Unter Musliminnen N 07 - 20. Februar 2021 - Gesellschaft der Stadt Aarau
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N ° 07 — 20. F e brua r 202 1 Unter Musliminnen Seite 10 HI DSCH A B BU R K A NIK AB A L-A M I R A SCH A I L A
löst. Und Betroffene, die derart grotesk eine Muslima auf irgendeine Weise in der Minderheit sind (mehr dazu in «befreit» hätte. der Reportage ab Seite 10), dass so gut Ja, manchmal muss direkte Demo wie niemand, der in zwei Wochen über kratie wie die Fasnacht funktionieren. das Burkaverbot abstimmt, die Konse Als Ventil. Als Triebabfuhr. Als «Zei quenzen eines Verbots zu spüren be chen». Man darf sich dann einfach kommen wird. Direkte Demokratie im nicht einreden, man würde mit einem Nichts. Ja zum Burkaverbot tatsächlich irgend Dass es grundsätzlich absurd ist, etwas bewirken. Ausser den hier le über ein Verhüllungsverbot abzustim benden Muslimen einen erneuten men, wenn wir uns alle im Moment Tiefschlag zu verpassen – und dem (und wohl noch für länger) verhüllen Egerkinger Komitee zu weiteren fünf müssen, darüber brauchen wir gar zehn Minuten Ruhm zu verhelfen. nicht zu reden. Wirklich störend, wenn wir Schweizerinnen und Schweizer Ph i l i pp L o s e r meinen, über Religionen urteilen zu PH I L I PP L O SER müssen, ist der Unterschied zwischen ist Redaktor des «Tages-Anzeiger». Direkte Demokratie dem propagierten Anspruch der Ini tianten – wir bekämpfen religiösen Ex für nichts tremismus! – und der tatsächlichen Wirkung solcher Vorlagen. Je früher man es erkennt, desto besser So ist die Frage, ob sich der Bau für die innere Harmonie: Die Abstim eines Minaretts mit dem 2009 be mung zum Verhüllungsverbot ist ge schlossenen Verfassungsartikel tat laufen. sächlich verhindern lässt, immer noch Wenn in zwei Wochen die Wahl ungeklärt. Schon kurz nach der Ab lokale schliessen, wird nur noch inte stimmung liess das Bundesgericht ressieren, wie hoch die Zustimmung verlauten, dass das Bauverbot nicht zum Verbot der Burka tatsächlich aus absolut gilt – wegen völkerrechtlicher fällt. Es wird, das ist keine kühne Prog Verpflichtungen der Schweiz. nose, irgendwo zwischen 57 und 63 Wie es jetzt tatsächlich ist? Dass Prozent Ja-Stimmen geben, und jene weiss man erst, wenn sich das Bundes nw a rt Kantone, die tatsächlich Nein zum gericht mit einem Baugesuch beschäf i k o n d er Gege Verhüllungsverbot sagen, werden sich tigen muss. Ist in den vergangenen Lex an einer Hand abzählen lassen (maxi zehn Jahren nicht geschehen. Wird N i na K u n z mal). wohl auch die nächsten zehn Jahre Wir werden am Abstimmungs nicht geschehen. Weil niemand ein Fast Fashion sonntag jubelnde Egerkinger sehen Minarett bauen will. (Es gibt nach wie und einen stolzen SVP-Nationalrat vor genau vier in der Schweiz.) Walter Wobmann. Die einen Linken Ähnliches lässt sich bei den bisher Vor kurzem spazierte ich durch die werden schäumen, andere werden beschlossenen Burkaverboten beob Bahnhofstrasse in Zürich und merkte: sich im Stillen freuen. achten. Im Tessin gibt es ein solches Ich stand seit Jahren nicht mehr in Warum man das jetzt schon weiss? Verbot seit 2016. Anzahl Bussen pro einem H&M. Weil die Umfrageergebnisse ziemlich Jahr: etwa sechs. In St. Gallen ist ein Das klingt nicht gerade weltbewe deutlich und stabil sind. Weil es bei Verbot seit zwei Jahren in Kraft. An gend, aber in meinem Mikrokosmos ist allen Abstimmungen (national oder zahl Bussen: null. das bemerkenswert, denn vor ein paar kantonal), die sich gegen einen wie Wenn man sich nun vergegenwär Jahren bedeutete mir der H&M noch auch immer definierten «Islamismus» tigt, wie man vor zehn Jahren über die die Welt. Als Teenager kaufte ich mir richteten, so war. Beim Minarett-Ver Minarette stritt und wie man heute dort ständig irgendwelche Glitzertops bot vor über zehn Jahren, bei den kan über die Burka streitet, dann steht die und 25-Stutz-Jeans, weil ich unbedingt tonalen Abstimmungen in St. Gallen Heftigkeit und Giftigkeit der Debatte mit den coolen Mädchen an der Schu DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 und dem Tessin, als es schon einmal in einem absolut lächerlichen Verhält le mithalten wollte, die immer das gegen die Burka ging. nis zu den Auswirkungen. Selbst wenn neuste Zeug trugen. Und weil beim Verhüllungsverbot man aus feministischen Gründen für Später liess dieser Druck nach und für einmal alles zusammenkommt, ein Verbot des Ganzkörperschleiers mich begannen Fast-Fashion-Ketten was die direkte Demokratie manchmal stimmt: Aus dem Tessin oder aus wie Zara oder Mango – die jedes Jahr so frustrierend macht. Ein Problem, St.Gallen ist nicht ein einziger Fall be bis zu vierundzwanzig Kollektionen das keines ist. Eine Lösung, die nichts kannt, in dem das bestehende Verbot raushauen – abzustossen. Warum ge 4
Religionsunterricht Wieder mal reden in der Schweiz alle über Musliminnen und Muslime. Wir haben mit ihnen geredet. Text TuĞba Aya z « اElif; ﺏBe; تTe; ﺙSe…» Vage klingt In der Schweiz leben knapp eine halbe und der Grossmutter in Bosnien auf. das Flüstern in der Moschee in mir Million Musliminnen und Muslime. Mit sechzehn floh sie vor dem Krieg. nach. Verschwommen sehe ich das Meine Eltern zählen zu den vierzig Sie durchquerte Serbien und Ungarn, hellblaue Heft vor mir, bedruckt mit Prozent unter ihnen, die ihren Glau- kam nach Wien. Ihre Mutter holte sie Punkten und Strichen die Laute be- ben nicht praktizieren. Ich selbst war nach Kreuzlingen, wo Fata die Schule deuten sollten. «Elif, Be…?», fragt der seit meinem Koranunterricht nur noch nachholen wollte. Dort müsse sie das Imam. Ich bin an der Reihe, das arabi- im Ausland in einer Moschee gewesen Kopftuch ablegen, hiess es in der Be- sche Alphabet aufzusagen, bemüht, – um deren Bau zu bestaunen. Ich hat- rufsberatung. «Damals war ich die keinen falschen Laut von mir zu geben. te keinen Eindruck vom muslimischen Einzige mit Kopftuch, keine der ande- Mehr als zwanzig Jahre ist mein Leben in der Schweiz, kein Gefühl da- ren Musliminnen trug eins. Sie wollten Koranunterricht her. Meine Schwester für, wie es aussieht. Auch kannte ich, ihre Religion nicht nach aussen tragen und ich besuchten ihn kaum ein Jahr abgesehen von meinen Eltern und ein in einem Land, wo kaum Muslime lang. Wir wollten lieber in die Badi, in paar ihrer Freunde, keine Schweizer lebten. Ich