11 Politische und gesellschaftliche Partizipation - Auszug aus dem Datenreport 2021 - Kapitel 11: Politische und gesellschaftliche ...

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11
Politische und
gesellschaftliche Partizipation
Auszug aus dem
Datenreport 2021

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11 Politische und gesellschaftliche Partizipation - Auszug aus dem Datenreport 2021 - Kapitel 11: Politische und gesellschaftliche ...
Politische und
gesellschaftliche Partizipation
                              In einer sich immer stärker sozial und       bereits erreichtes Ausmaß an politischer
 11.1                         kulturell differenzierenden Gesellschaft     Integration und Partizipation zurückfällt,
 Politische                   wie der der Bundesrepublik Deutschland
                              ist die Frage der politischen Integration
                                                                           kann dies jedoch als ein Warnsignal für
                                                                           die Demokratie gedeutet werden. Ebenso
­Integration und              und der sozialen Teilhabe von zentraler      können große soziale und regionale Un-
 politisches                  Bedeutung für den Zusammenhalt und
                              Erhalt der Demokratie. Demokratie be-
                                                                           terschiede in der Beteiligung der Bürge-
                                                                           rinnen und Bürger an der Politik darauf
 Engagement                   deutet die Möglichkeit der gleichen Teil-    verweisen, dass eine gleichmäßige Integ-
                              habe an den politischen Willensbildungs-     ration in die Politik nicht gelingt. Treten
                              und Entscheidungsprozessen. Durch            soziale Disparitäten in der Beteiligung
Bernhard Weßels
                              gleiche Wahlen bestimmen die Bürgerin-       auf, ist ein Grundprinzip der Demokratie,
Wissenschaftszentrum Berlin
                              nen und Bürger ihre politischen Reprä-       das der politischen Gleichheit, verletzt.
für Sozialforschung (WZB)
                              sentanten, durch politische Beteiligung          Die Debatten über die »Mitglieder­
                              können sie Einfluss auf die Politik neh-     krise« von Großorganisationen wie Par-
WZB / SOEP                    men. Unter politischer Integration ver-      teien und Gewerkschaften, über Politik-
                              steht man den Prozess, in dessen Verlauf     und Parteienverdrossenheit sowie über
                              sich die Bürgerinnen und Bürger durch        sozial bedingte politische Ungleichheit
                              ihre eigene politische Beteiligung in die    legen es nahe, danach zu fragen, ob sich
                              politische Willensbildung einbringen         die Bürgerinnen und Bürger der Bundes-
                              und dadurch sowohl die demokratischen        republik heute weniger politisch beteili-
                              »Spielregeln« anerkennen als auch Loya-      gen als früher und ob sich Unterschiede
                              litätsbeziehungen gegenüber den politi-      zwischen sozialen, demografischen oder
                              schen Institutionen und Akteuren ent­        regionalen Gruppen ergeben. Sozial in-
                              wickeln. Demokratie braucht Beteiligung,     duzierte Ungleichheit in der politischen
                              und Beteiligung ohne zivilgesellschaft­      Teilhabe ist in den vergangenen Jahren
                              liche Akteure ist kaum denkbar. Wie viel     zunehmend in der Diskussion. In demo-
                              Beteiligung nötig ist, bleibt eine offene    grafischer Hinsicht ist insbesondere der
                              Frage. Die Unterschiede bei politischer      Blick auf jüngere A­ ltersgruppen und ihr
                              Beteiligung und der Stärke der Zivil­        »Hineinwachsen« in die Demokratie von
                              gesellschaft zwischen den demokrati-         Interesse. Zudem stellt sich selbst fast
                              schen Gesellschaften zeigen, dass es keine   drei Jahrzehnte nach der deutschen Ver-
                              eindeutige empirische Messlatte dafür        einigung die Frage, ob die Bürgerinnen
                              gibt. Wenn eine Gesellschaft hinter ein      und Bürger in den neuen Bundesländern

                                                                                                                         379
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation                 11.1 / Politische Integration und politisches Engagement

      in vergleichbarer Weise politisch integriert                         verändert. Zum Zeitpunkt der deutschen                          Deutliche Unterschiede beim Interesse
      sind und einen ähnlich starken Zugang                                Vereinigung 1990 war er in den alten                        an der Politik zeigen sich zwischen jünge-
      zum politischen Willensbildungsprozess                               Bundesländern am höchsten und sank                         ren und älteren Bürgerinnen und Bürgern.
      finden wie die der a­ lten Bundesländer.                             dann wieder ab. Allerdings lag das Ni-                     Die 18- bis 29-jährigen West- und Ost-
                                                                           veau weiterhin höher als Anfang der                        deutschen sind deutlich seltener politisch
      11.1.1 Politisches Interesse und                                     1980er-Jahre. Das politische Interesse                     interessiert als der Durchschnitt der Bür-
      ­politische Partizipation                                            stieg in den vergangenen Jahren insge-                      gerinnen und Bürger. Dieser Unterschied
      Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger                             samt wieder deutlich, sodass es 2014 den                    entstand nach 1990. Davor interessierten
       an Politik ist ein wichtiger Gradmesser                             Stand von 1990 erstmals wieder übertraf                     sich Jüngere nur geringfügig weniger für
      dafür, inwieweit sie das politische Gesche-                          und mit leichten Schwankungen auch bis                     Politik. Im Durchschnitt der Jahre 1990
      hen registrieren und an ihm teilnehmen,                              2018 auf diesem Niveau blieb. Das politi-                   bis 2018 lag der Anteil der 18- bis 29-Jäh-
      das heißt, ob Politik für die Bürgerinnen                            sche Interesse war in den alten Bundes-                    rigen, die sich für Politik interessierten,
      und Bürger wichtig genug ist, um sich da-                            ländern 2018 leicht höher als zu seinem                    in den alten Bundesländern 10 Prozent-
      rüber zu informieren und sich gegebenen-                             Höhepunkt 1990. Der langfristige Ver-                      punkte und in den neuen Bundesländern
      falls dafür zu engagieren. Das politische                            gleich zeigt, dass heute mehr Bürgerin-                    8 Prozentpunkte unter dem jeweiligen
      Interesse wird durch die Frage »Wie stark                            nen und Bürger am politischen Gesche-                      Bevölkerungsdurchschnitt. In den ver-
      interessieren Sie sich für Politik: sehr stark,                      hen interessiert sind als noch Ende der                     gangenen Jahren ist der Unterschied in
       stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?«                         1960er-Jahre. So waren 1969 lediglich                      den alten Bundesländern etwas kleiner
       bereits seit 1969 in repräsentativen Bevöl-                         18 % stark oder sehr stark an Politik inte-                 geworden, blieb aber 2018 mit 5 Prozent-
      kerungsumfragen erfasst.                                             ressiert. In Ostdeutschland waren die                      punkten immer noch deutlich sichtbar.
           In den vergangenen Jahrzehnten hat                              Bürgerinnen und Bürger bis etwa 2010 et-                        Noch größer als die Differenz zwi-
       sich der Anteil derjenigen, die sich stark                          was weniger politisch interessiert als in                   schen jüngerer Bevölkerung und Bevölke-
      oder sogar sehr stark für Politik interes-                           Westdeutschland. Seit 2010 ist dieser Un-                  rungsdurchschnitt ist jene zwischen Per-
       sieren, beständig und sehr dynamisch                                terschied sehr klein. u Abb 1                               sonen mit Abitur und dem Bevölkerungs-
                                                                                                                                      durchschnitt. Unter den Bürgerinnen und
                                                                                                                                      Bürgern mit Abitur lag der Anteil derje-
                                                                                                                                      nigen, die sich stark oder sehr stark für
                                                                                                                                     ­Politik interessierten, 2018 in den alten
      u    Abb 1    Politisches Interesse in der Bundesrepublik 1980 – 2018 — in Prozent
                                                                                                                                      Bundesländern bei 55 % und in den neuen
                                                                                                                                      Bundesländern bei 53 %. Damit lagen
      70                                                                                                                              Personen mit Abitur im Westen wie im
                                                                                                                                      Osten etwas mehr als 15 Prozentpunkte
      60                                                                                                                              über dem Bevölkerungsdurchschnitt.
                                                                                                                                      Das politische Interesse ist also deutlich
                                                                                                                                      durch Alters- und Bildungsunterschiede
      50
                                                                                                                                       geprägt, wohingegen regionale Unter-
                                                                                                                                       schiede zwischen den neuen und alten
      40
                                                                                                                                      Bundesländern kaum festzustellen sind.
                                                                                                                                     Zugleich schwankten die Unterschiede
      30                                                                                                                              im politischen Inte­resse zwischen der
                                                                                                                                      Gesamtbevölkerung und Bürgerinnen
      20                                                                                                                              und Bürgern mit Abitur im Zeitverlauf.
                                                                                                                                      Die Differenz lag im Schnitt bei etwa
      10                                                                                                                             20 Prozentpunkten. Ein Trend lässt sich
                                                                                                                                      ­dabei aber nicht fest­stellen. Eine Zu- oder
       0
                                                                                                                                     Abnahme bildungsbedingter Unterschie-
              1982       1986        1990       1994       1998        2002       2006       2010      2014   2018                     de im politischen ­Interesse ist seit der
              Westdeutschland insgesamt              Westdeutschland Abitur            Westdeutschland 18–29 Jahre
                                                                                                                                       ersten Allgemeinen Bevölkerungsumfra-
              Ostdeutschland insgesamt               Ostdeutschland Abitur             Ostdeutschland 18–29 Jahre                      ge in den Sozialwissenschaften (ALLBUS)
                                                                                                                                     1980 also nicht festzustellen.
                                                                                                                                           Politisches Interesse ist sicherlich för-
      Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet.
      Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2018                                                                                                  derlich für politische Beteiligung. Das

