11 Politische und gesellschaftliche Partizipation - Auszug aus dem Datenreport 2021 - Kapitel 11: Politische und gesellschaftliche ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
11 Politische und gesellschaftliche Partizipation Auszug aus dem Datenreport 2021 Die Inhalte des Datenreports werden unter der Creative Commons Lizenz »CC BY-NC-ND 4.0 – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0« veröffentlicht.
Politische und gesellschaftliche Partizipation In einer sich immer stärker sozial und bereits erreichtes Ausmaß an politischer 11.1 kulturell differenzierenden Gesellschaft Integration und Partizipation zurückfällt, Politische wie der der Bundesrepublik Deutschland ist die Frage der politischen Integration kann dies jedoch als ein Warnsignal für die Demokratie gedeutet werden. Ebenso Integration und und der sozialen Teilhabe von zentraler können große soziale und regionale Un- politisches Bedeutung für den Zusammenhalt und Erhalt der Demokratie. Demokratie be- terschiede in der Beteiligung der Bürge- rinnen und Bürger an der Politik darauf Engagement deutet die Möglichkeit der gleichen Teil- verweisen, dass eine gleichmäßige Integ- habe an den politischen Willensbildungs- ration in die Politik nicht gelingt. Treten und Entscheidungsprozessen. Durch soziale Disparitäten in der Beteiligung Bernhard Weßels gleiche Wahlen bestimmen die Bürgerin- auf, ist ein Grundprinzip der Demokratie, Wissenschaftszentrum Berlin nen und Bürger ihre politischen Reprä- das der politischen Gleichheit, verletzt. für Sozialforschung (WZB) sentanten, durch politische Beteiligung Die Debatten über die »Mitglieder können sie Einfluss auf die Politik neh- krise« von Großorganisationen wie Par- WZB / SOEP men. Unter politischer Integration ver- teien und Gewerkschaften, über Politik- steht man den Prozess, in dessen Verlauf und Parteienverdrossenheit sowie über sich die Bürgerinnen und Bürger durch sozial bedingte politische Ungleichheit ihre eigene politische Beteiligung in die legen es nahe, danach zu fragen, ob sich politische Willensbildung einbringen die Bürgerinnen und Bürger der Bundes- und dadurch sowohl die demokratischen republik heute weniger politisch beteili- »Spielregeln« anerkennen als auch Loya- gen als früher und ob sich Unterschiede litätsbeziehungen gegenüber den politi- zwischen sozialen, demografischen oder schen Institutionen und Akteuren ent regionalen Gruppen ergeben. Sozial in- wickeln. Demokratie braucht Beteiligung, duzierte Ungleichheit in der politischen und Beteiligung ohne zivilgesellschaft Teilhabe ist in den vergangenen Jahren liche Akteure ist kaum denkbar. Wie viel zunehmend in der Diskussion. In demo- Beteiligung nötig ist, bleibt eine offene grafischer Hinsicht ist insbesondere der Frage. Die Unterschiede bei politischer Blick auf jüngere A ltersgruppen und ihr Beteiligung und der Stärke der Zivil »Hineinwachsen« in die Demokratie von gesellschaft zwischen den demokrati- Interesse. Zudem stellt sich selbst fast schen Gesellschaften zeigen, dass es keine drei Jahrzehnte nach der deutschen Ver- eindeutige empirische Messlatte dafür einigung die Frage, ob die Bürgerinnen gibt. Wenn eine Gesellschaft hinter ein und Bürger in den neuen Bundesländern 379
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.1 / Politische Integration und politisches Engagement in vergleichbarer Weise politisch integriert verändert. Zum Zeitpunkt der deutschen Deutliche Unterschiede beim Interesse sind und einen ähnlich starken Zugang Vereinigung 1990 war er in den alten an der Politik zeigen sich zwischen jünge- zum politischen Willensbildungsprozess Bundesländern am höchsten und sank ren und älteren Bürgerinnen und Bürgern. finden wie die der a lten Bundesländer. dann wieder ab. Allerdings lag das Ni- Die 18- bis 29-jährigen West- und Ost- veau weiterhin höher als Anfang der deutschen sind deutlich seltener politisch 11.1.1 Politisches Interesse und 1980er-Jahre. Das politische Interesse interessiert als der Durchschnitt der Bür- politische Partizipation stieg in den vergangenen Jahren insge- gerinnen und Bürger. Dieser Unterschied Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger samt wieder deutlich, sodass es 2014 den entstand nach 1990. Davor interessierten an Politik ist ein wichtiger Gradmesser Stand von 1990 erstmals wieder übertraf sich Jüngere nur geringfügig weniger für dafür, inwieweit sie das politische Gesche- und mit leichten Schwankungen auch bis Politik. Im Durchschnitt der Jahre 1990 hen registrieren und an ihm teilnehmen, 2018 auf diesem Niveau blieb. Das politi- bis 2018 lag der Anteil der 18- bis 29-Jäh- das heißt, ob Politik für die Bürgerinnen sche Interesse war in den alten Bundes- rigen, die sich für Politik interessierten, und Bürger wichtig genug ist, um sich da- ländern 2018 leicht höher als zu seinem in den alten Bundesländern 10 Prozent- rüber zu informieren und sich gegebenen- Höhepunkt 1990. Der langfristige Ver- punkte und in den neuen Bundesländern falls dafür zu engagieren. Das politische gleich zeigt, dass heute mehr Bürgerin- 8 Prozentpunkte unter dem jeweiligen Interesse wird durch die Frage »Wie stark nen und Bürger am politischen Gesche- Bevölkerungsdurchschnitt. In den ver- interessieren Sie sich für Politik: sehr stark, hen interessiert sind als noch Ende der gangenen Jahren ist der Unterschied in stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?« 1960er-Jahre. So waren 1969 lediglich den alten Bundesländern etwas kleiner bereits seit 1969 in repräsentativen Bevöl- 18 % stark oder sehr stark an Politik inte- geworden, blieb aber 2018 mit 5 Prozent- kerungsumfragen erfasst. ressiert. In Ostdeutschland waren die punkten immer noch deutlich sichtbar. In den vergangenen Jahrzehnten hat Bürgerinnen und Bürger bis etwa 2010 et- Noch größer als die Differenz zwi- sich der Anteil derjenigen, die sich stark was weniger politisch interessiert als in schen jüngerer Bevölkerung und Bevölke- oder sogar sehr stark für Politik interes- Westdeutschland. Seit 2010 ist dieser Un- rungsdurchschnitt ist jene zwischen Per- sieren, beständig und sehr dynamisch terschied sehr klein. u Abb 1 sonen mit Abitur und dem Bevölkerungs- durchschnitt. Unter den Bürgerinnen und Bürgern mit Abitur lag der Anteil derje- nigen, die sich stark oder sehr stark für Politik interessierten, 2018 in den alten u Abb 1 Politisches Interesse in der Bundesrepublik 1980 – 2018 — in Prozent Bundesländern bei 55 % und in den neuen Bundesländern bei 53 %. Damit lagen 70 Personen mit Abitur im Westen wie im Osten etwas mehr als 15 Prozentpunkte 60 über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Das politische Interesse ist also deutlich durch Alters- und Bildungsunterschiede 50 geprägt, wohingegen regionale Unter- schiede zwischen den neuen und alten 40 Bundesländern kaum festzustellen sind. Zugleich schwankten die Unterschiede 30 im politischen Interesse zwischen der Gesamtbevölkerung und Bürgerinnen 20 und Bürgern mit Abitur im Zeitverlauf. Die Differenz lag im Schnitt bei etwa 10 20 Prozentpunkten. Ein Trend lässt sich dabei aber nicht feststellen. Eine Zu- oder 0 Abnahme bildungsbedingter Unterschie- 1982 1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 2018 de im politischen Interesse ist seit der Westdeutschland insgesamt Westdeutschland Abitur Westdeutschland 18–29 Jahre ersten Allgemeinen Bevölkerungsumfra- Ostdeutschland insgesamt Ostdeutschland Abitur Ostdeutschland 18–29 Jahre ge in den Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1980 also nicht festzustellen. Politisches Interesse ist sicherlich för- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet. Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2018 derlich für politische Beteiligung. Das 380
