ANDREAS UFEN Islam und Politik in Indonesien
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ANDREAS UFEN Islam und Politik in Indonesien O bwohl der indonesische Archipel mit seinen etwa 210 Mio. Einwohnern das viertbevölke- rungsreichste und mit etwa 180–190 Mio. Mus- Handelsrouten in die Molukken entstand in den folgenden Jahrhunderten eine Reihe von isla- mischen Fürstentümern. Erst im 17. Jahrhundert limen das größte islamische Land der Erde ist, konnte der Islam in nennenswertem Umfang in konzentriert sich die journalistische und die das javanische Binnenland vordringen. Über die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Islamisie- Handel treibenden Ausländer der Nordküste Javas rung zumeist auf den nahöstlichen Raum. Dabei gelangte eine von persischen und indischen mys- hat der Islam – sowohl als way of life als auch als tischen Elementen bereicherte Variante in die politische Lehre – eine ungeheure Aufwertung in javanischen Patrimonialreiche. Diese »sufistischen« Südostasien, insbesondere in Malysia und Indone- Lehren konnten in die bestehenden hindubuddhis- sien erfahren. tischen Glaubenssysteme relativ leicht integriert Schon in den 70er Jahren nahm in Indonesien werden. König Agung von Mataram durfte Mitte das Interesse an der islamischen Lehre zu. Seit des 17. Jahrhunderts mit offizieller Bestätigung aus Ende der 80er Jahre sah sich das Suharto-Regime Mekka den Sultanstitel tragen, aber zugleich hielt genötigt, Muslime zunehmend zu kooptieren. Mit er an vielen hindubuddhistischen Ideen, Zeremo- der Einführung der parlamentarischen Demokratie nien und Herrschaftsinsignien fest. Im Mataram- seit dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) und Reich wurden also Teile der islamischen Doktrin der Gründung neuer islamischer Parteien und integriert und Enklaven der Orthodoxie, oft in Organisationen ist der Islam zu einer bedeutenden und um die Islaminternate (Pesantren), geduldet. politischen Größe geworden. Grundsätzlich galten die Ulama, die Islamgelehr- In diesem Aufsatz soll der Aufstieg orthodox- ten, aber als subversiv. Amangkurat I. ließ im islamischer Gruppen beschrieben und die mög- 17. Jahrhundert 5.000–6.000 von ihnen ermorden, liche weitere Entwicklung bewertet werden. 1 Aus wodurch die Stellung der orthodoxen Muslime für der Untersuchung ergibt sich die These, dass lange Zeit geschwächt wurde. Deshalb schreibt zwar die Entstehung eines gesamtindonesischen Anderson über die Bedeutung des Islam in jener Islamstaates sehr unwahrscheinlich, dass aber der Zeit und danach: »To use Gramsci’s term, at no Zusammenbruch der jungen parlamentarischen point did a ›hegemonic‹ Islamic culture develop in Demokratie durch das Zusammenwirken von reak- Java. The self-consciousness of pious Muslims re- tionären Kräften, Sezessionisten, gewaltbereiten mained strictly ›corporate‹. Political and cultural Islamisten und populistischen Politiker sehr wohl subordination went hand in hand.« 2 möglich ist. Frühe Entwicklungen 1. Teile dieses Aufsatzes überschneiden sich mit einzel- nen Passagen meiner Dissertation: Ufen, A (2001): Herr- schaftsfiguration und Demokratisierung in Indonesien Während eine aus Indien stammende Mixtur hin- (1965–2000); Hamburg, i. E. Die beste Darstellung der duistischer und buddhistischer Elemente schon Entwicklung des indonesischen Islam bis 1998: Hefner, seit dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. die existie- R.W. (2000): Civil Islam: Muslims and Democratization in Indonesia; Princeton, New Jersey. renden animistischen Vorstellungen ergänzte und 2. Anderson, B.R.O’G (1972): »The Idea of Power in umformte, drang der Islam erst etwa seit dem Javanese Culture«; in: Holt, C. (ed.): Culture and Poli- 13. Jahrhundert in den Archipel vor. Entlang der tics in Indonesia; Ithaca, S. 1–69; hier S. 59. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 181
Anfang des 17. Jahrhunderts hatten niederlän- gab nur für kurze Zeit eine gewisse Einigung isla- dische Kaufleute der Vereinigten Ostindischen mischer Gruppen, etwa 1937 durch den antikolo- Kompanie (VOC), begonnen, den Gewürzhandel nial orientierten Obersten Indonesischen Islamrat 5 gewaltsam zu monopolisieren. Die Handelsgesell- MIAI und durch den während der japanischen schaft übte auf die einheimischen Reiche aber Besetzung (1942–45) gegründeten Masyumi 6 noch keinen nachhaltigen Einfluss aus. Erst (1943). Die Spaltungen innerhalb des indone- Anfang des 19. Jahrhunderts übernahm die nieder- sischen Islam blieben aber auch in der Hochphase ländische Krone die VOC. In der Folge wurde des antikolonialen Kampfes bestehen. die Kolonialherrschaft systematisiert. Schon bald Seit 1945, also seit Erlangung der Unabhängig- sah die neue niederländische Verwaltungselite in keit, wurde über die Frage diskutiert, welchen einem Bündnis zwischen den kooptierten »Priyayi«, Stellenwert die Scharia in der Verfassung haben den Beamtenaristokaten, und den Ulama eine und ob die Republik Indonesien ein islamischer große Gefahr. Ein solches Bündnis führte 1825–30 Staat sein sollte. Mit der Formulierung der zum außerordentlich verlustreichen Java-Krieg. Jakarta-Charta einigten sich die säkularistisch Die Niederländer setzten aus Sorge vor den ortho- orientierten Nationalisten und die islamischen doxen Muslimen überwiegend synkretistische Mus- Führer in dem Komitee für die Vorbereitung der lime, »Abangan«, in der kolonialen Verwaltung Verfassung vom 22. Juni 1945 auf einen Kompro- ein. 3 Auf diese Weise blieb den orthodoxen Musli- miss. 7 Mit der Charta wurde die Anordnung der men, den »Santri«, der Zugang zum Staatsapparat fünf Prinzipien der Staatsphilosophie, der »Panca- versperrt. sila«,8 verändert und das nun an erster Stelle Trotzdem gewannen die orthodoxen Muslime seit Ende des 19. Jahrhunderts unter den Einhei- mischen an Einfluss, weil die Priyayi wegen ihrer 3. Zum besseren Verständnis des indonesischen Islam Abhängigkeit von den Niederländern zunehmend unterscheidet man im Anschluss an Clifford Geertz an Macht und Legitimität einbüßten und weil zur (Geertz 1960: The Religion of Java; London) zwischen gleichen Zeit reformistische bzw. modernistische den orthodoxen Muslimen, den Santri, und den synkre- Strömungen aus dem Nahen Osten den indone- tistischen Muslimen, den Abangan. Die – häufig klein- bäuerlichen – Abangan glauben an javanische Götter sischen Islam zu beleben begannen. Erst um 1900 meist indischen Ursprungs (nach einer Berechnung war der Abangan-Santri-Gegensatz völlig ent- waren es Ende des 19. Jahrhundert über 1000), an eine wickelt. Der Santrismus wurde zu einer religiösen Unzahl von Geistern und an die magischen Kräfte von und politischen, d. h. antikolonialen Doktrin aus- »dukun«, die als Zauberer, Hexer, Medizinmänner und/oder Wahrsager auftreten. gearbeitet und zunehmend von den klassischen, 4. Geertz, C. (1991): Religiöse Entwicklungen im Islam. hindubuddhistischen Traditionen Indonesiens ab- Beobachtet in Marokko und Indonesien; Frankfurt/Main; gegrenzt. 