380
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

Repertoire der Beteiligungsformen hat sich                                       sem Zusammenhang wurde von einer                           ­ olitikern, sowie, noch deutlicher, der Mit-
                                                                                                                                            P
über klassische institutionalisierte Formen                                   »partizipatorischen Revolution« gespro-                       arbeit in einer Organisation oder einem
wie Wahlen hinaus in den vergangenen                                             chen, mit der sich nicht nur in Deutsch-                   Verein. In den alten Bundesländern ver-
Jahrzehnten stark ausgeweitet. Neben orga-                                       land, sondern in allen modernen Demo-                      zeichnete auch die Beteiligung an Unter-
nisatorischen Formen der Beteiligung wie                                         kratien nicht institutionalisierte Formen                  schriftensammlungen einen klaren Trend
der Mitarbeit in Parteien, Bürgerinitiativen,                                    der politischen Beteiligung etablierten.                   nach oben. Bei Politikerkontakten (2018
Vereinen und Organisationen nutzen Bür-                                             Die Anteile derjenigen, die angaben,                    etwa 20 %) und der Mitarbeit in Organisa-
gerinnen und Bürger vermehrt Formen                                              an den beiden häufigsten Formen nicht                      tionen oder Vereinen (2018 etwa 32 %) gab
nicht institutionalisierter politischer Betei-                                 ­institutionalisierter Beteiligung – Unter-                  es keine Unterschiede zwischen den alten
ligung wie die Kontaktaufnahme zu Politi-                                        schriftensammlungen und Demonstratio-                      und den neuen Bundesländern. Auch bei
kerinnen und Politikern, Unterschriften-                                        nen – mitgewirkt zu haben, waren in den                     den anderen Formen der Beteiligung wie
sammlungen und Demonstrationen, um                                            1990er-Jahren recht stabil. Seit der Jahrtau-                 die Beteiligung an Unterschriftensamm-
ihren Interessen Ausdruck zu verleihen.                                          sendwende zeigt sich in den alten wie den                  lungen, Demonstrationen oder Parteien
Diese Arten politischer Aktivität haben                                         ­neuen Bundesländern eine mehr oder                         beziehungsweise Bürgerinitiativen waren
in Deutschland seit Ende der 1950er-Jah-                                      ­m inder als Trend verlaufende Zunahme                        die Unterschiede eher marginal und wei-
re kontinuierlich zugenommen. In die-                                         von Kontakten zu Politikerinnen und                           sen kein systematisches Muster auf. u Abb 2

u   Abb 2     Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung 2002 – 2018 — in Prozent

    Westdeutschland
                                                                                   39 40
                                                                              36
                                                     33                  33
                                                31                                                                                                                                             31        32 32
                                                               29 30                                                                                                                                29
                                                          27
                                                                                                                                                                                     24 25
                                          20                                                                                                                               21 20
                                     18                                                                                                                              18
    14           15 15 15 16
         11 12                                                                                                  11
                                                                                           10
                                                                                                8          9 10    9
                                                                                                     7 8 8
                                                                                                                                4           5 4 5 5
                                                                                                                                    3 4 4 4

    2002 2006 2010 2014 2018                   2002 2006 2010 2014 2018                    2002 2006 2010 2014 2018            2002 2006 2010 2014 2018              2002 2006 2010 2014 2018
         Politiker /-in kontaktiert                  Unterschriftensammlung                         Demonstrationen             Parteiarbeit, Bürgerinitiative        Arbeit in Verein / Organisation

  Ostdeutschland

                                                35                                 36 36
                                                     33 32               33
                                                                                                                                                                                                              32
                                                               30             30
                                                                                                                                                                                                         29
                                                                    26
                                                                                                                                                                                               25
                                                                                                                                                                                          23
                                                                                                                                                                                     22             22
                                          19                                                                                                                          20        20
                                                                                                                                                                           19
                                     17
                 16
    14 13 14          15        15
                                                                                           13 12                      13
                           11
                                                                                                     9                     9
                                                                                                         7 7 8 6                                                 6
                                                                                                                                       5
                                                                                                                                4 4        3 3 3 3 4

    2002 2006 2010 2014 2018                   2002 2006 2010 2014 2018                    2002 2006 2010 2014 2018            2002 2006 2010 2014 2018              2002 2006 2010 2014 2018
         Politiker/-in kontaktiert               Unterschriftensammlung                             Demonstrationen             Parteiarbeit, Bürgerinitiative       Arbeit in Verein / Organisation

     nicht institutionalisierte Beteiligung               organisatorische Beteiligung

Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Datenbasis: European Social Survey 1– 9 (2002 – 2018)

                                                                                                                                                                                                                   381
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation                       11.1 / Politische Integration und politisches Engagement

      u Abb 3 Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung                                                           Etwa eine beziehungsweise einer von
      nach Bildung, Region und Alter 2018 — in Prozent                                                                                     fünf Bürgerinnen und Bürgern hatte 2018
                                                                                                                                           in den vergangenen zwölf Monaten eine
                                                                                                                                           Politikerin oder einen Politiker kontak-
                                   mit /ohne Hochschulabschluss
                                                                                                                                           tiert. Mehr als jede / jeder Dritte hatte
                   Politiker/-in                                    18                                                                     sich an einer Unterschriftensammlung
                   kontaktiert                                                   28                                                        beteiligt und etwa jede / jeder Zehnte an
                                                                                                                                           einer Demonstration. Bei den institutio-
               Unterschriften-                                                                 37
                   sammlung                                                                                        53                      nalisierten Beteiligungsformen wie der
                                                                                                                                           Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen
             Demonstrationen                        8                                                                                      lagen die Anteile bei etwa 5 %.
                                                                   17
                                                                                                                                               Werden die Werte zwischen Ost und
                 Parteiarbeit,              4                                                                                              West, zwischen Menschen mit und ohne
               Bürgerinitiative                     8
                                                                                                                                           Hochschulabschluss sowie zwischen Jün-
              Arbeit in Verein /                                                  29                                                       geren und Älteren 2018 verglichen, waren
                 Organisation                                                                                 45                           die regionalen Unterschiede am gerings-
                                                                                                                                           ten und nahezu vernachlässigbar. Die
                                      ohne              mit                                                                                politische Integration und Teilhabe wa-
                                                                                                                                           ren in den neuen und alten Bundeslän-
                                                                                                                                           dern gleich hoch ausgeprägt. Dasselbe
                                   West / Ost
                                                                                                                                           lässt sich allerdings nicht für die Unter-
                   Politiker/-in                                         20                                                                schiede zwischen Bildungsgruppen sagen.
                   kontaktiert                                          19                                                                 Hier zeigt sich bei allen Formen der Be-
               Unterschriften-                                                                      40
                                                                                                                                           teiligung eine sehr viel stärkere Beteili-
                   sammlung                                                                   36                                           gung von Menschen mit Hochschulab-
                                                                                                                                           schluss. Der Unterschied zwischen den
             Demonstrationen                        9
                                                    9                                                                                      Bildungsgruppen lag 2018 bei der Arbeit in
                                                                                                                                           Vereinen und Organisationen sowie bei
                 Parteiarbeit,              5                                                                                              der Beteiligung an Unterschriftensamm-
               Bürgerinitiative                 6
                                                                                                                                           lungen bei 16 Prozentpunkten, bei der
              Arbeit in Verein /                                                         32                                                Kontaktaufnahme mit Politikerinnen
                 Organisation                                                            32
                                                                                                                                           und Politikern waren es 10 Prozentpunk-
                                                                                                                                           te, bei Demonstrationsteilnahmen 9 Pro-
                                      West              Ost                                                                                zentpunkte und bei der Mitarbeit in Par-
                                                                                                                                           teien oder Bürgerinitiativen lagen Bürger
                                   Jüngere /Ältere                                                                                         und Bürgerinnen mit einem Hochschul-
                                                                                                                                           abschluss 4 Prozentpunkte vorn. u Abb 3
                   Politiker/-in                          12                                                                                   Der Vergleich zwischen jüngeren Bür-
                   kontaktiert                                            21
                                                                                                                                           gerinnen und Bürgern im Alter von 18
               Unterschriften-                                                                           42                                bis 29 Jahren und Älteren ab 30 Jahren
                   sammlung                                                                        39                                      zeigt, dass es über die verschiedenen For-
                                                                                                                                           men der Beteiligung hinweg keinen allge-
             Demonstrationen                                  13
                                                    9                                                                                      meinen Unterschied zwischen den beiden
                                                                                                                                           Gruppen gab. Es waren nicht immer die
                 Parteiarbeit,          3
               Bürgerinitiative
                                                                                                                                           Jüngeren, die sich stärker beteiligten,
                                            5
                                                                                                                                           vielmehr kam es auf die Art der Beteili-
              Arbeit in Verein /                                                27                                                         gung an. Demonstrationen als Mittel der
                 Organisation                                                            33
                                                                                                                                           Beteiligung wurden 2018 in den letzten
                                                                                                                                           zwölf Monaten von 13 % der Jüngeren ge-
                                      18- bis 29-Jährige                  ab 30 Jahren
                                                                                                                                           nutzt, aber nur von 9 % der Älteren und
                                                                                                                                           auch bei der Unterschriftensammlung
      Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
      Datenbasis: European Social Survey 9, 2018                                                                                           war die Beteiligung der Jüngeren leicht