hörte ständig: Tue nöd so den Wald. Bescheiden ist meine Prä- Musliminnen und Muslime. Ich ver- blöd, ziehs ab!» gung durch den Islam, der Religion, in folgte die Debatten um Hassprediger, Ein Bekannter habe damals von die ich hineingeboren wurde. Was mir Anschläge und Minarette. Wenn Poli- einer freien Stelle gewusst, doch trau- meine Eltern an Werten mitgaben, wa- tikerinnen, Intellektuelle, vermeintli- te er sich wegen ihres Kopftuchs nicht, ren universelle Dinge wie Aufrichtig- che und tatsächliche Islamexperten Redzic seinem Chef vorzuschlagen. keit, Demut, Fleiss, Empathie, Ge- über «die Muslime» sprachen, fragte Fata Redzics ersten Jahre in der meinschaftssinn, der Glaube an das ich mich: Wer sind sie? Was beschäftigt Schweiz Anfang der Neunziger waren Schicksal. Sie lebten uns keine religiö- sie? Und wie denken jene Muslimin- von einem Gefühl bestimmt: Exotin zu se Praxis vor, schickten uns dennoch in nen und Muslime, die ihren Glauben sein. Ähnlich war es in ihrer Heimat den Koranunterricht. Die Religion, so wirklich praktizieren? Diesen Fragen Bosnien gewesen. Ihre Eltern wuchsen glaubten sie, würde uns mit der türki- bin ich nachgegangen. im Geiste des Marxismus auf. Gläubi- schen Kultur verbinden. Muslimisch ge verschmähte man. und türkisch sein, das ist für sie eins. Kopftuch bedeutet Exotik Die Grossmutter schickte sie den- «Als Eltern in der Diaspora zwei- «Für keinen Job hätte ich das Kopftuch noch in den Koranunterricht. Die Reli- felten wir ständig, ob wir genug von abgelegt», sagt Fata Redzic. «Ich wur- gionslehrerin beeindruckte Redzic. Sie der türkischen Kultur vermitteln, ohne de aus meinem Land vertrieben, weil war jung, gebildet, trug Kopftuch und die schweizerische zu vernachlässi- ich bin, wer ich bin. Und jetzt bin ich in gab ihr Bücher von bosnischen Intel- gen», sagt meine Mutter. einer Demokratie unerwünscht?» lektuellen zum Lesen. Dabei hatte DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 Sie gaben uns viel mit: die türki- Fata Redzic ist eine vierundvier- doch Redzic gelernt, dass religiöse sche Sprache, die türkische Musik, die zigjährige Unternehmensberaterin. Menschen ungebildet seien. türkischen Erzählungen. «Hätten wir Sie empfängt mich in ihrem Einfami- Mit vierzehn wollte Fata Redzic in der Türkei religiöser gelebt?», frage lienhaus bei Baden, wo sie mit zwei Kopftuch tragen, fragte sich aber: Wie ich. «Nicht wirklich», seufzen beide. Kindern und ihrem Mann lebt. Die sage ich das meiner Familie? «Es war Mein Vater: «Wir sind gläubig, nicht bosnische Moschee in Schlieren be- ein outing. ‹Du bist verrückt, wirst dei- religiös.» sucht sie wöchentlich. ne Jugend vertun!›, sagte mein Vater. Ihre Mutter zog 1977 in die Er bezeichnete sich zwar als Muslim, 10 Schweiz. Redzic wuchs mit dem Vater doch das hiess lediglich: einmal im
Wie sieht es in europäischen Nachbarländern aus? In Deutschland sind Gesichtsvervüllungen im Strassenverkehr verboten. Jahr in die Moschee und keinen Al oder verunsichert. Ich glaube, die chen Gebet und das Fasten machen kohol im Fastenmonat. Selbst meine Menschen reagieren so, weil sie das aber nur einen Bruchteil aus. Der Is Grossmutter zeigte mir den Vogel. Unbekannte verunsichert.» lam ist mit all meinen Lebensberei Keine fünf Mädchen trugen in meiner Redzic ist der Ansicht, die Musli chen verflochten. Lebt man zum Bei Geburtsstadt ein Kopftuch.» Nichts minnen und Muslime bräuchten noch spiel vegetarisch, heisst das ja auch davon beirrte sie. «Alle wussten, sie mals dreissig Jahre, bis sie – wie die Ita nicht nur, kein Fleisch zu essen. Dahin waren chancenlos, es mir auszu lienerinnen und Italiener – in der ter ist eine Haltung zur Umwelt, zum reden.» Schweiz nicht mehr fremd wirkten. Tier, zur Industrie. Doch die umfas «Ist Ihr Exotinnen-Dasein mit Eine Veränderung bemerke sie jetzt sende Haltung zum Glauben erkennen Kopftuch heute vorbei?» schon, sagt sie. Es gebe mittlerweile einige Muslime nicht. Sie praktizieren, «Ja, keine Frage. Gelegentlich irri mehr Musliminnen und Muslime, die ohne viel zu verstehen.» BI L D: ROBE RT R I E GE R tiert es noch. Empfange ich als Unter ihre Schweizer Nachbarn oder Arbeits An der vermeintlich simplen Fra nehmensberaterin Kunden, blicke ich kolleginnen kennen lernen. ge, was man unter dem Muslimsein in staunende Gesichter. Sobald ich Das Minarettverbot allerdings versteht, zeigt sich mir, wie heterogen Deutsch spreche, entspannen sie sich. empfand sie als Rückschritt. «Ich ver das muslimische Selbstverständnis in Nach einem Seminar sagte mir ein Kol stand zwar die Gegenseite. Die Plaka der Schweiz ist. In meinen Gesprächen lege: ‹Fata, du bist ja wie wir!› Habe te voller Minarette verängstigten viele. bekomme ich Antworten wie: Gott aber auch schon anderes erlebt. Im Doch fragte ich mich damals: Ist mein ergeben handeln, den Koran verste DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 vollen Pendlerzug sagte einer gehäs Platz noch hier? Nicht weil ich unbe hen, ein guter Mensch sein, Schweizer sig, mit so einer stehe er nicht im sel dingt ein Minarett brauche. Ich fühlte sein. Und all diese Gegensätze allein ben Coupé. Dann müsse er ins nächs mich in meinem Muslimsein nicht schon unter jenen, die regelmässig te, antwortete ich ruhig.» anerkannt.» praktizieren. «Verletzte Sie das?» «Was bedeutet es denn für Sie, Eine Studie des Bundes erfasste «Gar nicht. Weicht man ab vom Muslimin zu sein?» im jahr 2010 die unterschiedlichen Durchschnitt, und das tut man hierzu «Es ist Teil meiner DNA. Seit über Profile der Schweizer Musliminnen lande mit Kopftuch, gehört das leider dreissig Jahren lese ich den Koran. Die dazu. Der Typ war schlecht gelaunt Schriften zu verinnerlichen, das tägli 11