4 hier S. 100 ff. Um 1910 setzte sich der Modernismus unter 5. Majelis Islam A’la Indonesia. 6. Majelis Syuro Muslimin Indonesia = Konsultativrat den Händlerschichten der größeren Städte mehr der Indonesischen Muslime. und mehr durch. Es kam zur Gründung des 7. Die Jakarta-Charta ist bis heute in ihrem Gehalt um- Sarekat Islam, der ersten großen nationalistischen stritten. Der Kernsatz »dengan kewajiban menjalankam Vereinigung, und der Muslimorganisation Muham- syari’at Islam bagi pemeluk-pemeluknya« bedeutet in der Übersetzung: »mit der Verpflichtung für die Muslime, madiyah. 1926 wurde als Reaktion auf den aufkei- die Scharia auszuführen/anzuwenden«. menden Modernismus die Nahdatul Ulama (NU, 8. Zu den fünf Prinzipien der Staatsphilosophie, der »Renaissance der Ulama«), eine Interessenvertre- Pancasila, zählen: der Glaube an den Alleinigen Gott tung der traditionalistisch orientierten Islamge- (Ketuhanan Yang Maha Esa); die gerechte und zivili- sierte Menschlichkeit (Kemanusiaan yang adil dan lehrten, die ihre Basis in den javanischen Dörfern beradab); die Einheit Indonesiens (Persatuan Indonesia); haben, gegründet. die weise geführte Demokratie, beruhend auf allgemei- Der Gegensatz zwischen Abangan und Santri ner Beratung und Volksvertretung (Kerakyatan yang und zwischen Traditionalisten und Modernisten dipimpin oleh hikmat kebijaksanaan dalam permusyawa- ratan/perwakilan) und die soziale Gerechtigkeit für das prägte den indonesischen Islam über Jahrzehnte, gesamte indonesische Volk (Keadilan sosial bagi seluruh und z. T. lassen sich diese Spaltungen, wenn auch rakyat Indonesia); vgl. Wandelt, I. (1989): Der Weg zum in modifizierter Form, bis heute verfolgen. Es Pancasila-Menschen; Frankfurt/Main. 182 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
stehende Prinzip des Glaubens an den einen Gott verhindern und rächten sich zu Beginn der Neuen um den Zusatz erweitert, dass Muslime die Scharia Ordnung mit Massakern an den Kommunisten anzuwenden hätten. Allerdings sorgte Mohammad und ihren Sympathisanten. Hatta, damals nach Sukarno die einflussreichste Persönlichkeit in Indonesien, dafür, dass dieser Passus in der dann gültigen Fassung der Präambel Der Islam in der frühen und mittleren Phase der und des Verfassungstextes nicht mehr auftauchte. Neuen Ordnung Hatta fürchtete Widerstand insbesondere von christ- lichen Ostindonesiern. Die Änderung wurde später Die Muslime (etwa der NU-Jugendorganisation von vielen Muslimen als Betrug gewertet. 9 Ansor oder des Studentenverbandes HMI) hatten Indonesien wurde endgültig im Jahre 1949 erheblichen Anteil an der Zerschlagung der Kom- unabhängig. Zuvor waren die 1945 zurückge- munistischen Partei und der politischen Linken kehrten Niederländer in einem blutigen Krieg überhaupt. Trotzdem blieben sie aus den Zentren an der Wiedererrichtung ihrer Kolonialherrschaft der »Orde Baru«, der »Neuen Ordnung«, unter gehindert worden. Erst sechs Jahre später, im Suharto (1965–98) weitgehend ausgeschlossen. Jahre 1955, fanden die ersten freien Wahlen statt. Die Neue Ordnung war eine von Präsident Die islamischen Parteien erreichten zusammen nur Suharto dominierte Militärdiktatur. Das Militär 43,5 % der Stimmen. Der Vorstellung, einen Islam- legitimierte sich mit der Doktrin der »dwifungsi«, staat errichten zu können, erwies sich als Illusion, d. h. der Doppelfunktion im militärischen Bereich da die Abangan sich zur großen Enttäuschung der einerseits, im sozialen, politischen und wirtschaft- orthodoxen Muslime den nichtislamischen Par- lichen Bereich andererseits. Die drei offiziell zu- teien (der Partai Nasional Indonesia, PNI, und der gelassenen Parteien gaben dem Regime einen Partai Komunis Indonesia, PKI) zuwandten. 10 demokratischen Anstrich. Die Regierungspartei Auch in der Konstituante, die 1956–59 eine Golkar (Golongan Karya = funktionale Gruppen 12) neue Verfassung ausarbeiten sollte, waren die Ver- konnte die weitgehend manipulierten Wahlen handlungen von den Streitigkeiten zwischen ortho- immer zu ihren Gunsten entscheiden. Die beiden doxen Muslimen und ihren Widersachern geprägt. anderen, allenfalls halboppositionellen Parteien, Zum Zeitpunkt der Auflösung dieser Versamm- die 1973 von der Regierung per Gesetz geschaffen lung durch Sukarno (1959) sprachen sich 48 % der Abgeordneten für den Islam als Wertebasis der Republik Indonesien aus, 52 % stimmten für die 9. Ramage, D. E. (1995): Politics in Indonesia: Demo- cracy, Islam and the Ideology of Tolerance; London; hier Pancasila. S. 16 f. Nach der Einführung der Gelenkten Demo- 10. Vor den Wahlen hatte sich der Gegensatz zwischen kratie, einer populistischen Scheindemokratie, den Traditionalisten der NU (die sich Anfang der 50er durch Sukarno im Jahre 1959 und dem Verbot vom Jahre aus dem Masyumi zurückgezogen und eine eigene Partei gegründet hatte) und den beim Masyumi bleiben- Masyumi ein Jahr später (wegen der Beteiligung den Modernisten wieder etwas verstärkt. einiger Masyumi-Politiker an regionalistischen 11. Sukarno bezeichnete diese Allianz mit dem Bewegungen) war der modernistische Islam als Akronym »Nasakom«. Die drei Silben stehen für Natio- parteipolitische Kraft entscheidend geschwächt. nalismus (Nasionalisme), Religion (agama) und Kom- munismus (komunisme). Die NU wurde in eine fragile Allianz von Nationa- 12. Hinter dem Konzept der funktionalen Gruppen listen, religiösen Gruppen und Kommunisten ein- verbirgt sich die auch vom ehemaligen Präsidenten gebunden. 11 Die Bürokratie und das Militär waren Sukarno propagierte Ideologie, wonach in einer wirt- weiterhin von Abangan beherrscht. schaftlich unterentwickelten Gesellschaft wie der indone- sischen, in der sich noch keine Klassenstrukturen gebil- 1964/65 steigerten sich die Spannungen zwi- det haben, gerechte Entscheidungen unter Berücksichti- schen den meist grundbesitzenden Santri und gung sämtlicher Interessengruppen getroffen werden der ländlichen Abangan-Unterschicht, da die PKI können. Die funktionalen Gruppen (Frauen, Jugend- in »einseitigen, eigenmächtigen Aktionen« (aksi liche, Lehrer, Ärzte usw.) unterscheiden sich nicht auf- grund ihrer Klassenlage voneinander, sondern aufgrund sepihak) begann, die 1960 vom Parlament be- ihrer Funktion in der arbeitsteiligen Gesellschaft. Golkar schlossene Landreform durchzusetzen. Die wohl- nahm für sich in Anspruch, alle wichtigen gesellschaft- habenden Bauern konnten die Landbesetzungen lichen Gruppen angemessen zu repräsentieren. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 183