382
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

höher. Bei anderen Beteiligungsformen             essengruppen und politischen Parteien                   auf Organisationsmitgliedschaften ver-
waren Personen in einem Alter von 30 Jah-         dadurch aus, dass sie in der Regel lang-               teilte sich die Teilhabe also ungleich zu-
ren und älter stärker aktiv als die Jünge-        fristig sind. Verliert die Mitgliedschaft in            gunsten der Bessergebildeten.
ren. Sie nahmen fast doppelt so häufig            Interessengruppen und politischen Par-                      Die langfristige Entwicklung der Mit-
Kontakt zu Politikerinnen und Politikern          teien für die Einzelne beziehungsweise                  gliedschaften der Bürgerinnen und Bürger
auf und waren auch deutlich häufiger in           den Einzelnen an Attraktivität, so ist dies            in Deutschland lässt sich aufgrund verän-
Parteien und Bürgerinitiativen sowie in           zunächst ein Warnsignal für die jeweilige              derter Frageformate in den ALLBUS-
Organisationen und Vereinen aktiv. Was            Organisation. Nehmen die Mitglied-                     Studien zwar nicht über alle Organisations­
die Ausgeglichenheit der politischen Inte-        schaften jedoch in großem Umfang über                  bereiche hinweg beurteilen. A  ­ llerdings ist
gration und politischen Teilhabe angeht,          viele Organisationen hinweg ab, weist                  eine solche Beurteilung hinsichtlich der
ergibt sich damit ins­gesamt ein gemisch-         dies darüber hinaus auch auf generelle                 Gewerkschaftsmitgliedschaften möglich.
tes Bild. Die großen U
                     ­ nter­schiede zwischen      Probleme der Interessenvermittlung in                  Der massive Rückgang von Gewerk-
Ost und West sind verschwunden, auch              einem politischen Gemeinwesen hin.                      schaftsmitgliedern in den neuen Bundes-
die Unterschiede zwischen Jüngeren und                Im internationalen Vergleich zeichnet              ländern in den Jahren 1992 bis 1998
Älteren verweisen nicht auf Defizite poli­        sich Westdeutschland durch einen recht                  schwächte sich zwar im Anschluss deut-
tischer Integration. Anders zu beurteilen         hohen Organisationsgrad aus. In West­                  lich ab, setzte sich aber bis etwa 2008 fort.
ist das Gefälle in der Beteiligung von            europa sind nur die Bürgerinnen und                    Seitdem scheint sich der gewerkschaftliche
Menschen mit und ohne Hochschulbil-               Bürger der Niederlande und der skandi-                 Organisationsgrad der erwachsenen Be-
dung. Hier zeigen sich über alle Beteili-         navischen Länder stärker organisiert.                  völkerung mit leichten Schwankungen
gungsformen hinweg systematische Un-              Jüngere Daten für 2010, 2014 und 2018                   auf gleichem Niveau zu halten. Die
terschiede, die als sozial induzierte politi-     sind aufgrund unterschiedlicher Erhe-                  Anfang der 1990er-Jahre noch stark aus-
sche Ungleichheit zu bewerten sind.               bungsverfahren nicht mit früheren Daten                 geprägten Unterschiede zwischen Ost
                                                  vergleichbar und erlauben daher keine                  und West im durchschnittlichen Organi-
11.1.2 Bindung an Interessen­                     Schlussfolgerungen über die langfristige                sationsgrad sind fast verschwunden.
gruppen und politische Parteien                   Mitgliederentwicklung. Es gibt aber Hin-               Auch die große Kluft zwischen der jünge-
Die Mitgliedschaft in Interessengruppen           weise, die vermuten lassen, dass die Mit-              ren Bevölkerung der 18- bis 29-Jährigen
und politischen Parteien ist ein weiterer         gliedschaft in Interessengruppen weiter                und dem Durchschnitt der Bevölkerung,
Indikator für die Integration der Bürge-          zurückgegangen ist. Der Anteil nicht ak-               der in Westdeutschland besonders
rinnen und Bürger in den politischen              tiver Mitgliedschaften lag 2014 und 2018               d­e utlich 2004 und in Ostdeutschland
Prozess. Diese Organisationen sind häufig         deutlich niedriger als 2010. u Tab 1                   ­b esonders 2008 zu beobachten war, hat
durch gesellschaftliche Selbstorganisation            Regionale Unterschiede zwischen Ost                 sich verringert. Bildungsunterschiede im
entstanden und dienen dem Zweck der               und West bezüglich der Teilnahme in                     gewerkschaftlichen Organisationsgrad
Vertretung gemeinsamer politischer,               Freizeitorganisationen und Vereinen wa-                fielen – anders als bei politischem Inter-
wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller       ren relativ konstant – in Westdeutsch-                 esse, politischer Beteiligung und anderen
Interessen. Interessengruppen setzen sich         land lag der Mitgliedschaftsanteil zwi-                Mitgliedschaften – leicht zugunsten von
auf verschiedene Weise für die Anliegen           schen 8 und 11 Prozentpunkten höher,                   Bürgerinnen und Bürgern ohne Hoch-
ihrer Mitglieder ein, zum Beispiel durch          und zwar sowohl bei den bloßen wie den                  schulabschluss aus. Akademikerinnen
das Einwirken auf Parteien, Parlamente,           aktiven Mitgliedschaften. Bezogen auf                  und Akademiker waren 2018 lediglich zu
Regierungen und Behörden oder die Öf-             die Mitgliedschaft in Interessengruppen                knapp 10 % gewerkschaftlich ­organisiert
fentlichkeit im Allgemeinen. Politische           ist der Abstand zwischen Ost und West                  und lagen damit nur knapp unter dem
Parteien sind unmittelbare Akteure des            von 2010 auf 2014 und 2018 größer ge-                  Durchschnitt. Bei den Gewerkschaftsmit-
Regierungssystems. Da die Mitgliedschaft          worden. Im Altersvergleich wichen die                   gliedschaften zeigen sich damit zwar kei-
freiwillig ist, ist der Grad, zu dem Bürge-       Jüngeren hinsichtlich ihrer Mitglied-                  ne deutlichen regionalen, sozialen oder
rinnen und Bürger sich in Interessen­             schaftsanteile in Organisationen ohne                  demo­grafischen Ungleichheiten mehr. Die
gruppen und politischen Parteien orga­            Gewerkschaften und politische Parteien                 Integrationskraft hat aber dennoch nach-
nisieren, ein zentrales Merkmal der poli-         kaum vom Durchschnitt der Bürgerin-                     gelassen, insbesondere, wenn die ostdeut-
tischen Integration. Anders als die               nen und Bürger ab. Jedoch lassen sich                   sche Entwicklung betrachtet wird. u Abb 4
Wahlbeteiligung oder Formen nicht ins-            nach Bildungs­abschluss deut­liche Diffe-                   Die Mitgliedschaft in politischen
titutionalisierter Beteiligung, die für die       renzen beobachten. Hier ergaben sich                   Parteien verzeichnete sogar eine noch
Einzelne beziehungsweise den Einzelnen            deutlich höhere Anteile für Akademike-                 dramatischere Entwicklung. Die starken
singuläre Ereignisse bleiben können,              rinnen und Akademiker als für den Be-                  Mitgliederrückgänge bei den Gewerk-
zeichnen sich Mitgliedschaften in Inter-          völkerungsdurchschnitt. Auch bezogen                    schaften seit der Vereinigung fielen im

                                                                                                                                                               383
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation                    11.1 / Politische Integration und politisches Engagement

      u   Tab 1      Mitgliedschaft in Organisationen 2010, 2014 und 2018 — in Prozent

                                                             Deutschland insgesamt                                         Westdeutschland                                    Ostdeutschland
                                                                                aktives Mitglied /                                      aktives Mitglied /                               aktives Mitglied /
                                                       nur Mitglied ¹                                          nur Mitglied ¹                                       nur Mitglied ¹
                                                                                   Ehrenamt ¹                                              Ehrenamt ¹                                       Ehrenamt ¹
                                                   2010 2014          2018 2010          2014 2018         2010 2014          2018 2010          2014 2018        2010 2014    2018 2010       2014   2018

          Arbeit und Wirtschaft ²
            Gewerkschaften ³                         12       13       12          .        .         .      12       14       13          .        .         .    9      9     10                .      .
          Politisch oder wertgebunden ²
            politische Parteien                       3        5         4         .        .         .       2        5         5         .        .         .    7      2          2    .       .      .
            Menschenrechtsorganisationen              1        2         2        1        1         1        2        2         2        1        1          1    1      1          1    0      1       0
            Naturschutzorganisationen                 6        6         6        2        3         3        7        7         6        2        3          3    4      3          3    2      3       2
            Bürgerinitiativen                         1        1         1        1        1         1        2        1         1        1        2          1    1      0          1    1      1       1
            Wohltätigkeitsvereine                    10        7         6        5        7         6       11        8         7        5        8          6    6      3          3    3      4       2
            Elternorganisationen                      4        1         1        3        4         3        4        1         1        3        4          3    3      1          1    2      4       2
            Selbsthilfe / Gesundheit                  5        2         3        3        3         3        5        2         3        3        3          3    4      2          1    3      3       2
            Rentner-, Seniorenvereine                 2        1         1        1        2         1        2        1         1        1        2          1    3      1          0    2      2       1
          Freizeit
            Kultur-, Musikvereine                    12        4         5        9        8       10        14        5         4       10        8          6    8      1          1    6      7       6
            Sportvereine                             29       10         9       22       22       25        32       11       10        24       23         26   22      3          4   18     20     19
            sonstige Hobbyvereine                    10        2         2        8        9         7       11        3         2        8        9          8    9      1          1    8      8       5
          Mindestens einmal Mitglied
            alle gelisteten Organisationen           56       37       37                             .      59       40       40          .        .         .   50     22     24        .       .      .
            alle gelisteten, ohne Parteien
                                                     50       26       27        39       39       46        53       29       31        40       43         48   43     14     14       34     36     36
            und Gewerkschaften
            - im Vergleich:
                                                     47       21       24        40       41       48        48       22       25        41       43         48   45     15     16       37     33     43
              Jüngere (18 – 29 Jahre)
            - im Vergleich:
                                                     63       37       30        48       52       58        67       41       32        50       52         60   58     24     19       48     51     49
              mit Hochschulabschluss
            Freizeitorganisationen                   41       14       14        33       33       35        45       16       16        35       34         37   33      5          6   28     29     26

      Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
      1 In »nur Mitglied« sind aktive und ehrenamtliche Mitgliedschaft nicht enthalten. Daten ergeben, wo erfasst, in der Summe den Mitgliedschaftsanteil.
      2 Als Interessengruppen gelten Organisationen aus den Kategorien »Arbeit und Wirtschaft« sowie »Politisch oder wertgebunden«.
      3 Für 2010 Daten von 2008.
      . Nicht erhoben.
      Datenbasis: ALLBUS 2008, 2010 und 2014

      Vergleich zu denen der politischen Parteien                             Lage sein werden, ihren Beitrag zur poli-                                 Bürgerinnen und Bürger nach wie vor
         noch moderat aus. Anhand der von den                                 tischen Willensbildung und politischen                                    eine große Rolle, ein vollständiger Rück-
       Parteien berichteten Mitglieder­z ahlen                                Integration zu leisten.                                                   zug findet nicht statt. Das politische In-
         lässt sich nachvollziehen, dass diese                                                                                                          teresse erreichte in Ost und West sogar
       ­innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten                                 11.1.3 Zusammenfassung                                                    einen Höchststand. Unter den nicht ins-
         etwa eine Million und damit etwa 40 %                                Zusammengefasst verweisen die Ergeb-                                      titutionalisierten Formen politischer Be-
        ­ihrer Mitglieder verloren haben. Während                             nisse einerseits darauf, dass der Grad                                    teiligung stechen Demonstrationen her-
      1990 noch 3,8 % der Wahlberechtigten in                                 ­p olitischer Integration bezogen auf die                                 vor. Hier spielen soziale Bewegungen
         politischen Parteien organisiert waren,                              traditionellen, organisatorischen Formen                                  oder bewegungsähnliche Organisations-
      ­waren es 2018 nicht einmal mehr 2 %. u Abb 5                            der Beteiligung, allen voran Mitglied-                                   formen wie »Fridays for Future« eine
             Nimmt man alle Interessenorganisa-                                schaften in Gewerkschaften und politi-                                   zentrale Rolle.
       tionen einschließlich Gewerkschaften                                    schen Parteien, in den vergangenen zwei                                      Dass die Unterschiede zwischen neuen
       und politischer Parteien zusammen, sind                                Jahrzehnten deutlich zurückgegangen ist.                                  und alten Bundesländern ebenso wie
         das drastische Entwicklungen, die die                                     Interessengruppen und Parteien ver-                                  die zwischen Jüngeren und der Gesamt­
       Frage aufwerfen, ob und inwieweit                                       lieren an Mitgliederattraktivität. Ande-                                 bevölkerung sich vermindern oder sogar
         primär auf die politische Interessen­                                rerseits haben nicht institutionalisierte                                 ganz zu verschwinden scheinen, ist positiv
      vertretung und -vermittlung ausgerichtete                               Formen politischer Beteiligung nicht an                                   zu vermerken. Ein negativer Befund ist
       Organisationen zukünftig noch in der                                   Bedeutung verloren. Politik spielt für die                                allerdings, dass Teilhabe und Integration

384
Politische Integration und politisches Engagement / 11.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

u   Abb 4    Gewerkschaftsmitgliedschaft 1980 – 2018 — in Prozent                                                              in Organisationen und Aktionsformen
                                                                                                                                stark sozial geschichtet sind. Darauf
                                                                                                                               verweisen die beträchtlichen Unterschie-
     40
                                                                                                                                de zwischen Bürgerinnen und Bürgern
                                                                                                                                ohne und mit Hochschulabschluss. Zu-
                                                                                                                                sammengenommen mit dem Befund,
                                                                                                                                dass traditionelle institutionalisierte For-
     30
                                                                                                                               men der Politik und politischen Beteili-
                                                                                                                                gung an Attraktivität für die Bürgerin-
                                                                                                                                nen und Bürger verlieren und sich das
                                                                                                                               Ausmaß politischer Integration in die
     20
                                                                                                                               ­institutionalisierte Politik abgeschwächt
                                                                                                                                hat, bleibt es ein Warnsignal für Politik
                                                                                                                               und Gesellschaft.
                                                                                                                                    Da Vereine und Organisationen die
     10
                                                                                                                               Lernzellen für die politische Beteiligung
                                                                                                                                sind, weil in unmittelbarem Gruppen­
                                                                                                                                zusammenhang Interessen bestimmt und
                                                                                                                               für die Artikulation aufbereitet werden,
      0
             1982       1986        1990       1994        1998       2002        2006       2010       2014        2018
                                                                                                                                ist der Rückgang von Mitgliedschaften in
                                                                                                                                den traditionellen Verbänden und Orga-
             Westdeutschland insgesamt                Westdeutschland, 18 –29 Jahre                                             nisationen nicht unproblematisch. Durch
             Ostdeutschland insgesamt                 Ostdeutschland, 18 –29 Jahre                                              die Coronapandemie sind viele gemein-
                                                                                                                                nützige Einrichtungen, Vereine und Inte-
     Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet.                            ressenorganisationen in eine Notlage
     Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2018
                                                                                                                                geraten. Dass die Zivilgesellschaft ge-
                                                                                                                                schwächt aus dieser Krise hervorgehen
                                                                                                                               wird, hat die Nationale Akademie der
                                                                                                                               Wissenschaften Leopoldina konstatiert.
u   Abb 5    Parteimitgliedschaft 1990 – 2019
                                                                                                                               Ob nicht institutionalisierte Formen der
                                                                                                                               Beteiligung, die einen stark individualis-
     4,25                                                                                                              2 500   tischen Zug haben, das Defizit kollektiver
     4,00                                                                                                                      Interessenvermittlung durch geschwäch-
                                                                                                                       2 250   te Organisationen der Zivilgesellschaft
     3,75
                                                                                                                               werden kompensieren können, ist fraglich.
     3,50
                                                                                                                       2 000
     3,25

     3,00                                                                                                              1 750

     2,75
                                                                                                                       1 500
     2,50

     2,25
                                                                                                                       1 250
     2,00

     1,75                                                                                                              1 000
        1990           1994          1998         2002          2006          2010          2014          2018

               Anteil Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in % (linke Skala)
               Mitgliederzahlen in 1 000 (rechte Skala)

     Datenbasis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2020. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum,
     Nr. 31, FU Berlin 2020

                                                                                                                                                                                  385
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation      11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