und Muslime. Auch da zeigte sich: Das Spektrum reicht von einer zwingenden Befolgung der Gebote über die kultu- relle Einbettung der muslimischen Le- bensweisen bis zu einer Auslegung nach individuellem Empfinden. Kommt hinzu, dass die hiesigen Musliminnen und Muslime von ver- schiedenen Konfessionen und Her- kunftsländern geprägt sind. Über 35 Prozent besitzen den Schweizer Pass. Fast so gross ist der Anteil jener mit Staatsbürgerschaft eines Balkanlan- des. Die drittgrösste Gruppe bilden die türkischen Musliminnen und Muslime mit rund 10 Prozent. Der Anteil spät Zugewanderter aus Nahost, aus dem Maghreb oder der Subsahara liegt je- weils bei unter 5 Prozent. Sunnitisch geprägt sind 85 Prozent, je 7 Prozent sind schiitisch und alevitisch, wenige gehören zu kleinen Gruppen wie der In Frankreich dürfen Gesichter in der Öffentlichkeit nicht verhüllt werden, in Österreich Ahmadiyya. auch nicht. Unser Bild zeigt muslimische Frauen in Paris. Von all diesen Musliminnen und Muslimen besuchen nur etwa 12 Pro- zent regelmässig eine Moschee. Nach ten. Der Islam stand für das arme, Schöni trägt zu ihren weiten Hosen den Konfessionslosen bilden Men- ungebildete Volk. Ähnliche Vorurteile Filzfinken mit einem Schweizer Kreuz. schen aus der muslimischen Gemein- sind nach wie vor verbreitet, wogegen Ihr Kopftuch trägt sie in der Wohnung schaft die zweitgrösste Bevölkerungs- die Regierungspartei AKP aber mit ei- nicht, ihre Tochter Maryam schon. gruppe, die keine Religion praktiziert. nigem Erfolg vorgegangen ist. Der Die Familie praktiziert den schiiti- Zwist um den Platz der Religion spaltet schen Islam. Muslimisch zu sein, sa- «Die Kultur unterdrückt, die Türkei bis heute. gen die drei, sei für sie eine religiöse nicht der Islam» Viele der Missstände in muslimi- Identität. «Für viele gebürtige Musli- Wie gross die Gegensätze selbst inner- schen Ländern, so höre ich in meinen me bedeutet es hingegen, Iraner oder halb eines muslimischen Landes sein Gesprächen, seien kulturell bedingt. Libanese zu sein. Sie würden eher eine können, erfuhr ich als Kind bei Besu- Manche betonen etwa, dass sie man- Sünde begehen, als ihre kulturellen chen in der Türkei. Meine Grosseltern gelnde Frauenrechte und die strikte Werte und Bräuche zu verraten», sagt mütterlicherseits waren Freigeister. Geschlechtertrennung im öffentlichen Pascal Schöni. Um islamische Gebote Meine Grossmutter väterlicherseits Leben als ein kulturelles Problem se- handle es sich dabei nicht unbedingt. hingegen, jung verwitwet, erzählte uns hen und nicht als eines der Religion. Houwayda Schöni flüchtete als von einem Gott, der alle straft, die Dieser Meinung ist auch Pascal Sechzehnjährige mit ihrer Familie aus nicht beten und fasten. Provozierten Schöni. Der Schweizer konvertierte dem Libanon in die Schweiz. Als es wir als Teenagermädchen mit freien vor zwanzig Jahren zum Islam. Er mel- hier um die Teilnahme an einer Schul- Schultern oder kurzen Röcken, fand det sich telefonisch auf meinen Aufruf. reise ging, lernte die gebürtige Musli- ich es cool, dass mein Vater für uns ein- Bei diesem ersten Gespräch sagt er: min, Kultur und Religion zu unter- stand. Heute verstehe ich: Er verteidig- «In meiner Familie trennen wir Kultur scheiden. Im Libanon galt eine Schul- te unsere Lebensart. Eine Lebensart, und Religion. Würden das alle ma- reise mit Übernachtung als haram, die meine Eltern aber nicht erst in der chen, hätten wir keine Probleme.» verboten. «Ist dieses Verbot wirklich Schweiz pflegten. Aber lassen sich denn die beiden religiös begründet?», fragte sie ihren Die Türkei ihrer Jugend war eine Dinge so klar trennen? Das frage ich Vater in der Schweiz. Weil dieser ver- junge Republik, in der der Laizismus mich auf dem Weg nach Bümpliz zur neinte, ging sie mit auf die Schulreise DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 nach französischem Vorbild eisern Familie Schöni. Für meine Eltern und auch ins Freibad. Zuvor hatte sie durchgesetzt wurde. Eine militärische jedenfalls ist muslimisch und türkisch aus Protest ihr Kopftuch abgelegt. Elite hatte im Zug einer Zwangsmo- sein ein und dasselbe. Doch als sie mit neunzehn ihren künf- dernisierung den Islam aus der Öffent- Im Wohnzimmer der Schönis ver- tigen Mann, Päscu, kennen lernte, der lichkeit verbannt. Das Kopftuch war sinke ich in einer Sofalandschaft. Mir soeben aus Mekka zurückgekehrt war, an Schulen, Universitäten, im Parla- gegenüber sitzen Pascal Schöni, 44, begann sie es wieder zu tragen. Da- ment und für Staatsangestellte verbo- seine Frau Houwayda, 35, und ihre heim hatte sie gelernt: Ist der Ehe- Tochter Maryam, 15. Die zwei kleinen mann nach Mekka gepilgert, trägt die 12 Söhne spielen draussen. Houwayda Frau Kopftuch.
spielsweise betonte die grosse, 2015 verstorbene marokkanische Feminis- tin und Soziologin Fatima Mernissi, dass Frauen in der arabischen Welt in- nerhalb islamischer Bewegungen kämpfen, indem sie Gleichstellung auf islamischen Grundlagen neu denken oder das muslimische Erbe einer neu- en Lektüre unterziehen. In Westeuropa fliessen solche Ideen kaum ein. Besonders aufgela- den ist die Debatte um den Gesichts- schleier, Nikab. Er ist zum Symbol für den Islam und die Fremdenfeindlich- keit geworden – man denke an die Kampagne gegen die erleichterte Ein- bürgerung der dritten Generation in der Schweiz, die eine Nikabträgerin abbildete. Die britische Fotokünstlerin Shaista Chishty zeigt das Missverhält- In Schweden sind Gesichtsverhüllungen nicht verboten. Dafür aber in Dänemark nis zwischen der Wahrnehmung und und in den Niederlanden. Unser Bild zeigt Musliminnen mit Hidschab in Stockholm. der Realität des Gesichtsschleiers in Europa. Ihre Installation «The Daily Veil», die kürzlich im Fotomuseum Durch ihn, ergänzt Pascal Schöni, habe Wittern sie Differenzen oder Zurecht- Lausanne zu sehen war, besteht aus sie noch klarer erkannt, «dass Frauen weisung, halten sie sich bedeckt. Ich einer Zeitung, die auf jeder Seite, auf in einigen muslimischen Ländern aus erinnere mich an folgende Situation: jedem Bild eine Frau mit Nikab zeigt. kulturellen, aber nicht religiösen Sie besuchten mich in London, wo ich Daneben poppen auf einem Bild- Gründen unterdrückt sind.» im Austauschprogramm studierte. Bei schirm Zahlen auf, zum Beispiel Mich irritiert die Aussage. Patriar- einem Glas Wein in der Lobby ihres «0.00057 %». Das war der Anteil der chale Strukturen, so denke ich, sind – Hotels kamen wir mit einem Ge- Nikabträgerinnen an der Gesamtbe- egal in welchen Gesellschaften – aus schäftsmann aus Senegal ins Ge- völkerung Frankreichs, als 2010 das kulturellen, sozialen, politischen, his- spräch. Der Kellner bot auch ihm Wein Verhüllungsverbot verhandelt wurde. torischen und eben auch religiösen an, doch er winkte ab. Als gläubiger Die Schweiz stimmt am 7. März BI L DE R – S .1 2 : F R A NC E K E Y S E R ; S .1 3: M A S KO T/F OL IO Gründen entstanden. Ich setze an: Muslim trinke er keinen Alkohol, sagte über ein nationales Verbot der Vollver- «Die Stellung der Frau im Islam ist ein er zu uns und fragte, woher wir kom- hüllung ab. Angenommen wurde ein grosses Thema…» men. Mein Vater hatte schon «Switzer- Verhüllungsverbot bereits in den Kan- «…Unterdrückung hat nichts mit land» gesagt, da flüsterte mir meine tonen Tessin (2013) und St. Gallen dem Islam zu tun, das ist nur Kultur!», Mutter zu: «Sag bloss nicht, dass wir (2018). Der Gesichtsschleier ist in der sagt Houwayda Schöni. Diesen Satz auch Muslime sind. Ich mag nicht dis- Schweiz eine Randerscheinung. Das sollte ich in diesen Wochen oft hören. kutieren, warum wir Wein trinken.» Buch «Verhüllung» des Religionswis- Maryam Schöni wollte das Kopf- senschaftlers Andreas Tunger-Zanetti tuch schon in der vierten Klasse tra- Für was steht die Verhüllung? ist die erste umfassende Arbeit zur gen. Ihre Mutter verbot es ihr. Als Ma- An der Verhüllung der Frau scheiden Vollverhüllung in der Schweiz. Tun- ryam einmal ohne Erlaubnis mit dem sich die Geister – auch unter Muslimin- ger-Zanetti hat die Zahl vollverhüllter Kopftuch zur Schule ging, gab ihr die nen und Muslimen. In westlichen Frauen in der Schweiz zu eruieren ver- Mutter einen Chlapf. Mühsam sei es Diskussionen hält sich die Meinung, sucht: Es sind maximal 37. jetzt bei der Lehrstellensuche: «Sie dass Hidschab, Nikab oder Burka die Am Telefon erzählt er mir von sei- müssten es bei einer Zusage ablegen», Frau entrechten. Für viele im Westen, nen Erkenntnissen im Feld: «Die we- hört sie immer wieder. Sie hadert. In allen voran für die bekannte Feminis- nigen bekannten Biografien zeigen, DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 Bümpliz nimmt man sie als Maryam tin Alice Schwarzer, ist die Verhüllung dass Schweizer Nikabträgerinnen sich wahr, anderswo als Muslimin. ein Symbol der Unterdrückung. in das Bild einfügen, das die Forschung Nach unserem Gespräch fragen Zwangsverschleierung existiert in in anderen westeuropäischen Ländern mich Herr und Frau Schöni: «Und Sie, der muslimischen Welt, keine Frage. zeichnet: Sie sind im Westen aufge- sind Sie Sunnitin? Haben Sie den Ko- Doch im Geiste von Schwarzer gepräg- wachsen, stammen meist aus reli- ran nicht gelesen? Sie sind aber schon te Feministinnen verkennen, dass gionsfernen christlichen oder musli- Muslimin?» Musliminnen unter Selbstermächti- mischen Familien, entdecken für sich Als ich auf die S-Bahn warte, den- gung nicht zwingend die «Befreiung» ke ich: Du machst es wie deine Eltern. von ihrer Verhüllung verstehen. Bei- 13
den Islam und möchten ihren Glauben religiösen Ideologie, die Frauen un- Laila, die ihren richtigen Namen nicht nun besonders umfassend umsetzen. sichtbar macht, Gleichstellung verwei- in einer Zeitung lesen möchte. «Man Sie beginnen den Nikab sehr oft gegen gert und Kinderehen zulässt. Sie hat kann einen Nikab als selbstbewusste, den Willen von Eltern oder Ehemann ausgedehnte Recherchen zum Thema intelligente Frau freiwillig tragen», zu tragen – sofern sie überhaupt ver- Frauenrechte und Islam unternom- sagt sie. Sie trägt einen Dschilbab, ein heiratet sind. Bestimmend ist eine in- men und mehrere Bücher verfasst. weites Ganzkörpergewand mitsamt dividuelle Mischung aus persönlichem Über Jemen, wo der Gesichtsschleier Kopfbedeckung, und einen Gesichts- Frömmigkeitsstil, Körperempfinden Tradition hat, sagt sie am Telefon: schleier in Altrosa. Im Vereinslokal und dem Wunsch, dem anderen Ge- «Keine Frau dort sagte mir, sie trägt legt sie den Gesichtsschleier ab, was schlecht nur in streng regulierter Form den Gesichtsschleier freiwillig. Der so- für sie geht, weil ich eine Frau bin. Wir zu begegnen. Wenige der Frauen sind ziale Druck lässt kaum eine Wahl. Eine sitzen auf dem Boden, es sind Teppi- über vierzig Jahre alt. Der Gesichts- bekannte Aktivistin vertraute mir an, che und Kissen ausgelegt. schleier gehört also für Nikabträgerin- ohne den Gesichtsschleier hätte die «Viele glauben, wir sind unmündi- nen im Westen zu einer Phase der Familie ihr nicht erlaubt zu arbeiten. ge Frauen. Auf der Strasse werde ich Identitätsbildung.» Der Nikab steht für eine fundamenta- aber nie gefragt: Unterdrückt Sie Ihr Die schweizerisch-jemenitische listische Strömung. Die Verbreitung Mann? Brauchen Sie Hilfe? Ein Frau- Politologin Elham Manea hat «grosse dieser Ideologie müssen wir in West- enhaus? Was ich täglich höre, sind Sät- Mühe» mit dem Nikab. Sie erkennt an, europa entschieden eindämmen.» ze wie: Dass das erlaubt ist in der dass ihn die wenigen Frauen in der Ich möchte Antworten von einer Schweiz! – Geh dorthin, wo du her- Schweiz freiwillig tragen, doch für sie Schweizer Nikabträgerin. In einem kommst! – Es ist keine Fasnacht!» ist der Nikab Symbol einer extremen muslimischen Frauenverein treffe ich «Wie reagieren Sie darauf?» «Ich kann es ignorieren. Sind mei- ne Kinder dabei, lasse ich es mir nicht gefallen. Sie sollen sehen: Unser Mami kann sich wehren, mit Anstand und Respekt. Wissen Sie, ich erwarte kein Gsella m acht sich einen R eim auf ... Verständnis für den Nikab. Sogar die wenigsten Muslime verstehen das. NACH DEM K LICK Was ich erwarte, ist Akzeptanz. Wir sind anständig, wir gaffen nicht, wir Man surft herum und bleibt an was, behandeln alle gleich – das sind Das hat man lang schon angepeilt, Schweizer Werte, die mir meine Eltern Und dieses Mal, da kauft man das, mitgaben, die mir wichtig sind, heute Denn gerne ist man zweigeteilt. aber kaum mehr gelten.» Laila wuchs auf dem Land in einer Teil A erstrahlt wie hocherfreut: traditionell christlichen Familie auf. «Nun ist die Butter auf dem Brot!» Mit sechzehn trat sie aus der Kirche Teil B winkt ab, denn er bereut aus. Nach der Ausbildung zog sie in Und sagt: «Teil A, du Idiot. einen Kibbuz. «Dort faszinierte mich, Du weisst doch: Das da brauchst du nicht. dass selbst die Jungen in Palästina Du weisst: Nicht das da war gemeint. stolz sagten: Ich bin Muslim. Da fragte Du weisst doch, dass dein Sonnenlicht ich mich: Was hat der Islam für sich? In Mit dem da just gleichdüster scheint.» Europa sagen die Jungen höchstens beschämt: Auf dem Papier bin ich «Ich weiss, ich weiss», gibt A zurück. Christ.» «Doch ist dein Hirn noch so gesund: Laila reiste durch den Nahen Os- Du hast kein Herz, Teil B!» «Zum Glück!» ten und lebte ein Jahr in Ägypten, sie «Ich habe eins. Und das ist wund.» fand im Koran Antworten auf ihre da- «Komm her, ich drücks an meinen Kopf.» mals brennenden Fragen: Wie bewäl- Gesagt, getan. Und frisch liiert, tige ich Konflikte? Wie geht Verzeihen? Nimmt man die Einigkeit beim Schopf, Was ist Mitgefühl? Sie spürte: Das ist DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 Geht zur Bestellung und storniert es. Anfang zwanzig konvertierte sie. Laila trug das Kopftuch erstmals in Und hat die ganze blöde Qual Ägypten während des Fastenmonats, Vertrieben bis zum nächsten Mal. um sich anzupassen. Als es sich «rich- tig anfühlte», behielt sie es an. Zurück Thom as Gsella in der Schweiz, trug sie zunehmend weite Kleider, schliesslich den Dschil- bab. Bald wusste sie: Sie will auch ihr 14 Gesicht verhüllen. Bei der Arbeit stör-