und danach ständig beaufsichtigt wurden, nämlich Von anderen wiederum wurde die Lehre als kon- die PDI (Partai Demokrasi Indonesia = Demokra- servativer, traditionalistischer Aufruf zur Abkehr tische Partei Indonesien) und die islamische PPP von der moralischen Verkommenheit des okziden- (Partai Persatuan Pembangunan = Vereinigte Ent- talen Liberalismus und modernen Kapitalismus wicklungspartei), hatten bis zum Ende der Neuen gedeutet. Ordnung mit ihrem schlechten Image als Legiti- Der allgemeine Trend zur Rückbesinnung auf mationsbeschaffer zu kämpfen. den Islam ist auch vor dem Hintergrund globaler In der Frühphase des Suharto-Regimes (von Veränderungen zu sehen. Die in vielen Ländern zu 1965 bis Ende der 60er Jahre) gehörten noch beobachtende Repolitisierung des Islam dürfte viele muslimische Führer zur neu geschmiedeten eine Reaktion auf die – von vielen Muslimen so Regimekoalition. Danach, bis Ende der 80er Jahre, wahrgenommene – globale Vorherrschaft der okzi- war diese Beziehung von einer großen Ambivalenz dentalen, christlich-jüdischen Kultur sein. Der gekennzeichnet: Einerseits gab es weiterhin viele Islam ist deshalb in den 80er Jahren zuneh- Muslime, die als Mitglieder der großen Muslim- mend zu einer gegen die Verwestlichung gerich- organisationen Nahdatul Ulama und Muham- teten »Defensiv-Kultur« geworden. 14 Eine weitere madiyah sowie der PPP das Regime unterstützten, Ursache der Wiederbelebung der Religion ist andererseits existierten einzelne Gruppierungen, der enorme wirtschaftliche Wandel, der zur Ent- die die Regierungspolitik bekämpften oder zumin- stehung einer neuen Mittelklasse führte. Diese dest kritisierten. Viele Muslime fühlten sich sogar Mittelklasse, bestehend aus zumeist in Städten diskriminiert. Von Natsir, der früher Masyumi- lebenden Professionals sowie kleinen und mitt- Vorsitzender und lange einer der führenden isla- leren Unternehmern, interpretierte die islamische mischen Intellektuellen in Indonesien war, stammt Lehre neu. 15 Die staatliche Kooptationsstrategie in der häufig zitierte Ausspruch, die Muslime seien den 90er Jahren war vor allem auf diese Gruppe vom Staat wie »cats with ringworms« behandelt gerichtet. worden. 13 Trotz oder gerade wegen dieser Diskriminie- rung kam es seit den 70er, verstärkt aber seit den 13. Es gibt Staaten, deren Rechtssysteme auf islami- schem Recht, der Scharia, aufbauen und deren politische 80er Jahren zu einer allgemeinen Islamisierung. Gremien in ihrer Struktur und ihren Entscheidungs- Es wurde mehr und regelmäßiger gebetet, die befugnissen ausdrücklich von dieser Scharia abgeleitet Moscheen waren an den Freitagen gefüllt, man sind. Andere Staaten erheben den Islam zur Staatsreli- benutzte häufig arabische Ausdrücke, begrüßte gion, sind aber fast vollständig säkularisiert. In der Orde Baru (Neuen Ordnung) waren durch die Pancasila meh- sich in dieser Sprache, und Gebetsnischen wurden rere monotheistische Religionen als gleichberechtigt in fast jedem Büro und jedem Geschäft eingerich- anerkannt. Das waren neben dem Islam der Protestantis- tet. mus, der Katholizismus, der Buddhismus und der Hin- Die so genannte »Normalisierung des Campus- duismus. Indonesien ist somit ein de facto weitgehend säkularisierter Sondertypus. Lebens« im Jahre 1978 (ein Euphemismus für 14. Vgl. Tibi, B. (1991): Die Krise des modernen Islams – die verschärfte Kontrolle der Universitäten), die Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-techni- Schwächung der politischen Parteien, insbeson- schen Zeitalter; Frankfurt/Main. In Indonesien sind die dere der islamischen, und die Depolitisierung orthodoxen, konservativen Muslime i. d. R. antiwestlich eingestellt. Diese Haltung richtet sich besonders gegen sämtlicher Organisationen, zumal die Durchset- den vermeintlich unmoralischen Lebenswandel, gegen zung der Pancasila als »azas tunggal«, d. h. als der den angeblich besonders brutalen Kapitalismus und einzig zugelassenen ideologischen Grundlage von gegen die »Gottlosigkeit« in den westlichen Ländern. In Parteien und Massenorganisationen, bewirkten Indonesien konnte islamische Orthodoxie aber auch ein Zeichen der Opposition gegen das – zumindest teilweise zwar eine Privatisierung der Religion, nicht aber »verwestlichte« – Suharto-Regime sein. ihre Entpolitisierung. Der Islam wurde zu einer 15. Deswegen wird häufig von »neo-Santri« gespro- Lehre des Widerstandes gegen reiche Sinoindo- chen, vgl. Hefner 2000, 105 und 119. Aus der umfang- nesier und gegen korrupte Politiker, Bürokraten reichen Literatur zu diesem Thema sei nur erwähnt: Hasbullah, M. (2000): »Cultural Presentation of the und Militärs. Auch die westlich orientierte, urbane Muslim Middle Class in Contemporary Indonesia«, in: Mittelklasse artikulierte selbstbewusst ihre Inter- Studia Islamika. Indonesian Journal for Islamic Studies; essen unter Berufung auf islamische Gedanken. Vol. 7, no. 2, S. 1–57. 184 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
Die Stärkung des Islam in den letzten Jahren Die staatliche Lotterie wurde nach anhaltenden der Neuen Ordnung Protesten verboten. Es kam zu einer »Vergrünung« (penghijauan) Im Jahre 1988 verschärfte sich der Konflikt der Parlamente, der Kabinette, des Golkar-Vor- zwischen Suharto und einer Gruppe von Militärs standes 17 und der Militärführung. Das heißt, die um Benny Murdani, dem christlichen Komman- Anzahl der orthodoxen Muslime in Spitzenposi- deur der Streitkräfte, der über ein Netzwerk von tionen nahm sprunghaft zu. So hatte, um nur Geheimdiensten verfügte. Suharto versuchte, die ein Beispiel zu nennen, Suharto bis Anfang der Armee zu schwächen und die Führung stärker 90er Jahre die Santri aus den höheren Rängen unter seine Kontrolle zu bringen. Ein Mittel dafür des Militärs ausgeschlossen, weil er den Auf- war seine Annäherung an islamische Gruppen. stieg der Muslime zu einer mächtigen poli- Dadurch änderte sich das Verhältnis der Regime- tischen Gruppierung verhindern wollte. Die koalition zum Islam und umgekehrt die Haltung Generäle Feisal Tanjung und Try Sutrisno waren vieler Muslime zum Staat. Der Präsident begann dann die ersten orthodoxen Muslime, die in die seine Reden mit einem »assalamulaikum«. Er pil- höchsten Militärränge vorstoßen konnten. gerte nach Mekka und nannte sich seitdem Es vertiefte sich im Zuge dieser staatlich geför- »Muhammad Haji«. Er wollte offenbar eine Art derten »Vergrünung«, die auch eine Reaktion auf stiller Koalition mit Muslimgruppen eingehen, um eine genuine Belebung des Islam als »way of life« den Murdani-Flügel des Militärs, der 1989 im Par- und als politische Lehre war, die bestehende Spal- lament eine Debatte über eine politische Öffnung tung zwischen den modernistischen Muslimen, die (keterbukaan) begonnen und forciert hatte, besser sich um Amien Rais u. a sammelten, und den kontrollieren zu können. Murdani wurde schließ- »säkularen Nationalisten«, u. a. durch Abdurrah- lich im Jahre 1993 vollends entmachtet. man Wahid 18 und durch Megawati Sukarnoputri, Die größere Bedeutung des Islam in Indonesien die Tochter des hoch geachteten ehemaligen Präsi- seit Mitte/Ende der 80er Jahre hat aber nicht nur denten Sukarno, vertreten wurden. in der Hinwendung des Präsidenten zur