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 Repertoire der Beteiligungsformen hat sich sem Zusammenhang wurde von einer olitikern, sowie, noch deutlicher, der Mit- P über klassische institutionalisierte Formen »partizipatorischen Revolution« gespro- arbeit in einer Organisation oder einem wie Wahlen hinaus in den vergangenen chen, mit der sich nicht nur in Deutsch- Verein. In den alten Bundesländern ver- Jahrzehnten stark ausgeweitet. Neben orga- land, sondern in allen modernen Demo- zeichnete auch die Beteiligung an Unter- nisatorischen Formen der Beteiligung wie kratien nicht institutionalisierte Formen schriftensammlungen einen klaren Trend der Mitarbeit in Parteien, Bürgerinitiativen, der politischen Beteiligung etablierten. nach oben. Bei Politikerkontakten (2018 Vereinen und Organisationen nutzen Bür- Die Anteile derjenigen, die angaben, etwa 20 %) und der Mitarbeit in Organisa- gerinnen und Bürger vermehrt Formen an den beiden häufigsten Formen nicht tionen oder Vereinen (2018 etwa 32 %) gab nicht institutionalisierter politischer Betei- institutionalisierter Beteiligung – Unter- es keine Unterschiede zwischen den alten ligung wie die Kontaktaufnahme zu Politi- schriftensammlungen und Demonstratio- und den neuen Bundesländern. Auch bei kerinnen und Politikern, Unterschriften- nen – mitgewirkt zu haben, waren in den den anderen Formen der Beteiligung wie sammlungen und Demonstrationen, um 1990er-Jahren recht stabil. Seit der Jahrtau- die Beteiligung an Unterschriftensamm- ihren Interessen Ausdruck zu verleihen. sendwende zeigt sich in den alten wie den lungen, Demonstrationen oder Parteien Diese Arten politischer Aktivität haben neuen Bundesländern eine mehr oder beziehungsweise Bürgerinitiativen waren in Deutschland seit Ende der 1950er-Jah- m inder als Trend verlaufende Zunahme die Unterschiede eher marginal und wei- re kontinuierlich zugenommen. In die- von Kontakten zu Politikerinnen und sen kein systematisches Muster auf. u Abb 2 u Abb 2 Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung 2002 – 2018 — in Prozent Westdeutschland 39 40 36 33 33 31 31 32 32 29 30 29 27 24 25 20 21 20 18 18 14 15 15 15 16 11 12 11 10 8 9 10 9 7 8 8 4 5 4 5 5 3 4 4 4 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 Politiker /-in kontaktiert Unterschriftensammlung Demonstrationen Parteiarbeit, Bürgerinitiative Arbeit in Verein / Organisation Ostdeutschland 35 36 36 33 32 33 32 30 30 29 26 25 23 22 22 19 20 20 19 17 16 14 13 14 15 15 13 12 13 11 9 9 7 7 8 6 6 5 4 4 3 3 3 3 4 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 2002 2006 2010 2014 2018 Politiker/-in kontaktiert Unterschriftensammlung Demonstrationen Parteiarbeit, Bürgerinitiative Arbeit in Verein / Organisation nicht institutionalisierte Beteiligung organisatorische Beteiligung Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Datenbasis: European Social Survey 1– 9 (2002 – 2018) 381
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.1 / Politische Integration und politisches Engagement u Abb 3 Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung Etwa eine beziehungsweise einer von nach Bildung, Region und Alter 2018 — in Prozent fünf Bürgerinnen und Bürgern hatte 2018 in den vergangenen zwölf Monaten eine Politikerin oder einen Politiker kontak- mit /ohne Hochschulabschluss tiert. Mehr als jede / jeder Dritte hatte Politiker/-in 18 sich an einer Unterschriftensammlung kontaktiert 28 beteiligt und etwa jede / jeder Zehnte an einer Demonstration. Bei den institutio- Unterschriften- 37 sammlung 53 nalisierten Beteiligungsformen wie der Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen Demonstrationen 8 lagen die Anteile bei etwa 5 %. 17 Werden die Werte zwischen Ost und Parteiarbeit, 4 West, zwischen Menschen mit und ohne Bürgerinitiative 8 Hochschulabschluss sowie zwischen Jün- Arbeit in Verein / 29 geren und Älteren 2018 verglichen, waren Organisation 45 die regionalen Unterschiede am gerings- ten und nahezu vernachlässigbar. Die ohne mit politische Integration und Teilhabe wa- ren in den neuen und alten Bundeslän- dern gleich hoch ausgeprägt. Dasselbe West / Ost lässt sich allerdings nicht für die Unter- Politiker/-in 20 schiede zwischen Bildungsgruppen sagen. kontaktiert 19 Hier zeigt sich bei allen Formen der Be- Unterschriften- 40 teiligung eine sehr viel stärkere Beteili- sammlung 36 gung von Menschen mit Hochschulab- schluss. Der Unterschied zwischen den Demonstrationen 9 9 Bildungsgruppen lag 2018 bei der Arbeit in Vereinen und Organisationen sowie bei Parteiarbeit, 5 der Beteiligung an Unterschriftensamm- Bürgerinitiative 6 lungen bei 16 Prozentpunkten, bei der Arbeit in Verein / 32 Kontaktaufnahme mit Politikerinnen Organisation 32 und Politikern waren es 10 Prozentpunk- te, bei Demonstrationsteilnahmen 9 Pro- West Ost zentpunkte und bei der Mitarbeit in Par- teien oder Bürgerinitiativen lagen Bürger Jüngere /Ältere und Bürgerinnen mit einem Hochschul- abschluss 4 Prozentpunkte vorn. u Abb 3 Politiker/-in 12 Der Vergleich zwischen jüngeren Bür- kontaktiert 21 gerinnen und Bürgern im Alter von 18 Unterschriften- 42 bis 29 Jahren und Älteren ab 30 Jahren sammlung 39 zeigt, dass es über die verschiedenen For- men der Beteiligung hinweg keinen allge- Demonstrationen 13 9 meinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gab. Es waren nicht immer die Parteiarbeit, 3 Bürgerinitiative Jüngeren, die sich stärker beteiligten, 5 vielmehr kam es auf die Art der Beteili- Arbeit in Verein / 27 gung an. Demonstrationen als Mittel der Organisation 33 Beteiligung wurden 2018 in den letzten zwölf Monaten von 13 % der Jüngeren ge- 18- bis 29-Jährige ab 30 Jahren nutzt, aber nur von 9 % der Älteren und auch bei der Unterschriftensammlung Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Datenbasis: European Social Survey 9, 2018 war die Beteiligung der Jüngeren leicht 382
