bis Berlin sind es Migranten global 2.200 km und von Bordeaux bis Warschau Migranten als im jeweiligen Land lebende Personen. 1.800 km, wobei im ersten Fall nicht nur Landes- grenzen überschritten werden, sondern auch der 300 8 Kontinent gewechselt wird. 7 250 6 Internationale Migration wird als quantitativ weniger 200 Milliarden 5 27 bedeutsam eingeschätzt als die interne Migration. Millionen 150 4 Je größer die zurückgelegte Entfernung und die 3 100 Dauer des Umzugs, desto geringer die gemessene 2 28 50 Migration. Für die Erfassung interner Migration 1 0 0 muss entsprechend die Entscheidung getroffen wer- 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 den, ob ein Umzug in eine andere Stadt, einen ande- 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15 17 ren Verwaltungsdistrikt oder ein anderes Bundesland Migrantenbestand lt. WDI (l. S.) als Wanderung gezählt wird. Ebenso ist zu definie- Migrantenbestand lt. GBMD (l. S.) ren, wie dauerhaft die Wohnsitzverlagerung erfolgen Bevölkerung (r. S.) 29 muss. WDI: World Development Indicators, GBMD: Global Bilateral Migra- tion Database Grafik 3: Migranten nach Herkunfts- und Zielregion Quellen: WDI, GBMD, UN. Migranten als in der jeweiligen Weltregion lebende Personen, In Anbetracht der relativ geringen internationalen Mig- Anteile der Herkunftsregionen in Prozent ration verwundert es kaum, dass die Globalisierung und internationale Integration der Arbeitsmärkte gerin- ger ausfällt als die Globalisierung von Handel und Ka- 22 Afrika pital. Dazu ist die internationale Migration von Ar- Asien Europa beitskräften gemessen an den Einkommensunter- schieden zu gering, obwohl die Mehrheit der internatio- 23 nalen Migranten als Arbeitsmigranten zählt. Aber indi- rekt hat die vorhandene Migration in Verbindung mit den Auswirkungen des verstärkten Handels und inter- Latein- Oze- nationaler Investitionen sowie die Verbreitung von Nord- amerika anien 24 amerika technischem Fortschritt die nationalen Arbeitsmärkte u. Karibik 25 stark verändert. Auch wenn der Anteil an der Weltbevölkerung ver- Afrika Asien Europa gleichsweise stabil ist, hat sich die Zahl internationaler Migranten über den betrachteten Zeitraum fast verdrei- Lateinamerika Nordamerika Ozeanien Nicht anderweitig und Karibik genannt facht. Sowohl die Süd-Süd-Wanderung als auch die Nord-Süd-Wanderung haben zugenommen. Trotzdem Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs (2015). Trends in International Migrant Stock: Migrants by Destina- findet die internationale Migration vor allem innerhalb tion and Origin (United Nations database, der Weltregionen statt. Mit Ausnahme Nordamerikas POP/DB/MIG/Stock/Rev.2015). und Ozeaniens kommt mehr als die Hälfte der Migran- Seite 5
KfW Research Die Migrationsbewegungen haben sich im Lauf der Zeit auf. Insofern zeigt sich der höchste Anteil von in ande- 30 deutlich verändert. Die Wahrnehmung, dass Ausmaß, re Länder Geflüchteten an der Bevölkerung in den Kon- Diversität und Entfernungen der internationalen Migra- fliktregionen im Nahen Osten und Afrika (siehe Gra- tion zugenommen haben, ist vor allem auf Verände- fik 4). rungen der räumlichen Migrationsmuster und damit auf unterschiedliche Erfahrungen auf regionaler Ebene zu- Kasten 3: Definition von Flucht 31 rückzuführen. In der Tat haben die Entfernungen zu- Während im alltäglichen Sprachgebrauch eine "Per- genommen, die zurückgelegt werden, und mehr Länder son, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen sind durch Wanderungsbewegungen verbunden. Dabei oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat vor allem die Zahl der Herkunftsländer zugenom- hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz men, während nach wie vor eine relativ kleine Zahl von 37 zurückgelassen hat" als Flüchtling bezeichnet wird, 32 Zielländern die globale Migration dominiert. Dies im- gilt eine solche Person in der Amtsprache erst dann pliziert, dass sich die Auswanderungsmuster stark äh- als Flüchtling, wenn ihr Asylantrag positiv beschie- neln, d. h. es gibt zwar mehr Herkunftsländer, aber ei- den ist. Hier spielt nicht die subjektive Ursache oder ne starke Überschneidung bei den Zielländern. Dringlichkeit der Migration eine Rolle, sondern der juristische Tatbestand. Wäre eine Migration bar aller Hindernisse und Res- sourcenbeschränkungen möglich, würden lt. Gallup- Um als Geflüchteter im Sinn der Genfer Flüchtlings- Umfrage 14 % der Erwachsenen weltweit permanent in 38 konvention und des Flüchtlingshilfswerk der Ver- ein anderes Land umziehen. Dieser Wert ist deutlich einten Nationen (UNHCR) klassifiziert zu werden, höher als der Anteil der Bevölkerung, der tatsächlich muss eine Verfolgung auf Grund von Rasse, Religi- 33 migriert. Die Bevölkerung in Neuseeland, Australien on, Nationalität, politischer Meinung oder Zugehörig- und Ozeanien, in Nordamerika und in Europa würde keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorlie- netto anwachsen, wenn diese Migrationsabsichten um- 39 gen. Hinzu kommen Asylsuchende, deren Flücht- gesetzt würden. Die anderen Regionen der Welt hin- lingsstatus noch nicht bestimmt ist. gegen würden verlieren. 