Santri- Insbesondere die Gründung der Intellektuellen- Variante des Islam, sondern auch in verschiedenen organisation ICMI verstärkte diese Polarisierung. gesetzlichen Veränderungen und politischen Maß- Für viele modernistische Muslime war mit der nahmen 16 ihren Niederschlag gefunden: Etablierung dieser Organisation der jahrzehnte- Die Regierungsausgaben für den Bau von langen Unterdrückung durch säkularistisch orien- Moscheen, für die Verbreitung der islamischen tierte, häufig christliche Militärs, die mit sinoindo- Lehre und die finanzielle Unterstützung der nesischen, ebenfalls häufig christlichen Industrie- staatlichen Islam-Universitäten wurden deutlich bosse zusammenarbeiteten, ein Ende bereitet. Viele erhöht. ICMI-Mitglieder wollten eine »proportionale« – Ein neues Bildungsgesetz legte einen obligato- ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölke- rischen Religionsunterricht in den staatlichen rung entsprechende – Vertretung der orthodoxen und privaten Bildungseinrichtungen fest. Muslime im Militär, in der Verwaltung, in den Die islamischen Gerichte wurden bei Fragen von Heirat, Scheidung und Erbschaft gesetzlich 16. Thaba, A.A. (1996): Islam dan negara dalam politik gestärkt; außerdem wurde das islamische Recht Orde Baru (1966–1994); Jakarta; S. 278 ff. systematisiert. 17. Auch im Volkskongress MPR (Majelis Permusyawa- Die Indonesische Vereinigung islamischer Intel- ratan Rakyat) wurde Golkar seit 1993 zunehmend durch lektueller ICMI (Ikatan Cendekiawan Muslim bekannte und geachtete islamische Führer bzw. Intellek- tuelle vertreten (siehe: Mas’oed, M./Arfani, R.N. (1994): Se-Indonesia) wurde 1990 gegründet. »SU-MPR dan Pembentukan Kabinet VI«; in: Profil Indo- Musliminnen durften seit 1990 in Schulen den nesia, Jurnal Tahunan CIDES, Nr. 1, Jakarta). jilbab, ein das Gesicht frei lassendes, bis auf die 18. Wahid ist Enkel des NU-Gründers und Sohn eines Schultern reichendes Kopftuch, tragen. ehemaligen Religionsministers. Er studierte an der al-Azhar-Universität in Kairo und an der Universität von Islamische Kulturfestivals wurden veranstaltet. Bagdad und arbeitete als Dekan der Theologie-Fakultät Eine Islambank (Bank Muamalat) wurde errich- der kleinen Hasyim-Asyari-Universität in Jombang und tet. als Generalsekretär eines Islaminternates. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 185
Ministerien und in der Regierungspartei Golkar Muslime (und Habibie-Vertraute) in höchste erreichen. Einige von ihnen hofften sogar darauf, Ämter gelangten, stieg auch Habibie in der Hier- die wirtschaftliche Übermacht der Sinoindonesier archie immer weiter nach oben. 1993 konnten zu brechen und die »Pribumi«, die indigenen jene Militärs, die eine Zivilisierung und Islamisie- Indonesier, nach malaysischem Muster durch rung befürchteten, noch die Ernennung des For- »affirmative actions« zu ebenbürtigen Unterneh- schungs- und Technologieministers zum Vizeprä- mern zu machen. sidenten verhindern. 1998 aber konnte die Habi- Doch nicht alle muslimischen Führer waren bie-Gruppe die Wahl ihres Patrons zum Vizepräsi- bereit, sich ICMI anzuschließen. Abdurrahman Wa- denten durchsetzen. hid, der charismatische, hoch angesehene NU-Vor- Zu dieser Zeit, im März 1998, befand sich sitzende, der als liberaler Intellektueller an der Indonesien bereits in der größten wirtschaftlichen Spitze einer in vielen Fragen konservativ-tradito- und politischen Krise seit 1965. Die Asienkrise nalistischen Organisation ohnehin eine Reizfigur hatte seit dem August 1997 zu einem Verfall war, warf ICMI »sektiererische« Absichten vor. Er der Rupiah, zur Entlassung mehrerer Millionen gründete das »Demokratieforum« (Forum Demo- Arbeiter und zu zeitweise dreistelligen Inflations- krasi), das allerdings aufgrund dauernder Repres- raten geführt. Im Februar 1998 rief der Indone- salien der Militärs nie mehr als ein Intellektuellen- sische Ulama-Rat MUI (Majelis Ulama Indonesia) zirkel war. Anders als ICMI stellte das Forum zum Dschihad gegen Spekulanten und Waren hor- die Demokratisierungsfrage in den Vordergrund tende Geschäftsleute – gemeint waren Sinoindo- und nahm auch angesehene Nichtmuslime auf. nesier – auf. Außerdem forderte Suharto einige Für Wahid war ICMI eine Organisation, die die Dutzend »Tycoons« öffentlich auf, ihre im Aus- ohnehin schon gespannten Beziehungen zu den land angelegten Gelder nach Indonesien zu trans- religiösen Minderheiten durch eine skripturalis- ferieren. Die aufgeheizte antichinesische Stimmung tisch-modernistische Korandeutung noch weiter begünstigte Plünderungen und Ausschreitungen verschlechterte. 19 Die von den Nicht-Santri deut- in ganz Indonesien. 20 Zur gleich Zeit versuchte lich wahrgenommene Gefahr einer die Minder- der führende Militär und Suharto-Schwiegersohn heiten diskriminierenden Islamisierung sei mit Prabowo, die Kontakte zu islamistischen Gruppen ICMI größer geworden. Auch liberale Muslime wie – darunter die tendenziell fundamentalistische 21 22 Johan Effendi, Aswab Mahasin und Nurcholish KISDI-Gruppe – auszubauen. Im Januar trafen Majid teilten einige dieser Vorbehalte. Der eigent- sich 4.000 muslimische Aktivisten, u. a. von KISDI liche Zweck von ICMI war es – so meinten einige und vom ebenfalls z. T. fundamentalistischen Kritiker – zu einer islamischen Partei, einer Neo- Dewan Dakwah Islamiyah Indonesia, 23 mit meh- Masyumi, zu werden. Von den Nichtmuslimen in reren Tausend Kopassus-Soldaten (der Sonder- Indonesien wurde ICMI mit Argwohn betrachtet, einsatzgruppe unter dem Befehl Prabowos) im weil es einen Flügel in dieser Organisation gab, Kopassus-Hauptquartier zu einem Fest am Ende dessen Angehörige offen von Kristenisasi, also der des Ramadan. übermäßigen Besetzung von Machtpositionen Jene islamischen Gruppen, die seit jeher eine durch Christen sprachen. ambivalente Haltung zur Neuen Ordnung ein- Für Suharto war ICMI in erster Linie ein wei- genommen hatten, zeigten sich auch in den ersten teres Machtinstrument. Er wollte seinen For- schungs- und Technologieminister Habibie zu seinem Vizepräsidenten, vielleicht sogar zu seinem 19. Wahid, A. (1995): »Intelektual di Tengah Eksklu- Nachfolger aufbauen. Habibie war Herr über sivisme«; in: Ali-Fauzi, N. (Hg.): ICMI-Antara Status Qua dan Demokratisasi; Bandung; S. 70–75. eine Reihe von Staatsunternehmen (Flugzeugbau, 20. Sidel, J.T. (1998): »Macet Total: Logics of Circula- Schiffbau, Munitionsherstellung etc.), verfügte tion and Accumulation in the Demise of Indonesia’s aber bis zu diesem Zeitpunkt nur über eine unzu- New Order«; in: Indonesia 66; S. 159–194; hier S. 182 ff. reichende Hausmacht. Suharto machte ihn zum 21. KISDI = Komite Indonesia untuk Solidaritas Dunia Islam = Indonesisches Komitee für die Solidarität der ICMI-Vorsitzenden und räumte ihm in der Regie- Islamischen Welt; gegründet 1990 von M. Natsir. rungspartei Golkar eine zentrale Stellung ein. Da 22. Far Eastern Economic Review, 12.2.1998. Anfang der 90er Jahre im Militär einige orthodoxe 23. Indonesischer Rat für islamische Missionierung. 186 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