te sie der lockere Umgang der Kolle immer verschiedenfarbige Nikabs, nie Musliminnen und Muslime. Ist diese gen, die zufälligen Berührungen. Sie einen schwarzen.» Behauptung nicht genauso pauschali hätte das mehrfach gesagt, erzählt sie, Einen Zwang zum Nikab findet sie sierend, wie wenn Musliminnen und doch es hätte wenig genützt. Sie dach verwerflich. Den Nikab zu tragen hat Muslime mit stereotypen Zuschrei te: Mit dem Nikab könnte ich mich aus ihrer Sicht nur einen Wert, wenn bungen abgestempelt werden? Eine noch deutlicher von den Männern ab man es aus Überzeugung macht. «Al Studie des Bundes zeigt allerdings, grenzen. «Das Gesicht einer Frau of lah sieht in unsere Herzen». dass in der Schweiz 29 Prozent der Be fenbart ihre Schönheit, das behalte ich Wenn es zum Verbot käme, wäre völkerung gegenüber dem Islam nega meiner Familie vor.» das für Laila «sehr schlimm». Aber tiv eingestellt sind. Laut der Studie ist Zudem glaubt Laila, dass sie mit Gesetze zu missachten, widerspricht die Skepsis gegenüber dem Islam ten dem Nikab Gott näherkommen kann. ihren Werten, sagt sie. Deshalb würde denziell grösser als die feindliche Ein Die Gesichtsverhüllung sei eine zusätz sie sich an das Verbot halten und statt stellung gegenüber People of Colour liche Option, ungefähr so, wie wenn dessen eine Hygienemaske tragen. oder Jüdinnen und Juden. man neben den vorgeschriebenen Monate nach unserem Gespräch, Der deutsche Historiker Wolfgang Gebeten noch freiwillige verrichtet. nachdem Laila ihre Zitate gegenge Benz zeigt in seinem Buch «Die Feinde Als sie den Nikab schliesslich lesen hat, wird sie mir am Telefon sa aus dem Morgenland», wie tief «das trägt, ist Laila verheiratet, hat Kinder gen, dass sie inzwischen nicht mehr Konstrukt eines Feindes» seit 9/11 in und ist nicht mehr berufstätig. Ihren bereit sei, einen Kompromiss beim Ge der westlichen Gesellschaft verankert Mann, einen gebürtigen Palästinenser, sichtsschleier einzugehen. Sie wird er ist. Er schreibt: «Es geht nicht um die der damals noch in Deutschland lebte, zählen, dass sie und ihr Mann mit dem Terrorakte radikaler Islamisten oder lernte sie online kennen, wo sie gezielt Gedanken spielen, in ein muslimi um Modernisierungsdefizite in islami nach einem praktizierenden Muslim sches Land auszuwandern – auch weil schen Staaten oder Gesellschaften. gesucht hatte. sie davon ausgehen, dass die Initiative Gegenstand sind Ressentiments gegen Ihr Mann, sagt sie, habe ihren Ent angenommen wird. Muslime in unserer Gesellschaft, die scheid nicht beeinflusst: «Er sagte, Bei unserem ersten Gespräch fügt diskriminiert werden, weil sie Musli dass ich von ihm aus keinen Nikab tra sie am Ende hinzu: «In der Schweiz ist me sind.» gen muss, er mich aber unterstützt, praktisch alles mehrheitsfähig: Bud Angesichts dieser beiden Positio wenn ich das möchte.» dhist, Jude, Christ oder konfessionslos nen – Opfer-Narrativ versus Muslim Lailas Geschichte klingt plausibel. zu sein, homo- oder bisexuell, kinder feindlichkeit – frage ich mich: Wie ist Der Nikab löst bei mir ein Unbehagen los oder unehelich zu leben, nur nicht Kritik am Islam möglich, die frei von aus, selbst wenn ihn Frauen wie Laila Muslim zu sein, Kopftuch oder ge antimuslimischem Rassismus ist? freiwillig tragen. Als Kind verängstigte schweige denn Nikab zu tragen.» es mich, wenn ich in der Türkei Frauen Nach dem Treffen mit Laila spa Wie denn den Islam kritisieren? mit dem çarşaf – so nennt sich im Tür ziere ich mit gemischten Gefühlen In einem Café an der Europaallee in kischen die Vollverschleierung – sah. durch die Stadt. Einerseits beein Zürich sitzt mir eine zwanzigjährige Çarşaf bedeutet «Bettlaken». Auf die druckt mich ihre Überzeugung. Ande Studentin gegenüber. Sie könne keine ses Wort folgte in meiner Familie im rerseits hadere ich mit einer Aussage grosse Erzählung anbieten, sagt Hibaq, mer ein abfälliges Schnalzen. Lailas: «Ich will nicht in der Mitte der deren Nachname der Redaktion be Lange vor dieser Recherche muss Gesellschaft stehen. Auch das signali kannt ist. Muslimin zu sein sei nicht te ich mir eingestehen, dass ich selbst siere ich mit dem Nikab.» Sie will sich spektakulär, es werde spektakulär in meiner Haltung zum Kopftuch be unsichtbar machen, dabei ist sie mit gemacht. fangen war. Obwohl ich nie in der Tür dem Nikab unübersehbar. Hibaq wurde 1999 in Zürich gebo kei gelebt habe, hat es mich geprägt, Ein paar Tage später erinnere ich ren, wo sie von klein auf lernte, den Ko von klein auf von meinen Tanten zu mich an ihre Aussage, in der Schweiz ran zu lesen, die täglichen Gebete zu hören: Das Kopftuch ist für Rück seien viele Lebensentwürfe mehr verrichten, zu fasten. Ihre Eltern stam ständige! Nie dürft ihr so werden! Ich heitsfähig, nur nicht ein muslimischer. men aus Somalia. Sie und ihre Ge lernte, mir diesen Reflex abzutrainie Ähnliches hörte ich während meiner schwister sprechen untereinander So ren, indem ich mich bei jeder Be Recherche immer wieder. Gegenstim malisch, in Somalia waren sie aber nie. gegnung fragte: Hier steht eine ver men, wie jene aus Deutschland von Als sie in ihrem Umfeld erzählt habe, schleierte Frau vor dir; was passiert Hamed Abdel Samad oder Ahmad dass sie mit einer Journalistin über den jetzt bei dir? Mansour, kritisieren diese Einteilung Islam spreche, hätten viele Vorbehalte DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 Ich frage Laila: «Meine Kleider, in Täter und Opfer. Ihnen zufolge ver gehabt, sagt Hibaq. Dies sei momen die Farben und Formen, sind für mich unmöglicht diese Haltung jede Kritik tan ein heikles Thema. Ihr sei es den essenziell, wie eine zweite Haut. Fehlt an Musliminnen und Muslimen, weil noch wichtig, sich zu äussern, weil sie Ihnen das nicht?» sich diese zu Opfern der nicht-musli möchte, dass Musliminnen und Musli «Ich will ausdrücklich nicht dem mischen Gesellschaften stilisieren. me eine Stimme haben. Modezwang unterliegen. Ich will we Mir behagt diese Perspektive «Warum die Vorbehalte?», frage gen meines Charakters und Intellekts nicht. Andererseits irritiert es mich ich. respektiert werden, nicht wegen mei auch, in meinen Gesprächen ständig nes Aussehens. Ausserdem trage ich zu hören, die Gesellschaft sei gegen 15