40 Für das IOM zählt eine Person als Geflüchteter, Erzwungene Migration: Flucht und Vertreibung die die Kriterien des UNHCR-Statuts erfüllt und für Die Abgrenzung zwischen internationaler Migration und den Schutz des Hohen Kommissars der Vereinten Flucht in andere Länder ist kaum trennscharf zu treffen. Nationen infrage kommt, unabhängig davon, ob sie Auf der einen Seite sind Geflüchtete auch Migranten, sich in einem Land befindet, das Vertragspartei des da sie – unabhängig vom Motiv für die Wanderung – ih- Übereinkommens von 1951 oder des Protokolls von ren Lebensmittelpunkt über Landesgrenzen hinweg 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ist, o- und für einen längeren Zeitraum verlegen. Auf der an- der ob sie vom Aufnahmeland im Rahmen eines die- deren Seite werden sie insofern von Migranten unter- ser Instrumente als Geflüchteter anerkannt wurde schieden, als dass für sie die Genfer Flüchtlingskon- oder nicht. vention und das New Yorker Zusatzprotokoll gelten 34 (siehe Kasten 3). Diese juristische Definition trifft auf Heimatlose oder Vertriebene sind Personen, die aus die gemischten Motive der betroffenen Personen. Denn ihrem Heimatland oder ihrer Gemeinde geflüchtet es sind in der Regel mehrere Motive – insbesondere sind und zwar aus anderen Gründen als denen, die eine Mischung aus Armut und Unsicherheit –, die Ge- sie zu einem Geflüchteten im Sinn des UNHCR wer- flüchtete dazu bewegen, ein Land zu verlassen. Au- den lassen. Dies können beispielsweise interne Kon- ßerdem können sich diese Motive während der Wande- flikte oder Natur- und andere Katastrophen sein. 41 rung verändern. Personen, die zunächst wegen wirt- schaftlicher Motive ihre Heimat verlassen, können auf 35 Im Westjordanland und Gaza sind fast die Hälfte der ihrer Wanderung zu Geflüchteten werden. Bevölkerung Geflüchtete, in Jordanien rd. 1/3 und im Libanon fast 1/4. In der Türkei, die in den vergangenen Die Zahl der in andere Länder Geflüchteten ist seit Jahren absolut die meisten Geflüchteten weltweit auf- 2012 deutlich angestiegen. Im Jahr 2017 gab es genommen hat, erreichen sie einen Anteil von rd. 4 % weltweit 25,4 Mio. internationale Geflüchtete der Bevölkerung. Die Konflikte in Afrika und im Nahen (19,9 Mio. Personen unter UNHCR-Mandat und Osten haben zu der bekannten Geflüchtetenbewegung 5,4 Mio. Palästinenser unter UNRWA-Mandat) und nach Europa geführt, sodass in der Konsequenz auch 3,1 Mio. Asylsuchende, das ist die höchste Zahl seit 36 europäische Länder einen im weltweiten Vergleich Beginn der Erfassung. Die meisten von ihnen halten substanziellen Geflüchtetenanteil an der Bevölkerung sich in den jeweiligen Nachbarländern und -regionen Seite 6
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive aufweisen. Allerdings übersteigt dieser nur in Schwe- Unsicherheiten und Schwierigkeiten verbunden ist. den, Norwegen, Österreich, Malta, Deutschland und der Schweiz die 1 Prozent-Marke. Die durchschnittliche Dauer des Exils ist von 14 Jahren im Jahr 2012 auf 10 Jahre im Jahr 2017 gesunken. Grafik 4: Verteilung von Geflüchteten weltweit Mehr als die Hälfte der Geflüchteten befindet sich seit 46 Anteil der Geflüchteten an der Bevölkerung im Zielland in Prozent, weniger als 4 Jahren im Exil. Dies liegt insbesondere Stand 2017. an neu hinzugekommenen Geflüchteten, die die durch- schnittliche Dauer drücken. Gleichzeitig gibt es rund 3 Mio. Afghanen, die nach dem Einmarsch der Sowjet- union aus ihrem Land geflohen sind und seit 37 bis 40 Jahren im Exil leben. Auch wenn erst seit dem Jahr 2000 die Zahl der Ge- flüchteten systematisch erhoben wird, erreichten die er- fassten Geflüchtetenzahlen Anfang der 1990er-Jahre 0,00–0,01 0,01–0,03 0,03–0,15 0,15–0,61 0,61–30,63 keine Daten schon einmal einen sehr hohen Wert von rd. 17 Mio. Personen unter UNHCR-Mandat (siehe Grafik 5). Im Geflüchtete lt. Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR einschl. Personen, denen ein flüchtlingsähnlicher humanitärer Status gewährt Verhältnis zur Weltbevölkerung war dieser Wert sogar wurde, und Personen, denen vorübergehenden Schutz gewährt wur- höher als der aktuelle (0,32 zu 0,26 %). Die Geflüchte- de ohne Asylsuchende. ten stammten hauptsächlich aus dem früheren Jugo- Quelle: World Bank (WDI); eigene Berechnungen. slawien, wo sie vor "ethnischen Säuberungen" während des Krieges flohen. Die Bürgerkriege in Somalia und Auch Venezuela weist einen hohen Anteil von Geflüch- Liberia, politische Unterdrückung in Togo, der Krieg teten und Personen in flüchtlingsähnlicher Situation an zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Macht- der Bevölkerung im globalen Vergleich auf. Diese 42 kampf in Tadschikistan und der ethnische Konflikt in kommen vor allem aus Kolumbien, welches massive 43 Bhutan haben Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls hohe Binnenvertreibungen und Konflikte zwischen Regie- Zahlen an Geflüchteten generiert. Aber nicht nur in den rung und Paramilitärs zu erleiden hatte. Gleichzeitig hat Zahlen, sondern auch in der Diskussion ähneln sich die die wirtschaftliche und politische Krise in Venezuela damalige und die heutige Situation. Das Flüchtlings- selbst zu einer Auswanderungswelle geführt. Seit 2014 hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) konstatiert haben mehr als 1,5 Mio. Venezuelaner das Land ver- 44 Anfang der 1990er-Jahre eine Abkühlung in der Will- lassen. Allerdings hat nur ein Teil der Personen einen kommenskultur einschließlich eines "allgemeineren Ge- Asylantrag gestellt (rd. 280.000 Personen) oder einen 45 fühls der Müdigkeit über die scheinbare Hartnäckigkeit alternativen legalen Status beantragt (rund der Flüchtlingsprobleme" 47 und einen restriktiveren 570.000 Personen). Mehr als die Hälfte hat hingegen Kurs der Länder in der Flüchtlingspolitik. keinen regulären Status, was mit den entsprechenden Grafik 5: Internationale Geflüchtete 25 Ende der Kolonialzeit und Kalter Krieg Konflikte im Nahen Osten 2. Weltkrieg und Nachkriegszeit (1940 bis 1960): (1960 bis 2000): (2000 bis heute): 9 fluchtauslösende Ereignisse, 32 fluchtauslösende Ereignisse, 5 fluchtauslösende Ereignisse, Flüchtlinge (Millionen Personen) 20 mind. 81,6 Mio. Vertriebene mind. 46,5 Mio. Vertriebene mind. 25,4 Mio. Vertriebene 15 10 5 0 1951 1957 1963 1969 1975 1981 1987 1993 1999 2005 2011 2017 Anmerkung: Internationale Geflüchtete lt. UNHCR, ohne UNWRA, Asylsuchende oder Binnenvertriebene. Quelle: UNHCR, www.washingtonpost.com/graphics/world/historical-migrant-crisis/??noredirect=on&noredirect=on. Seite 7
KfW Research 50 Flucht als Reaktion auf Konflikte gezählt. Flüchten sie vor Naturkatastrophen, erhalten Der Zwang zur Migration entsteht oft im Zusammen- sie bei Überschreiten der Landesgrenze ggf. keinen hang mit Kriegen und Bürgerkriegen. Flucht kann als Flüchtlingsstatus. Denn bei ihrer Migrationsentschei- Reaktion auf Konflikte, Gewalt, der Wahrnehmung von dung fehlt der Verfolgungsaspekt für eine Klassifikation 51 Gewalt oder einem generellen Fehlen von Sicherheit als Geflüchteter im Sinn des UNHCR. erfolgen. Gleiches gilt für politische Instabilität, Men- schenrechtsverletzungen und Bedrohung der persönli- Die Spannbreite der Schätzungen, wie viele Menschen chen Sicherheit. Diese Faktoren liegen zwar außerhalb wegen Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen 52 des ökonomischen Bereichs, korrelieren jedoch mit künftig im Ausland leben werden, ist enorm. Seit diesem, z. B. was die Einkommens- und Beschäfti- 2008 wurden jedoch durchschnittlich 24,6 Mio. Men- 48 gungssicherheit angeht. schen pro Jahr durch Umweltkatastrophen neu vertrie- ben. Dies ist eine größere Zahl als diejenigen, die we- Unterschiedliche Ursachen werden mit einem unter- gen Konflikt und Gewalt ihre Heimat verlassen muss- 53 schiedlichen Ausmaß von Flucht und Migration in Ver- ten. Oftmals handelt es sich jedoch um kurzfristige bindung gebracht, sei es generelle Gewalt im Vergleich Evakuierungen. Klimaveränderungen hingegen erfol- zu Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkriege mit und gen über einen langen Zeitraum und schlagen sich bei- ohne militärische Intervention des Auslands oder ethni- spielsweise in Dürren, Überschwemmungen und einem sche Rebellion. Die Urheber der Gewalt sowie Form steigenden Meeresspiegel nieder. Die dadurch ausge- und Dauer des Konflikts wurden in ihrer Auswirkung löste Migration ist nicht nur die Folge der direkten Wir- auf internationale und Binnenmigration ebenfalls unter- kungen des Klimawandels, sondern auch die Folge ih- sucht. Die Studienergebnisse zu generalisieren ist we- rer Interaktion mit ökonomischen, sozialen und politi- gen der starken Kontextabhängigkeit jedoch schwie- schen Migrationsursachen. 