Monaten des Jahres 1998 unschlüssig. Die NU war Präsidenten davon überzeugten, dass er keinen in der Phase vor dem Sturz Suhartos gespalten. Rückhalt mehr in der Bevölkerung hatte. 26 A. Wahid z. B. wollte um fast jeden Preis die Präsidentschaft Habibies verhindern. Nur ein Flügel um Generalsekretär Ahmad Bagdja, der Der Islam nach dem Sturz Suhartos von NU-Studentenorganisationen bestärkt wurde, scheint die Demokratiebewegung deutlich unter- Mit dem Sturz Suhartos und der Ernennung stützt zu haben. Im April forderte die NU die Habibies zu seinem Nachfolger setzte am 21. bzw. Streitkräfte auf, die Reformen zu unterstützen, 22. Mai 1998 eine Übergangsphase ein, in der aber erst am 15. Mai gab es Verlautbarungen Habibie und sein neues mit Gefolgsleuten besetz- aus der NU-Zentrale, wonach der von Suharto tes Kabinett notgedrungen eine Reihe von Refor- erwogene Rücktritt begrüßt wurde. Sogar noch men durchführten. Sie wurden vom Flügel um am 19. Mai soll Wahid bei dem Treffen der isla- Militärkommandeur Wiranto, der sich gegen den mischen Führer mit dem noch amtierenden Präsi- reaktionären Prabowo-Flügel durchgesetzt hatte, denten die halbherzigen Reformpläne Suhartos unterstützt. Sowohl die internationalen Kapital- gebilligt haben. 24 geber als auch die außerparlamentarische Opposi- Der Amien-Rais-Flügel von Muhammadiyah tion, also vor allem die jederzeit zu Protest- war demgegenüber deutlich auf Seiten der Demo- aktionen bereiten Studenten und die sich schon kratiebewegung, wenngleich auch Rais der Wie- seit dem Mai 1998 neu konstituierenden poli- derwahl Suhartos zum Präsidenten im März 1998 tischen Parteien, waren in der Lage, den Liberali- schweren Herzens zustimmte. Seit er Ende 1997 sierungskurs der neuen Regierung und der noch von Suharto aus einer Führungsposition bei ICMI amtierenden Parlamentarier wesentlich mitzube- gedrängt worden war, hatte er sich an die Spitze stimmen. der Reformbewegung gesetzt. Im Gegensatz zu Obwohl die neu entstehenden Parteien ver- A. Wahid und eher noch als die zurückhaltend pflichtet waren, sich zu den Pancasila als einziger auftretende Megawati Sukarnoputri wurde er Grundlage zu bekennen, beriefen sich einige wie zum Idol der Studentenbewegung. Nach einem die PBB (Partai Bintang Bulan = Partei des Halb- Bericht des Magazins D&R im September 1998 mondes), die PPP (Partai Persatuan Pembangunan soll Suharto sogar einen Mordanschlag auf Rais = Vereinigte Entwicklungspartei) und die PK (Par- erwogen haben. tai Keadilan = Gerechtigkeitspartei) unmittelbar auf Der ICMI-Generalsekretär Adi Sasono trat den Islam. Andere Parteien, obschon sie deutlich schon im Januar mit dem Plan, einen »Nationalen erkennbare islamische Wurzeln hatten, öffneten Dialog« zu führen, an die Öffentlichkeit. Die sich explizit auch für Nichtmuslime. Zu ihnen damit angestrebte informelle Allianz zwischen gehörten die von Abdurrahman Wahid dominierte Rais, Megawati und Wahid scheiterte aber am NU-Partei PKB (Partai Kebangkitan Bangsa = Par- Widerstand Wahids. Als sich abzeichnete, dass tei des Volkserwachens) sowie die PAN (Partai Habibie Vizepräsident werden würde, hielten sich Amanat Nasional = Partei des Nationalen Man- die kritischen ICMI-Mitglieder wieder etwas stärker zurück. Unter der Führung von Ahmad Tirtosu- 24. Vgl.: Mietzner, M. (1998): »Between pesantren and diro und Adi Sasono emanzipierte sich ICMI aber palace: Nahdlatul Ulama and its role in the transition«; nach der Wahl Habibies zunehmend von ihrem in: Forrester, G. / May, R.J. (eds.): The fall of Soeharto; Patron. Tirtosudiro forderte eine Sondersitzung Bathurst/London, S. 179–199. des Volkskongresses (MPR), und die ICMI-Führung 25. Zum Neomodernismus, einer spezifisch indone- sischen, liberalen Verknüpfung modernistischer und tra- sprach von einer politischen Krise und kritisierte ditionalistischer Denkfiguren: Barton, G. (1995): »Neo- die bisherigen Reformvorschläge der Regierung Modernism: A Vital Synthesis of Traditionalist and als vage und verspätet. Modernist Islamic Thought in Indonesia«; in: Studia Zuletzt waren es neun von Suharto zu einem Islamika; Vol. 2, Nr. 3; S. 1–75. 26. Eine detailliertere Darstellung der jüngsten Ereig- Gespräch eingeladene islamische Führer, unter nisse findet sich in: Ufen, A.: »Grundzüge der poli- ihnen insbesondere der neomodernistische 25 mus- tischen Entwicklung in Indonesien von 1997–2000«; in: limische Intellektuelle Nurcholish Majid, die den Südostasien aktuell 4/2000, 5/2000, 6/2000 und 1/2001. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 187
dats) unter dem Vorsitz von Amien Rais. Von Die von der Habibie-Regierung gewährte 141 neu gegründeten Parteien waren etwa 40 isla- Versammlungs-, Assoziations- und Pressefreiheit misch. Von den zu den Wahlen zugelassenen führte innerhalb weniger Wochen zu einer Akti- 48 Parteien waren es 20. vierung der jahrzehntelang zum Schweigen ver- In der Gerechtigkeitspartei PK verbinden sich urteilten Zivilgesellschaft. Dennoch war die Neue ausgesprochen demokratische Grundüberzeugun- Ordnung noch nicht beseitigt. Nur wenige der gen mit Vorstellungen von einem tugendhaften besonders korrupten und Suharto-nahen Angehö- Leben gemäß rigide interpretierter islamischer rigen der alten Machteliten wurden ausgewechselt. Lehren. So vermeiden Männer und Frauen in Selbst die große Mehrheit der Parlamentarier, die dieser Partei jeglichen Körperkontakt. Diese Rück- in der Zeit des Suharto-Regimes die Politik der kehr zu den (vermeintlichen) Ursprüngen der isla- Regierung abgesegnet hatten, konnte vorerst im mischen Gemeinschaft bedeutet jedoch keine Ab- Parlament bleiben. Es ergab sich also eine seltsame kehr von Wissenschaft und Rationalität. Der Partei- Auseinandersetzung zwischen den noch amtie- vorsitzende ist promovierter Agrarwissenschaftler. renden Status-quo-Kräften, die notgedrungen Die Partei des Halbmondes PBB ist eine moder- Reformen verabschieden mussten, und den in nistische Partei, die sich für eine Islamisierung diese Ämter drängenden Mitgliedern der neu der Gesellschaft einsetzt. Für eine solche Islamisie- gegründeten Parteien. Erst mit den Beschlüssen rung wird die Benachteiligung anderer religiöser des Volkskongresses (MPR) 29 – eines zweiten Parla- Gemeinschaften in Kauf genommen. Politische mentes, das den Präsidenten wählt und über Ver- Maßnahmen werden ausdrücklich unter Berufung fassungsänderungen beschließt – im November auf die islamische Lehre begründet. Ähnlich ist die 1998 und mit den vom nationalen Parlament (DPR) 30 Haltung der Vereinigten Entwicklungspartei PPP, im Januar 1999 verabschiedeten neuen Geset- die bereits seit 1973 existiert und in der Neuen zen war der Weg zu nationalen Wahlen endgültig Ordnung zu den drei legalen Parteien gehörte. Sie frei. war früher von den Modernisten beherrscht (wes- Diese Wahlen im Juni 1999, die von indone- halb die NU 1984 aus der PPP austrat), öffnete sich sischen und internationalen Wahlbeobacherorga- aber mit der Wahl von Hamzah Haz, einem NU- nisationen als im Wesentlichen fair und frei ein- Mitglied, zum Parteivorsitzenden stärker den Tra- gestuft wurden, bestätigten die Machtsteigerung ditionalisten. Auch die bisherige Regierungspartei der islamischen Gruppierungen und Parteien. Von Golkar, die nach dem Mai 1998 zu einer Partei von vielen wurde, näherte sich stärker dem modernis- tischen Lager. 