ANDREAS UFEN Islam und Politik in Indonesien

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ANDREAS UFEN
Islam und Politik in Indonesien

O    bwohl der indonesische Archipel mit seinen
     etwa 210 Mio. Einwohnern das viertbevölke-
rungsreichste und mit etwa 180–190 Mio. Mus-
                                                       Handelsrouten in die Molukken entstand in den
                                                       folgenden Jahrhunderten eine Reihe von isla-
                                                       mischen Fürstentümern. Erst im 17. Jahrhundert
limen das größte islamische Land der Erde ist,         konnte der Islam in nennenswertem Umfang in
konzentriert sich die journalistische und die          das javanische Binnenland vordringen. Über die
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Islamisie-     Handel treibenden Ausländer der Nordküste Javas
rung zumeist auf den nahöstlichen Raum. Dabei          gelangte eine von persischen und indischen mys-
hat der Islam – sowohl als way of life als auch als    tischen Elementen bereicherte Variante in die
politische Lehre – eine ungeheure Aufwertung in        javanischen Patrimonialreiche. Diese »sufistischen«
Südostasien, insbesondere in Malysia und Indone-       Lehren konnten in die bestehenden hindubuddhis-
sien erfahren.                                         tischen Glaubenssysteme relativ leicht integriert
    Schon in den 70er Jahren nahm in Indonesien        werden. König Agung von Mataram durfte Mitte
das Interesse an der islamischen Lehre zu. Seit        des 17. Jahrhunderts mit offizieller Bestätigung aus
Ende der 80er Jahre sah sich das Suharto-Regime        Mekka den Sultanstitel tragen, aber zugleich hielt
genötigt, Muslime zunehmend zu kooptieren. Mit         er an vielen hindubuddhistischen Ideen, Zeremo-
der Einführung der parlamentarischen Demokratie        nien und Herrschaftsinsignien fest. Im Mataram-
seit dem Rücktritt Suhartos (am 21. Mai 1998) und      Reich wurden also Teile der islamischen Doktrin
der Gründung neuer islamischer Parteien und            integriert und Enklaven der Orthodoxie, oft in
Organisationen ist der Islam zu einer bedeutenden      und um die Islaminternate (Pesantren), geduldet.
politischen Größe geworden.                            Grundsätzlich galten die Ulama, die Islamgelehr-
    In diesem Aufsatz soll der Aufstieg orthodox-      ten, aber als subversiv. Amangkurat I. ließ im
islamischer Gruppen beschrieben und die mög-           17. Jahrhundert 5.000–6.000 von ihnen ermorden,
liche weitere Entwicklung bewertet werden. 1 Aus       wodurch die Stellung der orthodoxen Muslime für
der Untersuchung ergibt sich die These, dass           lange Zeit geschwächt wurde. Deshalb schreibt
zwar die Entstehung eines gesamtindonesischen          Anderson über die Bedeutung des Islam in jener
Islamstaates sehr unwahrscheinlich, dass aber der      Zeit und danach: »To use Gramsci’s term, at no
Zusammenbruch der jungen parlamentarischen             point did a ›hegemonic‹ Islamic culture develop in
Demokratie durch das Zusammenwirken von reak-          Java. The self-consciousness of pious Muslims re-
tionären Kräften, Sezessionisten, gewaltbereiten       mained strictly ›corporate‹. Political and cultural
Islamisten und populistischen Politiker sehr wohl      subordination went hand in hand.« 2
möglich ist.

Frühe Entwicklungen                                    1. Teile dieses Aufsatzes überschneiden sich mit einzel-
                                                       nen Passagen meiner Dissertation: Ufen, A (2001): Herr-
                                                       schaftsfiguration und Demokratisierung in Indonesien
Während eine aus Indien stammende Mixtur hin-          (1965–2000); Hamburg, i. E. Die beste Darstellung der
duistischer und buddhistischer Elemente schon          Entwicklung des indonesischen Islam bis 1998: Hefner,
seit dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. die existie-   R.W. (2000): Civil Islam: Muslims and Democratization
                                                       in Indonesia; Princeton, New Jersey.
renden animistischen Vorstellungen ergänzte und
                                                       2. Anderson, B.R.O’G (1972): »The Idea of Power in
umformte, drang der Islam erst etwa seit dem           Javanese Culture«; in: Holt, C. (ed.): Culture and Poli-
13. Jahrhundert in den Archipel vor. Entlang der       tics in Indonesia; Ithaca, S. 1–69; hier S. 59.

IPG 2/2001                                                                       Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien   181
Anfang des 17. Jahrhunderts hatten niederlän-    gab nur für kurze Zeit eine gewisse Einigung isla-
      dische Kaufleute der Vereinigten Ostindischen        mischer Gruppen, etwa 1937 durch den antikolo-
      Kompanie (VOC), begonnen, den Gewürzhandel           nial orientierten Obersten Indonesischen Islamrat
                                                                5
      gewaltsam zu monopolisieren. Die Handelsgesell-      MIAI und durch den während der japanischen
      schaft übte auf die einheimischen Reiche aber        Besetzung (1942–45) gegründeten Masyumi 6
      noch keinen nachhaltigen Einfluss aus. Erst          (1943). Die Spaltungen innerhalb des indone-
      Anfang des 19. Jahrhunderts übernahm die nieder-     sischen Islam blieben aber auch in der Hochphase
      ländische Krone die VOC. In der Folge wurde          des antikolonialen Kampfes bestehen.
      die Kolonialherrschaft systematisiert. Schon bald        Seit 1945, also seit Erlangung der Unabhängig-
      sah die neue niederländische Verwaltungselite in     keit, wurde über die Frage diskutiert, welchen
      einem Bündnis zwischen den kooptierten »Priyayi«,    Stellenwert die Scharia in der Verfassung haben
      den Beamtenaristokaten, und den Ulama eine           und ob die Republik Indonesien ein islamischer
      große Gefahr. Ein solches Bündnis führte 1825–30     Staat sein sollte. Mit der Formulierung der
      zum außerordentlich verlustreichen Java-Krieg.       Jakarta-Charta einigten sich die säkularistisch
      Die Niederländer setzten aus Sorge vor den ortho-    orientierten Nationalisten und die islamischen
      doxen Muslimen überwiegend synkretistische Mus-      Führer in dem Komitee für die Vorbereitung der
      lime, »Abangan«, in der kolonialen Verwaltung        Verfassung vom 22. Juni 1945 auf einen Kompro-
      ein. 3 Auf diese Weise blieb den orthodoxen Musli-   miss. 7 Mit der Charta wurde die Anordnung der
      men, den »Santri«, der Zugang zum Staatsapparat      fünf Prinzipien der Staatsphilosophie, der »Panca-
      versperrt.                                           sila«,8 verändert und das nun an erster Stelle
          Trotzdem gewannen die orthodoxen Muslime
      seit Ende des 19. Jahrhunderts unter den Einhei-
      mischen an Einfluss, weil die Priyayi wegen ihrer
                                                           3. Zum besseren Verständnis des indonesischen Islam
      Abhängigkeit von den Niederländern zunehmend         unterscheidet man im Anschluss an Clifford Geertz
      an Macht und Legitimität einbüßten und weil zur      (Geertz 1960: The Religion of Java; London) zwischen
      gleichen Zeit reformistische bzw. modernistische     den orthodoxen Muslimen, den Santri, und den synkre-
      Strömungen aus dem Nahen Osten den indone-           tistischen Muslimen, den Abangan. Die – häufig klein-
                                                           bäuerlichen – Abangan glauben an javanische Götter
      sischen Islam zu beleben begannen. Erst um 1900      meist indischen Ursprungs (nach einer Berechnung
      war der Abangan-Santri-Gegensatz völlig ent-         waren es Ende des 19. Jahrhundert über 1000), an eine
      wickelt. Der Santrismus wurde zu einer religiösen    Unzahl von Geistern und an die magischen Kräfte von
      und politischen, d. h. antikolonialen Doktrin aus-   »dukun«, die als Zauberer, Hexer, Medizinmänner
                                                           und/oder Wahrsager auftreten.
      gearbeitet und zunehmend von den klassischen,        4. Geertz, C. (1991): Religiöse Entwicklungen im Islam.
      hindubuddhistischen Traditionen Indonesiens ab-      Beobachtet in Marokko und Indonesien; Frankfurt/Main;
      gegrenzt. 4                                          hier S. 100 ff.
          Um 1910 setzte sich der Modernismus unter        5. Majelis Islam A’la Indonesia.
                                                           6. Majelis Syuro Muslimin Indonesia = Konsultativrat
      den Händlerschichten der größeren Städte mehr        der Indonesischen Muslime.
      und mehr durch. Es kam zur Gründung des              7. Die Jakarta-Charta ist bis heute in ihrem Gehalt um-
      Sarekat Islam, der ersten großen nationalistischen   stritten. Der Kernsatz »dengan kewajiban menjalankam
      Vereinigung, und der Muslimorganisation Muham-       syari’at Islam bagi pemeluk-pemeluknya« bedeutet in der
                                                           Übersetzung: »mit der Verpflichtung für die Muslime,
      madiyah. 1926 wurde als Reaktion auf den aufkei-     die Scharia auszuführen/anzuwenden«.
      menden Modernismus die Nahdatul Ulama (NU,           8. Zu den fünf Prinzipien der Staatsphilosophie, der
      »Renaissance der Ulama«), eine Interessenvertre-     Pancasila, zählen: der Glaube an den Alleinigen Gott
      tung der traditionalistisch orientierten Islamge-    (Ketuhanan Yang Maha Esa); die gerechte und zivili-
                                                           sierte Menschlichkeit (Kemanusiaan yang adil dan
      lehrten, die ihre Basis in den javanischen Dörfern   beradab); die Einheit Indonesiens (Persatuan Indonesia);
      haben, gegründet.                                    die weise geführte Demokratie, beruhend auf allgemei-
          Der Gegensatz zwischen Abangan und Santri        ner Beratung und Volksvertretung (Kerakyatan yang
      und zwischen Traditionalisten und Modernisten        dipimpin oleh hikmat kebijaksanaan dalam permusyawa-
                                                           ratan/perwakilan) und die soziale Gerechtigkeit für das
      prägte den indonesischen Islam über Jahrzehnte,      gesamte indonesische Volk (Keadilan sosial bagi seluruh
      und z. T. lassen sich diese Spaltungen, wenn auch    rakyat Indonesia); vgl. Wandelt, I. (1989): Der Weg zum
      in modifizierter Form, bis heute verfolgen. Es       Pancasila-Menschen; Frankfurt/Main.