49 rig. Dabei verlassen Personen verletzliche Gebiete nicht Klimawandel und Umweltkatastrophen als Flucht- nur, sondern wandern auch in diese ein, beispielsweise ursachen in Küstenstädte. Durch die Auswirkungen des Klima- Menschen flüchten auch vor Naturkatastrophen und wandels wird zwar die Notwendigkeit, betroffene Ge- den Auswirkungen des Klimawandels. Gemäß interna- biete zu verlassen, voraussichtlich ansteigen. Gleich- tionaler Konvention werden Personen, die ihr Heim zeitig können die gleichen Auswirkungen jedoch die in- aufgrund von Gewalt, Verletzung von Menschenrech- dividuellen Ressourcen reduzieren, die für eine Migra- ten, natürlichen oder von Menschen verursachten Ka- tion notwendig sind. In letzterem Fall wird Migration 54 tastrophen verlassen müssen, als Binnenvertriebene verhindert. Bei einer hohen Verletzlichkeit gegenüber Grafik 6: Interaktion von Migrationsursachen Makro Mikro Gesellschaftlich Persönliche Eigenschaften/Haushaltsmerkmale • Streben nach Bildung Demografisch • Familiäre Verpflichtungen Alter, Geschlecht, Bildung, Vermögen, • Bevölkerungsgröße/ Familienstand, Vorlieben, -dichte Ethnizität, Religion, Sprache • Bevölkerungsstruktur • Krankheitsprävalenz Räumliche und/oder zeitliche Umweltbedingt Variabilität und Differenz Migrieren zwischen Herkunfts- und Zielland Risiken und Gefahren Ökosystemleistungen, inkl. • Landproduktivität ENTSCHEIDUNG • Bewohnbarkeit sukzessiv tatsächlich • Versorgungssicherheit (Ernährung, Wasser, Bleiben Energie) wahrge- plötzlich nommen Politisch • Diskriminierung/Verfol- gung Meso Ökonomisch • Politische Führung/Frei- heit Intervenierende Faktoren: • Beschäftigungschancen • Konflikt/Unsicherheit Hindernisse und Moderatoren • Einkommen/Löhne/Wohlstand • Politische Anreize • Erzeugerpreise (z. B. Landwirtschaft) • Unmittelbarer Zwang Politische/rechtliche Rahmenbedingungen • Verbraucherpreise Kosten des Umzugs Soziale Netzwerke Beziehungen zur Diaspora Vermittlungsagenturen Technologie Quelle: Foresight: Migration and Global Environmental Change (2011), Final Project Report, The Government Office for Science, London. Seite 8
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive Klimaveränderungen und verminderter Fähigkeit zu mögliche Nutzung als Instrumente für Entwicklung. Die migrieren, können gefangene Bevölkerungen (trapped komplexe Beziehung zwischen Migration und Entwick- 55 populations) entstehen. Entsprechende Aufmerksam- lung legt nahe, dass nicht einseitig Migration Entwick- keit verdient der Zusammenhang zwischen Umwelt- lung bestimmt oder umgekehrt. Vielmehr herrscht zwi- und Klimaveränderungen, Möglichkeiten zur Einkom- schen beiden eine interdependente Beziehung. 56 mensdiversifizierung und Mobilität. Mit dem Entwicklungsstand von Volkswirtschaften ver- Wissen über Migrationsursachen begrenzt ändern sich die Voraussetzungen und Rahmenbedin- Die Entscheidung für oder gegen Migration trifft jede gungen für die Migrationsentscheidungen von Perso- erwachsene Person – ggf. zusammen mit anderen nen. Dies schlägt sich auf aggregierter Ebene in typi- Haushalts- und Familienmitgliedern – für sich selbst. schen Migrationsbewegungen nieder. Denn die soziale Dabei spielt eine Vielzahl von ökonomischen und nicht- und wirtschaftliche Entwicklung kann den Wunsch nach ökonomischen Faktoren eine Rolle. Ob und welche einer Auswanderung wecken und Personen in die Lage 61 Faktoren die Migrationsentscheidung dominieren, lässt versetzen, diesen Wunsch umzusetzen. Mit der Ent- sich bei heutigem Kenntnisstand nicht feststellen. In je- wicklung steigen auch das Qualifikationsniveau der dem Fall greift eine Verkürzung allein auf Einkom- Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter und damit die 62 mensunterschiede zwischen Ländern als Migrationsur- Auswanderungsneigung. Im Zusammenspiel zwi- sache zu kurz. Denn dann müssten beispielsweise schen sich verändernden Möglichkeiten und Anreizen deutlich mehr Arbeiter zwischen den am wenigsten für sowie Beschränkungen der Migration, auch durch entwickelten Volkswirtschaften und den Industrielän- die Ein- und Auswanderungspolitik der Länder, entsteht 57 dern wandern. ein nicht-linearer Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung. Insgesamt fehlt eine einheitliche Migrationstheorie, die empirisch getestet werden kann. Untersucht wird eine Im Ländervergleich lässt sich feststellen, dass – aus- Vielzahl von Teilaspekten mit unterschiedlichen gehend von einem niedrigen Entwicklungsstand – Schwerpunktsetzungen, wobei die Sicht der Zielländer zunächst sowohl die Auswanderung im Verhältnis zur 58 und ökonomische Erklärungsansätze dominieren. Bevölkerung als auch die Nettoauswanderung als Neben Arbeitsmigration und Flucht gibt es jedoch auch Differenz von Aus- und Einwanderung i. d. R. umso die Migration wegen Familienzusammenführung und höher ausfallen, je höher das durchschnittliche Pro- Kindererziehung, wegen Heirat, Bildung (Studenten- Kopf-Einkommen eines Landes ist. Dies gilt, bis der austausch) oder wegen der Wohnsitzwahl im