      11.2                                                      Die Stabilität und das Funktionieren ei-
                                                                nes demokratischen Regierungssystems
                                                                                                                        Der Sozialstaat ist eine bedeutende
                                                                                                                    Quelle der Legitimität der Demokratie
      Einstellungen zu                                          hängen davon ab, dass die Bürgerinnen               in Deutschland. Nach der deutschen
      Demokratie und                                            und Bürger der Demokratie positiv
                                                                gegenüberstehen. Deshalb ist es förder-
                                                                                                                    Vereinigung im Jahr 1990 wurde der
                                                                                                                    Sozialstaat weiter umgebaut, was neue
      Sozialstaat*                                              lich, wenn sie zum einen die Demokratie             soziale Probleme nach sich zog. Mindes-
      *Überarbeitung der Version, die 2018 von Dieter Fuchs    als Staatsform allgemein befürworten                tens zwei damit verbundene Entwick-
       und Edeltraud Roller erstellt wurde.
                                                                und zum anderen die Demokratie im                   lungen dürften einen Einf luss auf die
                                                                eigenen Land positiv beurteilen. In den             Einstellungen der Bürgerinnen und Bür-
      Anne-Kathrin Stroppe,                                     vergangenen zehn Jahren gab es einige               ger zum Sozialstaat gehabt haben. Die
      Marlene Mauk                                              Entwicklungen, die Auswirkungen auf                 erste Entwicklung sind die Leistungs-
      GESIS Köln                                                die Demokratiezufriedenheit in den                  kürzungen und Abbaumaßnahmen, die
                                                                Ländern der Europäischen Union (EU)                 seither die Sozialpolitik dominieren.
                                                                und auch in Deutschland gehabt haben                Prominenteste Beispiele sind die Agenda
      WZB / SOEP
                                                                könnten, zum Beispiel die Finanzmarkt-              2010 (2003 – 2005), die ein Bündel ver-
                                                                und Wirtschaftskrise, die Flüchtlings-              schiedener sozial- und arbeitsmarktpoli-
                                                                und Immigrationsproblemati k, die                   tischer Maßnahmen umfasste, sowie die
                                                                Wahlerfolge rechtspopulistischer Partei-            Rente mit 67 (2007). Ausgehend von
                                                                en und der Brexit.                                  diesen Reformen stellt sich die Frage, ob
                                                                    Vor allem wegen des unterschiedli-              und in welchem Ausmaß die Bürgerin-
                                                                chen Wahlverhaltens in West- und Ost-               nen und Bürger bereit sind, ihre Ansprü-
                                                                deutschland und der anhaltenden Dis-                che an die sinkenden Leistungen des So-
                                                                kussion über eine ostdeutsche Identität             zialstaats anzupassen. Für die Ostdeut-
                                                                sind die Unterschiede zwischen West-                schen stellt sich diese Frage in noch
                                                                und Ostdeutschen immer noch ein                     radikalerer Weise. Denn mehrheitlich
                                                                Thema der öffentlichen Diskussion. Diese            waren sie der Ansicht, dass es sich bei der
                                                                Diskussion umfasst auch die Einstellun-             umfassenden sozialen Absicherung um
                                                                gen zu Demokratie und Sozialstaat. Da               einen der wenigen Vorzüge des sozialis-
                                                                das staatssozialistische System der DDR             tischen Systems der DDR handelte (»so-
                                                                unter aktiver Beteiligung der Bürgerin-             zialistische Errungenschaft«). Deshalb
                                                                nen und Bürger zusammengebrochen ist                hatten sie noch höhere Erwartungen an
                                                                und sich die überwältigende Mehrheit der            die Rolle des Staates ausgebildet als die
                                                                Ostdeutschen für die deutsche Vereini-              Westdeutschen.
                                                                gung ausgesprochen hat, wurde erwartet,                 Eine zweite Entwicklung, die die
                                                                dass die Mehrheit der Ostdeutschen nicht            Einstellungen der Bürgerinnen und Bür-
                                                                nur die Demokratie allgemein, sondern               ger beeinflussen dürfte, ist die Zunahme
                                                                auch die Demokratie in Deutschland                  der sozialen Ungleichheit, die sich ins­
                                                                positiv beurteilt. Nach den bisher vorlie-          besondere seit der Jahrtausendwende in
                                                                genden Befunden präferieren die Ost-                Deutschland beobachten lässt. Indizien
                                                                deutschen zwar mehrheitlich die Demo-               sind der Anstieg des Gini-Koeffizienten,
                                                                kratie allgemein, sie stehen jedoch der             eines Maßes für Einkommensungleich-
                                                                Demokratie in Deutschland kritischer                heit, und die Zunahme der Armut (siehe
                                                                gegenüber. Eine wichtige Frage ist, ob              Kapitel 6.3, Seite 229, Abb 2 und Abb 3).
                                                                die Ostdeutschen mit zunehmender Er-                Diese Entwicklung hat zu einer verstärk-
                                                                fahrung mit der bundesrepublikanischen              ten Diskussion um die soziale Gerechtig-
                                                                Demokratie ein positiveres Verhältnis zur           keit in Deutschland geführt. Es stellt sich
                                                                Demokratie in Deutschland entwickelt                deshalb die Frage, ob die Bürgerinnen
                                                                haben. Diese Frage stellt sich insbesondere         und Bürger angesichts der objektiv wach-
                                                                in Bezug auf die jüngeren Generationen              senden Ungleichheit und der Gerechtig-
                                                                in Ostdeutschland, die in diesem demo-              keitsdebatte zunehmend eine staatliche
                                                                kratischen System aufgewachsen sind.                Umverteilung fordern.

386
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

11.2.1 Akzeptanz der Demokratie                                       schen Ost- und Westdeutschen reduzier-                                 politische Leistungen) dürften bei der
als Staatsform                                                        te sich somit auf 12 Prozentpunkte. u Tab 1                            Beurteilung des Funktionierens der De-
Die grundlegende Einstellung zur Demo-                                    Im Jahr 2019 sah also nach wie vor                                 mokratie eine Rolle spielen.
kratie wird mit der direkten Frage da-                                eine klare Mehrheit der deutschen Bür-                                     Die in Abbildung 1 präsentierten
nach erhoben, ob die Demokratie die bes-                              gerinnen und Bürger die Demokratie all­                                Zeitreihen für die Zufriedenheit mit
te Staatsform sei oder ob es eine bessere                             gemein als die beste Staatsform an, nur                                dem Funktionieren der Demokratie in
gebe. Alternative Herrschaftsordnungen –                              eine sehr kleine Minderheit präferierte                                Deutschland zeigen eine deutliche Diffe-
zum Beispiel kommunistisch-autoritäre                                 eine andere Staatsform. Dies galt sowohl                               renz zwischen Ost- und Westdeutschland.
Regime oder die Herrschaft eines starken                              für West- als auch für Ostdeutschland.                                 Über den gesamten Zeitraum von 1991
Mannes – werden hierbei nicht vorge­                                                                                                         bis Sommer 2019 hinweg war im Westen
geben. Die in Tabelle 1 präsentierten Da-                             11.2.2 Zufriedenheit mit dem                                           Deutschlands durchschnittlich eine klare
ten dokumentieren, dass kurz nach der                                 Funktionieren der Demokratie                                           Mehrheit von 68 % der Bürgerinnen und
deutschen Vereinigung im Jahr 1991 die                                in Deutschland                                                         Bürger zufrieden, während im Osten
Ostdeutschen sich mit einer großen                                    Ein etwas anderes Bild zeigt sich be­                                  durchschnittlich lediglich 44 % zufrieden
Mehrheit von 70 % für die Demokratie                                  züglich der Zufriedenheit mit dem Funk-                                waren. Es gab erhebliche Schwankungen
als beste Staatsform aussprachen. Die                                 tionieren der Demokratie in Deutschland.                               im Zeitverlauf, die parallel in Ost- und
Zustimmung der Westdeutschen war mit                                  Diese Einstellung bezieht sich weniger                                 Westdeutschland zu beobachten waren.
86 % noch deutlich höher. Im Zeitverlauf                              auf die Verfassungsnorm, das heißt die in                              Das heißt, dass die Bürgerinnen und Bür-
schwankten die Urteile der Ost- und                                   der Verfassung implementierte Form der                                 ger in beiden Teilen Deutschlands ganz
Westdeutschen um diese jeweils hohen                                  Demokratie, als vielmehr auf die Verfas-                               ähnlich auf bestimmte Ereignisse re-
Werte. Vor allem in den Jahren 2005                                   sungsrealität oder die Wirklichkeit der                                agierten; das aber auf unterschiedlichem
und 2006 wurden die Unterschiede                                      Demokratie in Deutschland. In die Beur-                                Niveau. Hinsichtlich der Struktur dieser
zwischen Ost- und Westdeutschen etwas                                 teilung dieser Verfassungsrealität können                              Schwankungen ist bemerkenswert, dass
größer, weil die Zustimmung in Ost-                                   verschiedene Aspekte eingehen. Insbe-                                  zu den Bundestagswahlen mit Ausnahme
deutschland etwas abnahm. Im Jahr 2006                                sondere das Funktionieren institutioneller                             von 2005 ein Anstieg der Demokratiezu-
betrug die Differenz 26 Prozentpunkte.                                Mechanismen (zum Beispiel der Aus-                                     friedenheit erfolgte (1994, 1998, 2009,
Dabei handelte es sich jedoch um keinen                               tausch von Regierung und Opposition                                    2013, 2017). Die nach der Bundestags-
längerfristigen Trend, denn ab 2008                                   und die Gewährleistung der Gleichheit                                  wahl 2009 im Jahr 2010 erfolgte Ab­
stieg in Ostdeutschland die Zustimmung                                vor dem Gesetz), die Handlungen der                                    nahme in der Demokratiezufriedenheit
zur Demokratie als Staatsform wieder an.                              Regierenden (zum Beispiel Berücksichti-                                dürfte auf die europäische Finanzmarkt-
Nach den letzten verfügbaren Daten                                    gung von Interessen verschiedener Be-                                  und Wirtschaftskrise 2008 / 2009 zurück-
aus dem Jahr 2019 lag die Zustimmung                                  völkerungsgruppen, Amtsmissbrauch)                                     gehen. Diese Abnahme umfasste in West
in Ostdeutschland bei 79 %, in West-                                  und die Ergebnisse dieses Handelns                                     und Ost aber weniger als 10 Prozent-
deutschland bei 91 %. Die Differenz zwi-                              (zum Beispiel wirtschaftliche und sozial-                              punkte und war nicht von Dauer, denn

u   Tab 1    Akzeptanz der Demokratie als Staatsform 1991– 2019 — in Prozent

                                                                           Westdeutschland                                                                  Ostdeutschland

                                                  1991       2000       2005        2006       2008        2014       2019       1991        2000       2005        2006   2008   2014   2019

    »D ie Demokratie ist
                                                    86         92         85          89         86         90          91         70          78         64         63     68     82     79
      die beste Staatsform.«

    »Es gibt eine andere Staatsform,
                                                     3           3          6          3           3          5          4           7          8         22         12     11      9     10
      die besser ist.«

    »Unentschieden.«                                11           5          9          8         11           5          5         23          14         14         25     21      9     11

Quelle: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Band 9: 560 (Jahr 1991); Konsolidierung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa 2000; Bürger und Gesellschaft 2005;
European Social Survey – Deutsche Teilstudie 2006, 2008; Everhard Holtmann u.a., Deutschland 2014, Zentrum für Sozialforschung Halle e.V., 2015: 189;
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020: 30 Jahre Mauerfall, GESIS Datenarchiv, Köln, ZA6737