182   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                      IPG 2/2001
stehende Prinzip des Glaubens an den einen Gott        verhindern und rächten sich zu Beginn der Neuen
um den Zusatz erweitert, dass Muslime die Scharia      Ordnung mit Massakern an den Kommunisten
anzuwenden hätten. Allerdings sorgte Mohammad          und ihren Sympathisanten.
Hatta, damals nach Sukarno die einflussreichste
Persönlichkeit in Indonesien, dafür, dass dieser
Passus in der dann gültigen Fassung der Präambel       Der Islam in der frühen und mittleren Phase der
und des Verfassungstextes nicht mehr auftauchte.       Neuen Ordnung
Hatta fürchtete Widerstand insbesondere von christ-
lichen Ostindonesiern. Die Änderung wurde später       Die Muslime (etwa der NU-Jugendorganisation
von vielen Muslimen als Betrug gewertet. 9             Ansor oder des Studentenverbandes HMI) hatten
    Indonesien wurde endgültig im Jahre 1949           erheblichen Anteil an der Zerschlagung der Kom-
unabhängig. Zuvor waren die 1945 zurückge-             munistischen Partei und der politischen Linken
kehrten Niederländer in einem blutigen Krieg           überhaupt. Trotzdem blieben sie aus den Zentren
an der Wiedererrichtung ihrer Kolonialherrschaft       der »Orde Baru«, der »Neuen Ordnung«, unter
gehindert worden. Erst sechs Jahre später, im          Suharto (1965–98) weitgehend ausgeschlossen.
Jahre 1955, fanden die ersten freien Wahlen statt.         Die Neue Ordnung war eine von Präsident
Die islamischen Parteien erreichten zusammen nur       Suharto dominierte Militärdiktatur. Das Militär
43,5 % der Stimmen. Der Vorstellung, einen Islam-      legitimierte sich mit der Doktrin der »dwifungsi«,
staat errichten zu können, erwies sich als Illusion,   d. h. der Doppelfunktion im militärischen Bereich
da die Abangan sich zur großen Enttäuschung der        einerseits, im sozialen, politischen und wirtschaft-
orthodoxen Muslime den nichtislamischen Par-           lichen Bereich andererseits. Die drei offiziell zu-
teien (der Partai Nasional Indonesia, PNI, und der     gelassenen Parteien gaben dem Regime einen
Partai Komunis Indonesia, PKI) zuwandten. 10           demokratischen Anstrich. Die Regierungspartei
    Auch in der Konstituante, die 1956–59 eine         Golkar (Golongan Karya = funktionale Gruppen 12)
neue Verfassung ausarbeiten sollte, waren die Ver-     konnte die weitgehend manipulierten Wahlen
handlungen von den Streitigkeiten zwischen ortho-      immer zu ihren Gunsten entscheiden. Die beiden
doxen Muslimen und ihren Widersachern geprägt.         anderen, allenfalls halboppositionellen Parteien,
Zum Zeitpunkt der Auflösung dieser Versamm-            die 1973 von der Regierung per Gesetz geschaffen
lung durch Sukarno (1959) sprachen sich 48 % der
Abgeordneten für den Islam als Wertebasis der
Republik Indonesien aus, 52 % stimmten für die         9. Ramage, D. E. (1995): Politics in Indonesia: Demo-
                                                       cracy, Islam and the Ideology of Tolerance; London; hier
Pancasila.                                             S. 16 f.
    Nach der Einführung der Gelenkten Demo-            10. Vor den Wahlen hatte sich der Gegensatz zwischen
kratie, einer populistischen Scheindemokratie,         den Traditionalisten der NU (die sich Anfang der 50er
durch Sukarno im Jahre 1959 und dem Verbot vom         Jahre aus dem Masyumi zurückgezogen und eine eigene
                                                       Partei gegründet hatte) und den beim Masyumi bleiben-
Masyumi ein Jahr später (wegen der Beteiligung         den Modernisten wieder etwas verstärkt.
einiger Masyumi-Politiker an regionalistischen         11. Sukarno bezeichnete diese Allianz mit dem
Bewegungen) war der modernistische Islam als           Akronym »Nasakom«. Die drei Silben stehen für Natio-
parteipolitische Kraft entscheidend geschwächt.        nalismus (Nasionalisme), Religion (agama) und Kom-
                                                       munismus (komunisme).
Die NU wurde in eine fragile Allianz von Nationa-      12. Hinter dem Konzept der funktionalen Gruppen
listen, religiösen Gruppen und Kommunisten ein-        verbirgt sich die auch vom ehemaligen Präsidenten
gebunden. 11 Die Bürokratie und das Militär waren      Sukarno propagierte Ideologie, wonach in einer wirt-
weiterhin von Abangan beherrscht.                      schaftlich unterentwickelten Gesellschaft wie der indone-
                                                       sischen, in der sich noch keine Klassenstrukturen gebil-
    1964/65 steigerten sich die Spannungen zwi-        det haben, gerechte Entscheidungen unter Berücksichti-
schen den meist grundbesitzenden Santri und            gung sämtlicher Interessengruppen getroffen werden
der ländlichen Abangan-Unterschicht, da die PKI        können. Die funktionalen Gruppen (Frauen, Jugend-
in »einseitigen, eigenmächtigen Aktionen« (aksi        liche, Lehrer, Ärzte usw.) unterscheiden sich nicht auf-
                                                       grund ihrer Klassenlage voneinander, sondern aufgrund
sepihak) begann, die 1960 vom Parlament be-            ihrer Funktion in der arbeitsteiligen Gesellschaft. Golkar
schlossene Landreform durchzusetzen. Die wohl-         nahm für sich in Anspruch, alle wichtigen gesellschaft-
habenden Bauern konnten die Landbesetzungen            lichen Gruppen angemessen zu repräsentieren.