Ruhe- Bereich eines oberen mittleren Pro-Kopf-Einkommens stand, die Migration Hochqualifizierter und umwelt- und von ca. 6.000 bis 8.000 realen Dollar in Kaufkraftparitä- 59 63 klimainduzierte Migration. Hinzu kommt, dass Öko- ten (PPP Dollar) erreicht ist. Danach ist die Auswan- nomen sich eher mit den Eigenschaften von Migranten derung tendenziell umso niedriger, je höher das durch- sowie den Konsequenzen von Migration im Herkunfts- schnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist. und Zielland beschäftigen als mit den Migrationsursa- chen. Zumindest ist jedoch eine Unterteilung in Migra- Selbst wenn dieser Mechanismus teilweise hinterfragt 64 tionsursachen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene wird, hat sich – in Übertragung des Querschnittser- möglich (siehe Grafik 6), wobei im Folgenden makro- gebnisses auf die zeitliche Dimension – die Erkenntnis ökonomische Strukturveränderungen und ihr Zusam- durchgesetzt, dass mit steigendem Entwicklungsstand menhang mit Migration im Fokus stehen. eines Landes zunächst auch die Auswanderung zu- nimmt. Ein Land mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkom- Migration und Entwicklungsstand men wird bei realistischen Wachstumsraten jedoch Mit wirtschaftlicher Entwicklung der Niedrigein- sehr lange, üblicherweise mehrere Generationen, be- kommensländer ist mehr Migration zu erwarten nötigen, um einen Entwicklungsstand zu erreichen, ab Die Einschätzung des Zusammenhangs zwischen dem die Auswanderung wieder abnimmt. Entsprechend Migration und Entwicklung von Volkswirtschaften sind die Belege für einen Zusammenhang zwischen schwankt im Zeitverlauf zwischen Optimismus und Einkommen und Auswanderung nicht konsistent, da 60 Pessimismus. Bis in die erste Hälfte der 1970er- ggf. zu kurze Zeiträume analysiert werden. Dieser um- Jahre herrschte ein optimistischer Blick vor, gefolgt von gekehrt u-förmige Verlauf der Auswanderung im Ver- einer pessimistischen Bewertung – unter den Schlag- lauf der langfristigen Entwicklung wird als Migrations- worten Brain Drain und Abhängigkeit – bis Anfang der übergang bezeichnet, während eine eher kurzfristige 1990er-Jahre. Aktuell überwiegt wieder die positive Zunahme von Migration beispielsweise durch eine Sicht mit einem starken Interesse für Themen wie Brain Handelsliberalisierung als Migrationsbuckel bezeichnet Gain, Rücküberweisungen und Diasporas sowie ihre werden. Seite 9
KfW Research Ungefähr ein Drittel der Länder weltweit liegt noch Ländern sind auch jenseits der genannten BIP-pro- mehr oder weniger weit unter der Grenze für den Um- Kopf-Grenze Nettoauswanderungsländer. schwung im Migrationsverhalten (siehe Grafik 7). Auch wenn nicht jedes Land den Migrationsübergang 1:1 Grafik 8: Stilisierter Migrationsübergang durchläuft, ist in Ländern mit sehr niedrigem Pro-Kopf- Einkommen bei dessen Erhöhung auch mit einer Zu- Nettoein- wanderung nahme der Auswanderung zu rechnen. Dies betrifft sehr kleine Länder wie Sao Tome and Principe oder Comoros, aber auch bevölkerungsreiche Staaten wie Indien und Pakistan, die zusammen rd. 40 % der Welt- wanderung 65 bevölkerung stellen. Nettoaus- Grafik 7: BIP pro Kopf Reales BIP pro Kopf (in Tausend realen PPP USD). Zeit Nettomigration 50 (Einwanderung abzüglich Auswanderung) reales BIP pro Kopf im Jahr 2014 45 40 Auswanderung Einwanderung 35 Quelle: de Haas, 2010. 30 25 Der Übergang von einem Nettoaus- zu einem Netto- 20 BIP-pro-Kopf- einwanderungsland ist kein deterministischer und un- 15 Grenze für Migrations- umkehrbarer Prozess. Zwischen 1960 und 2010 voll- 10 übergang zogen zwar 46 Länder diesen Übergang. Aber gleich- 5 0 zeitig wurden aus 70 Einwanderungsländern wieder 68 0 5 10 15 20 25 Auswanderungsländer. Letzteres gilt beispielsweise reales BIP pro Kopf zum frühesten erhobenen für einige lateinamerikanische Länder, die weniger Zeitpunkt Einwanderung aus Europa erfahren und an Wohlstand 1990er-Jahre 1970er-Jahre 1960er-Jahre 1950er-Jahre verloren haben. Reales BIP pro Kopf basierend auf realem BIP in verketteten Kauf- kraftparitäten. Grafik 9: Migrationsübergang im Ländervergleich 66 Quelle: PENN World Tables , eigene Berechnungen. Mit steigendem Entwicklungsstand werden Länder zu- 42 nehmend attraktiv als Einwanderungsziel und fragen Nettomigrationsrate 28 67 Arbeitskräfte auch aus anderen Ländern nach. Dies 14 läuft den Auswanderungsbewegungen entgegen. Bei niedrigem Entwicklungsstand überwiegt in der Regel 0 die Auswanderung die Einwanderung. Mit steigendem -14 Wohlstand nehmen der Auswanderungsdruck ab und -28 die Einwanderung zu, sodass ein Nettoauswande- -42 rungsland zu einem Nettoeinwanderungsland werden 500 5.000 50.000 kann (siehe Grafik 8). reales BIP pro Kopf (Achse