                                                                                                                                                                                                387
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation                   11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

      u Abb 1 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie                                                                     bestehen blieb. 1991 betrug diese Differenz
      1991 – 2019 — in Prozent                                                                                                       29 Prozentpunkte, im Jahr 2019 lag dieser
                                                                                                                                     Wert bei 18 Prozentpunkten. Fast 30 Jahre
                                                                                                                                     nach der deutschen Vereinigung gibt es
          100
                                                                                                                                     keine Hinweise darauf, dass sich mit zu-
           90
                                                                                                                                     nehmenden Erfahrungen der Ostdeut-
                                                                                                                                     schen mit der Demokratie die Kluft in der
           80                                                                                                                        Demokratiezufriedenheit zwischen Ost-
                                                                                                                                     und Westdeutschen auf Dauer verringert.
           70                                                                                                                            Ein Vergleich mit den anderen 27
                                                                                                                                     Mitgliedsländern der Europäischen Uni-
           60
                                                                                                                                     on (2019 war das Vereinigte Königreich
           50                                                                                                                        noch Mitglied der EU) kann darüber
                                                                                                                                     Aufschluss geben, wie die Zufriedenheit
           40                                                                                                                        mit dem Funktionieren der Demokratie
                                                                                                                                     in Deutschland einzuschätzen ist. Die
           30                                                                                                                        Daten stammen aus dem Sommer 2019.
                                                                                                                                     Die Demokratiezufriedenheit in West-
           20
                                                                                                                                     deutschland rangierte deutlich über dem
           10                                                                                                                        westeuropäischen Durchschnitt. Ledig-
                                                                                                                                     lich in den skandinavischen Ländern, in
             0                                                                                                                       Luxemburg, in den Niederlanden und in
              1991            1995                2000                2005                2010                2015            2019   Irland war die Zufriedenheit mit dem
                                                                                                                                     Funktionieren der Demokratie noch hö-
                       Westdeutschland                      Ostdeutschland
                                                                                                                                     her. Die Zufriedenheit mit dem Funktio-
                                                                                                                                     nieren der Demokratie in Ostdeutsch-
          »Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem gesehen sehr zufrieden,
          ziemlich zufrieden, ziemlich unzufrieden oder völlig unzufrieden?«; Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«.      land lag deutlich unter dem Durch-
          Datenbasis: Eurobarometer 1991 – 2019
                                                                                                                                     schnitt der westeuropäischen Länder.
                                                                                                                                     Niedrigere Zufriedenheitswerte wiesen
                                                                                                                                     vor allem Länder auf, die von der Finanz-
                                                                                                                                     markt- und Wirtschaftskrise besonders
                                                                                                                                     stark betroffen waren, wie Spanien, Itali-
                                                                                                                                     en, Zypern und insbesondere Griechen-
                                                                                                                                     land. Interessant ist aber, dass zwei der
      bis 2014 nahm die Demokratiezufrieden-                                 gelöst (Forschungsgruppe Wahlen, Polit-                 Krisenländer, und zwar Portugal und Ir-
      heit in beiden Landesteilen kontinuier-                                barometer). In den Jahren 2016 und 2017                 land, im Sommer 2019 eine relativ hohe
      lich wieder zu. u Abb 1                                                stieg die Demokratiezufriedenheit in                    Demokratiezufriedenheit aufwiesen, die
          Nach 2014 war sowohl in West- als                                  Ostdeutschland wieder an und erreichte                  auf beziehungsweise sogar über dem
      auch in Ostdeutschland ein Abfall der                                  2019 zum zweiten Mal den Spitzenwert                    westeuropäischen Durchschnitt lag. Ver-
      Demokratiezufriedenheit festzustellen.                                 von 59 %. In Westdeutschland nahm sie                   gleichsweise niedrig war die Demokratie-
      Besonders deutlich war das in Ost-                                     2017 wieder zu und ging seitdem leicht                  zufriedenheit zudem im sich zu dieser
      deutschland der Fall, wo die Demokratie-                               zurück. Obgleich Migration und Inte­                    Zeit im Brexit-Prozess befindlichen Ver-
      zufriedenheit von 59 % (2014) auf 47 %                                 gration weiterhin wichtige Themen für                   einigten Königreich und im von den
      (2015) sank. Dieser Abfall ist vermutlich                              die Bürgerinnen und Bürger sind, haben                  Gelbwesten-Protesten geprägten Frank-
      auf die hohe Zahl von Gef lüchteten                                    damit verbundene Problemwahrneh-                        reich. u Abb 2
      zurückzuführen. Ab Anfang 2015 wurde                                   mungen offenbar die Zufriedenheit mit                       Die in der Abbildung 2 präsentierten
      das Thema »Ausländer / Integration /                                   dem Funktionieren der Demokratie nicht                  Prozentsätze zeigen dennoch, dass in der
      Flüchtlinge« von den deutschen Bürge-                                  nachhaltig negativ beeinflusst.                         Mehrzahl der westeuropäischen Länder
      rinnen und Bürgern als das wichtigste                                      Bemerkenswert an den beiden Zeitrei-                die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-
      Problem in Deutschland angegeben; erst                                 hen für West- und Ostdeutschland ist, dass              ger trotz der Finanzmarkt- und Wirt-
      Anfang 2019 wurde es vom Themenkom-                                    die Differenz zwischen beiden Teilen                    schaftskrise, der Geflüchteten- und Im-
      plex »Umwelt / Klima / Energiewende« ab-                               Deutschlands über den gesamten Zeitraum                 migrationsproblematik und des Brexit

388
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

u Abb 2 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie                                                           mit dem Funktionieren der Demokratie
im eigenen Land 2019 — in Prozent                                                                                    im eigenen Land zufrieden war.
                                                                                                                         Unter den osteuropäischen EU-Mit-
                                                                                                                     gliedsländern gibt es erhebliche Differen-
                                                                                                                     zen bei der Demokratiezufriedenheit.
                        Dänemark                                                                                95
                                                                                                                     Während in Estland, Polen, Tschechien,
                       Luxemburg                                                                           88        Ungarn, Lettland, Slowakei und Sloweni-
                      Niederlande                                                                     85             en mehr als die Hälfte der Bürgerinnen
                                                                                                                     und Bürger zufrieden mit dem Funktio-
                          Finnland                                                                    84
                                                                                                                     nieren der Demokratie des eigenen Lan-
                              Irland                                                             81                  des war, traf dies in den anderen osteuro-
                        Schweden                                                                 80                  päischen EU-Mitgliedsländern nur für
                                                                                                                     eine Minderheit zu. Am geringsten war
              Westdeutschland                                                                   77
                                                                                                                     der Wert in Kroatien, wo lediglich 33 %
                        Österreich                                                          77                       der Menschen zufrieden waren. Bemer-
      Deutschland insgesamt                                                                74                        kenswert ist, dass die Demokratiezufrie-
                                                                                                                     denheit in Ostdeutschland höher war als
    Durchschnitt Westeuropa                                                           68
                                                                                                                     im Durchschnitt der osteuropäischen
                          Portugal                                                    68                             EU-Mitgliedsländer.
                           Belgien                                                    67
                                                                                                                     11.2.3 Einstellungen verschiedener
                              Malta                                                  66
                                                                                                                     Bevölkerungsgruppen zur
                           Estland                                                   66                              Demokratie
                             Polen                                                   66
                                                                                                                     In Tabelle 2 sind die Einstellungen zum
                                                                                                                     Fu n k t ion ieren der Demok rat ie i n
                       Tschechien                                                    65
                                                                                                                     Deutschland nach Geschlecht, Alter, be-
                Ostdeutschland                                                  59                                   ruf licher Stellung, ideologischer Orien-
                           Ungarn                                             58
                                                                                                                     tierung (links-rechts) und Parteipräfe-
                                                                                                                     renz aufgeschlüsselt. Sowohl in Ost- als
                           Lettland                                        56
                                                                                                                     auch in Westdeutschland zeigen sich
                          Slowakei                                       54                                          einige auffällige Abweichungen vom
                                                                                                                     Durchschnitt. Erstens waren die Arbeits-
      Durchschnitt Osteuropa                                             53
                                                                                                                     losen sowohl in West- als auch in Ost-
                        Frankreich                                       53                                          deutschland weniger zufrieden mit dem
          Vereinigtes Königreich                                      52                                             Funktionieren der Demokratie als der
                                                                                                                     jeweilige Bevölkerungsdurchschnitt.
                        Slowenien                                     52
                                                                                                                     Bemerkenswert ist zweitens, welch ein
                            Litauen                                 50                                               geringer Anteil der Anhängerinnen und
                           Spanien                                  50                                               Anhänger der Alternative für Deutsch-
                                                                                                                     land (AfD) zufrieden mit dem Funktio-
                             Italien                                49
                                                                                                                     nieren der Demokratie war. Im Westen
                            Zypern                                 49                                                waren das 2018 lediglich 28 % und im
                         Bulgarien                            40                                                     Osten gerade einmal 4 %. Das zeigt, dass
                                                                                                                     das demokratiekritische Potenzial in
                        Rumänien                              39
                                                                                                                     Deutschland vor allem bei den Anhänge-
                     Griechenland                        35                                                          rinnen und Anhängern der AfD lokali-
                          Kroatien                      33                                                           siert werden kann. Auch Anhängerinnen
                                                                                                                     und Anhänger der Partei Die Linke wie-
                                                                                                                     sen unterdurchschnittliche Zufrieden-
    Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«.                                                                heitswerte auf (58 % im Westen und
    Datenbasis: Eurobarometer Sommer 2019
                                                                                                                     44 % im Osten). Drittens wiesen insbe-
                                                                                                                     sondere in Ostdeutschland ideologisch