IPG 2/2001                                                                        Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien   183
und danach ständig beaufsichtigt wurden, nämlich       Von anderen wiederum wurde die Lehre als kon-
      die PDI (Partai Demokrasi Indonesia = Demokra-         servativer, traditionalistischer Aufruf zur Abkehr
      tische Partei Indonesien) und die islamische PPP       von der moralischen Verkommenheit des okziden-
      (Partai Persatuan Pembangunan = Vereinigte Ent-        talen Liberalismus und modernen Kapitalismus
      wicklungspartei), hatten bis zum Ende der Neuen        gedeutet.
      Ordnung mit ihrem schlechten Image als Legiti-             Der allgemeine Trend zur Rückbesinnung auf
      mationsbeschaffer zu kämpfen.                          den Islam ist auch vor dem Hintergrund globaler
          In der Frühphase des Suharto-Regimes (von          Veränderungen zu sehen. Die in vielen Ländern zu
      1965 bis Ende der 60er Jahre) gehörten noch            beobachtende Repolitisierung des Islam dürfte
      viele muslimische Führer zur neu geschmiedeten         eine Reaktion auf die – von vielen Muslimen so
      Regimekoalition. Danach, bis Ende der 80er Jahre,      wahrgenommene – globale Vorherrschaft der okzi-
      war diese Beziehung von einer großen Ambivalenz        dentalen, christlich-jüdischen Kultur sein. Der
      gekennzeichnet: Einerseits gab es weiterhin viele      Islam ist deshalb in den 80er Jahren zuneh-
      Muslime, die als Mitglieder der großen Muslim-         mend zu einer gegen die Verwestlichung gerich-
      organisationen Nahdatul Ulama und Muham-               teten »Defensiv-Kultur« geworden. 14 Eine weitere
      madiyah sowie der PPP das Regime unterstützten,        Ursache der Wiederbelebung der Religion ist
      andererseits existierten einzelne Gruppierungen,       der enorme wirtschaftliche Wandel, der zur Ent-
      die die Regierungspolitik bekämpften oder zumin-       stehung einer neuen Mittelklasse führte. Diese
      dest kritisierten. Viele Muslime fühlten sich sogar    Mittelklasse, bestehend aus zumeist in Städten
      diskriminiert. Von Natsir, der früher Masyumi-         lebenden Professionals sowie kleinen und mitt-
      Vorsitzender und lange einer der führenden isla-       leren Unternehmern, interpretierte die islamische
      mischen Intellektuellen in Indonesien war, stammt      Lehre neu. 15 Die staatliche Kooptationsstrategie in
      der häufig zitierte Ausspruch, die Muslime seien       den 90er Jahren war vor allem auf diese Gruppe
      vom Staat wie »cats with ringworms« behandelt          gerichtet.
      worden. 13
          Trotz oder gerade wegen dieser Diskriminie-
      rung kam es seit den 70er, verstärkt aber seit den     13. Es gibt Staaten, deren Rechtssysteme auf islami-
                                                             schem Recht, der Scharia, aufbauen und deren politische
      80er Jahren zu einer allgemeinen Islamisierung.        Gremien in ihrer Struktur und ihren Entscheidungs-
      Es wurde mehr und regelmäßiger gebetet, die            befugnissen ausdrücklich von dieser Scharia abgeleitet
      Moscheen waren an den Freitagen gefüllt, man           sind. Andere Staaten erheben den Islam zur Staatsreli-
      benutzte häufig arabische Ausdrücke, begrüßte          gion, sind aber fast vollständig säkularisiert. In der Orde
                                                             Baru (Neuen Ordnung) waren durch die Pancasila meh-
      sich in dieser Sprache, und Gebetsnischen wurden       rere monotheistische Religionen als gleichberechtigt
      in fast jedem Büro und jedem Geschäft eingerich-       anerkannt. Das waren neben dem Islam der Protestantis-
      tet.                                                   mus, der Katholizismus, der Buddhismus und der Hin-
          Die so genannte »Normalisierung des Campus-        duismus. Indonesien ist somit ein de facto weitgehend
                                                             säkularisierter Sondertypus.
      Lebens« im Jahre 1978 (ein Euphemismus für             14. Vgl. Tibi, B. (1991): Die Krise des modernen Islams –
      die verschärfte Kontrolle der Universitäten), die      Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-techni-
      Schwächung der politischen Parteien, insbeson-         schen Zeitalter; Frankfurt/Main. In Indonesien sind die
      dere der islamischen, und die Depolitisierung          orthodoxen, konservativen Muslime i. d. R. antiwestlich
                                                             eingestellt. Diese Haltung richtet sich besonders gegen
      sämtlicher Organisationen, zumal die Durchset-         den vermeintlich unmoralischen Lebenswandel, gegen
      zung der Pancasila als »azas tunggal«, d. h. als der   den angeblich besonders brutalen Kapitalismus und
      einzig zugelassenen ideologischen Grundlage von        gegen die »Gottlosigkeit« in den westlichen Ländern. In
      Parteien und Massenorganisationen, bewirkten           Indonesien konnte islamische Orthodoxie aber auch ein
                                                             Zeichen der Opposition gegen das – zumindest teilweise
      zwar eine Privatisierung der Religion, nicht aber      »verwestlichte« – Suharto-Regime sein.
      ihre Entpolitisierung. Der Islam wurde zu einer        15. Deswegen wird häufig von »neo-Santri« gespro-
      Lehre des Widerstandes gegen reiche Sinoindo-          chen, vgl. Hefner 2000, 105 und 119. Aus der umfang-
      nesier und gegen korrupte Politiker, Bürokraten        reichen Literatur zu diesem Thema sei nur erwähnt:
                                                             Hasbullah, M. (2000): »Cultural Presentation of the
      und Militärs. Auch die westlich orientierte, urbane    Muslim Middle Class in Contemporary Indonesia«, in:
      Mittelklasse artikulierte selbstbewusst ihre Inter-    Studia Islamika. Indonesian Journal for Islamic Studies;
      essen unter Berufung auf islamische Gedanken.          Vol. 7, no. 2, S. 1–57.

184   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                          IPG 2/2001
Die Stärkung des Islam in den letzten Jahren               Die staatliche Lotterie wurde nach anhaltenden
der Neuen Ordnung                                           Protesten verboten.
                                                          Es kam zu einer »Vergrünung« (penghijauan)

Im Jahre 1988 verschärfte sich der Konflikt                 der Parlamente, der Kabinette, des Golkar-Vor-
zwischen Suharto und einer Gruppe von Militärs              standes 17 und der Militärführung. Das heißt, die
um Benny Murdani, dem christlichen Komman-                  Anzahl der orthodoxen Muslime in Spitzenposi-
deur der Streitkräfte, der über ein Netzwerk von            tionen nahm sprunghaft zu. So hatte, um nur
Geheimdiensten verfügte. Suharto versuchte, die             ein Beispiel zu nennen, Suharto bis Anfang der
Armee zu schwächen und die Führung stärker                  90er Jahre die Santri aus den höheren Rängen
unter seine Kontrolle zu bringen. Ein Mittel dafür          des Militärs ausgeschlossen, weil er den Auf-
war seine Annäherung an islamische Gruppen.                 stieg der Muslime zu einer mächtigen poli-
Dadurch änderte sich das Verhältnis der Regime-             tischen Gruppierung verhindern wollte. Die
koalition zum Islam und umgekehrt die Haltung               Generäle Feisal Tanjung und Try Sutrisno waren
vieler Muslime zum Staat. Der Präsident begann              dann die ersten orthodoxen Muslime, die in die
seine Reden mit einem »assalamulaikum«. Er pil-             höchsten Militärränge vorstoßen konnten.
gerte nach Mekka und nannte sich seitdem                 Es vertiefte sich im Zuge dieser staatlich geför-
»Muhammad Haji«. Er wollte offenbar eine Art             derten »Vergrünung«, die auch eine Reaktion auf
stiller Koalition mit Muslimgruppen eingehen, um         eine genuine Belebung des Islam als »way of life«
den Murdani-Flügel des Militärs, der 1989 im Par-        und als politische Lehre war, die bestehende Spal-
lament eine Debatte über eine politische Öffnung         tung zwischen den modernistischen Muslimen, die
(keterbukaan) begonnen und forciert hatte, besser        sich um Amien Rais u. a sammelten, und den
kontrollieren zu können. Murdani wurde schließ-          »säkularen Nationalisten«, u. a. durch Abdurrah-
lich im Jahre 1993 vollends entmachtet.                  man Wahid 18 und durch Megawati Sukarnoputri,
     Die größere Bedeutung des Islam in Indonesien       die Tochter des hoch geachteten ehemaligen Präsi-
seit Mitte/Ende der 80er Jahre hat aber nicht nur        denten Sukarno, vertreten wurden.
in der Hinwendung des Präsidenten zur Santri-                Insbesondere die Gründung der Intellektuellen-
Variante des Islam, sondern auch in verschiedenen        organisation ICMI verstärkte diese Polarisierung.
gesetzlichen Veränderungen und politischen Maß-          Für viele modernistische Muslime war mit der
nahmen 16 ihren Niederschlag gefunden:                   Etablierung dieser Organisation der jahrzehnte-
 Die Regierungsausgaben für den Bau von                 langen Unterdrückung durch säkularistisch orien-
   Moscheen, für die Verbreitung der islamischen         tierte, häufig christliche Militärs, die mit sinoindo-
   Lehre und die finanzielle Unterstützung der           nesischen, ebenfalls häufig christlichen Industrie-
   staatlichen Islam-Universitäten wurden deutlich       bosse zusammenarbeiteten, ein Ende bereitet. Viele
   erhöht.                                               ICMI-Mitglieder wollten eine »proportionale« –
 Ein neues Bildungsgesetz legte einen obligato-         ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölke-
   rischen Religionsunterricht in den staatlichen        rung entsprechende – Vertretung der orthodoxen
   und privaten Bildungseinrichtungen fest.              Muslime im Militär, in der Verwaltung, in den
 Die islamischen Gerichte wurden bei Fragen