27 27. Die Militärs, die lange Golkar beherrscht und in Die Partei des nationalen Mandats PAN ist die den 90er Jahren zumindest noch im Hintergrund von Bedeutung waren, zogen sich aus der Partei mehr und Partei von Amien Rais, dem populärsten islami- mehr zurück. Die Suharto-Familie wurde entmachtet, schen Modernisten, der bis 1998 Vorsitzender der und beim Parteikongress im Juli 1998, bei dem die 28 Millionen Mitglieder zählenden Muhamma- Weichen für die nächsten Jahre gestellt wurden, konnte sich der Flügel um Habibie und Akbar Tanjung (beide diyah war. Er verfolgte lange ähnlich politische gelten als modernistische Muslime) gegen einen nationa- Ziele wie die meisten PBB- und PPP-Mitglieder. listisch, Pancasila-orientierten Flügel um Ex-General Edi Beide Parteien wollten ihn anfänglich sogar auf- Sudrajat durchsetzen. nehmen. Rais entschied sich aber dann dafür, eine 28. Manche Beobachter interpretierten das als den Ver- such, Sinoindonesier als Finanziers zu gewinnen. eigene Partei zu gründen und sich auch der nicht- 29. Während die in der Mehrheit eher konservativen muslimischen Wählerschaft zu öffnen. 28 Parlamentarier über die Gesetzesänderungen berieten, Die PAN, die PBB, die PPP und die PK gelten kam es unweit des Parlamentsgeländes zu bürger- als überwiegend modernistische Parteien. Das kriegsähnlichen Kämpfen zwischen Sicherheitskräften, demonstrierenden Studenten und so genannten Pam- modernistische Lager war also anders als 1955, als Swakarsa-Truppen (Pengamanan Swakarsa = autonome der Masyumi über 20 % der Stimmen auf sich ver- Sicherheitskräfte). Die etwa 100.000–125.000 Mann einigen konnte, gespalten. Die Traditionalisten im starken Truppen bestanden aus muslimischen Jugend- lichen, die leicht bewaffnet waren und die Aufgabe hat- Umfeld der Nahdatul Ulama hingegen wurden ten, den Volkskongress vor den Protesten der Studenten vorrangig von der Partei des Volkserwachens PKB zu schützen. repräsentiert. 30. Dewan Perwakilan Rakyat. 188 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
den sieben Parteien mit dem größten Stimmenan- dert wieder sichtbar geworden – die Auseinander- teil sind fünf muslimisch. Die meisten Stimmen setzung zwischen orthodoxen Muslimen und unter ihnen erhielt die traditionalistische PKB solchen Gruppierungen, die der Religion im poli- (12,6 %, 51 Parlamentssitze), gefolgt von den eher tischen Bereich keine wichtige Funktion zumessen modernistischen Parteien PPP (10,7 %, 58 Sitze), und die Gleichberechtigung der in den Pancasila PAN (7,1 %, 34 Sitze), PBB (1,9 %, 13 Sitze) und PK aufgeführten Religionen und ihrer Anhänger her- (1,4 %, 7 Sitze). Die beiden mit großem Abstand vorheben. stärksten Parteien im nationalen Parlament sind Da weder die poros tengah noch die Megawati- aber die PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia- Anhänger über genügend Stimmen verfügten, Perjuangan = Demokratische Partei Indonesien – konnte sich überraschend der liberale Muslim- Kampf, mit 153 Sitzen bei 33,8 % der Stimmen), führer Abdurrahman Wahid, unterstützt von der die von der Sukarno-Tocher Megawati Sukarno- poros tengah, durchsetzen. Am 20. Oktober 1999 putri geführt wird, und das ehemalige Vehikel wählte der Volkskongress Wahid mit 373 zu 313 der Neuen Ordnung, die Partei Golkar (22,5 %, Stimmen zum vierten Präsidenten der Republik 120 Sitze), Die PDI-P, die auch von vielen Nicht- Indonesien. Damit setzte sich eine große Koalition muslimen gewählt wird, und Golkar sind tenden- muslimischer Parteien mit Unterstützung der ziell säkularistisch orientiert und gegen eine Politi- Konservativen, einem dritten Lager im Parlament, sierung der Religion. gegen die säkular-nationalistischen Megawati- Anhänger durch. Für viele Muslime war eben eine Frau im höchsten Staatsamt undenkbar, zumal Die Wahl des neuen Präsidenten sie nicht als orthodoxe Muslimin galt. A.M. Sae- fuddin, ein hoch angesehener PPP-Politiker, Nach den Wahlen vom Juni 1999, vor allem aber Minister im Habibie-Kabinett und lange mög- nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse und der licher Präsidentschaftskandidat seiner Partei, be- Neukonstituierung des nationalen Parlaments (DPR), zeichnete Megawati während des Wahlkampfes begannen die informellen Verhandlungen über sogar als Hinduistin, weil sie an einer hinduis- die Zusammenarbeit bei der Präsidentenwahl. Zu- tischen Zeremonie in Bali teilgenommen hatte. nächst war die Frage, ob sich Megawati (PDI-P) Megawati wurde aber von den orthodoxen Mus- gegen Habibie (Golkar) durchsetzen könnte. limen vor allem unter Verweis auf ihr Geschlecht Amien Rais, der eine der populärsten Politiker die Fähigkeit zur Führung des Landes abgespro- in Indonesien war und bei einer Direktwahl des chen. 31 Mehrere Spitzenpolitiker und führende Präsidenten sicherlich wesentlich besser abge- Organisationen beriefen sich auf den Koran und schnitten hätte als seine eigene Partei, war plötzlich meinten, dass eine Frau nicht Präsidentin in einem ebenso ins zweite Glied gerückt wie der gebrech- mehrheitlich muslimischen Land werden könne. liche, fast blinde NU-Führer Abdurrahman Wahid. Selbst A. Wahid, der sich in den Wochen vor den Megawati galt als die strahlende Siegerin und als Präsidentschaftswahlen als intriganter Machtpoli- die aussichtsreichste Kandidatin für den Präsiden- tiker erwies, äußerte sich – anders als in all den tenposten. Jahren zuvor – in diesem Sinne. Die orthodoxen Muslime im Volkskongress Nach den Wahlen ergaben sich im nationalen verband das Interesse an einer wie auch immer Parlament (und damit auch im ähnlich zusammen- gearteten Islamisierung der indonesischen Gesell- gesetzten Volkskongress) zwei Konfliktlinien, an schaft. Sie bildeten deshalb eine lockere Koalition, denen sich die politischen Auseinandersetzungen die den Namen »poros tengah« (Mittelachse) zunehmend orientierten. Zum einen war es der erhielt. Die »Mittelachse« bestand aus den moder- Gegensatz zwischen den konservativen oder gar nistischen Parteien PAN, PKB, PBB und PK sowie reaktionären Kräften (große Teile Golkars, die kleineren Parteien. Ihnen standen die Kräfte um Megawatis PDI-P gegenüber, die etwa über so viele Stimmen im Volkskongress verfügte wie die poros 31. Vgl. Platzdasch, B. (2000): »Islamic Reaction to a Female President«; in: Manning, C./van Diermen, P. tengah. Mit dieser Blockbildung war eine Kon- (eds.): Indonesia in transition: social aspects of reformasi stante der indonesischen Politik im 20. Jahrhun- and crisis; Singapore; S. 336–350. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 189