                                                                                                                                                                       389
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation   11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

      rechts­orientierte Bürgerinnen und Bür-                    u Tab 2 Zufriedenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen mit dem Funktionieren
      ger eine geringere Demokratiezufrieden-                    der Demokratie 2018 und 2019 — in Prozent
      heit auf. u Tab 2                                                                                                        2018 ¹                                      2019 ²
          Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen                                                                     West                  Ost                  West                Ost
      den verschiedenen Altersgruppen in Ost-
                                                                   Insgesamt                                          62                    46                    77                59
      deutschland. Es wurde erwartet, dass
                                                                   Geschlecht
      insbesondere die nachwachsenden Gene-
                                                                     Männer                                           62                    48                    78                58
      rationen vom neuen demokratischen
                                                                     Frauen                                           61                    43                    76                61
      System geprägt werden und eine positi-
                                                                   Altersgruppen
      vere Haltung zu diesem System ausbil-
                                                                     18 – 34 Jahre                                    66                    42                    73                55
      den. Diese positiven Sozialisationseffekte
                                                                     35 – 59 Jahre                                    59                    53                    76                60
      haben sich bei der Zufriedenheit mit
                                                                     ab 60 Jahren                                     59                    38                    81                61
      dem Funktionieren der Demokratie bis-
      lang kaum eingestellt.                                       Berufliche Stellung ³

          Zusammenfassend kann festgehalten                          Selbstständige                                   66                      /                   74                51

      werden, dass in Ost und West sowohl die                        abhängig Beschäftigte                            64                    52                    78                67

      Arbeitslosen als auch die Anhängerinnen                        Arbeitslose                                      35                      /                   63                34

      und Anhänger der Partei Die Linke der                          Rentner / -innen,
                                                                                                                      56                    37                    79                60
                                                                     Pensionäre / -Pensionärinnen
      Demokratie in Deutschland vergleichs-
                                                                   Ideologische Orientierung
      weise kritisch gegenüberstehen. Bedenk-
                                                                     links                                            67                    50                    80                68
      lich ist vor allem die geringe Demokratie-
                                                                     Mitte                                            61                    46                    80                62
      zufriedenheit bei den Anhängerinnen
                                                                     rechts                                           56                    35                    67                37
      und Anhängern der AfD.
                                                                   Parteipräferenz

      11.2.4 Zuständigkeit des Staates                               CDU / CSU                                        70                    62                      .                .

      für soziale Absicherung                                        SPD                                              73                    62                      .                .

      Im Zentrum des bundesrepublikanischen                          FDP                                              66                      /                     .                .

      Sozialstaats steht die soziale Absicherung,                    Bündnis 90 / Die Grünen                          73                    72                      .                .

      die vor allem über Sozialversicherungssys-                     Die Linke                                        58                    44                      .                .

      teme wie Renten-, Arbeitslosen-, Unfall-                       AfD                                              28                     4                      .                .
      und Krankenversicherung geregelt ist. Die
                                                                 Ein Zeitvergleich zwischen 2018 und 2019 ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsverfahren nicht möglich.
      Zustimmung zu diesem sogenannten ins-                      1 Antwortkategorien 6 – 10 auf einer Skala von 0 »äußerst unzufrieden« bis 10 »äußerst zufrieden«.
                                                                 2 Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«.
      titutionellen Kern des Sozialstaats wird                   3 Nichterwerbspersonen sind nicht ausgewiesen.
                                                                 . Nicht erhoben.
      mit der Frage erfasst, ob der Staat für die                / Fallzahl zu gering (N < 30).
                                                                 Datenbasis: ESS 2018; Eurobarometer Sommer 2019
      Versorgung von Kranken sowie für den
      Erhalt des Lebensstandards von älteren
      Menschen und Arbeitslosen verantwort-
      lich sein soll. Die in Abbildung 3 enthalte-               Ein anderes Bild zeigt sich, wenn man                            66 % und im Osten auf 80 %. Damit ver-
      nen Befunde zeigen zunächst, dass sich                 die dem Staat zugeschriebene Verantwor-                              tiefte sich die Lücke zwischen Ost- und
      die Zustimmung zur Verantwortlichkeit                  tung, den Lebensstandard von Arbeitslo-                              Westdeutschen hinsichtlich der Meinung
      des Staates im Bereich der Gesundheits-                sen zu erhalten, betrachtet. Im Jahr 1996                            zur staatlichen Versorgung von Arbeitslo-
      und Altersversorgung zwischen 1990 (für                sahen im Osten 90 % die Verantwortung                                sen. Nach 2006 zeigt sich jedoch eine kon-
      Ostdeutschland Daten ab 1996) und 2016                 hierfür beim Staat, während im Westen le-                            träre Entwicklung in den beiden Landes-
      in beiden Teilen Deutschlands auf einem                diglich 81 % diese Ansicht teilten. Die An-                          teilen. In Ostdeutschland setzte sich der
      stabil hohen Niveau befand. Sie lag im                 teile lagen damit nicht nur unter den Zu-                            Negativtrend fort: 2016 schrieben nur
      Mittel stets bei mindestens 93 %. In beiden            stimmungswerten in den Bereichen Ge-                                 noch 71 % dem Staat eine Verantwortung
      Landesteilen sah damit fast die gesamte                sundheit und Alter, sondern es zeichnete                             zu, den Lebensstandard von Arbeitslosen
      Bevölkerung den Staat dafür verantwort-                sich auch eine unterschiedliche Wahrneh-                             zu erhalten. Im Gegensatz dazu stieg der
      lich, bei Krankheit und Alter für die Bür-             mung zwischen Ost- und Westdeutsch-                                  Anteil in Westdeutschland wieder leicht
      gerinnen und Bürger zu sorgen. Von 1990                land ab. Der Anspruch an den Staat nahm                              auf 73 % an, sodass die Anteile in Ost- und
      bis 2016 zeigt sich fast keine Veränderung             in den folgenden zehn Jahren ab und sank                             Westdeutschland sich annäherten. Ganz
      in diesen Werten. u Abb 3                              im Jahr 2006 im Westen Deutschlands auf                              offenbar haben die Bürgerinnen und

390
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

u   Abb 3     Zuständigkeit des Staates für soziale Absicherung 1990 – 2016 — in Prozent                                                  Insgesamt waren bei der Aufgabe der
                                                                                                                                      sozialen Absicherung die Ost-West-Unter-
     100                                                                                                                              schiede von Beginn an vergleichsweise ge-
                                                                                                                                      ring; lediglich bei der Versorgung von Ar-
                                                                                                                                      beitslosen zeigten sich merkliche Unter-
       90
                                                                                                                                      schiede, die 2016 allerdings ebenfalls
                                                                                                                                      nivelliert erschienen. Das dürfte daran lie-
       80                                                                                                                             gen, dass gerade bei der Versorgung von
                                                                                                                                      Kranken und Alten der bundesdeutsche
                                                                                                                                      Sozialstaat und der sozialistische Sozial-
       70
                                                                                                                                      staat der DDR ähnliche Regelungen und
                                                                                                                                      Programme entwickelt hatten. Im Mittel-
       60                                                                                                                             punkt des sozialistischen Sozialstaats der
                                                                                                                                      DDR standen ebenfalls Sozialversiche-
                                                                                                                                      rungssysteme, die Risiken wie Krankheit,
       50
         1990     1992     1994    1996     1998     2000     2002     2004     2006     2008    2010     2012     2014        2016   Unfall und Alter abdeckten.
              Westdeutschland: Gesundheitsversorgung                          Ostdeutschland: Gesundheitsversorgung
              Westdeutschland: Lebensstandard Ältere                          Ostdeutschland: Lebensstandard Ältere                   11.2.5 Zuständigkeit des Staates
              Westdeutschland: Lebensstandard Arbeitslose                     Ostdeutschland: Lebensstandard Arbeitslose              für den Abbau von Einkommens-
                                                                                                                                      unterschieden
     »Der Staat sollte verantwortlich dafür sein, gesundheitliche Versorgung für Kranke sicherzustellen / den alten Menschen
     einen angemessenen Lebensstandard zu sichern / den Arbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.«                   Deutlich größere Unterschiede zwischen
     Anteil »auf jeden Fall verantwortlich sein« und »verantwortlich sein«.
     Datenbasis: ALLBUS 1990, 1996, 2006, 2016                                                                                        Ost- und Westdeutschen gibt es dagegen
                                                                                                                                      bei der sozialstaatlichen Aufgabe des
                                                                                                                                      Abbaus von Einkommensunterschieden.
u Abb 4 Zuständigkeit des Staates für den Abbau von Einkommens­                                                                       Im Zuge der zunehmenden Ungleichheit
unterschieden 2002–2018 — in Prozent                                                                                                  und der Debatte um die soziale Gerech-
                                                                                                                                      tigkeit, die seit Anfang / Mitte der 2000er-
       90                                                                                                                             Jahre in Deutschland verstärkt geführt
                                                                                                                                      wird, ist diese Aufgabe in den Mittel-
       80                                                                                                                             punkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die
                                                                                                                                      Zustimmung dazu wird mit der Frage er-
       70
                                                                                                                                      fasst, ob der Staat Maßnahmen ergreifen
       60                                                                                                                             soll, um Unterschiede in den Einkom-
                                                                                                                                      mensniveaus zu reduzieren. Die Zeit­reihe
       50                                                                                                                             beginnt erst im Jahr 2002 und erstreckt
                                                                                                                                      sich bis zum Jahr 2018.
       40
                                                                                                                                          Im Vergleich zur Aufgabe der sozia-
       30
                                                                                                                                      len Absicherung war die Zustimmung
         2002         2004         2006         2008         2010         2012          2014        2016         2018                 zur Reduktion von Einkommensunter-
                Westdeutschland             Ostdeutschland                                                                            schieden sowohl im Osten als auch im
                                                                                                                                      Westen Deutschlands deutlich geringer.
     »Sollte der Staat Maßnahmen ergreifen, um Unterschiede in den Einkommensniveaus zu verringern?«
     Anteil »stimme stark zu« und »stimme zu«.                                                                                        Sie lag in Westdeutschland bei durch-
     Datenbasis: ESS 2002 – 2018
                                                                                                                                      schnittlich 63 % und in Ostdeutschland
                                                                                                                                      bei durchschnittlich 80 %. Die Differenz
                                                                                                                                      zwischen Osten und Westen war dabei
                                                                                                                                      deutlich größer als bei den Einstellungen
Bürger auf die sozialen Leistungskürzun-                                zur Versorgung von Kranken und Alten                          zur sozialen Sicherung. Der höhere Wert
gen und Abbaumaßnahmen im Zuge der                                      markiert, dass die Bürgerinnen und Bür-                       im Osten kann unter anderem damit
Agenda 2010 zumindest temporär mit                                      ger in diesen Bereichen nicht zu einer                        erklärt werden, dass geringe Einkom-
einer Reduktion ihrer Ansprüche im                                      Anpassung ihrer Ansprüche nach unten                          mensunterschiede ein charakteristisches
Bereich der Versorgung von Arbeitslosen                                 bereit sind und die staatliche Verantwor-                     Merkmal des sozialistischen Systems der
reagiert. Die Stabilität der Einstellungen                              tung hier weiterhin stark einfordern.                         DDR waren. u Abb 4