   von Heirat, Scheidung und Erbschaft gesetzlich
                                                         16. Thaba, A.A. (1996): Islam dan negara dalam politik
   gestärkt; außerdem wurde das islamische Recht         Orde Baru (1966–1994); Jakarta; S. 278 ff.
   systematisiert.                                       17. Auch im Volkskongress MPR (Majelis Permusyawa-
 Die Indonesische Vereinigung islamischer Intel-        ratan Rakyat) wurde Golkar seit 1993 zunehmend durch
   lektueller ICMI (Ikatan Cendekiawan Muslim            bekannte und geachtete islamische Führer bzw. Intellek-
                                                         tuelle vertreten (siehe: Mas’oed, M./Arfani, R.N. (1994):
   Se-Indonesia) wurde 1990 gegründet.                   »SU-MPR dan Pembentukan Kabinet VI«; in: Profil Indo-
 Musliminnen durften seit 1990 in Schulen den           nesia, Jurnal Tahunan CIDES, Nr. 1, Jakarta).
   jilbab, ein das Gesicht frei lassendes, bis auf die   18. Wahid ist Enkel des NU-Gründers und Sohn eines
   Schultern reichendes Kopftuch, tragen.                ehemaligen Religionsministers. Er studierte an der
                                                         al-Azhar-Universität in Kairo und an der Universität von
 Islamische Kulturfestivals wurden veranstaltet.
                                                         Bagdad und arbeitete als Dekan der Theologie-Fakultät
 Eine Islambank (Bank Muamalat) wurde errich-           der kleinen Hasyim-Asyari-Universität in Jombang und
   tet.                                                  als Generalsekretär eines Islaminternates.

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Ministerien und in der Regierungspartei Golkar          Muslime (und Habibie-Vertraute) in höchste
      erreichen. Einige von ihnen hofften sogar darauf,       Ämter gelangten, stieg auch Habibie in der Hier-
      die wirtschaftliche Übermacht der Sinoindonesier        archie immer weiter nach oben. 1993 konnten
      zu brechen und die »Pribumi«, die indigenen             jene Militärs, die eine Zivilisierung und Islamisie-
      Indonesier, nach malaysischem Muster durch              rung befürchteten, noch die Ernennung des For-
      »affirmative actions« zu ebenbürtigen Unterneh-         schungs- und Technologieministers zum Vizeprä-
      mern zu machen.                                         sidenten verhindern. 1998 aber konnte die Habi-
          Doch nicht alle muslimischen Führer waren           bie-Gruppe die Wahl ihres Patrons zum Vizepräsi-
      bereit, sich ICMI anzuschließen. Abdurrahman Wa-        denten durchsetzen.
      hid, der charismatische, hoch angesehene NU-Vor-            Zu dieser Zeit, im März 1998, befand sich
      sitzende, der als liberaler Intellektueller an der      Indonesien bereits in der größten wirtschaftlichen
      Spitze einer in vielen Fragen konservativ-tradito-      und politischen Krise seit 1965. Die Asienkrise
      nalistischen Organisation ohnehin eine Reizfigur        hatte seit dem August 1997 zu einem Verfall
      war, warf ICMI »sektiererische« Absichten vor. Er       der Rupiah, zur Entlassung mehrerer Millionen
      gründete das »Demokratieforum« (Forum Demo-             Arbeiter und zu zeitweise dreistelligen Inflations-
      krasi), das allerdings aufgrund dauernder Repres-       raten geführt. Im Februar 1998 rief der Indone-
      salien der Militärs nie mehr als ein Intellektuellen-   sische Ulama-Rat MUI (Majelis Ulama Indonesia)
      zirkel war. Anders als ICMI stellte das Forum           zum Dschihad gegen Spekulanten und Waren hor-
      die Demokratisierungsfrage in den Vordergrund           tende Geschäftsleute – gemeint waren Sinoindo-
      und nahm auch angesehene Nichtmuslime auf.              nesier – auf. Außerdem forderte Suharto einige
      Für Wahid war ICMI eine Organisation, die die           Dutzend »Tycoons« öffentlich auf, ihre im Aus-
      ohnehin schon gespannten Beziehungen zu den             land angelegten Gelder nach Indonesien zu trans-
      religiösen Minderheiten durch eine skripturalis-        ferieren. Die aufgeheizte antichinesische Stimmung
      tisch-modernistische Korandeutung noch weiter           begünstigte Plünderungen und Ausschreitungen
      verschlechterte. 19 Die von den Nicht-Santri deut-      in ganz Indonesien. 20 Zur gleich Zeit versuchte
      lich wahrgenommene Gefahr einer die Minder-             der führende Militär und Suharto-Schwiegersohn
      heiten diskriminierenden Islamisierung sei mit          Prabowo, die Kontakte zu islamistischen Gruppen
      ICMI größer geworden. Auch liberale Muslime wie         – darunter die tendenziell fundamentalistische
                                                                             21                22
      Johan Effendi, Aswab Mahasin und Nurcholish             KISDI-Gruppe – auszubauen. Im Januar trafen
      Majid teilten einige dieser Vorbehalte. Der eigent-     sich 4.000 muslimische Aktivisten, u. a. von KISDI
      liche Zweck von ICMI war es – so meinten einige         und vom ebenfalls z. T. fundamentalistischen
      Kritiker – zu einer islamischen Partei, einer Neo-      Dewan Dakwah Islamiyah Indonesia, 23 mit meh-
      Masyumi, zu werden. Von den Nichtmuslimen in            reren Tausend Kopassus-Soldaten (der Sonder-
      Indonesien wurde ICMI mit Argwohn betrachtet,           einsatzgruppe unter dem Befehl Prabowos) im
      weil es einen Flügel in dieser Organisation gab,        Kopassus-Hauptquartier zu einem Fest am Ende
      dessen Angehörige offen von Kristenisasi, also der      des Ramadan.
      übermäßigen Besetzung von Machtpositionen                   Jene islamischen Gruppen, die seit jeher eine
      durch Christen sprachen.                                ambivalente Haltung zur Neuen Ordnung ein-
          Für Suharto war ICMI in erster Linie ein wei-       genommen hatten, zeigten sich auch in den ersten
      teres Machtinstrument. Er wollte seinen For-
      schungs- und Technologieminister Habibie zu
      seinem Vizepräsidenten, vielleicht sogar zu seinem      19. Wahid, A. (1995): »Intelektual di Tengah Eksklu-
      Nachfolger aufbauen. Habibie war Herr über              sivisme«; in: Ali-Fauzi, N. (Hg.): ICMI-Antara Status
                                                              Qua dan Demokratisasi; Bandung; S. 70–75.
      eine Reihe von Staatsunternehmen (Flugzeugbau,          20. Sidel, J.T. (1998): »Macet Total: Logics of Circula-
      Schiffbau, Munitionsherstellung etc.), verfügte         tion and Accumulation in the Demise of Indonesia’s
      aber bis zu diesem Zeitpunkt nur über eine unzu-        New Order«; in: Indonesia 66; S. 159–194; hier S. 182 ff.
      reichende Hausmacht. Suharto machte ihn zum             21. KISDI = Komite Indonesia untuk Solidaritas Dunia
                                                              Islam = Indonesisches Komitee für die Solidarität der
      ICMI-Vorsitzenden und räumte ihm in der Regie-
                                                              Islamischen Welt; gegründet 1990 von M. Natsir.
      rungspartei Golkar eine zentrale Stellung ein. Da       22. Far Eastern Economic Review, 12.2.1998.
      Anfang der 90er Jahre im Militär einige orthodoxe       23. Indonesischer Rat für islamische Missionierung.