Militär/Polizei-Fraktion, Teile der muslimischen zur Bildung informeller, nepotistischer Abhängig- Parteien, insbesondere der PPP und der PBB) und keitsbeziehungen und zur Unterminierung des den prodemokratischen Kräften, zum anderen der ohnehin kaum entwickelten Rechtssystems beige- zwischen den muslimischen und den nichtmus- tragen. Das Militär hat sich nur zögerlich und limischen Parteien. Berücksichtigt man, dass es halbherzig von der Doktrin der Doppelfunktion auch in der Militär/Polizei-Fraktion, besonders in (dwifungsi) distanziert und eine wirkliche Beendi- der Partai Golkar und – weniger deutlich – in der gung dieser alle gesellschaftlichen Bereiche ein- PDI-P muslimische Flügel gibt, ist eine einfache beziehenden zweiten, »soziopolitischen« Funktion Gegenüberstellung von muslimischen und nicht- ist mittelfristig, d. h. in den nächsten zehn Jahren, muslimischen Parteien aber nicht möglich. Außer- nicht zu erwarten. Besonders einige Gebiete außer- dem spalten sich die muslimischen Parteien in tra- halb Javas wie Aceh, Timor, Papua und die Moluk- ditionalistische und modernistisch orientierte auf, ken werden immer noch vom Militär und von und für die dominierenden Flügel der PAN und der paramilitärischen Banden beherrscht. PKB ist in vielen Politikbereichen eine Demokrati- Es hat also kein umfassender Elitenwech- sierung Indonesiens und eine Entmachtung der sel stattgefunden. In dem ersten Kabinett, das alten Regimekoalition wichtiger als eine Stärkung A. Wahid im Oktober 1999 zusammenstellte, des Islam. 32 wurden einige Militärs, Vertreter Golkars, Führer der muslimischen Parteien und Mitglieder der PDI-P berücksichtigt. Megawati hat als Vizepräsi- Neuere Entwicklungen in der Ära Abdurrahman Wahid dentin keine deutlich formulierten Rechte, ist aber als mögliche Nachfolgerin Wahids weiterhin eine Indonesien befindet sich gegenwärtig in einem der wichtigsten Persönlichkeiten. Der Zwang zur turbulenten Übergang vom Autoritarismus zur par- Rücksichtnahme auf die konservativen Kräfte, z. T. lamentarischen Demokratie. Das Land wurde am auch die eigene Verstrickung in das Macht- und stärksten und nachhaltigsten von der Asienkrise Korruptionssystem der Neuen Ordnung, lähmen getroffen, und noch immer zeigen einige der wich- den Reformprozess. Die Muslime – sowohl die tigsten ökonomischen Indikatoren (Pro-Kopf- Traditionalisten als auch die Modernisten – ge- Einkommen, Armutsquote, Arbeitslosenrate, Inves- hören häufig selbst zu den Blockierern. Das tionsvolumen, Außenhandelsvolumen etc.), dass beste Beispiel dafür ist der Umgang mit der eige- das Niveau des Jahres 1997 noch längst nicht nen Vergangenheit. Während viele Muslime vehe- wieder erreicht ist. Indonesien, das vor wenigen ment für die Aufdeckung verschiedener, vom Jahren von einigen Beobachtern als Schwellenland Militär begangener Massaker – etwa das an Dut- beschrieben wurde, ist im Moment wieder zu den zenden, vielleicht Hunderten demonstrierenden Niedrigeinkommensländern zu rechnen. Muslimen in Jakarta (Tanjung Priok) im Jahre Trotzdem ist der Inselstaat heute wesentlich 1984 – eintreten, wehren sie sich gegen eine Auf- offener und demokratischer als vor ein paar deckung der Ereignisse in den Jahren 1965/66. Jahren. Eine lebhafte und kritische Presse über- Damals wurden mehrere Hunderttausend wirk- nimmt ihre Funktion als »vierte Gewalt« und die liche und vermeintliche Kommunisten von Mili- wichtigsten Grund- und Menschenrechte werden tärs und islamischen Paramilitärs in einem Blut- seit dem August 2000 zumindest verfassungs- rausch niedergemetzelt. Als A. Wahid die Auf- rechtlich anerkannt. Nach den weitgehend freien hebung eines Dekretes, das die kommunistische und fairen Wahlen beginnen die neuen Parlamente Partei und die Verbreitung kommunistischen ihre genuinen Funktionen zu erfüllen. Gedankengutes verbietet, forderte, stieß er auf Allerdings existieren viele der alten Netzwerke und Mechanismen noch. Die alten Konglomerate, deren meist sinoindonesischen Bosse von dem Korruptionssystem profitierten, werden jetzt mit 32. Die PKB-Fraktion hat anfänglich sogar Megawati bei Steuergeldern vor dem Konkurs gerettet, um eine den Präsidentschaftswahlen unterstützen wollen. Erst im Verschärfung der wirtschaftlichen Krise zu verhin- letzten Moment wurde sie aber auf Abdurrahman Wahid dern. Die jahrzehntelange Militärherrschaft hat eingeschworen. 190 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
den erbitterten Widerstand der Konservativen und benutzte den Dschihad-Begriff bewusst mehr- der meisten Muslime. 33 deutig. Muslime haben in der parlamentarischen Es kursieren viele Verschwörungstheorien, Demokratie zusätzliche Anreize erhalten, den poli- wonach die Konflikte in den Molukken, in Papua tischen Diskurs zu islamisieren, d. h. verstärkt und in Aceh 35 auf das Wirken äußerer Mächte auf islamische Moralbegriffe und Politikkon- zurückzuführen sind. Mehrfach tat sich Verteidi- zepte zurückzugreifen. Anhänger eines politisier- gungsminister Mahfud MD mit aggressiven anti- ten Islam bzw. einer islamisierten Politik streben amerikanischen Äußerungen hervor. Die Ameri- danach, die Sonderstellung des Islam zu institutio- kaner schlossen auf dem Höhepunkt der Krise eine nalisieren. So wurden während der Sitzung des Zeit lang ihre Botschaft und rieten ihren Lands- Volkskongresses im August 2000 wieder Stimmen leuten von einem Indonesienaufenthalt ab, da laut, die 1945 zwischen Nationalisten und Isla- muslimische Fundamentalisten etwa in Solo misten ausgehandelte Jakarta-Charta in die Verfas- (Mitteljava) Hotels nach amerikanischen Touristen sung aufzunehmen. Dabei betonten führende Ver- absuchten. treter der PBB und der PPP, dass ihre Absichten In dieser aufgeheizten Stimmung bekommen nicht sektiererisch seien, da gerade die Aufnahme radikale Gruppierungen, die einen Islamstaat der Jakarta-Charta eine jahrzehntelange Debatte Indonesien (Negara Islam Indonesia, NII) fordern, beenden und religiöse Konflikte mildern würde. Oberwasser. So wurden mehrere Tausend Mitglie- Die größten Fraktionen im Parlament lehnten den der der Front Pembela Islam (FPI), der Front der Vorschlag jedoch ab. Verteidiger des Islam, auf die Molukken entsandt, Immer wieder kommt es zu hitzigen poli- um sich auf Seiten ihrer Glaubensbrüder am tischen Debatten zwischen Islamisten und ihren Bürgerkrieg zu beteiligen. Da das Militär und Widersachern. Es fällt auf, dass diese Auseinander- die in Bedrängnis geratenen Reaktionäre an einer setzungen sehr häufig nicht die zentralen Ent- Destabilisierung der parlamentarischen Demokra- scheidungen, die die Zukunft des Landes wesent- tie interessiert sind, gibt es zahlreiche