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 höher. Bei anderen Beteiligungsformen essengruppen und politischen Parteien auf Organisationsmitgliedschaften ver- waren Personen in einem Alter von 30 Jah- dadurch aus, dass sie in der Regel lang- teilte sich die Teilhabe also ungleich zu- ren und älter stärker aktiv als die Jünge- fristig sind. Verliert die Mitgliedschaft in gunsten der Bessergebildeten. ren. Sie nahmen fast doppelt so häufig Interessengruppen und politischen Par- Die langfristige Entwicklung der Mit- Kontakt zu Politikerinnen und Politikern teien für die Einzelne beziehungsweise gliedschaften der Bürgerinnen und Bürger auf und waren auch deutlich häufiger in den Einzelnen an Attraktivität, so ist dies in Deutschland lässt sich aufgrund verän- Parteien und Bürgerinitiativen sowie in zunächst ein Warnsignal für die jeweilige derter Frageformate in den ALLBUS- Organisationen und Vereinen aktiv. Was Organisation. Nehmen die Mitglied- Studien zwar nicht über alle Organisations die Ausgeglichenheit der politischen Inte- schaften jedoch in großem Umfang über bereiche hinweg beurteilen. A llerdings ist gration und politischen Teilhabe angeht, viele Organisationen hinweg ab, weist eine solche Beurteilung hinsichtlich der ergibt sich damit insgesamt ein gemisch- dies darüber hinaus auch auf generelle Gewerkschaftsmitgliedschaften möglich. tes Bild. Die großen U nterschiede zwischen Probleme der Interessenvermittlung in Der massive Rückgang von Gewerk- Ost und West sind verschwunden, auch einem politischen Gemeinwesen hin. schaftsmitgliedern in den neuen Bundes- die Unterschiede zwischen Jüngeren und Im internationalen Vergleich zeichnet ländern in den Jahren 1992 bis 1998 Älteren verweisen nicht auf Defizite poli sich Westdeutschland durch einen recht schwächte sich zwar im Anschluss deut- tischer Integration. Anders zu beurteilen hohen Organisationsgrad aus. In West lich ab, setzte sich aber bis etwa 2008 fort. ist das Gefälle in der Beteiligung von europa sind nur die Bürgerinnen und Seitdem scheint sich der gewerkschaftliche Menschen mit und ohne Hochschulbil- Bürger der Niederlande und der skandi- Organisationsgrad der erwachsenen Be- dung. Hier zeigen sich über alle Beteili- navischen Länder stärker organisiert. völkerung mit leichten Schwankungen gungsformen hinweg systematische Un- Jüngere Daten für 2010, 2014 und 2018 auf gleichem Niveau zu halten. Die terschiede, die als sozial induzierte politi- sind aufgrund unterschiedlicher Erhe- Anfang der 1990er-Jahre noch stark aus- sche Ungleichheit zu bewerten sind. bungsverfahren nicht mit früheren Daten geprägten Unterschiede zwischen Ost vergleichbar und erlauben daher keine und West im durchschnittlichen Organi- 11.1.2 Bindung an Interessen Schlussfolgerungen über die langfristige sationsgrad sind fast verschwunden. gruppen und politische Parteien Mitgliederentwicklung. Es gibt aber Hin- Auch die große Kluft zwischen der jünge- Die Mitgliedschaft in Interessengruppen weise, die vermuten lassen, dass die Mit- ren Bevölkerung der 18- bis 29-Jährigen und politischen Parteien ist ein weiterer gliedschaft in Interessengruppen weiter und dem Durchschnitt der Bevölkerung, Indikator für die Integration der Bürge- zurückgegangen ist. Der Anteil nicht ak- der in Westdeutschland besonders rinnen und Bürger in den politischen tiver Mitgliedschaften lag 2014 und 2018 de utlich 2004 und in Ostdeutschland Prozess. Diese Organisationen sind häufig deutlich niedriger als 2010. u Tab 1 b esonders 2008 zu beobachten war, hat durch gesellschaftliche Selbstorganisation Regionale Unterschiede zwischen Ost sich verringert. Bildungsunterschiede im entstanden und dienen dem Zweck der und West bezüglich der Teilnahme in gewerkschaftlichen Organisationsgrad Vertretung gemeinsamer politischer, Freizeitorganisationen und Vereinen wa- fielen – anders als bei politischem Inter- wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller ren relativ konstant – in Westdeutsch- esse, politischer Beteiligung und anderen Interessen. Interessengruppen setzen sich land lag der Mitgliedschaftsanteil zwi- Mitgliedschaften – leicht zugunsten von auf verschiedene Weise für die Anliegen schen 8 und 11 Prozentpunkten höher, Bürgerinnen und Bürgern ohne Hoch- ihrer Mitglieder ein, zum Beispiel durch und zwar sowohl bei den bloßen wie den schulabschluss aus. Akademikerinnen das Einwirken auf Parteien, Parlamente, aktiven Mitgliedschaften. Bezogen auf und Akademiker waren 2018 lediglich zu Regierungen und Behörden oder die Öf- die Mitgliedschaft in Interessengruppen knapp 10 % gewerkschaftlich organisiert fentlichkeit im Allgemeinen. Politische ist der Abstand zwischen Ost und West und lagen damit nur knapp unter dem Parteien sind unmittelbare Akteure des von 2010 auf 2014 und 2018 größer ge- Durchschnitt. Bei den Gewerkschaftsmit- Regierungssystems. Da die Mitgliedschaft worden. Im Altersvergleich wichen die gliedschaften zeigen sich damit zwar kei- freiwillig ist, ist der Grad, zu dem Bürge- Jüngeren hinsichtlich ihrer Mitglied- ne deutlichen regionalen, sozialen oder rinnen und Bürger sich in Interessen schaftsanteile in Organisationen ohne demografischen Ungleichheiten mehr. Die gruppen und politischen Parteien orga Gewerkschaften und politische Parteien Integrationskraft hat aber dennoch nach- nisieren, ein zentrales Merkmal der poli- kaum vom Durchschnitt der Bürgerin- gelassen, insbesondere, wenn die ostdeut- tischen Integration. Anders als die nen und Bürger ab. Jedoch lassen sich sche Entwicklung betrachtet wird. u Abb 4 Wahlbeteiligung oder Formen nicht ins- nach Bildungsabschluss deutliche Diffe- Die Mitgliedschaft in politischen titutionalisierter Beteiligung, die für die renzen beobachten. Hier ergaben sich Parteien verzeichnete sogar eine noch Einzelne beziehungsweise den Einzelnen deutlich höhere Anteile für Akademike- dramatischere Entwicklung. Die starken singuläre Ereignisse bleiben können, rinnen und Akademiker als für den Be- Mitgliederrückgänge bei den Gewerk- zeichnen sich Mitgliedschaften in Inter- völkerungsdurchschnitt. Auch bezogen schaften seit der Vereinigung fielen im 383
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.1 / Politische Integration und politisches Engagement u Tab 1 Mitgliedschaft in Organisationen 2010, 2014 und 2018 — in Prozent Deutschland insgesamt Westdeutschland Ostdeutschland aktives Mitglied / aktives Mitglied / aktives Mitglied / nur Mitglied ¹ nur Mitglied ¹ nur Mitglied ¹ Ehrenamt ¹ Ehrenamt ¹ Ehrenamt ¹ 2010 2014 2018 2010 2014 2018 2010 2014 2018 2010 2014 2018 2010 2014 2018 2010 2014 2018 Arbeit und Wirtschaft ² Gewerkschaften ³ 12 13 12 . . . 12 14 13 . . . 9 9 10 . . Politisch oder wertgebunden ² politische Parteien 3 5 4 . . . 2 5 5 . . . 7 2 2 . . . Menschenrechtsorganisationen 1 2 2 1 1 1 2 2 2 1 1 1 1 1 1 0 1 0 Naturschutzorganisationen 6 6 6 2 3 3 7 7 6 2 3 3 4 3 3 2 3 2 Bürgerinitiativen 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 2 1 1 0 1 1 1 1 Wohltätigkeitsvereine 10 7 6 5 7 6 11 8 7 5 8 6 6 3 3 3 4 2 Elternorganisationen 4 1 1 3 4 3 4 1 1 3 4 3 3 1 1 2 4 2 Selbsthilfe / Gesundheit 5 2 3 3 3 3 5 2 3 3 3 3 4 2 1 3 3 2 Rentner-, Seniorenvereine 2 1 1 1 2 1 2 1 1 1 2 1 3 1 0 2 2 1 Freizeit Kultur-, Musikvereine 12 4 5 9 8 10 14 5 4 10 8 6 8 1 1 6 7 6 Sportvereine 29 10 9 22 22 25 32 11 10 24 23 26 22 3 4 18 20 19 sonstige Hobbyvereine 10 2 2 8 9 7 11 3 2 8 9 8 9 1 1 8 8 5 Mindestens einmal Mitglied alle gelisteten Organisationen 56 37 37 . 