186   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                         IPG 2/2001
Monaten des Jahres 1998 unschlüssig. Die NU war       Präsidenten davon überzeugten, dass er keinen
in der Phase vor dem Sturz Suhartos gespalten.        Rückhalt mehr in der Bevölkerung hatte. 26
A. Wahid z. B. wollte um fast jeden Preis die
Präsidentschaft Habibies verhindern. Nur ein
Flügel um Generalsekretär Ahmad Bagdja, der           Der Islam nach dem Sturz Suhartos
von NU-Studentenorganisationen bestärkt wurde,
scheint die Demokratiebewegung deutlich unter-        Mit dem Sturz Suhartos und der Ernennung
stützt zu haben. Im April forderte die NU die         Habibies zu seinem Nachfolger setzte am 21. bzw.
Streitkräfte auf, die Reformen zu unterstützen,       22. Mai 1998 eine Übergangsphase ein, in der
aber erst am 15. Mai gab es Verlautbarungen           Habibie und sein neues mit Gefolgsleuten besetz-
aus der NU-Zentrale, wonach der von Suharto           tes Kabinett notgedrungen eine Reihe von Refor-
erwogene Rücktritt begrüßt wurde. Sogar noch          men durchführten. Sie wurden vom Flügel um
am 19. Mai soll Wahid bei dem Treffen der isla-       Militärkommandeur Wiranto, der sich gegen den
mischen Führer mit dem noch amtierenden Präsi-        reaktionären Prabowo-Flügel durchgesetzt hatte,
denten die halbherzigen Reformpläne Suhartos          unterstützt. Sowohl die internationalen Kapital-
gebilligt haben. 24                                   geber als auch die außerparlamentarische Opposi-
    Der Amien-Rais-Flügel von Muhammadiyah            tion, also vor allem die jederzeit zu Protest-
war demgegenüber deutlich auf Seiten der Demo-        aktionen bereiten Studenten und die sich schon
kratiebewegung, wenngleich auch Rais der Wie-         seit dem Mai 1998 neu konstituierenden poli-
derwahl Suhartos zum Präsidenten im März 1998         tischen Parteien, waren in der Lage, den Liberali-
schweren Herzens zustimmte. Seit er Ende 1997         sierungskurs der neuen Regierung und der noch
von Suharto aus einer Führungsposition bei ICMI       amtierenden Parlamentarier wesentlich mitzube-
gedrängt worden war, hatte er sich an die Spitze      stimmen.
der Reformbewegung gesetzt. Im Gegensatz zu               Obwohl die neu entstehenden Parteien ver-
A. Wahid und eher noch als die zurückhaltend          pflichtet waren, sich zu den Pancasila als einziger
auftretende Megawati Sukarnoputri wurde er            Grundlage zu bekennen, beriefen sich einige wie
zum Idol der Studentenbewegung. Nach einem            die PBB (Partai Bintang Bulan = Partei des Halb-
Bericht des Magazins D&R im September 1998            mondes), die PPP (Partai Persatuan Pembangunan
soll Suharto sogar einen Mordanschlag auf Rais        = Vereinigte Entwicklungspartei) und die PK (Par-
erwogen haben.                                        tai Keadilan = Gerechtigkeitspartei) unmittelbar auf
    Der ICMI-Generalsekretär Adi Sasono trat          den Islam. Andere Parteien, obschon sie deutlich
schon im Januar mit dem Plan, einen »Nationalen       erkennbare islamische Wurzeln hatten, öffneten
Dialog« zu führen, an die Öffentlichkeit. Die         sich explizit auch für Nichtmuslime. Zu ihnen
damit angestrebte informelle Allianz zwischen         gehörten die von Abdurrahman Wahid dominierte
Rais, Megawati und Wahid scheiterte aber am           NU-Partei PKB (Partai Kebangkitan Bangsa = Par-
Widerstand Wahids. Als sich abzeichnete, dass         tei des Volkserwachens) sowie die PAN (Partai
Habibie Vizepräsident werden würde, hielten sich      Amanat Nasional = Partei des Nationalen Man-
die kritischen ICMI-Mitglieder wieder etwas stärker
zurück. Unter der Führung von Ahmad Tirtosu-
                                                      24. Vgl.: Mietzner, M. (1998): »Between pesantren and
diro und Adi Sasono emanzipierte sich ICMI aber       palace: Nahdlatul Ulama and its role in the transition«;
nach der Wahl Habibies zunehmend von ihrem            in: Forrester, G. / May, R.J. (eds.): The fall of Soeharto;
Patron. Tirtosudiro forderte eine Sondersitzung       Bathurst/London, S. 179–199.
des Volkskongresses (MPR), und die ICMI-Führung       25. Zum Neomodernismus, einer spezifisch indone-
                                                      sischen, liberalen Verknüpfung modernistischer und tra-
sprach von einer politischen Krise und kritisierte    ditionalistischer Denkfiguren: Barton, G. (1995): »Neo-
die bisherigen Reformvorschläge der Regierung         Modernism: A Vital Synthesis of Traditionalist and
als vage und verspätet.                               Modernist Islamic Thought in Indonesia«; in: Studia
    Zuletzt waren es neun von Suharto zu einem        Islamika; Vol. 2, Nr. 3; S. 1–75.
                                                      26. Eine detailliertere Darstellung der jüngsten Ereig-
Gespräch eingeladene islamische Führer, unter         nisse findet sich in: Ufen, A.: »Grundzüge der poli-
ihnen insbesondere der neomodernistische 25 mus-      tischen Entwicklung in Indonesien von 1997–2000«; in:
limische Intellektuelle Nurcholish Majid, die den     Südostasien aktuell 4/2000, 5/2000, 6/2000 und 1/2001.