in log-Skalierung) Nettomigrationsrate: Zahl der Einwanderer abzüglich der Zahl der Das Maximum bei der Auswanderung wird i. d. R. bei Auswanderer über einen Zeitraum, geteilt durch die Personenjahre, einem niedrigeren Entwicklungsstand (gemessen als die die Bevölkerung des Aufnahmelandes in diesem Zeitraum gelebt BIP pro Kopf) erreicht als der Umschwung von einem hat. Reales BIP pro Kopf basierend auf realem BIP in verketteten Aus- zu einem Einwanderungsland. Bei einer Gegen- Kaufkraftparitäten. überstellung von realem BIP pro Kopf und Nettomigra- Quelle: Penn World Tables 69, UN; eigene Berechnungen. tionsraten sind Länder mit einem BIP pro Kopf von we- Die Tatsache, dass es vor allem Länder mit hohem niger als 11.500 realen Internationalen Dollar im Pro-Kopf-Einkommen sind, die Nettoeinwanderungs- Durchschnitt Nettoauswanderungsländer. Länder mit länder sind, bestimmt entsprechend die geografische einem BIP pro Kopf oberhalb dieser Grenze sind im Verteilung der Nettomigrationsraten global (siehe Gra- Durchschnitt Einwanderungsländer (siehe Grafik 9). Al- fik 10). Insbesondere die Hocheinkommensländer und lerdings ist auch die Heterogenität in diesem Zusam- damit die Industrieländer auf der Nordhalbkugel erfah- menhang beträchtlich. Eine substanzielle Anzahl von Seite 10
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive ren eine Nettoeinwanderung. Aber auch in Südafrika, Analog zum Migrationsübergang nimmt das Bevölke- Australien und den Hocheinkommensländern im Nahen rungswachstum mit zunehmendem Entwicklungsstand Osten überwiegt die Ein- die Auswanderung. Die Netto- eines Landes zunächst zu und dann ab (demografi- 74 auswanderungsländer werden – wenig überraschend – scher Übergang, siehe auch Kasten 4). Dieser Pro- von Syrien angeführt, da hier Fluchtbewegungen den zess begann in Europa um 1800 und ist auch in den Zusammenhang von Nettowanderung und wirtschaftli- heutigen Industrieländern noch nicht abgeschlossen. chem Entwicklungsstand überlagern. Dies wird erst dann der Fall sein, wenn die Bevölke- 75 rung nicht weiter altert. In heutigen Entwicklungslän- Grafik 10: Nettomigrationsraten dern läuft der Prozess schneller ab als in den heutigen 76 Zahl der Einwanderer abzüglich der Zahl der Auswanderer pro Industrieländern. 1.000 Einwohner, 2010 bis 2015 Kasten 4: Wirtschaftliche Entwicklung und Lebenserwartung Mit der wirtschaftlichen Entwicklung und höherem Einkommen geht eine steigende Lebenserwartung 77 einher (Preston-Kurve ). Dabei ist der Zugewinn an Lebenserwartung für Länder mit niedrigem Pro-Kopf- Einkommen am höchsten. Für Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen schwächt sich der Zusam- (-)41,8–(-)2,6 (-)2,6–(-)0,9 (-)0,9–(-)0,2 (-)0,2–2,4 2,4–56,5 keine Daten menhang ab. Im Zeitablauf ist die Lebenserwartung Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs, jedoch global – für Länder aller Einkommens- 78 Population Division (2017). World Population Prospects: The 2017 niveaus – gestiegen. Dazu hat insbesondere der Revision. allgemeine medizinische Fortschritt beigetragen. In Europa warten Litauen, Bosnien-Herzegowina und Dabei ist es gut möglich, dass das Einkommen als Lettland mit den höchsten Nettoauswanderungsraten Signal für den allgemeinen Entwicklungsstand steht auf. Sie liegen auch im internationalen Vergleich unter und über indirekte Wege wie ein steigendes Bil- den ersten 15 Ländern, obwohl zumindest Litauen und dungsniveau wirkt. Die direkten Effekte eines höhe- Lettland zu den Hocheinkommensländern zählen. Da- ren Einkommensniveaus auf die Gesundheit erge- mit sollten sie im Migrationsübergang schon deutlich ben sich durch bessere Ernährung, Zugang zu sau- weiter fortgeschritten sein und entsprechend weniger berem Wasser und Abwasser sowie medizinischer Aus- und mehr Einwanderung erfahren. Dieses grund- Versorgung. In der Regel wird für den Rückgang der legende Muster wurde jedoch in beiden Ländern durch Sterblichkeit eine Kombination dieser Faktoren ver- 79 den Beitritt zur Europäischen Union und vor allem die antwortlich gemacht. negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der globalen 70 Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 überlagert. In Übertragung dieser Längsschnittbetrachtung auf den Dies zeigt sehr deutlich, dass der wirtschaftliche Ent- Querschnitt sollten Länder mit geringerem Entwick- wicklungsstand nur eine Dimension ist, die bei Umfang lungsstand ein höheres Bevölkerungswachstum auf- und Struktur der internationalen Migration eine Rolle weisen als Länder mit höherem Entwicklungsstand. spielt. Voraussetzung ist, dass sich die weniger entwickelten Länder schon im demografischen Übergang befinden, Migrationsübergang und demografischer Übergang aber noch nicht so weit fortgeschritten sind wie die In- Junge Bevölkerung als Migrationspotenzial dustrieländer. In der Tat lässt sich ein Muster in der Auch wenn eine umfassende Datenbasis fehlt, deuten Bevölkerungsentwicklung im Querschnitt herstellen, die verfügbaren Ergebnisse darauf hin, dass vor allem wenn Länder nach ihrem Pro-Kopf-Einkommen einge- 71 jüngere Personen wandern. Dies zeigen Zahlen zur teilt werden (siehe Grafik 11). Das Bevölkerungs- 72 Ein- und Auswanderung für europäische Länder und wachstum der Niedrigeinkommensländer ist mit jährlich 73 Analysen der globalen Nettomigrationsbewegungen . 