59 40 40 . . . 50 22 24 . . . alle gelisteten, ohne Parteien 50 26 27 39 39 46 53 29 31 40 43 48 43 14 14 34 36 36 und Gewerkschaften - im Vergleich: 47 21 24 40 41 48 48 22 25 41 43 48 45 15 16 37 33 43 Jüngere (18 – 29 Jahre) - im Vergleich: 63 37 30 48 52 58 67 41 32 50 52 60 58 24 19 48 51 49 mit Hochschulabschluss Freizeitorganisationen 41 14 14 33 33 35 45 16 16 35 34 37 33 5 6 28 29 26 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. 1 In »nur Mitglied« sind aktive und ehrenamtliche Mitgliedschaft nicht enthalten. Daten ergeben, wo erfasst, in der Summe den Mitgliedschaftsanteil. 2 Als Interessengruppen gelten Organisationen aus den Kategorien »Arbeit und Wirtschaft« sowie »Politisch oder wertgebunden«. 3 Für 2010 Daten von 2008. . Nicht erhoben. Datenbasis: ALLBUS 2008, 2010 und 2014 Vergleich zu denen der politischen Parteien Lage sein werden, ihren Beitrag zur poli- Bürgerinnen und Bürger nach wie vor noch moderat aus. Anhand der von den tischen Willensbildung und politischen eine große Rolle, ein vollständiger Rück- Parteien berichteten Mitgliederz ahlen Integration zu leisten. zug findet nicht statt. Das politische In- lässt sich nachvollziehen, dass diese teresse erreichte in Ost und West sogar innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten 11.1.3 Zusammenfassung einen Höchststand. Unter den nicht ins- etwa eine Million und damit etwa 40 % Zusammengefasst verweisen die Ergeb- titutionalisierten Formen politischer Be- ihrer Mitglieder verloren haben. Während nisse einerseits darauf, dass der Grad teiligung stechen Demonstrationen her- 1990 noch 3,8 % der Wahlberechtigten in p olitischer Integration bezogen auf die vor. Hier spielen soziale Bewegungen politischen Parteien organisiert waren, traditionellen, organisatorischen Formen oder bewegungsähnliche Organisations- waren es 2018 nicht einmal mehr 2 %. u Abb 5 der Beteiligung, allen voran Mitglied- formen wie »Fridays for Future« eine Nimmt man alle Interessenorganisa- schaften in Gewerkschaften und politi- zentrale Rolle. tionen einschließlich Gewerkschaften schen Parteien, in den vergangenen zwei Dass die Unterschiede zwischen neuen und politischer Parteien zusammen, sind Jahrzehnten deutlich zurückgegangen ist. und alten Bundesländern ebenso wie das drastische Entwicklungen, die die Interessengruppen und Parteien ver- die zwischen Jüngeren und der Gesamt Frage aufwerfen, ob und inwieweit lieren an Mitgliederattraktivität. Ande- bevölkerung sich vermindern oder sogar primär auf die politische Interessen rerseits haben nicht institutionalisierte ganz zu verschwinden scheinen, ist positiv vertretung und -vermittlung ausgerichtete Formen politischer Beteiligung nicht an zu vermerken. Ein negativer Befund ist Organisationen zukünftig noch in der Bedeutung verloren. Politik spielt für die allerdings, dass Teilhabe und Integration 384
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 u Abb 4 Gewerkschaftsmitgliedschaft 1980 – 2018 — in Prozent in Organisationen und Aktionsformen stark sozial geschichtet sind. Darauf verweisen die beträchtlichen Unterschie- 40 de zwischen Bürgerinnen und Bürgern ohne und mit Hochschulabschluss. Zu- sammengenommen mit dem Befund, dass traditionelle institutionalisierte For- 30 men der Politik und politischen Beteili- gung an Attraktivität für die Bürgerin- nen und Bürger verlieren und sich das Ausmaß politischer Integration in die 20 institutionalisierte Politik abgeschwächt hat, bleibt es ein Warnsignal für Politik und Gesellschaft. Da Vereine und Organisationen die 10 Lernzellen für die politische Beteiligung sind, weil in unmittelbarem Gruppen zusammenhang Interessen bestimmt und für die Artikulation aufbereitet werden, 0 1982 1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 2018 ist der Rückgang von Mitgliedschaften in den traditionellen Verbänden und Orga- Westdeutschland insgesamt Westdeutschland, 18 –29 Jahre nisationen nicht unproblematisch. Durch Ostdeutschland insgesamt Ostdeutschland, 18 –29 Jahre die Coronapandemie sind viele gemein- nützige Einrichtungen, Vereine und Inte- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet. ressenorganisationen in eine Notlage Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2018 geraten. Dass die Zivilgesellschaft ge- schwächt aus dieser Krise hervorgehen wird, hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina konstatiert. u Abb 5 Parteimitgliedschaft 1990 – 2019 Ob nicht institutionalisierte Formen der Beteiligung, die einen stark individualis- 4,25 2 500 tischen Zug haben, das Defizit kollektiver 4,00 Interessenvermittlung durch geschwäch- 2 250 te Organisationen der Zivilgesellschaft 3,75 werden kompensieren können, ist fraglich. 3,50 2 000 3,25 3,00 1 750 2,75 1 500 2,50 2,25 1 250 2,00 1,75 1 000 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 2018 Anteil Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in % (linke Skala) Mitgliederzahlen in 1 000 (rechte Skala) Datenbasis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2020. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 31, FU Berlin 2020 385
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat 11.2 Die Stabilität und das Funktionieren ei- nes demokratischen Regierungssystems Der Sozialstaat ist eine bedeutende Quelle der Legitimität der Demokratie Einstellungen zu hängen davon ab, dass die Bürgerinnen in Deutschland. Nach der deutschen Demokratie und und Bürger der Demokratie positiv gegenüberstehen. Deshalb ist es förder- Vereinigung im Jahr 1990 wurde der Sozialstaat weiter umgebaut, was neue Sozialstaat* lich, wenn sie zum einen die Demokratie soziale Probleme nach sich zog. Mindes- *Überarbeitung der Version, die 2018 von Dieter Fuchs als Staatsform allgemein befürworten tens zwei damit verbundene Entwick- und Edeltraud Roller erstellt wurde. und zum anderen die Demokratie im lungen dürften einen Einf luss auf die eigenen Land positiv beurteilen. In den Einstellungen der Bürgerinnen und Bür- Anne-Kathrin Stroppe, vergangenen zehn Jahren gab es einige ger zum Sozialstaat gehabt haben. Die Marlene Mauk Entwicklungen, die Auswirkungen auf erste Entwicklung sind die Leistungs- GESIS Köln die Demokratiezufriedenheit in den kürzungen und Abbaumaßnahmen, die Ländern der Europäischen Union (EU) seither die Sozialpolitik dominieren. und auch in Deutschland gehabt haben Prominenteste Beispiele sind die Agenda WZB / SOEP könnten, zum Beispiel die Finanzmarkt- 2010 (2003 – 2005), die ein Bündel ver- und Wirtschaftskrise, die Flüchtlings- schiedener sozial- und arbeitsmarktpoli- und Immigrationsproblemati k, die tischer Maßnahmen