IPG 2/2001                                                                       Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien   187
dats) unter dem Vorsitz von Amien Rais. Von                 Die von der Habibie-Regierung gewährte
      141 neu gegründeten Parteien waren etwa 40 isla-        Versammlungs-, Assoziations- und Pressefreiheit
      misch. Von den zu den Wahlen zugelassenen               führte innerhalb weniger Wochen zu einer Akti-
      48 Parteien waren es 20.                                vierung der jahrzehntelang zum Schweigen ver-
          In der Gerechtigkeitspartei PK verbinden sich       urteilten Zivilgesellschaft. Dennoch war die Neue
      ausgesprochen demokratische Grundüberzeugun-            Ordnung noch nicht beseitigt. Nur wenige der
      gen mit Vorstellungen von einem tugendhaften            besonders korrupten und Suharto-nahen Angehö-
      Leben gemäß rigide interpretierter islamischer          rigen der alten Machteliten wurden ausgewechselt.
      Lehren. So vermeiden Männer und Frauen in               Selbst die große Mehrheit der Parlamentarier, die
      dieser Partei jeglichen Körperkontakt. Diese Rück-      in der Zeit des Suharto-Regimes die Politik der
      kehr zu den (vermeintlichen) Ursprüngen der isla-       Regierung abgesegnet hatten, konnte vorerst im
      mischen Gemeinschaft bedeutet jedoch keine Ab-          Parlament bleiben. Es ergab sich also eine seltsame
      kehr von Wissenschaft und Rationalität. Der Partei-     Auseinandersetzung zwischen den noch amtie-
      vorsitzende ist promovierter Agrarwissenschaftler.      renden Status-quo-Kräften, die notgedrungen
          Die Partei des Halbmondes PBB ist eine moder-       Reformen verabschieden mussten, und den in
      nistische Partei, die sich für eine Islamisierung       diese Ämter drängenden Mitgliedern der neu
      der Gesellschaft einsetzt. Für eine solche Islamisie-   gegründeten Parteien. Erst mit den Beschlüssen
      rung wird die Benachteiligung anderer religiöser        des Volkskongresses (MPR) 29 – eines zweiten Parla-
      Gemeinschaften in Kauf genommen. Politische             mentes, das den Präsidenten wählt und über Ver-
      Maßnahmen werden ausdrücklich unter Berufung            fassungsänderungen beschließt – im November
      auf die islamische Lehre begründet. Ähnlich ist die     1998 und mit den vom nationalen Parlament (DPR) 30
      Haltung der Vereinigten Entwicklungspartei PPP,         im Januar 1999 verabschiedeten neuen Geset-
      die bereits seit 1973 existiert und in der Neuen        zen war der Weg zu nationalen Wahlen endgültig
      Ordnung zu den drei legalen Parteien gehörte. Sie       frei.
      war früher von den Modernisten beherrscht (wes-             Diese Wahlen im Juni 1999, die von indone-
      halb die NU 1984 aus der PPP austrat), öffnete sich     sischen und internationalen Wahlbeobacherorga-
      aber mit der Wahl von Hamzah Haz, einem NU-             nisationen als im Wesentlichen fair und frei ein-
      Mitglied, zum Parteivorsitzenden stärker den Tra-       gestuft wurden, bestätigten die Machtsteigerung
      ditionalisten. Auch die bisherige Regierungspartei      der islamischen Gruppierungen und Parteien. Von
      Golkar, die nach dem Mai 1998 zu einer Partei von
      vielen wurde, näherte sich stärker dem modernis-
      tischen Lager. 27                                       27. Die Militärs, die lange Golkar beherrscht und in
          Die Partei des nationalen Mandats PAN ist die       den 90er Jahren zumindest noch im Hintergrund von
                                                              Bedeutung waren, zogen sich aus der Partei mehr und
      Partei von Amien Rais, dem populärsten islami-          mehr zurück. Die Suharto-Familie wurde entmachtet,
      schen Modernisten, der bis 1998 Vorsitzender der        und beim Parteikongress im Juli 1998, bei dem die
      28 Millionen Mitglieder zählenden Muhamma-              Weichen für die nächsten Jahre gestellt wurden, konnte
                                                              sich der Flügel um Habibie und Akbar Tanjung (beide
      diyah war. Er verfolgte lange ähnlich politische
                                                              gelten als modernistische Muslime) gegen einen nationa-
      Ziele wie die meisten PBB- und PPP-Mitglieder.          listisch, Pancasila-orientierten Flügel um Ex-General Edi
      Beide Parteien wollten ihn anfänglich sogar auf-        Sudrajat durchsetzen.
      nehmen. Rais entschied sich aber dann dafür, eine       28. Manche Beobachter interpretierten das als den Ver-
                                                              such, Sinoindonesier als Finanziers zu gewinnen.
      eigene Partei zu gründen und sich auch der nicht-       29. Während die in der Mehrheit eher konservativen
      muslimischen Wählerschaft zu öffnen. 28                 Parlamentarier über die Gesetzesänderungen berieten,
          Die PAN, die PBB, die PPP und die PK gelten         kam es unweit des Parlamentsgeländes zu bürger-
      als überwiegend modernistische Parteien. Das            kriegsähnlichen Kämpfen zwischen Sicherheitskräften,
                                                              demonstrierenden Studenten und so genannten Pam-
      modernistische Lager war also anders als 1955, als      Swakarsa-Truppen (Pengamanan Swakarsa = autonome
      der Masyumi über 20 % der Stimmen auf sich ver-         Sicherheitskräfte). Die etwa 100.000–125.000 Mann
      einigen konnte, gespalten. Die Traditionalisten im      starken Truppen bestanden aus muslimischen Jugend-
                                                              lichen, die leicht bewaffnet waren und die Aufgabe hat-
      Umfeld der Nahdatul Ulama hingegen wurden
                                                              ten, den Volkskongress vor den Protesten der Studenten
      vorrangig von der Partei des Volkserwachens PKB         zu schützen.
      repräsentiert.                                          30. Dewan Perwakilan Rakyat.

188   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                         IPG 2/2001
den sieben Parteien mit dem größten Stimmenan-           dert wieder sichtbar geworden – die Auseinander-
teil sind fünf muslimisch. Die meisten Stimmen           setzung zwischen orthodoxen Muslimen und
unter ihnen erhielt die traditionalistische PKB          solchen Gruppierungen, die der Religion im poli-
(12,6 %, 51 Parlamentssitze), gefolgt von den eher       tischen Bereich keine wichtige Funktion zumessen
modernistischen Parteien PPP (10,7 %, 58 Sitze),         und die Gleichberechtigung der in den Pancasila
PAN (7,1 %, 34 Sitze), PBB (1,9 %, 13 Sitze) und PK      aufgeführten Religionen und ihrer Anhänger her-
(1,4 %, 7 Sitze). Die beiden mit großem Abstand          vorheben.
stärksten Parteien im nationalen Parlament sind              Da weder die poros tengah noch die Megawati-
aber die PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-              Anhänger über genügend Stimmen verfügten,
Perjuangan = Demokratische Partei Indonesien –           konnte sich überraschend der liberale Muslim-
Kampf, mit 153 Sitzen bei 33,8 % der Stimmen),           führer Abdurrahman Wahid, unterstützt von der
die von der Sukarno-Tocher Megawati Sukarno-             poros tengah, durchsetzen. Am 20. Oktober 1999
putri geführt wird, und das ehemalige Vehikel            wählte der Volkskongress Wahid mit 373 zu 313
der Neuen Ordnung, die Partei Golkar (22,5 %,            Stimmen zum vierten Präsidenten der Republik
120 Sitze), Die PDI-P, die auch von vielen Nicht-        Indonesien. Damit setzte sich eine große Koalition
muslimen gewählt wird, und Golkar sind tenden-           muslimischer Parteien mit Unterstützung der
ziell säkularistisch orientiert und gegen eine Politi-   Konservativen, einem dritten Lager im Parlament,
sierung der Religion.                                    gegen die säkular-nationalistischen Megawati-
                                                         Anhänger durch. Für viele Muslime war eben eine
                                                         Frau im höchsten Staatsamt undenkbar, zumal
Die Wahl des neuen Präsidenten                           sie nicht als orthodoxe Muslimin galt. A.M. Sae-
                                                         fuddin, ein hoch angesehener PPP-Politiker,
Nach den Wahlen vom Juni 1999, vor allem aber            Minister im Habibie-Kabinett und lange mög-
nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse und der              licher Präsidentschaftskandidat seiner Partei, be-
Neukonstituierung des nationalen Parlaments (DPR),       zeichnete Megawati während des Wahlkampfes
begannen die informellen Verhandlungen über              sogar als Hinduistin, weil sie an einer hinduis-
die Zusammenarbeit bei der Präsidentenwahl. Zu-          tischen Zeremonie in Bali teilgenommen hatte.
nächst war die Frage, ob sich Megawati (PDI-P)           Megawati wurde aber von den orthodoxen Mus-
gegen Habibie (Golkar) durchsetzen könnte.               limen vor allem unter Verweis auf ihr Geschlecht
Amien Rais, der eine der populärsten Politiker           die Fähigkeit zur Führung des Landes abgespro-
in Indonesien war und bei einer Direktwahl des           chen. 31 Mehrere Spitzenpolitiker und führende
Präsidenten sicherlich wesentlich besser abge-           Organisationen beriefen sich auf den Koran und
schnitten hätte als seine eigene Partei, war plötzlich   meinten, dass eine Frau nicht Präsidentin in einem
ebenso ins zweite Glied gerückt wie der gebrech-         mehrheitlich muslimischen Land werden könne.
liche, fast blinde NU-Führer Abdurrahman Wahid.          Selbst A. Wahid, der sich in den Wochen vor den
Megawati galt als die strahlende Siegerin und als        Präsidentschaftswahlen als intriganter Machtpoli-
die aussichtsreichste Kandidatin für den Präsiden-       tiker erwies, äußerte sich – anders als in all den
tenposten.                                               Jahren zuvor – in diesem Sinne.
    Die orthodoxen Muslime im Volkskongress                  Nach den Wahlen ergaben sich im nationalen
verband das Interesse an einer wie auch immer            Parlament (und damit auch im ähnlich zusammen-
gearteten Islamisierung der indonesischen Gesell-        gesetzten Volkskongress) zwei Konfliktlinien, an
schaft. Sie bildeten deshalb eine lockere Koalition,     denen sich die politischen Auseinandersetzungen
die den Namen »poros tengah« (Mittelachse)               zunehmend orientierten. Zum einen war es der
erhielt. Die »Mittelachse« bestand aus den moder-        Gegensatz zwischen den konservativen oder gar
nistischen Parteien PAN, PKB, PBB und PK sowie           reaktionären Kräften (große Teile Golkars, die
kleineren Parteien. Ihnen standen die Kräfte um
Megawatis PDI-P gegenüber, die etwa über so viele
Stimmen im Volkskongress verfügte wie die poros          31. Vgl. Platzdasch, B. (2000): »Islamic Reaction to
                                                         a Female President«; in: Manning, C./van Diermen, P.
tengah. Mit dieser Blockbildung war eine Kon-            (eds.): Indonesia in transition: social aspects of reformasi
stante der indonesischen Politik im 20. Jahrhun-         and crisis; Singapore; S. 336–350.