«Seit den Anschlägen in Wien, Paris Frauen schlagen. Solche Bemerkun- sehe. Dass eine Verschwiegenheit da und Nizza gibt es viele Spannungsfel- gen bewogen sie dazu, ihr Maturarbeit ist, in der eine grosse Angst mit- der. Als Frau mit Kopftuch werde ich zum Thema «Islam und Feminismus» schwingt, für das Gesagte verurteilt zu als Teil dieser Gruppe markiert. In der zu schreiben. werden – von muslimischer und nicht- Sek erklärte uns eine Berufsberaterin Ähnlich wie für das Ehepaar Schö- muslimischer Seite. Und die Frage an die Bildungswege. Am Schluss musste ni ist auch für Hibaq die Trennung von mich, ob ich Muslimin sei, impliziert ich als Einzige sitzenbleiben. Sie fragte Religion und Kultur wichtig: Wegwei- eine Erwartungshaltung: dass eine un- mich nicht, was mich interessiert oder send sollen religiöse Gebote sein, nicht ausgesprochene Solidarität bestehen wie meine Noten sind. Sie sagte: ‹Mit Bräuche, die seit Generationen fort- könnte, weil ich vielleicht «eine von dem Tuch wird es schwierig, eine Leh- dauern. ihnen» bin. re zu finden. Überleg dir, es abzulegen.› Als ich nach einem Beispiel frage, Ich dachte: Fuck, ich werde nichts er- sagt sie: «In anderen muslimischen Welche Verantwortung reichen! Ich ging dann ans Gymi, um Familien entscheiden die Eltern über tragen Muslime? die Berufswahl hinauszuzögern.» den künftigen Ehepartner. Oft haben Im November 2020 kreisten die Bei- Ich verstehe ihre Zurückhaltung, sie Angst, dass sich ihre Kinder von der träge in den Medien wieder um Fragen doch da ist wieder dieses Opfer-Narra- Herkunft entfernen. Ich aber finde, wie diese: Wie radikalisieren sich Jun- tiv. Also erwidere ich: «Muslime zu das ist keine religiöse Argumentation, ge? Was hat Religion damit zu tun? kritisieren und Traditionen zu hinter- sondern eine kulturelle. Der Koran Was Moscheen? Es sind nicht die Fra- fragen muss nicht zwingend anti verbietet keine Heirat zwischen ver- gen, mit denen ich diese Recherche be- muslimisch sein.» schiedenen Kulturen.» gonnen habe, doch nun beschäftigen «Muslime sind im Abwehrmodus, Hibaq debattiert oft mit ihren El- sie auch mich. weil nur Negatives über den Islam kur- tern oder Cousinen über Fragen wie: Der fünfundzwanzigjährige Mole- siert. Viele haben kein Interesse an Wie wirken wir als Musliminnen? Was kularbiologe Ramiz Saramati war drei einer Diskussion, da man ständig nur macht uns als Schweizer Musliminnen Jahre lang Präsident der muslimischen Vorurteile hört. Distanziert man sich aus? Wo ist unser Platz? «Solche Fra- Studierendenvereinigung der Uni nicht von Anschlägen, wird einem das gen muss sich ein alter, weisser Mann Basel. Dort organsierte er Ausflüge, Gefühl gegeben, dass man sie heimlich nicht stellen. Ich gehöre so richtig zu um den Austausch zwischen muslimi- unterstütze. Dabei ist es doch logisch, einer minority: dunkelhäutig, Kopf- schen und nicht-muslimischen Studie- dass kein Muslim das gutheisst! Kritik tuch, Frau – Diskriminierung auf drei renden zu fördern. Im Facetime- braucht aber einen safe space. Man ver- Ebenen.» Gespräch stelle ich ihm zu Beginn die sucht oft, mich vom Glauben, vom Als Kind fühlte sich Hibaq nicht Frage: «Wie wurdest du religiös so Kopftuch ‹zu befreien›. Man gibt mir fremd. In der Jugend war sie dann «the zialisiert?» das Gefühl, das Kopftuch würde mein odd one out», weil sie nicht ausging, Er sieht es als «grosses Glück», Denken einschränken.» nicht abstürzte wie alle anderen. «Leb dass es einen Imam gab, der ihn «sta- Ich formuliere vorsichtig: «Viele doch mal!», hörte sie von den Klassen- bilisierte». Der Imam verbannte Ge- Frauen durchlaufen beim Kopftuch kollegen, die nicht verstanden, dass danken wie diese aus seinem Kopf: einen Prozess. Wie war es bei dir?» die religiösen Rituale sie mit Leben «Europäisch lebende Muslime sind «Uninteressant, überspringen wir füllten. Heute, als junge Erwachsene, Ungläubige. Frauen ohne Kopftuch ge- das.» wird sie oft auf Hochdeutsch ange- hören in die Hölle.» Später wird Hibaq sagen, dass sie sprochen, für ihr Schweizerdeutsch Sein Vater kam als Gastarbeiter die Frage satt hat, als zu persönlich gelobt oder im Tram angestarrt. «Das aus dem Kosovo nach Basel, mit vier empfindet. Sie wird sie unbeantwortet gibt mir das Gefühl, dass ich nicht zu Jahren folgte Ramiz mit der Mutter. lassen und dabei betonen, dass es ihre dieser Gesellschaft gehören kann.» Mit fünfzehn begann er sich für Reli- freie Entscheidung gewesen ist, ein Auch meine Frage, wie oft sie gion zu interessieren. Er begleitete sei- Kopftuch zu tragen. praktiziert, stört sie, weil die Antwort nen älteren Bruder in die Moschee. In ihrer Jugend, erzählt Hibaq, «täglich» für viele anrüchig wirke. Sie Bald praktizierte er täglich, suchte hätte sie genauer über ihren Glauben verstehe die Forderung nicht, der Is- Informationen zum Islam. «Schnell Bescheid wissen wollen. Das Bedürf- lam müsse mit Schweizer Werten stiess ich im Internet auf Videos von nis, gut informiert zu sein, sei auch da- vereinbar sein, weil das für sie als Hasspredigern und folgerte: So ist es.» mit verknüpft gewesen, dass im Gymi Schweizerin ohnehin logisch sei. Als Gymnasiast trieben ihn ein in Zürich viel über den Islam geredet Die Befangenheit gegenüber dem halbes Jahr lang Gedanken um, die DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 wurde. «Ich spürte, dass vieles davon Islam, sagt sie, kann sich nur auflösen, «ziemlich streng» waren. Dann öffne- Mist war, hatte aber keine Gegenargu- wenn Leute wie sie in der Politik, For- te er sich seinem Bruder. Sie sprachen mente.» schung, Lehre vertreten sind. mit dem Imam ihrer Moschee. «Er Ein Klassenkamerad sagte: Krass, «Und du – du bist nicht Muslimin, zeigte mir einen mittleren Weg. Die er habe gedacht, Leute wie sie müssten oder schon?», fragt mich Hibaq nach Gespräche mit den Moscheemitglie- heiraten und Hausfrau werden. Ein an- dem Gespräch. dern holten mich auf den Boden. Ich derer: Im Koran stehe, man dürfe Als ich nach Hause radle, habe ich erkannte: Als Muslim habe ich einen wieder dieses diffuse Gefühl, dass ich Platz in dieser Gesellschaft.» Ramiz 16 doch nicht ganz hinter die Fassaden sieht diese Zeit als «kritische Phase»