umfasste, sowie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Partei- Rente mit 67 (2007). Ausgehend von en und der Brexit. diesen Reformen stellt sich die Frage, ob Vor allem wegen des unterschiedli- und in welchem Ausmaß die Bürgerin- chen Wahlverhaltens in West- und Ost- nen und Bürger bereit sind, ihre Ansprü- deutschland und der anhaltenden Dis- che an die sinkenden Leistungen des So- kussion über eine ostdeutsche Identität zialstaats anzupassen. Für die Ostdeut- sind die Unterschiede zwischen West- schen stellt sich diese Frage in noch und Ostdeutschen immer noch ein radikalerer Weise. Denn mehrheitlich Thema der öffentlichen Diskussion. Diese waren sie der Ansicht, dass es sich bei der Diskussion umfasst auch die Einstellun- umfassenden sozialen Absicherung um gen zu Demokratie und Sozialstaat. Da einen der wenigen Vorzüge des sozialis- das staatssozialistische System der DDR tischen Systems der DDR handelte (»so- unter aktiver Beteiligung der Bürgerin- zialistische Errungenschaft«). Deshalb nen und Bürger zusammengebrochen ist hatten sie noch höhere Erwartungen an und sich die überwältigende Mehrheit der die Rolle des Staates ausgebildet als die Ostdeutschen für die deutsche Vereini- Westdeutschen. gung ausgesprochen hat, wurde erwartet, Eine zweite Entwicklung, die die dass die Mehrheit der Ostdeutschen nicht Einstellungen der Bürgerinnen und Bür- nur die Demokratie allgemein, sondern ger beeinflussen dürfte, ist die Zunahme auch die Demokratie in Deutschland der sozialen Ungleichheit, die sich ins positiv beurteilt. Nach den bisher vorlie- besondere seit der Jahrtausendwende in genden Befunden präferieren die Ost- Deutschland beobachten lässt. Indizien deutschen zwar mehrheitlich die Demo- sind der Anstieg des Gini-Koeffizienten, kratie allgemein, sie stehen jedoch der eines Maßes für Einkommensungleich- Demokratie in Deutschland kritischer heit, und die Zunahme der Armut (siehe gegenüber. Eine wichtige Frage ist, ob Kapitel 6.3, Seite 229, Abb 2 und Abb 3). die Ostdeutschen mit zunehmender Er- Diese Entwicklung hat zu einer verstärk- fahrung mit der bundesrepublikanischen ten Diskussion um die soziale Gerechtig- Demokratie ein positiveres Verhältnis zur keit in Deutschland geführt. Es stellt sich Demokratie in Deutschland entwickelt deshalb die Frage, ob die Bürgerinnen haben. Diese Frage stellt sich insbesondere und Bürger angesichts der objektiv wach- in Bezug auf die jüngeren Generationen senden Ungleichheit und der Gerechtig- in Ostdeutschland, die in diesem demo- keitsdebatte zunehmend eine staatliche kratischen System aufgewachsen sind. Umverteilung fordern. 386
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 11.2.1 Akzeptanz der Demokratie schen Ost- und Westdeutschen reduzier- politische Leistungen) dürften bei der als Staatsform te sich somit auf 12 Prozentpunkte. u Tab 1 Beurteilung des Funktionierens der De- Die grundlegende Einstellung zur Demo- Im Jahr 2019 sah also nach wie vor mokratie eine Rolle spielen. kratie wird mit der direkten Frage da- eine klare Mehrheit der deutschen Bür- Die in Abbildung 1 präsentierten nach erhoben, ob die Demokratie die bes- gerinnen und Bürger die Demokratie all Zeitreihen für die Zufriedenheit mit te Staatsform sei oder ob es eine bessere gemein als die beste Staatsform an, nur dem Funktionieren der Demokratie in gebe. Alternative Herrschaftsordnungen – eine sehr kleine Minderheit präferierte Deutschland zeigen eine deutliche Diffe- zum Beispiel kommunistisch-autoritäre eine andere Staatsform. Dies galt sowohl renz zwischen Ost- und Westdeutschland. Regime oder die Herrschaft eines starken für West- als auch für Ostdeutschland. Über den gesamten Zeitraum von 1991 Mannes – werden hierbei nicht vorge bis Sommer 2019 hinweg war im Westen geben. Die in Tabelle 1 präsentierten Da- 11.2.2 Zufriedenheit mit dem Deutschlands durchschnittlich eine klare ten dokumentieren, dass kurz nach der Funktionieren der Demokratie Mehrheit von 68 % der Bürgerinnen und deutschen Vereinigung im Jahr 1991 die in Deutschland Bürger zufrieden, während im Osten Ostdeutschen sich mit einer großen Ein etwas anderes Bild zeigt sich be durchschnittlich lediglich 44 % zufrieden Mehrheit von 70 % für die Demokratie züglich der Zufriedenheit mit dem Funk- waren. Es gab erhebliche Schwankungen als beste Staatsform aussprachen. Die tionieren der Demokratie in Deutschland. im Zeitverlauf, die parallel in Ost- und Zustimmung der Westdeutschen war mit Diese Einstellung bezieht sich weniger Westdeutschland zu beobachten waren. 86 % noch deutlich höher. Im Zeitverlauf auf die Verfassungsnorm, das heißt die in Das heißt, dass die Bürgerinnen und Bür- schwankten die Urteile der Ost- und der Verfassung implementierte Form der ger in beiden Teilen Deutschlands ganz Westdeutschen um diese jeweils hohen Demokratie, als vielmehr auf die Verfas- ähnlich auf bestimmte Ereignisse re- Werte. Vor allem in den Jahren 2005 sungsrealität oder die Wirklichkeit der agierten; das aber auf unterschiedlichem und 2006 wurden die Unterschiede Demokratie in Deutschland. In die Beur- Niveau. Hinsichtlich der Struktur dieser zwischen Ost- und Westdeutschen etwas teilung dieser Verfassungsrealität können Schwankungen ist bemerkenswert, dass größer, weil die Zustimmung in Ost- verschiedene Aspekte eingehen. Insbe- zu den Bundestagswahlen mit Ausnahme deutschland etwas abnahm. Im Jahr 2006 sondere das Funktionieren institutioneller von 2005 ein Anstieg der Demokratiezu- betrug die Differenz 26 Prozentpunkte. Mechanismen (zum Beispiel der Aus- friedenheit erfolgte (1994, 1998, 2009, Dabei handelte es sich jedoch um keinen tausch von Regierung und Opposition 2013, 2017). Die nach der Bundestags- längerfristigen Trend, denn ab 2008 und die Gewährleistung der Gleichheit wahl 2009 im Jahr 2010 erfolgte Ab stieg in Ostdeutschland die Zustimmung vor dem Gesetz), die Handlungen der nahme in der Demokratiezufriedenheit zur Demokratie als Staatsform wieder an. Regierenden (zum Beispiel Berücksichti- dürfte auf die europäische Finanzmarkt- Nach den letzten verfügbaren Daten gung von Interessen verschiedener Be- und Wirtschaftskrise 2008 / 2009 zurück- aus dem Jahr 2019 lag die Zustimmung völkerungsgruppen, Amtsmissbrauch) gehen. Diese Abnahme umfasste in West in Ostdeutschland bei 79 %, in West- und die Ergebnisse dieses Handelns und Ost aber weniger als 10 Prozent- deutschland bei 91 %. Die Differenz zwi- (zum Beispiel wirtschaftliche und sozial- punkte und war nicht von Dauer, denn u Tab 1 Akzeptanz der Demokratie als Staatsform 1991– 2019 — in Prozent Westdeutschland Ostdeutschland 1991 2000 2005 2006 2008 2014 2019 1991 2000 2005 2006 2008 2014 2019 »D ie Demokratie ist 86 92 85 89 86 90 91 70 78 64 63 68 82 79 die beste Staatsform.« »Es gibt eine andere Staatsform, 3 3 6 3 3 5 4 7 8 22 12 11 9 10 die besser ist.« »Unentschieden.« 11 5 9 8 11 5 5 23 14 14 25 21 9 11 Quelle: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Band 9: 560 (Jahr 1991); Konsolidierung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa 2000; Bürger und Gesellschaft 2005; European Social Survey – Deutsche Teilstudie 2006, 2008; Everhard Holtmann u.a., Deutschland 2014, Zentrum für Sozialforschung Halle e.V., 2015: 189; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020: 30 Jahre Mauerfall, GESIS Datenarchiv, Köln, ZA6737 387