                                                                                                                                                                                     391
11 / Politische und gesellschaftliche Partizipation                        11.2 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

          In Westdeutschland nahm die Zu-                                         der steigenden Ungleichheit und der da-                   11.2.6 Einstellungen verschiedener
      stimmung zur Rolle des Staates beim Ab-                                     mit verbundenen Debatte um soziale Ge-                     Bevölkerungsgruppen zur Rolle
      bau von Einkommensunterschieden von                                         rechtigkeit mit zunehmenden Forderun-                      des Staates
      48 % im Jahr 2002 praktisch kontinuier-                                     gen nach staatlichen Aktivitäten zur Re-                  Der unterschiedliche Stellenwert dieser
      lich bis auf 73 % im Jahr 2018 zu. In Ost-                                  duktion der Einkommensunterschiede.                        beiden sozialstaatlichen Aufgaben, der
      deutschland, wo bereits im Jahr 2002 mit                                    Auffällig ist, dass die Westdeutschen mit                  ­sozialen Absicherung einerseits und des
      76 % die überwiegende Mehrheit der                                          einer sehr viel stärkeren Anspruchszu-                    Abbaus von Einkommensunterschieden
      Bürgerinnen und Bürger dieser Aufgabe                                       nahme reagierten. Zwischen 2002 und                         andererseits, manifestiert sich in den Ein-
      zustimmte, stieg diese Zustimmung im                                        2018 nahmen die Ost-West-Differenzen                        stellungen verschiedener Bevölkerungs-
      Zeitverlauf noch etwas an: Im Jahr 2018                                     daher ab. Im letzten Erhebungsjahr 2018                    gruppen. Für die soziale Absicherung, den
      waren 81 % für den Abbau von Einkom-                                        war der Anteil mit Zustimmung unter                         sogenannten institutionellen Kern des
      mensunterschieden. Ganz offenbar be-                                        den Ostdeutschen aber nach wie vor hö-                    ­Sozialstaats, wird wie zuvor zwischen den
      gegneten die Bürgerinnen und Bürger                                         her als unter den Westdeutschen.                          Einstellungen bezüglich der Versorgung

      u   Tab 3     Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Rolle des Staates 2016 und 2018 — in Prozent
                                                                    »Der Staat sollte               »Der Staat sollte verant-      »Der Staat sollte verant-       »Sollte der Staat
                                                                  verantwortlich sein,              wortlich sein, den alten      wortlich sein, den Arbeits-   Maßnahmen ergreifen,
                                                                    gesundheitliche                Menschen einen angemes-          losen einen angemes-        um Unterschiede in den
                                                                 Versorgung für Kranke             senen Lebensstandard zu        senen Lebensstandard zu       Einkommensniveaus zu
                                                                   sicherzustellen.« ¹                     sichern« ¹                     sichern.« ¹                verringern?« ²

                                                                             2016                             2016                            2016                       2018
                                                                   West                 Ost            West            Ost            West            Ost         West          Ost
          Insgesamt                                                  98                  98             96              97             73             71           73            81
          Geschlecht
           Männer                                                    97                  98             95              97             72             72           69            78
           Frauen                                                    98                  98             97              96             73             71           76            82
          Altersgruppen
           18 – 34 Jahre                                             99                  98             95              97             69             65           71           80
           35 – 59 Jahre                                             98                  98             97              96             71             71           71            79
           ab 60 Jahren                                              96                  98             95              97             77             75           76           83
          Berufliche Stellung ³
           Selbstständige                                            97                   /             94              /              63              /           59           64
           abhängig Beschäftigte                                     99                  98             97              96             72             65           71            81
           Arbeitslose                                                /                  97              /            100               /             91           80            /
           Rentner / -innen,
                                                                     96                  98             95              97             78             75           76           84
           Pensionäre / Pensionärinnen
          Ideologische Orientierung
           links                                                     99                  99             95              97             78             78           80           94
           Mitte                                                     98                  98             96              96             72             68           70           80
           rechts                                                    97                  97             96              99             67             66           69            51
          Parteipräferenz
           CDU / CSU                                                 97                  97             95              93             66             67           66           65
           SPD                                                       98                  99             96              98             77             79           76           84
           FDP                                                       96                   /             92              /              65                  /       66            /
           Bündnis 90 / Die Grünen                                   99                 100             96              96             80             75           81            /
           Die Linke                                                 98                 100             98              99             77             73           89           100
           AfD                                                       95                  94             97              97             67             67            /            /

      1 Anteil »auf jeden Fall verantwortlich sein« und »verantwortlich sein«.
      2 Anteil »stimme stark zu« und »stimme zu«.
      3 Nichterwerbspersonen sind nicht ausgewiesen.
      / Fallzahl zu gering (N < 30).
      Datenbasis: ALLBUS 2016; ESS 2018

392
Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 11.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 11

von Kranken und Älteren sowie dem Er-               Sehr ähnlich sieht es bei der staat­
halt des Lebensstandards von Arbeitslosen       lichen Aufgabe des Abbaus von Einkom-
unterschieden. Für die Kranken- und Al-         mensunterschieden aus. Im Westen wich
tersversorgung lassen sich weder im Osten       einerseits die Gruppe der Selbstständigen
noch im Westen Deutschlands Unterschie-         mit geringeren Zustimmungswerten vom
de bei den verschiedenen Bevölkerungs-         Durchschnitt ab und andererseits spra-
gruppen – nach Geschlecht, Alter, berufli-      chen sich die Anhängerinnen und An-
cher Stellung, ideologischer Orientierung       hänger von der Partei Die Linke sowie
(links-rechts) und Parteipräferenz – auffin-   Bündnis 90 / Die Grünen überdurch-
den. Insgesamt liegt bei dieser Aufgabe ein     schnittlich für eine staatliche Zuständig-
Konsens zwischen den Vertreterinnen             keit beim Abbau von Einkommensunter-
und Vertretern der klassischen Konflikt­        schieden aus. Diese egalitäre Aufgabe des
linie »Kapital versus Arbeit« vor, also zwi-    Sozialstaats steht damit im Schnittpunkt
 schen den Selbstständigen und Arbeitern,       der klassischen Konfliktlinie zwischen
zwischen Rechten und Linken und zwi-           Kapital und Arbeit und wird von den
 schen Anhängerinnen und Anhängern             Vertreterinnen und Vertretern beider Sei-
 ­a ller Parteien. Abweichende Meinungen       ten vergleichsweise kontrovers beurteilt.
lassen sich allerdings bezüglich der Ver-      Im Osten war eine nennenswerte Abwei-
 sorgung von Arbeitslosen feststellen. Es       chung vom Bevölkerungsdurchschnitt
überrascht dabei wenig, dass Arbeitslose        bei den Bürgerinnen und Bürgern, die
 selbst in Ostdeutschland überdurchschnitt-     sich einer linken ideologischen Orien­
lich die Verantwortung ihrer Versorgung        tierung zuordnen, festzustellen: Unter
beim Staat verorteten und in Westdeutsch-      ­ihnen befürworteten 94 % den Abbau
land die Gruppe der Selbstständigen zwar       von Einkommensunterschieden. Im Ver-
immer noch in der Mehrheit, aber deut-          gleich dazu stimmten dem lediglich 51 %
lich geringer zustimmte. In beiden Lan-         mit e­ iner rechten ideologischen Orientie-
desteilen zeigt sich auch, dass die Zustim-    rung zu.
mung bei Bürgerinnen und Bürgern mit                Die Analysen zu den Einstellungen zu
linker ideologischer Orientierung und          Demokratie und Sozialstaat haben gezeigt,
­einer Präferenz für Parteien aus dem lin-      dass es bei den Einstellungen zur Demo-
ken Spektrum (Die Linke, Bündnis 90 /           kratie in Deutschland immer noch be-
Die Grünen, SPD) im Vergleich zu An-           trächtliche Unterschiede zwischen Wes-
hängerinnen und Anhängern des rechten          ten und Osten gibt, während sich die Ein-
politischen Spektrums (FDP, CDU / CSU,          stellungen zum Sozialstaat auf einem
AfD) sowie mit rechter ideologischer Ori-       hohen Zustimmungsniveau einander an-
 entierung ausgeprägter war. u Tab 3            genähert haben.

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