Spekula- lich bestimmen, betreffen. Eine fundierte alter- tionen über eine Finanzierung der FPI durch Teile native Wirtschafts- und Finanzpolitik z. B. haben des Militärs oder gar durch die mit Suharto immer die Islamisten nicht formuliert. Meistens geht es noch verbundenen Gruppierungen. um politische Fragen von sekundärer Bedeutung: Die FPI, die allein in Jakarta mehrere Zehn- Darf eine Frau Präsidentin werden? Soll Indo- tausend Mitglieder in militärisch organisierten nesien Handelsbeziehungen zu Israel aufnehmen? Wie ist mit dem japanischen Hersteller eines 33. Eine Umfrage der Zeitschrift Tempo enthüllte, dass Geschmacksverstärkers zu verfahren, der bei der die Mehrheit der indonesischen Bevölkerung immer Produktion ein Schweine-Extrakt verwendet hat? noch die offizielle Version des Suharto-Regimes vom Man gewinnt bei solchen mit großer Vehemenz Machtwechsel von Sukarno zu Suharto für bare Münze nimmt. Danach wollte die kommunistische Partei damals geführten politischen Kämpfen den Eindruck, dass die Macht in Indonesien übernehmen. der Islam häufig für eine ganz irdische Macht- 34. In Zeiten der wirtschaftlichen und politischen Krise politik instrumentalisiert wird. oder wenn eine alte Hegemonialmacht verschwunden ist Besonders die kleineren muslimischen Parteien und kurzfristig neue Konfliktlösungsmechanismen ent- wickelt werden müssen, können religiöse Bindungen in zeigen sich ambivalent im Umgang mit radi- hohem Maße politisiert werden. Blutige Konflikte, die kal-islamistischen Gruppierungen. Ein Beispiel eigentlich nichtreligiöse Ursachen haben, werden dann dafür ist die Reaktion auf den blutigen Kon- mit religiösen Begriffen erklärt und u. U.durch religiöse flikt zwischen Christen und Muslimen auf den Organisationen angeheizt. So stellt sich der Bürgerkrieg auf den Molukken, bei dem seit Anfang des Jahres 1999 Molukken. 34 Bei einem Treffen von Zehntausen- mehrere Tausend Menschen ums Leben kamen, als Kon- den Muslimen Anfang 2000 in Jakarta – unter flikt zwischen Christen und Muslimen dar. ihnen befanden sich viele radikale, gewaltbereite 35. In Papua und in Aceh sind nach dem Sturz Islamisten – bei dem zum Dschihad aufgerufen Suhartos sehr starke sezessionistische Bewegungen ent- standen. Im Dezember 2000 führte Präsident Wahid in wurde, war u. a. auch der PAN-Vorsitzende Amien der sumatraischen Provinz Aceh eine milde Form der Rais anwesend. Rais distanzierte sich auch in Scharia ein, das war ein Zugeständnis an die orthodox- späteren Interviews nicht von diesem Treffen und muslimischen Separatisten. IPG 2/2001 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien 191
Gruppen haben soll, wird auch für Überfälle auf 1998 war aber jener zwischen dem Regime und Vergnügungsstätten verantwortlich gemacht. Und den prodemokratischen Kräften. Seit dem Sturz als im Oktober 2000 während der neuerlich aus- Suhartos sind zwei Konfliktlinien von essentieller gebrochenen Straßenkämpfe zwischen Israelis und Bedeutung, nämlich die zwischen den Demokra- Palästinensern eine internationale Konferenz von ten und den Reaktionären sowie die zwischen Sä- Parlamentariern in Jakarta stattfand, drohte die kularisten und Islamisten. Front damit, die Mitglieder der israelischen Dele- Wenn sich die parlamentarische Demokratie in gation umzubringen. Der FPI-Anführer Riza Pah- den nächsten Jahren konsolidieren sollte, wäre levi kündigte sogar an, die Hotels in Jakarta nach eine Mäßigung der radikalen Gruppierungen, vor Israelis absuchen zu lassen. Darauf hin mussten die allem aber der im Parlament vertretenen isla- israelischen Delegierten ihren Besuch absagen. mischen Parteien, denkbar. Einiges deutet sogar Viele muslimische Parlamentarier distanzieren sich darauf hin, dass die Fraktionen in den musli- zwar vom Terror der FPI, sind aber nicht bereit, die mischen Parteien, die bereit sind, Megawati zu Front in toto zu verurteilen. unterstützen, wegen der Enttäuschung über den Das Beispiel Israel zeigt, dass Wahid in seiner inkonsistenten Regierungsstil Wahids größer Außenpolitik darauf achten muss, dass er den Isla- werden. 37 Es bleibt zu bedenken, dass die große misten keine Angriffsfläche bietet. Seine Annähe- Mehrheit der indonesischen Muslime nicht an der rung an die »Schurkenstaaten« Irak und Libyen Errichtung eines Islamstaates interessiert ist. Sollte könnte dabei eine Strategie sein, um seine innen- aber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten die politischen Gegner zu beruhigen. 36 sezessionistischen Bewegungen und die Kämpfe in den Molukken eine weitere politische Destabilisie- rung bewirken, könnte eine allgemeine Auflösung Fazit der Staatsgewalt die islamistischen Kräfte stärken. Es könnte dann zu einer Koalition zwischen Isla- Im Laufe mehrerer Jahrhunderte entwickelte sich misten und reaktionären Gruppen kommen. Diese ein Gegensatz zwischen synkretistischen und Koalition bahnte sich bereits seit Ende der 80er orthodoxen Muslimen, zwischen Abangan und Jahre an. Prabowo radikalisierte die Zusammen- Santri. Die Santri spalteten sich später zuneh- arbeit Anfang 1998, und im November 1998 führte mend in Modernisten und Traditionalisten. Diese sie zu dem Pam-Swakarsa-Einsatz gegen demons- Brüche lassen sich auch gegenwärtig in Indonesien trierende Studenten in Jakarta. Gegenwärtig arbei- beobachten. Im politischen Bereich ist heute aber ten u. a. die Front Pembela Islam und die Laskar insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Jihad – wahrscheinlich finanziert von den Reak- Säkularisten, das sind Nicht-Muslime, die große tionären – an der Wiedererrichtung eines auto- Mehrheit der Abangan, viele NU-Traditionalisten, ritären, die islamistischen Gruppierungen privile- aber auch die Mehrheit der Modernisten, und Isla- gierenden Regimes. misten (die meisten von ihnen sind Modernisten) von Bedeutung. Bei den Islamisten sind moderate, prodemokratische von antidemokratischen, häufig gewaltbereiten zu unterscheiden. In der Zeit von 1950–57 entwickelten sich drei die indonesische Politik prägende Hauptkon- flikte, nämlich zwischen zivilen und militärischen, zwischen säkularistischen und islamistischen sowie zwischen kommunistischen und antikommunis- tischen Gruppen. Durch den Autoritarismus Sukarnos und Suhartos wurden die Islamisten (seit 36. Saddam Hussein ist in Indonesien in weiten 1965 auch die Kommunisten) ausgeschaltet. Aller- Kreisen – bei den Islamisten wie bei den Nationalisten etwa der PDI-P – hoch geschätzt. Er verkörptert – wie in dings näherte sich das Suharto-Regime seit Ende den frühen 60er Jahren Sukarno – für viele Indonesier den der 80er Jahre wieder den Vertretern eines poli- Widerstand der »Dritten Welt« gegen die Weltmacht USA. tisch verstandenen Islam an. Der Hauptkonflikt bis 37. Interview mit Alvin Lie am 4.10.2000 in Jakarta. 192 Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien IPG 2/2001
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