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat u Abb 1 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie bestehen blieb. 1991 betrug diese Differenz 1991 – 2019 — in Prozent 29 Prozentpunkte, im Jahr 2019 lag dieser Wert bei 18 Prozentpunkten. Fast 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung gibt es 100 keine Hinweise darauf, dass sich mit zu- 90 nehmenden Erfahrungen der Ostdeut- schen mit der Demokratie die Kluft in der 80 Demokratiezufriedenheit zwischen Ost- und Westdeutschen auf Dauer verringert. 70 Ein Vergleich mit den anderen 27 Mitgliedsländern der Europäischen Uni- 60 on (2019 war das Vereinigte Königreich 50 noch Mitglied der EU) kann darüber Aufschluss geben, wie die Zufriedenheit 40 mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland einzuschätzen ist. Die 30 Daten stammen aus dem Sommer 2019. Die Demokratiezufriedenheit in West- 20 deutschland rangierte deutlich über dem 10 westeuropäischen Durchschnitt. Ledig- lich in den skandinavischen Ländern, in 0 Luxemburg, in den Niederlanden und in 1991 1995 2000 2005 2010 2015 2019 Irland war die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie noch hö- Westdeutschland Ostdeutschland her. Die Zufriedenheit mit dem Funktio- nieren der Demokratie in Ostdeutsch- »Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem gesehen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, ziemlich unzufrieden oder völlig unzufrieden?«; Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«. land lag deutlich unter dem Durch- Datenbasis: Eurobarometer 1991 – 2019 schnitt der westeuropäischen Länder. Niedrigere Zufriedenheitswerte wiesen vor allem Länder auf, die von der Finanz- markt- und Wirtschaftskrise besonders stark betroffen waren, wie Spanien, Itali- en, Zypern und insbesondere Griechen- land. Interessant ist aber, dass zwei der bis 2014 nahm die Demokratiezufrieden- gelöst (Forschungsgruppe Wahlen, Polit- Krisenländer, und zwar Portugal und Ir- heit in beiden Landesteilen kontinuier- barometer). In den Jahren 2016 und 2017 land, im Sommer 2019 eine relativ hohe lich wieder zu. u Abb 1 stieg die Demokratiezufriedenheit in Demokratiezufriedenheit aufwiesen, die Nach 2014 war sowohl in West- als Ostdeutschland wieder an und erreichte auf beziehungsweise sogar über dem auch in Ostdeutschland ein Abfall der 2019 zum zweiten Mal den Spitzenwert westeuropäischen Durchschnitt lag. Ver- Demokratiezufriedenheit festzustellen. von 59 %. In Westdeutschland nahm sie gleichsweise niedrig war die Demokratie- Besonders deutlich war das in Ost- 2017 wieder zu und ging seitdem leicht zufriedenheit zudem im sich zu dieser deutschland der Fall, wo die Demokratie- zurück. Obgleich Migration und Inte Zeit im Brexit-Prozess befindlichen Ver- zufriedenheit von 59 % (2014) auf 47 % gration weiterhin wichtige Themen für einigten Königreich und im von den (2015) sank. Dieser Abfall ist vermutlich die Bürgerinnen und Bürger sind, haben Gelbwesten-Protesten geprägten Frank- auf die hohe Zahl von Gef lüchteten damit verbundene Problemwahrneh- reich. u Abb 2 zurückzuführen. Ab Anfang 2015 wurde mungen offenbar die Zufriedenheit mit Die in der Abbildung 2 präsentierten das Thema »Ausländer / Integration / dem Funktionieren der Demokratie nicht Prozentsätze zeigen dennoch, dass in der Flüchtlinge« von den deutschen Bürge- nachhaltig negativ beeinflusst. Mehrzahl der westeuropäischen Länder rinnen und Bürgern als das wichtigste Bemerkenswert an den beiden Zeitrei- die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür- Problem in Deutschland angegeben; erst hen für West- und Ostdeutschland ist, dass ger trotz der Finanzmarkt- und Wirt- Anfang 2019 wurde es vom Themenkom- die Differenz zwischen beiden Teilen schaftskrise, der Geflüchteten- und Im- plex »Umwelt / Klima / Energiewende« ab- Deutschlands über den gesamten Zeitraum migrationsproblematik und des Brexit 388
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 u Abb 2 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie mit dem Funktionieren der Demokratie im eigenen Land 2019 — in Prozent im eigenen Land zufrieden war. Unter den osteuropäischen EU-Mit- gliedsländern gibt es erhebliche Differen- zen bei der Demokratiezufriedenheit. Dänemark 95 Während in Estland, Polen, Tschechien, Luxemburg 88 Ungarn, Lettland, Slowakei und Sloweni- Niederlande 85 en mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger zufrieden mit dem Funktio- Finnland 84 nieren der Demokratie des eigenen Lan- Irland 81 des war, traf dies in den anderen osteuro- Schweden 80 päischen EU-Mitgliedsländern nur für eine Minderheit zu. Am geringsten war Westdeutschland 77 der Wert in Kroatien, wo lediglich 33 % Österreich 77 der Menschen zufrieden waren. Bemer- Deutschland insgesamt 74 kenswert ist, dass die Demokratiezufrie- denheit in Ostdeutschland höher war als Durchschnitt Westeuropa 68 im Durchschnitt der osteuropäischen Portugal 68 EU-Mitgliedsländer. Belgien 67 11.2.3 Einstellungen verschiedener Malta 66 Bevölkerungsgruppen zur Estland 66 Demokratie Polen 66 In Tabelle 2 sind die Einstellungen zum Fu n k t ion ieren der Demok rat ie i n Tschechien 65 Deutschland nach Geschlecht, Alter, be- Ostdeutschland 59 ruf licher Stellung, ideologischer Orien- Ungarn 58 tierung (links-rechts) und Parteipräfe- renz aufgeschlüsselt. Sowohl in Ost- als Lettland 56 auch in Westdeutschland zeigen sich Slowakei 54 einige auffällige Abweichungen vom Durchschnitt. Erstens waren die Arbeits- Durchschnitt Osteuropa 53 losen sowohl in West- als auch in Ost- Frankreich 53 deutschland weniger zufrieden mit dem Vereinigtes Königreich 52 Funktionieren der Demokratie als der jeweilige Bevölkerungsdurchschnitt. Slowenien 52 Bemerkenswert ist zweitens, welch ein Litauen 50 geringer Anteil der Anhängerinnen und Spanien 50 Anhänger der Alternative für Deutsch- land (AfD) zufrieden mit dem Funktio- Italien 49 nieren der Demokratie war. Im Westen Zypern 49 waren das 2018 lediglich 28 % und im Bulgarien 40 Osten gerade einmal 4 %. Das zeigt, dass das demokratiekritische Potenzial in Rumänien 39 Deutschland vor allem bei den Anhänge- Griechenland 35 rinnen und Anhängern der AfD lokali- Kroatien 33 siert werden kann. Auch Anhängerinnen und Anhänger der Partei Die Linke wie- sen unterdurchschnittliche Zufrieden- Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«. heitswerte auf (58 % im Westen und Datenbasis: Eurobarometer Sommer 2019 44 % im Osten). Drittens wiesen insbe- sondere in Ostdeutschland ideologisch 389