auf der Suche nach seiner religiösen Gewalt ab. Aber beruft sich ein Atten- Identität. Jetzt, wo er eine «gute Ein- täter auf den Islam, muss man darauf stellung» gefestigt habe, sei der Imam eingehen. Man kann nicht sagen: Das für ihn keine wichtige Bezugsperson hat nichts mit dem Islam zu tun. Man mehr. Habe er Fragen, schreibe er aus- Meine Eltern stört der muss versuchen, auf die Selbstwahr- gewählten Theologen oder Islamwis- französische Zwang, nehmung des Attentäters einzugehen. senschaftlern. die Karikaturen zeigen Selbst wenn man wie ich der Meinung Die jüngsten Gräueltaten verstö- ist, dass nicht die Religion die Gewalt ren Ramiz. Doch wie viele Muslime, zu müssen, aber auch auslöst. Doch dann wird es komplex. mit denen ich spreche, ist er über- die Empfindlichkeit Die Biografien der Attentäter, ihre zeugt, dass er sich nicht von diesem vieler Musliminnen Motive – internationale Studien bele- «unislamischen Verhalten» distanzie- gen das – sind selten religiös. Meist be- ren muss. «Es hat nichts mit dem Islam und Muslime. gründen sie die Motive am Ende einer zu tun. Trotzdem wird man als Muslim Kette religiös, um sie zusätzlich zu le- beäugt.» gitimieren. Die Aussage aus dem Arti- «Tragen Muslime gar keine Ver- kel greift aus meiner Sicht zu kurz, weil antwortung, wie dein Imam in deiner Im Unterschied zu anderen, mit denen sie diese komplexe Motivlage der ‹kritischen Phase›?» ich spreche, fühlt sich Ramiz als Attentäter ausblendet. Deshalb stört «Doch, Familie und Freunde müs- Schweizer Muslim anerkannt. Mus- mich die Behauptung, Muslime hätten sen wach sein, wenn sich jemand von limfeindlichkeit kenne er nicht, sagt generell ein unkritisches Verhältnis seinem Umfeld isoliert. Mein Vater ist er. Er hat eine Strategie, die sich schon zur Gewalt.» bis heute nicht religiös. Erst war er bei seiner ersten Anstellung in einem «Distanzierung zu fordern ist also skeptisch, als mein Bruder, meine Pharmakonzern bewährte: «Nieman- nicht angebracht?» Mutter und ich es wurden. Er verge- den überfordern. Schrittweise mittei- «Ich finde es nicht hilfreich, das wisserte sich laufend, ob wir keine len, dass man praktizierender Muslim festzulegen. Ich verstehe, wenn das krummen Gedanken haben.» ist, Fragen beantworten.» eine Seite wünscht, weil sie sich fragt: «Die Mohammed-Karikaturen», «Wie gehst du mit Islamkritik Was passiert wohl in der Moschee sagt Ramiz, «verletzen mich sehr.» um?» nebenan? Ich verstehe auch, wenn Was ihn an der Debatte darüber stört: «Mich stört, wenn man ‹den Is- Muslime unter dem Pauschalverdacht «Viele glauben, die Muslime sind lam› kritisiert. Der Islam selbst kann leiden. Es zeigt Verunsicherung beider gegen den Westen, gegen Satire, das nicht problematisch sein, nur fehlbare Seiten, die sich nur im Gespräch auf stimmt nicht. Viele fühlen sich unver- Menschen sind es. Man kann also sa- lösen lässt.» standen, weil man uns nicht zugesteht, gen: Ich befürworte nicht, was dieser «Woran scheitert die Islam dass uns die Karikaturen in unserer Muslim macht. Verletzend finde ich kritik?» Würde verletzen. Dort hört für mich Aussagen wie: Der Islam gehört nicht «Mohammed oder religiöse Inhal- die Meinungsfreiheit auf.» zur Schweiz.» te zu kritisieren ist in vielen muslimi- Muss sich Satire zurückhalten? Warum ist die Debatte um Mo- schen Ländern tabu. Manche Muslime Die Meinungsfreiheit ist doch das hammed-Karikaturen so vertrackt? müssen lernen, dezidierte Kritik am höchste Gut einer liberalen Gesell- Wie gehen wir mit islamistischem Ex Islam, an Mohammed zuzulassen. An- schaft, sage ich zu meinen Eltern, als tremismus um? Müssen sich Musli- dersherum erleben viele muslimische wir darüber sprechen. Sie teilen diese minnen und Muslime von Gräueltaten Minderheiten in Europa, dass unter Ansicht, dennoch haben auch sie distanzieren? Die Fragen in meinem dem Deckmantel der Kritik Herab Mühe mit den Karikaturen. Sie stört Kopf kreisen weiter. Ein wissenschaft- lassung hergestellt wird.» der französische Zwang, die Karikatu- licher Blick, so denke ich, vermag viel- «Das Thema Karikaturen ist für ren zeigen zu müssen, andererseits leicht meinen Knäuel zu entwirren. viele Muslime emotional. Wie sehen aber auch die Empfindlichkeit vieler Ich erreiche Professor Amir Dziri Sie das als Wissenschaftler?» Musliminnen und Muslime. über Zoom in seinem Büro am Schwei- «In Frankreich riskierten Karika- Liest Ramiz in diesen Tagen in den zerischen Zentrum für Islam und Ge- turisten im 19. und 20. Jahrhundert ihr Medien, was der Islam ist und was sellschaft der Universität Freiburg, Leben, indem sie sich gegen die Macht nicht, ärgern ihn das Halbwissen oder dessen Co-Direktor er ist. von Staat und Kirche auflehnten. Die die Stereotype, aber auch die Tatsache, «Herr Dziri, ‹Das hat nichts mit Karikatur als Kritik am Despotismus DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 dass sich die Muslime kaum in die De- dem Islam zu tun› hörte ich oft als wurde zu einem kulturellen Wert. Er batte einmischen. Als Praktikant im Kommentar zu islamistischen Terror- stösst nun auf einen anderen kulturel- Labor kündigte er an, eine Pause für akten. Ein muslimischer Jurist schrieb len Wert, die Wertschätzung von Mo- das Gebet zu machen, woraufhin ein in einem Beitrag in der ‹Zeit›: ‹Das hat hammed bei Muslimen. Es braucht Mitarbeiter fragte: Was hältst du von was mit uns Muslimen zu tun.› Wie se- gegenseitiges Verstehen. Muslime der Emanzipation? «Ich galt als Femi- hen Sie das?» sollten die Karikatur als historischen nist, bis ich das mit dem Beten sagte. «Eigentlich wollen Muslime sa- Wert der Herrschafts- und Kulturkritik Klar, aufzuklären ist mühsam, aber re- gen: Wir wünschen uns, dass der Islam signieren gilt nicht.» nichts damit zu tun hat. Wir lehnen 17