2,8 % im Durchschnitt am höchsten, das der Hochein- Die Erwartung, dass sich die Wanderung gemessen als kommensländer mit 1,1 % am geringsten. Lebenszeiteinkommen lohnt, ist für jüngere Personen aufgrund des längeren potenziellen Erwerbslebens hö- Mit dem demografischen Übergang verändert sich her als für Ältere. Gleichzeitig müssen auch Ressour- auch die Altersstruktur der Bevölkerung. Wenn eine cen aufgebracht werden, um die Wanderung zu finan- Bevölkerung schneller wächst, weil die Säuglingssterb- zieren. Dies dürfte jüngeren Personen tendenziell lichkeit abnimmt, erzeugt dies eine junge Bevölkerung. schwerer fallen. Ökonomisch relevant ist, dass der Anteil der Bevölke- Seite 11
KfW Research rung im erwerbsfähigen Alter steigt und diese dem Ar- Es ist daher davon auszugehen, dass das Migrations- beitsmarkt länger zur Verfügung stehen. Dies bewirkt potenzial in diesen Ländern noch steigt. Demgegen- auch, dass die Zahl der Kinder und Alten im Verhältnis über haben die großen Schwellenländer Russland, zu den Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen China, Brasilien und in etwas geringerem Maß Indien 15–64 Jahren sinkt (Abhängigkeitsquotient). Während und Südafrika aktuell ein vorteilhaftes Verhältnis von in der Mehrheit der Hocheinkommensländer der Ab- erwerbsfähiger Bevölkerung zu Kindern und Alten. hängigkeitsquotient zunimmt, können vor allem Länder mit niedrigem und unterem mittleren Einkommen laut Grafik 12: Demografische Dividende den Prognosen der UN mit einem noch weiter sinken- Anzahl der Länder, die im jeweiligen Jahr ihren minimalen Abhängig- den Abhängigkeitsquotienten rechnen. Insbesondere keitsquotienten erreichen die Niedrigeinkommensländer werden ihr Minimum nicht vor Ende des Prognosezeitraums 2050 erreichen 20 Projektionen (siehe Grafik 12). 15 Grafik 11: Bevölkerungswachstum und Entwick- lungsstand 10 Durchschnitt 2011 bis 2014. Länderklassifikation lt. Weltbank. 10 5 inkl. Mittelwerte der Ländergruppen Bevölkerungswachstum in Prozent 8 6 0 1950 1961 1972 1983 1994 2005 2016 2027 2038 2049 4 Niedrige Einkommen Niedrige mittlere Einkommen 2 Höhere mittlere Einkommen Hohe Einkommen 0 Quelle: UNCTAD, eigene Berechnungen. -2 Der demografische Übergang kann zwar nicht als di- -4 rekte Erklärung für den Migrationsübergang herange- 500 5.000 50.000 zogen werden. So gibt es Hinweise, dass der Zusam- Reales BIP pro Kopf (log-Skalierung) menhang zwischen Bevölkerungswachstum und Migra- Niedrige Einkommen Niedrige mittlere Einkommen 81 Höhere mittlere Einkommen Hohe Einkommen tion zumindest nicht linear ist. In Ländern mit junger und schnell wachsender Bevölkerung steht jedoch ein Quelle: Penn World Tables, eigene Berechnungen. größerer Pool von Personen für eine internationale Das Bevölkerungswachstum und die Altersstruktur der Migration zur Verfügung. Damit sich dieses Potenzial Bevölkerung sind global unterschiedlich verteilt (siehe realisiert, müssen jedoch weitere Faktoren wie ein wirt- Grafik 13). Während vor allem in Afrika und im Nahen schaftlicher Strukturwandel und Veränderungen des Osten die Bevölkerung im weltweiten Vergleich am Arbeitsmarktes hinzukommen. schnellsten wächst, ist der Abhängigkeitsquotient in den Ländern Subsahara-Afrikas vergleichsweise hoch. Im Umkehrschluss gilt diese Argumentation auch für In diesen Ländern ist es die große Anzahl von Kindern, die demografische Dividende. Die positiven Auswir- die den Abhängigkeitsquotienten in die Höhe treibt. 80 kungen einer jungen und wachsenden Bevölkerung auf 82 das Wirtschaftswachstum können substanziell sein. Grafik 13: Demografischer Wandel aus globaler Sicht Bevölkerungswachstum in Prozent, Durchschnitt 2010–2015 Demografische Dividende als 1/Abhängigkeitsquotient (-)1,7–0,4 0,4–1,1 1,1–1,7 1,7–2,7 2,7–7,4 keine Daten 0,9–1,3 1,3–1,8 1,8–1,9 1,9–2,2 2,2–5,7 keine Daten Quelle: UNCTAD, eigene Berechnungen. Seite 12