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat rechtsorientierte Bürgerinnen und Bür- u Tab 2 Zufriedenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen mit dem Funktionieren ger eine geringere Demokratiezufrieden- der Demokratie 2018 und 2019 — in Prozent heit auf. u Tab 2 2018 ¹ 2019 ² Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen West Ost West Ost den verschiedenen Altersgruppen in Ost- Insgesamt 62 46 77 59 deutschland. Es wurde erwartet, dass Geschlecht insbesondere die nachwachsenden Gene- Männer 62 48 78 58 rationen vom neuen demokratischen Frauen 61 43 76 61 System geprägt werden und eine positi- Altersgruppen vere Haltung zu diesem System ausbil- 18 – 34 Jahre 66 42 73 55 den. Diese positiven Sozialisationseffekte 35 – 59 Jahre 59 53 76 60 haben sich bei der Zufriedenheit mit ab 60 Jahren 59 38 81 61 dem Funktionieren der Demokratie bis- lang kaum eingestellt. Berufliche Stellung ³ Zusammenfassend kann festgehalten Selbstständige 66 / 74 51 werden, dass in Ost und West sowohl die abhängig Beschäftigte 64 52 78 67 Arbeitslosen als auch die Anhängerinnen Arbeitslose 35 / 63 34 und Anhänger der Partei Die Linke der Rentner / -innen, 56 37 79 60 Pensionäre / -Pensionärinnen Demokratie in Deutschland vergleichs- Ideologische Orientierung weise kritisch gegenüberstehen. Bedenk- links 67 50 80 68 lich ist vor allem die geringe Demokratie- Mitte 61 46 80 62 zufriedenheit bei den Anhängerinnen rechts 56 35 67 37 und Anhängern der AfD. Parteipräferenz 11.2.4 Zuständigkeit des Staates CDU / CSU 70 62 . . für soziale Absicherung SPD 73 62 . . Im Zentrum des bundesrepublikanischen FDP 66 / . . Sozialstaats steht die soziale Absicherung, Bündnis 90 / Die Grünen 73 72 . . die vor allem über Sozialversicherungssys- Die Linke 58 44 . . teme wie Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- AfD 28 4 . . und Krankenversicherung geregelt ist. Die Ein Zeitvergleich zwischen 2018 und 2019 ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsverfahren nicht möglich. Zustimmung zu diesem sogenannten ins- 1 Antwortkategorien 6 – 10 auf einer Skala von 0 »äußerst unzufrieden« bis 10 »äußerst zufrieden«. 2 Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«. titutionellen Kern des Sozialstaats wird 3 Nichterwerbspersonen sind nicht ausgewiesen. . Nicht erhoben. mit der Frage erfasst, ob der Staat für die / Fallzahl zu gering (N < 30). Datenbasis: ESS 2018; Eurobarometer Sommer 2019 Versorgung von Kranken sowie für den Erhalt des Lebensstandards von älteren Menschen und Arbeitslosen verantwort- lich sein soll. Die in Abbildung 3 enthalte- Ein anderes Bild zeigt sich, wenn man 66 % und im Osten auf 80 %. Damit ver- nen Befunde zeigen zunächst, dass sich die dem Staat zugeschriebene Verantwor- tiefte sich die Lücke zwischen Ost- und die Zustimmung zur Verantwortlichkeit tung, den Lebensstandard von Arbeitslo- Westdeutschen hinsichtlich der Meinung des Staates im Bereich der Gesundheits- sen zu erhalten, betrachtet. Im Jahr 1996 zur staatlichen Versorgung von Arbeitslo- und Altersversorgung zwischen 1990 (für sahen im Osten 90 % die Verantwortung sen. Nach 2006 zeigt sich jedoch eine kon- Ostdeutschland Daten ab 1996) und 2016 hierfür beim Staat, während im Westen le- träre Entwicklung in den beiden Landes- in beiden Teilen Deutschlands auf einem diglich 81 % diese Ansicht teilten. Die An- teilen. In Ostdeutschland setzte sich der stabil hohen Niveau befand. Sie lag im teile lagen damit nicht nur unter den Zu- Negativtrend fort: 2016 schrieben nur Mittel stets bei mindestens 93 %. In beiden stimmungswerten in den Bereichen Ge- noch 71 % dem Staat eine Verantwortung Landesteilen sah damit fast die gesamte sundheit und Alter, sondern es zeichnete zu, den Lebensstandard von Arbeitslosen Bevölkerung den Staat dafür verantwort- sich auch eine unterschiedliche Wahrneh- zu erhalten. Im Gegensatz dazu stieg der lich, bei Krankheit und Alter für die Bür- mung zwischen Ost- und Westdeutsch- Anteil in Westdeutschland wieder leicht gerinnen und Bürger zu sorgen. Von 1990 land ab. Der Anspruch an den Staat nahm auf 73 % an, sodass die Anteile in Ost- und bis 2016 zeigt sich fast keine Veränderung in den folgenden zehn Jahren ab und sank Westdeutschland sich annäherten. Ganz in diesen Werten. u Abb 3 im Jahr 2006 im Westen Deutschlands auf offenbar haben die Bürgerinnen und 390
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 u Abb 3 Zuständigkeit des Staates für soziale Absicherung 1990 – 2016 — in Prozent Insgesamt waren bei der Aufgabe der sozialen Absicherung die Ost-West-Unter- 100 schiede von Beginn an vergleichsweise ge- ring; lediglich bei der Versorgung von Ar- beitslosen zeigten sich merkliche Unter- 90 schiede, die 2016 allerdings ebenfalls nivelliert erschienen. Das dürfte daran lie- 80 gen, dass gerade bei der Versorgung von Kranken und Alten der bundesdeutsche Sozialstaat und der sozialistische Sozial- 70 staat der DDR ähnliche Regelungen und Programme entwickelt hatten. Im Mittel- 60 punkt des sozialistischen Sozialstaats der DDR standen ebenfalls Sozialversiche- rungssysteme, die Risiken wie Krankheit, 50 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Unfall und Alter abdeckten. Westdeutschland: Gesundheitsversorgung Ostdeutschland: Gesundheitsversorgung Westdeutschland: Lebensstandard Ältere Ostdeutschland: Lebensstandard Ältere 11.2.5 Zuständigkeit des Staates Westdeutschland: Lebensstandard Arbeitslose Ostdeutschland: Lebensstandard Arbeitslose für den Abbau von Einkommens- unterschieden »Der Staat sollte verantwortlich dafür sein, gesundheitliche Versorgung für Kranke sicherzustellen / den alten Menschen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern / den Arbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.« Deutlich größere Unterschiede zwischen Anteil »auf jeden Fall verantwortlich sein« und »verantwortlich sein«. Datenbasis: ALLBUS 1990, 1996, 2006, 2016 Ost- und Westdeutschen gibt es dagegen bei der sozialstaatlichen Aufgabe des Abbaus von Einkommensunterschieden. u Abb 4 Zuständigkeit des Staates für den Abbau von Einkommens Im Zuge der zunehmenden Ungleichheit unterschieden 2002–2018 — in Prozent und der Debatte um die soziale Gerech- tigkeit, die seit Anfang / Mitte der 2000er- 90 Jahre in Deutschland verstärkt geführt wird, ist diese Aufgabe in den Mittel- 80 punkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die Zustimmung dazu wird mit der Frage er- 70 fasst, ob der Staat Maßnahmen ergreifen 60 soll, um Unterschiede in den Einkom- mensniveaus zu reduzieren. Die Zeitreihe 50 beginnt erst im Jahr 2002 und erstreckt sich bis zum Jahr 2018. 40 Im Vergleich zur Aufgabe der sozia- 30 len Absicherung war die Zustimmung 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 zur Reduktion von Einkommensunter- Westdeutschland Ostdeutschland schieden sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands deutlich geringer. »Sollte der Staat Maßnahmen ergreifen, um Unterschiede in den Einkommensniveaus zu verringern?« Anteil »stimme stark zu« und »stimme zu«. Sie lag in Westdeutschland bei durch- Datenbasis: ESS 2002 – 2018 schnittlich 63 % und in Ostdeutschland bei durchschnittlich 80 %. Die Differenz zwischen Osten und Westen war dabei deutlich größer als bei den Einstellungen Bürger auf die sozialen Leistungskürzun- zur Versorgung von Kranken und Alten zur sozialen Sicherung. Der höhere Wert gen und Abbaumaßnahmen im Zuge der markiert, dass die Bürgerinnen und Bür- im Osten kann unter anderem damit Agenda 2010 zumindest temporär mit ger in diesen Bereichen nicht zu einer erklärt werden, dass geringe Einkom- einer Reduktion ihrer Ansprüche im Anpassung ihrer Ansprüche nach unten mensunterschiede ein charakteristisches Bereich der Versorgung von Arbeitslosen bereit sind und die staatliche Verantwor- Merkmal des sozialistischen Systems der reagiert. Die Stabilität der Einstellungen tung hier weiterhin stark einfordern. DDR waren. u Abb 4 391