IPG 2/2001                                                                          Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien   189
Militär/Polizei-Fraktion, Teile der muslimischen      zur Bildung informeller, nepotistischer Abhängig-
      Parteien, insbesondere der PPP und der PBB) und       keitsbeziehungen und zur Unterminierung des
      den prodemokratischen Kräften, zum anderen der        ohnehin kaum entwickelten Rechtssystems beige-
      zwischen den muslimischen und den nichtmus-           tragen. Das Militär hat sich nur zögerlich und
      limischen Parteien. Berücksichtigt man, dass es       halbherzig von der Doktrin der Doppelfunktion
      auch in der Militär/Polizei-Fraktion, besonders in    (dwifungsi) distanziert und eine wirkliche Beendi-
      der Partai Golkar und – weniger deutlich – in der     gung dieser alle gesellschaftlichen Bereiche ein-
      PDI-P muslimische Flügel gibt, ist eine einfache      beziehenden zweiten, »soziopolitischen« Funktion
      Gegenüberstellung von muslimischen und nicht-         ist mittelfristig, d. h. in den nächsten zehn Jahren,
      muslimischen Parteien aber nicht möglich. Außer-      nicht zu erwarten. Besonders einige Gebiete außer-
      dem spalten sich die muslimischen Parteien in tra-    halb Javas wie Aceh, Timor, Papua und die Moluk-
      ditionalistische und modernistisch orientierte auf,   ken werden immer noch vom Militär und von
      und für die dominierenden Flügel der PAN und der      paramilitärischen Banden beherrscht.
      PKB ist in vielen Politikbereichen eine Demokrati-        Es hat also kein umfassender Elitenwech-
      sierung Indonesiens und eine Entmachtung der          sel stattgefunden. In dem ersten Kabinett, das
      alten Regimekoalition wichtiger als eine Stärkung     A. Wahid im Oktober 1999 zusammenstellte,
      des Islam. 32                                         wurden einige Militärs, Vertreter Golkars, Führer
                                                            der muslimischen Parteien und Mitglieder der
                                                            PDI-P berücksichtigt. Megawati hat als Vizepräsi-
      Neuere Entwicklungen in der Ära Abdurrahman Wahid     dentin keine deutlich formulierten Rechte, ist aber
                                                            als mögliche Nachfolgerin Wahids weiterhin eine
      Indonesien befindet sich gegenwärtig in einem         der wichtigsten Persönlichkeiten. Der Zwang zur
      turbulenten Übergang vom Autoritarismus zur par-      Rücksichtnahme auf die konservativen Kräfte, z. T.
      lamentarischen Demokratie. Das Land wurde am          auch die eigene Verstrickung in das Macht- und
      stärksten und nachhaltigsten von der Asienkrise       Korruptionssystem der Neuen Ordnung, lähmen
      getroffen, und noch immer zeigen einige der wich-     den Reformprozess. Die Muslime – sowohl die
      tigsten ökonomischen Indikatoren (Pro-Kopf-           Traditionalisten als auch die Modernisten – ge-
      Einkommen, Armutsquote, Arbeitslosenrate, Inves-      hören häufig selbst zu den Blockierern. Das
      tionsvolumen, Außenhandelsvolumen etc.), dass         beste Beispiel dafür ist der Umgang mit der eige-
      das Niveau des Jahres 1997 noch längst nicht          nen Vergangenheit. Während viele Muslime vehe-
      wieder erreicht ist. Indonesien, das vor wenigen      ment für die Aufdeckung verschiedener, vom
      Jahren von einigen Beobachtern als Schwellenland      Militär begangener Massaker – etwa das an Dut-
      beschrieben wurde, ist im Moment wieder zu den        zenden, vielleicht Hunderten demonstrierenden
      Niedrigeinkommensländern zu rechnen.                  Muslimen in Jakarta (Tanjung Priok) im Jahre
          Trotzdem ist der Inselstaat heute wesentlich      1984 – eintreten, wehren sie sich gegen eine Auf-
      offener und demokratischer als vor ein paar           deckung der Ereignisse in den Jahren 1965/66.
      Jahren. Eine lebhafte und kritische Presse über-      Damals wurden mehrere Hunderttausend wirk-
      nimmt ihre Funktion als »vierte Gewalt« und die       liche und vermeintliche Kommunisten von Mili-
      wichtigsten Grund- und Menschenrechte werden          tärs und islamischen Paramilitärs in einem Blut-
      seit dem August 2000 zumindest verfassungs-           rausch niedergemetzelt. Als A. Wahid die Auf-
      rechtlich anerkannt. Nach den weitgehend freien       hebung eines Dekretes, das die kommunistische
      und fairen Wahlen beginnen die neuen Parlamente       Partei und die Verbreitung kommunistischen
      ihre genuinen Funktionen zu erfüllen.                 Gedankengutes verbietet, forderte, stieß er auf
          Allerdings existieren viele der alten Netzwerke
      und Mechanismen noch. Die alten Konglomerate,
      deren meist sinoindonesischen Bosse von dem
      Korruptionssystem profitierten, werden jetzt mit
                                                            32. Die PKB-Fraktion hat anfänglich sogar Megawati bei
      Steuergeldern vor dem Konkurs gerettet, um eine       den Präsidentschaftswahlen unterstützen wollen. Erst im
      Verschärfung der wirtschaftlichen Krise zu verhin-    letzten Moment wurde sie aber auf Abdurrahman Wahid
      dern. Die jahrzehntelange Militärherrschaft hat       eingeschworen.