Internationale Migration in der langfristigen Perspektive Um die demografische Dividende tatsächlich einzufah- Kasten 5: Strukturveränderungen im Wirt- ren, muss der Arbeitsmarkt aufnahmefähig sein, so- schaftsmodell und internationale Migration dass die Arbeitskräfte produktiv eingesetzt werden Neben der Industrialisierung können auch andere (können). Wenn dies nicht der Fall ist, sind – neben strukturelle Anpassungen des Wirtschaftsmodells die den ausbleibenden Wachstumswirkungen – auch die internationale Migration verändern. Dazu gehören Opportunitätskosten einer Auswanderung geringer. beispielsweise die Abkehr von der Importsubstitution und Öffnung der Wirtschaft für den internationalen Migrationsübergang und Strukturwandel Handel und Direktinvestitionen wie in Mexiko, ver- Industrialisierung und Urbanisierung verändern bunden mit der Möglichkeit zur Privatisierung von Rahmenbedingungen für Migration 86 kommunalem Landbesitz. Ein anderes Beispiel ist Ein hohes Bevölkerungswachstum und eine junge Be- die Transformation in Polen von einer zentralen völkerung allein reichen als Migrationsursache nicht 87 Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Im Ver- aus. Vielmehr ist es das Zusammenspiel von Bevölke- gleich war der Schockeffekt der Transformation für rungswachstum und wirtschaftlichen Strukturverände- die Auswanderungswahrscheinlichkeit in Polen stär- rungen im Zuge der Entwicklung, welche das Migrati- ker ausgeprägt, da auch die Veränderungen im öko- onsgeschehen verändert. Denn erst dieses Zusam- nomischen Modell grundlegender ausgefallen sind menspiel bestimmt die Beschäftigungsmöglichkeiten in als in Mexiko. den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft sowie die wirtschafltichen und gesellschaftlichen Rahmenbe- Zugleich erzeugt die Industrialisierung Arbeitsnachfra- dingungen, die die individuellen Migrationsentschei- ge, die Anziehungskraft für internationale Migration hat. dungen mitgestalten. Dabei wird die Industrialisierung Durch die internationale Arbeitsteilung entsteht ein – und Urbanisierung – vor allem mit der Stadt-Land- 83 segmentierter Arbeitsmarkt in den (neuen) Industrie- Wanderung in Verbindung gebracht. Sie wirkt sich je- ländern, bei dem Einheimische tendenziell sichere und doch auch auf die internationale Migration aus. Denn gut bezahlte Arbeitsplätze im primären Arbeitsmarkt auch bei internationaler Migration ist i. d. R. eine Stadt, 84 erhalten. Migranten hingegen sind vorwiegend im se- oft eine große Stadt, das Ziel. kundären Arbeitsmarkt und Dienstleistungssektor mit niedrigeren Löhnen, weniger Anforderungen an Fähig- Der Strukturwandel verändert die Sektorzusammenset- keiten und Fertigkeiten und weniger Sicherheit zu fin- zung einer Volkswirtschaft. Dies lässt sich zum einen 88 den. Trotz des Abstands bei Humankapital und am Beitrag der Sektoren zur Wirtschaftsleistung und Schulbildung, Produktivität und Einkommen sowie Er- zum anderen am Beitrag zur Beschäftigung ablesen. werbsbeteiligung zwischen Entwicklungs- und OECD- Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Industriesektor Ländern sind die Erwerbsbeteiligung und der Bildungs- und darunter dem Verarbeitenden Gewerbe. Die Be- stand der Einwanderer dem des Ziellandes recht ähn- deutungszunahme des Verarbeitendes Gewerbes er- 89 lich. Dies weist auf eine Selbstselektion der Einwan- folgt zunächst zu Lasten des primären Sektors, bevor derer hin. es dem Dienstleistungssektor Wertschöpfungs- und Beschäftigungsanteile abgeben muss. Die heutigen Entwicklungs- und Schwellenländer durchlaufen allerdings nicht mehr den typischen Struk- Für die Migration ist der sich im Zuge des Strukturwan- turwandel nach der Erfahrung der heutigen Industrie- dels verändernde Arbeitskräftebedarf ausschlagge- länder (siehe Kasten 6 für die historische Erfahrung). bend. Zunächst werden Arbeitskräfte in der Landwirt- Vielmehr sind folgende Muster zu verzeichnen, wobei schaft freigesetzt, da deren Intensivierung zu einem nur noch Subsahara-Afrika Potenzial für eine substan- geringeren Arbeitskräftebedarf führt. Gleichzeitig sin- zielle Industrialisierung zugeschrieben wird (siehe Ta- ken mit weniger Beschäftigungsmöglichkeiten die Op- 90 belle 2): portunitätskosten einer Wanderung für die Landbevöl- kerung. Diese wandern oftmals zu den Produktionsstät- • Länder, die im Industrialisierungsprozess zu den In- ten innerhalb des Landes, können jedoch auch interna- dustrieländern aufholen, sind vor allem in Ostasien zu tional mobil werden. Insbesondere eine gleichzeitig zur finden. Das Musterbeispiel ist Südkorea. Industrialisierung stattfindende Handelsliberalisierung kann die internationale Migration verstärken (siehe 85 • Für mindestens 30 Länder wird konstatiert, dass der auch Kasten 5). Industrialisierungsprozess stagniert. Beispielhaft wer- den Indien und Mexiko, Indonesien und Thailand zitiert. Seite 13
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