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat In Westdeutschland nahm die Zu- der steigenden Ungleichheit und der da- 11.2.6 Einstellungen verschiedener stimmung zur Rolle des Staates beim Ab- mit verbundenen Debatte um soziale Ge- Bevölkerungsgruppen zur Rolle bau von Einkommensunterschieden von rechtigkeit mit zunehmenden Forderun- des Staates 48 % im Jahr 2002 praktisch kontinuier- gen nach staatlichen Aktivitäten zur Re- Der unterschiedliche Stellenwert dieser lich bis auf 73 % im Jahr 2018 zu. In Ost- duktion der Einkommensunterschiede. beiden sozialstaatlichen Aufgaben, der deutschland, wo bereits im Jahr 2002 mit Auffällig ist, dass die Westdeutschen mit sozialen Absicherung einerseits und des 76 % die überwiegende Mehrheit der einer sehr viel stärkeren Anspruchszu- Abbaus von Einkommensunterschieden Bürgerinnen und Bürger dieser Aufgabe nahme reagierten. Zwischen 2002 und andererseits, manifestiert sich in den Ein- zustimmte, stieg diese Zustimmung im 2018 nahmen die Ost-West-Differenzen stellungen verschiedener Bevölkerungs- Zeitverlauf noch etwas an: Im Jahr 2018 daher ab. Im letzten Erhebungsjahr 2018 gruppen. Für die soziale Absicherung, den waren 81 % für den Abbau von Einkom- war der Anteil mit Zustimmung unter sogenannten institutionellen Kern des mensunterschieden. Ganz offenbar be- den Ostdeutschen aber nach wie vor hö- Sozialstaats, wird wie zuvor zwischen den gegneten die Bürgerinnen und Bürger her als unter den Westdeutschen. Einstellungen bezüglich der Versorgung u Tab 3 Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Rolle des Staates 2016 und 2018 — in Prozent »Der Staat sollte »Der Staat sollte verant- »Der Staat sollte verant- »Sollte der Staat verantwortlich sein, wortlich sein, den alten wortlich sein, den Arbeits- Maßnahmen ergreifen, gesundheitliche Menschen einen angemes- losen einen angemes- um Unterschiede in den Versorgung für Kranke senen Lebensstandard zu senen Lebensstandard zu Einkommensniveaus zu sicherzustellen.« ¹ sichern« ¹ sichern.« ¹ verringern?« ² 2016 2016 2016 2018 West Ost West Ost West Ost West Ost Insgesamt 98 98 96 97 73 71 73 81 Geschlecht Männer 97 98 95 97 72 72 69 78 Frauen 98 98 97 96 73 71 76 82 Altersgruppen 18 – 34 Jahre 99 98 95 97 69 65 71 80 35 – 59 Jahre 98 98 97 96 71 71 71 79 ab 60 Jahren 96 98 95 97 77 75 76 83 Berufliche Stellung ³ Selbstständige 97 / 94 / 63 / 59 64 abhängig Beschäftigte 99 98 97 96 72 65 71 81 Arbeitslose / 97 / 100 / 91 80 / Rentner / -innen, 96 98 95 97 78 75 76 84 Pensionäre / Pensionärinnen Ideologische Orientierung links 99 99 95 97 78 78 80 94 Mitte 98 98 96 96 72 68 70 80 rechts 97 97 96 99 67 66 69 51 Parteipräferenz CDU / CSU 97 97 95 93 66 67 66 65 SPD 98 99 96 98 77 79 76 84 FDP 96 / 92 / 65 / 66 / Bündnis 90 / Die Grünen 99 100 96 96 80 75 81 / Die Linke 98 100 98 99 77 73 89 100 AfD 95 94 97 97 67 67 / / 1 Anteil »auf jeden Fall verantwortlich sein« und »verantwortlich sein«. 2 Anteil »stimme stark zu« und »stimme zu«. 3 Nichterwerbspersonen sind nicht ausgewiesen. / Fallzahl zu gering (N < 30). Datenbasis: ALLBUS 2016; ESS 2018 392
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11 von Kranken und Älteren sowie dem Er- Sehr ähnlich sieht es bei der staat halt des Lebensstandards von Arbeitslosen lichen Aufgabe des Abbaus von Einkom- unterschieden. Für die Kranken- und Al- mensunterschieden aus. Im Westen wich tersversorgung lassen sich weder im Osten einerseits die Gruppe der Selbstständigen noch im Westen Deutschlands Unterschie- mit geringeren Zustimmungswerten vom de bei den verschiedenen Bevölkerungs- Durchschnitt ab und andererseits spra- gruppen – nach Geschlecht, Alter, berufli- chen sich die Anhängerinnen und An- cher Stellung, ideologischer Orientierung hänger von der Partei Die Linke sowie (links-rechts) und Parteipräferenz – auffin- Bündnis 90 / Die Grünen überdurch- den. Insgesamt liegt bei dieser Aufgabe ein schnittlich für eine staatliche Zuständig- Konsens zwischen den Vertreterinnen keit beim Abbau von Einkommensunter- und Vertretern der klassischen Konflikt schieden aus. Diese egalitäre Aufgabe des linie »Kapital versus Arbeit« vor, also zwi- Sozialstaats steht damit im Schnittpunkt schen den Selbstständigen und Arbeitern, der klassischen Konfliktlinie zwischen zwischen Rechten und Linken und zwi- Kapital und Arbeit und wird von den schen Anhängerinnen und Anhängern Vertreterinnen und Vertretern beider Sei- a ller Parteien. Abweichende Meinungen ten vergleichsweise kontrovers beurteilt. lassen sich allerdings bezüglich der Ver- Im Osten war eine nennenswerte Abwei- sorgung von Arbeitslosen feststellen. Es chung vom Bevölkerungsdurchschnitt überrascht dabei wenig, dass Arbeitslose bei den Bürgerinnen und Bürgern, die selbst in Ostdeutschland überdurchschnitt- sich einer linken ideologischen Orien lich die Verantwortung ihrer Versorgung tierung zuordnen, festzustellen: Unter beim Staat verorteten und in Westdeutsch- ihnen befürworteten 94 % den Abbau land die Gruppe der Selbstständigen zwar von Einkommensunterschieden. Im Ver- immer noch in der Mehrheit, aber deut- gleich dazu stimmten dem lediglich 51 % lich geringer zustimmte. In beiden Lan- mit e iner rechten ideologischen Orientie- desteilen zeigt sich auch, dass die Zustim- rung zu. mung bei Bürgerinnen und Bürgern mit Die Analysen zu den Einstellungen zu linker ideologischer Orientierung und Demokratie und Sozialstaat haben gezeigt, einer Präferenz für Parteien aus dem lin- dass es bei den Einstellungen zur Demo- ken Spektrum (Die Linke, Bündnis 90 / kratie in Deutschland immer noch be- Die Grünen, SPD) im Vergleich zu An- trächtliche Unterschiede zwischen Wes- hängerinnen und Anhängern des rechten ten und Osten gibt, während sich die Ein- politischen Spektrums (FDP, CDU / CSU, stellungen zum Sozialstaat auf einem AfD) sowie mit rechter ideologischer Ori- hohen Zustimmungsniveau einander an- entierung ausgeprägter war. u Tab 3 genähert haben. 393
Sie können auch lesen