190   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                      IPG 2/2001
den erbitterten Widerstand der Konservativen und      benutzte den Dschihad-Begriff bewusst mehr-
der meisten Muslime. 33                               deutig.
    Muslime haben in der parlamentarischen                Es kursieren viele Verschwörungstheorien,
Demokratie zusätzliche Anreize erhalten, den poli-    wonach die Konflikte in den Molukken, in Papua
tischen Diskurs zu islamisieren, d. h. verstärkt      und in Aceh 35 auf das Wirken äußerer Mächte
auf islamische Moralbegriffe und Politikkon-          zurückzuführen sind. Mehrfach tat sich Verteidi-
zepte zurückzugreifen. Anhänger eines politisier-     gungsminister Mahfud MD mit aggressiven anti-
ten Islam bzw. einer islamisierten Politik streben    amerikanischen Äußerungen hervor. Die Ameri-
danach, die Sonderstellung des Islam zu institutio-   kaner schlossen auf dem Höhepunkt der Krise eine
nalisieren. So wurden während der Sitzung des         Zeit lang ihre Botschaft und rieten ihren Lands-
Volkskongresses im August 2000 wieder Stimmen         leuten von einem Indonesienaufenthalt ab, da
laut, die 1945 zwischen Nationalisten und Isla-       muslimische Fundamentalisten etwa in Solo
misten ausgehandelte Jakarta-Charta in die Verfas-    (Mitteljava) Hotels nach amerikanischen Touristen
sung aufzunehmen. Dabei betonten führende Ver-        absuchten.
treter der PBB und der PPP, dass ihre Absichten           In dieser aufgeheizten Stimmung bekommen
nicht sektiererisch seien, da gerade die Aufnahme     radikale Gruppierungen, die einen Islamstaat
der Jakarta-Charta eine jahrzehntelange Debatte       Indonesien (Negara Islam Indonesia, NII) fordern,
beenden und religiöse Konflikte mildern würde.        Oberwasser. So wurden mehrere Tausend Mitglie-
Die größten Fraktionen im Parlament lehnten den       der der Front Pembela Islam (FPI), der Front der
Vorschlag jedoch ab.                                  Verteidiger des Islam, auf die Molukken entsandt,
    Immer wieder kommt es zu hitzigen poli-           um sich auf Seiten ihrer Glaubensbrüder am
tischen Debatten zwischen Islamisten und ihren        Bürgerkrieg zu beteiligen. Da das Militär und
Widersachern. Es fällt auf, dass diese Auseinander-   die in Bedrängnis geratenen Reaktionäre an einer
setzungen sehr häufig nicht die zentralen Ent-        Destabilisierung der parlamentarischen Demokra-
scheidungen, die die Zukunft des Landes wesent-       tie interessiert sind, gibt es zahlreiche Spekula-
lich bestimmen, betreffen. Eine fundierte alter-      tionen über eine Finanzierung der FPI durch Teile
native Wirtschafts- und Finanzpolitik z. B. haben     des Militärs oder gar durch die mit Suharto immer
die Islamisten nicht formuliert. Meistens geht es     noch verbundenen Gruppierungen.
um politische Fragen von sekundärer Bedeutung:            Die FPI, die allein in Jakarta mehrere Zehn-
Darf eine Frau Präsidentin werden? Soll Indo-         tausend Mitglieder in militärisch organisierten
nesien Handelsbeziehungen zu Israel aufnehmen?
Wie ist mit dem japanischen Hersteller eines          33. Eine Umfrage der Zeitschrift Tempo enthüllte, dass
Geschmacksverstärkers zu verfahren, der bei der       die Mehrheit der indonesischen Bevölkerung immer
Produktion ein Schweine-Extrakt verwendet hat?        noch die offizielle Version des Suharto-Regimes vom
Man gewinnt bei solchen mit großer Vehemenz           Machtwechsel von Sukarno zu Suharto für bare Münze
                                                      nimmt. Danach wollte die kommunistische Partei damals
geführten politischen Kämpfen den Eindruck, dass      die Macht in Indonesien übernehmen.
der Islam häufig für eine ganz irdische Macht-        34. In Zeiten der wirtschaftlichen und politischen Krise
politik instrumentalisiert wird.                      oder wenn eine alte Hegemonialmacht verschwunden ist
    Besonders die kleineren muslimischen Parteien     und kurzfristig neue Konfliktlösungsmechanismen ent-
                                                      wickelt werden müssen, können religiöse Bindungen in
zeigen sich ambivalent im Umgang mit radi-            hohem Maße politisiert werden. Blutige Konflikte, die
kal-islamistischen Gruppierungen. Ein Beispiel        eigentlich nichtreligiöse Ursachen haben, werden dann
dafür ist die Reaktion auf den blutigen Kon-          mit religiösen Begriffen erklärt und u. U.durch religiöse
flikt zwischen Christen und Muslimen auf den          Organisationen angeheizt. So stellt sich der Bürgerkrieg
                                                      auf den Molukken, bei dem seit Anfang des Jahres 1999
Molukken. 34 Bei einem Treffen von Zehntausen-        mehrere Tausend Menschen ums Leben kamen, als Kon-
den Muslimen Anfang 2000 in Jakarta – unter           flikt zwischen Christen und Muslimen dar.
ihnen befanden sich viele radikale, gewaltbereite     35. In Papua und in Aceh sind nach dem Sturz
Islamisten – bei dem zum Dschihad aufgerufen          Suhartos sehr starke sezessionistische Bewegungen ent-
                                                      standen. Im Dezember 2000 führte Präsident Wahid in
wurde, war u. a. auch der PAN-Vorsitzende Amien       der sumatraischen Provinz Aceh eine milde Form der
Rais anwesend. Rais distanzierte sich auch in         Scharia ein, das war ein Zugeständnis an die orthodox-
späteren Interviews nicht von diesem Treffen und      muslimischen Separatisten.

IPG 2/2001                                                                      Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien   191
Gruppen haben soll, wird auch für Überfälle auf        1998 war aber jener zwischen dem Regime und
      Vergnügungsstätten verantwortlich gemacht. Und         den prodemokratischen Kräften. Seit dem Sturz
      als im Oktober 2000 während der neuerlich aus-         Suhartos sind zwei Konfliktlinien von essentieller
      gebrochenen Straßenkämpfe zwischen Israelis und        Bedeutung, nämlich die zwischen den Demokra-
      Palästinensern eine internationale Konferenz von       ten und den Reaktionären sowie die zwischen Sä-
      Parlamentariern in Jakarta stattfand, drohte die       kularisten und Islamisten.
      Front damit, die Mitglieder der israelischen Dele-         Wenn sich die parlamentarische Demokratie in
      gation umzubringen. Der FPI-Anführer Riza Pah-         den nächsten Jahren konsolidieren sollte, wäre
      levi kündigte sogar an, die Hotels in Jakarta nach     eine Mäßigung der radikalen Gruppierungen, vor
      Israelis absuchen zu lassen. Darauf hin mussten die    allem aber der im Parlament vertretenen isla-
      israelischen Delegierten ihren Besuch absagen.         mischen Parteien, denkbar. Einiges deutet sogar
      Viele muslimische Parlamentarier distanzieren sich     darauf hin, dass die Fraktionen in den musli-
      zwar vom Terror der FPI, sind aber nicht bereit, die   mischen Parteien, die bereit sind, Megawati zu
      Front in toto zu verurteilen.                          unterstützen, wegen der Enttäuschung über den
          Das Beispiel Israel zeigt, dass Wahid in seiner    inkonsistenten Regierungsstil Wahids größer
      Außenpolitik darauf achten muss, dass er den Isla-     werden. 37 Es bleibt zu bedenken, dass die große
      misten keine Angriffsfläche bietet. Seine Annähe-      Mehrheit der indonesischen Muslime nicht an der
      rung an die »Schurkenstaaten« Irak und Libyen          Errichtung eines Islamstaates interessiert ist. Sollte
      könnte dabei eine Strategie sein, um seine innen-      aber die Wirtschaftskrise anhalten und sollten die
      politischen Gegner zu beruhigen. 36                    sezessionistischen Bewegungen und die Kämpfe in
                                                             den Molukken eine weitere politische Destabilisie-
                                                             rung bewirken, könnte eine allgemeine Auflösung
      Fazit                                                  der Staatsgewalt die islamistischen Kräfte stärken.
                                                             Es könnte dann zu einer Koalition zwischen Isla-
      Im Laufe mehrerer Jahrhunderte entwickelte sich        misten und reaktionären Gruppen kommen. Diese
      ein Gegensatz zwischen synkretistischen und            Koalition bahnte sich bereits seit Ende der 80er
      orthodoxen Muslimen, zwischen Abangan und              Jahre an. Prabowo radikalisierte die Zusammen-
      Santri. Die Santri spalteten sich später zuneh-        arbeit Anfang 1998, und im November 1998 führte
      mend in Modernisten und Traditionalisten. Diese        sie zu dem Pam-Swakarsa-Einsatz gegen demons-
      Brüche lassen sich auch gegenwärtig in Indonesien      trierende Studenten in Jakarta. Gegenwärtig arbei-
      beobachten. Im politischen Bereich ist heute aber      ten u. a. die Front Pembela Islam und die Laskar
      insbesondere die Auseinandersetzung zwischen           Jihad – wahrscheinlich finanziert von den Reak-
      Säkularisten, das sind Nicht-Muslime, die große        tionären – an der Wiedererrichtung eines auto-
      Mehrheit der Abangan, viele NU-Traditionalisten,       ritären, die islamistischen Gruppierungen privile-
      aber auch die Mehrheit der Modernisten, und Isla-      gierenden Regimes.                                  
      misten (die meisten von ihnen sind Modernisten)
      von Bedeutung. Bei den Islamisten sind moderate,
      prodemokratische von antidemokratischen, häufig
      gewaltbereiten zu unterscheiden.
          In der Zeit von 1950–57 entwickelten sich
      drei die indonesische Politik prägende Hauptkon-
      flikte, nämlich zwischen zivilen und militärischen,
      zwischen säkularistischen und islamistischen sowie
      zwischen kommunistischen und antikommunis-
      tischen Gruppen. Durch den Autoritarismus
      Sukarnos und Suhartos wurden die Islamisten (seit      36. Saddam Hussein ist in Indonesien in weiten
      1965 auch die Kommunisten) ausgeschaltet. Aller-       Kreisen – bei den Islamisten wie bei den Nationalisten
                                                             etwa der PDI-P – hoch geschätzt. Er verkörptert – wie in
      dings näherte sich das Suharto-Regime seit Ende
                                                             den frühen 60er Jahren Sukarno – für viele Indonesier den
      der 80er Jahre wieder den Vertretern eines poli-       Widerstand der »Dritten Welt« gegen die Weltmacht USA.
      tisch verstandenen Islam an. Der Hauptkonflikt bis     37. Interview mit Alvin Lie am 4.10.2000 in Jakarta.

192   Andreas Ufen, Islam und Politik in Indonesien                                                        IPG 2/2001
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