anerkennen. Andererseits bedarf es und Religionssoziologie in Bosnien mischen Land muss der Imam wö- von pluralen Gesellschaften mehr und der Türkei. chentlich predigen, die Namensge- Sensibilität für die Werte einzelner Rehan Neziri entschuldigt sich für bung und Beerdigung vollziehen. Mehr Gruppen.» die Verzögerung, in der Hand hält er nicht. Neziri wirkt erschöpft, aber nicht «Mehrfach hörte ich, alles Negati- das Buch «Die sieben Schläfer von resigniert. Ihn bestärkt, dass man sich ve im Islam sei kulturell bedingt. Man Ephesus». «Ich überlege, wie ich das in der Schweiz wissenschaftlich und müsse deshalb zurück zum ‹reinen› Is- mit den Jungen aufführen könnte.» gesellschaftlich vernünftig mit dem Is- lam, Kultur und Religion trennen.» Mit solchen Projekten, sagt er, oder lam auseinandersetzt. «Das wirkt sich «Hat es jemals einen ‹reinen› Is- mit Fussball erreiche er die Jungen an- auf die Schweizer Muslime aus. Sie re- lam gegeben? Viele berufen sich auf ders als in der Moschee. flektieren ihren Glauben kritischer.» die Anfänge Mohammeds. Das konst- Zu den Ursachen von Radikalisie- Nach dem Gespräch sitze ich allei- ruiert ein Ideal, das sich historisch gar rung hat er dreieinhalb Jahre recher- ne im Frauenbereich der Moschee. nicht mehr erschliessen lässt. Ich finde chiert, ein Buch dazu auf Albanisch Mein Schal ist zum Kopftuch gebun- es nicht zielführend, einem einstigen veröffentlicht und nun vermittelt er den, aus Respekt, wie es mir meine El- ‹idealen Islam› nachzueifern und zu seine Erkenntnisse in Predigten. Um tern beigebracht haben. Vor mir liegt glauben, das würde alle Missstände Junge vor Missbrauch der Religion zu ein Mosaik aus den Ansichten prakti- beseitigen. Stattdessen sollte man bewahren, spricht Neziri mit ihnen zierender Musliminnen und Musli- unter Muslimen lernen, konstruktive über Schwierigkeiten in der Ausbil- men in der Schweiz. Für viele der ers- muslimische Deutungen zu entwi- dung, über Diskriminierung, über ten Generation der Eingewanderten ckeln. Etwa zu akzeptieren, dass es bei Ängste. ist die Verbindung zum Glauben vor al- Fragen um das Kopftuch oder bi- Auch das Predigen eines «Schwei- lem eine Verbindung zur Heimat. Die religiöse Ehen unterschiedliche Ant- zer Islam» hält er für ein taugliches Secondos hingegen möchten ihr mus- worten gibt.» Mittel: «Ich verknüpfe die universel- limisches Selbstverständnis hier in der «Warum hält sich das Bild in West- len Werte des Islam mit dem Leben in Schweiz verorten, ohne kulturelle Prä- europa so hartnäckig, der Islam sei der Schweiz. Wir Muslime sind hier, gungen durch die Heimat der Eltern. frauenverachtend?» mittendrin.» Dann gibt es Konvertitinnen und Kon- «Historisch haben sich die christ- «Wie entsteht ein ‹Schweizer Is- vertiten, für die das religiöse Erschei- liche und muslimische Zivilisation oft lam›?» nungsbild das Fundament ihrer neuen in Abgrenzung voneinander definiert. «Indem man historische Elemen- Identität bildet. Da sind auch die Dafür werden besonders Frauendar- te ausblendet und sich fragt: Welche jüngst in die Schweiz Migrierten, die stellungen instrumentalisiert. Ebenso Werte sind überzeitlich? In Zürich durch die Integration ihr muslimisches bestehen reale Unterschiede im Emp- lässt sich der Islam nicht so praktizie- Selbstverständnis überdenken. Und finden von Scham oder sexueller ren wie in Albanien oder Pakistan. Wir da bin ich, die Reporterin, gebürtige Selbstbestimmung. Als zentralen Imame müssen historische und kul Muslimin und Schweizerin, die sich Grund sehe ich aber eine Verunsiche- turelle Zusammenhänge neu kon keiner dieser Welten zugehörig fühlt. rung: Die Vielfalt von Lebensentwür- textualisieren.» Der Ruf zum Abendgebet erklingt. fen stellt die normative Ordnung stän- Letzteres macht er auch an Schu- Ich denke an meine Grossmutter, wie dig in Frage. Man sucht vertraute Sym- len, wenn es um das Händeschütteln immer, wenn ich den Gebetsruf höre. bole, um sich seines eigenen mit dem anderen Geschlecht oder den Lange verstand ich nicht, wie tief ihre Lebensmodells zu vergewissern. In Schwimmunterricht geht. «Beides unerbittliche Angst sass, am jüngsten Frankfurt gab es 2019 eine Ausstel- sind keine islamischen Probleme. Man Tag für ihre Kinder und Enkelinnen lung zur Hidschab-Mode. Sie stand kann sie als kulturelle Werte betrach- büssen zu müssen. Heute ist sie sie- unter Polizeischutz. Jemand rief: Heu- ten. Zu sagen, der Islam verbiete das, benundneunzig und erkennt mich te ist der Hidschab eine Freiheit, mor- ist reine Interpretation.» Meist ver nicht mehr. Aber ich höre sie noch im- gen eine Pflicht! Viele fürchten, beson- mittelt Neziri erfolgreich. Einmal mer sagen: «Wenn du den Gebetsruf ders in Bezug auf Musliminnen, dass bezeichnete ihn ein bosnischer Vater hörst, bist du zu Hause.» Für sie be- das, was man an Anderssein toleriert, als «schlechten Muslim». «Damit deutet zu Hause, Muslimin zu sein. Für irgendwann zur Norm wird. Wenige kann ich umgehen.» mich, in verschiedenen Welten zu registrieren dabei, wie unterschiedlich Seit 2002 ist Neziri vollamtlicher leben. Muslime sind, weil sie an einer Deu- Imam und die einzige angestellte Per- tung von ‹dem Islam› oder ‹der westli- son der Moschee. Täglich muss er fünf DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1 chen Leitkultur› festhalten wollen.» Gebete führen, freitags auf Deutsch T UĞBA AYA Z ist freie Reporterin und Im Vorraum der albanischen Mo- und Albanisch predigen, dreimal wö- Übersetzerin. ayaz.tugba@icloud.com schee in Kreuzlingen ziehe ich die chentlich Koranunterricht erteilen, Schuhe aus. Imam Rehan Neziri, 48, sechs Lektionen an der öffentlichen Für Recherchehinweise und Hintergrundge- spräche dankt die Autorin Andreas unterrichtet online im Klassenzimmer Schule unterrichten, Jugendarbeit und Tunger-Zanetti, Universität Luzern; Arlinda der Moschee. Der gebürtige Mazedo- Seelsorge leisten, mit anderen Mo- Amiti und Asmaa Dehbi, Universität nier studierte islamische Theologie scheen und Kirchen Kontakt halten. Freiburg; Javid Ahmadi, Vorstand schiiti- «Man erwartet mehr von uns, als sche Moschee Derendingen; Ajša Schenkel, 18 wir leisten können.» In einem musli- Vorstand Verein Al-Rahman
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