Unter Musliminnen N 07 - 20. Februar 2021 - Gesellschaft der Stadt Aarau

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Unter Musliminnen N 07 - 20. Februar 2021 - Gesellschaft der Stadt Aarau
N ° 07 — 20. F e brua r 202 1

Unter Musliminnen
Seite 10

                                            HI DSCH A B

             BU R K A

                                                                    NIK AB

  A L-A M I R A

                                                          SCH A I L A
Unter Musliminnen N 07 - 20. Februar 2021 - Gesellschaft der Stadt Aarau
löst. Und Betroffene, die derart grotesk    eine Muslima auf irgendeine Weise
                                            in der Minderheit sind (mehr dazu in        «befreit» hätte.
                                            der Reportage ab Seite 10), dass so gut          Ja, manchmal muss direkte Demo­
                                            wie niemand, der in zwei Wochen über        kratie wie die Fasnacht funktionieren.
                                            das Burkaverbot abstimmt, die Konse­        Als Ventil. Als Triebabfuhr. Als «Zei­
                                            quenzen eines Verbots zu spüren be­         chen». Man darf sich dann einfach
                                            kommen wird. Direkte Demokratie im          nicht einreden, man würde mit einem
                                            Nichts.                                     Ja zum Burkaverbot tatsächlich irgend­
                                                 Dass es grundsätzlich absurd ist,      etwas bewirken. Ausser den hier le­
                                            über ein Verhüllungsverbot abzustim­        benden Muslimen einen erneuten
                                            men, wenn wir uns alle im Moment            Tiefschlag zu verpassen – und dem
                                            (und wohl noch für länger) verhüllen        Egerkinger Komitee zu weiteren fünf­
                                            müssen, darüber brauchen wir gar            zehn Minuten Ruhm zu verhelfen.
                                            nicht zu reden. Wirklich störend, wenn
                                            wir Schweizerinnen und Schweizer
         Ph i l i pp L o s e r              meinen, über Religionen urteilen zu                    PH I L I PP L O SER
                                            müssen, ist der Unterschied zwischen           ist Redaktor des «Tages-Anzeiger».

     Direkte Demokratie                     dem propagierten Anspruch der Ini­
                                            tianten – wir bekämpfen religiösen Ex­
          für nichts                        tremismus! – und der tatsächlichen
                                            Wirkung solcher Vorlagen.
Je früher man es erkennt, desto besser           So ist die Frage, ob sich der Bau
für die innere Harmonie: Die Abstim­        eines Minaretts mit dem 2009 be­
mung zum Verhüllungsverbot ist ge­          schlossenen Verfassungsartikel tat­
laufen.                                     sächlich verhindern lässt, immer noch
     Wenn in zwei Wochen die Wahl­          ungeklärt. Schon kurz nach der Ab­
lokale schliessen, wird nur noch inte­      stimmung liess das Bundesgericht
ressieren, wie hoch die Zustimmung          verlauten, dass das Bauverbot nicht
zum Verbot der Burka tatsächlich aus­       absolut gilt – wegen völkerrechtlicher
fällt. Es wird, das ist keine kühne Prog­   Verpflichtungen der Schweiz.
nose, irgendwo zwischen 57 und 63                Wie es jetzt tatsächlich ist? Dass
Prozent Ja-Stimmen geben, und jene          weiss man erst, wenn sich das Bundes­
                                                                                                               nw          a rt
Kantone, die tatsächlich Nein zum           gericht mit einem Baugesuch beschäf­
                                                                                             i k o n d er Gege
Verhüllungsverbot sagen, werden sich        tigen muss. Ist in den vergangenen           Lex
an einer Hand abzählen lassen (maxi­        zehn Jahren nicht geschehen. Wird                      N i na K u n z
mal).                                       wohl auch die nächsten zehn Jahre
     Wir werden am Abstimmungs­             nicht geschehen. Weil niemand ein                     Fast Fashion
sonntag jubelnde Egerkinger sehen           Minarett bauen will. (Es gibt nach wie
und einen stolzen SVP-Nationalrat           vor genau vier in der Schweiz.)
Walter Wobmann. Die einen Linken                 Ähnliches lässt sich bei den bisher    Vor kurzem spazierte ich durch die
werden schäumen, andere werden              beschlossenen Burkaverboten beob­           Bahnhofstrasse in Zürich und merkte:
sich im Stillen freuen.                     achten. Im Tessin gibt es ein solches       Ich stand seit Jahren nicht mehr in
     Warum man das jetzt schon weiss?       Verbot seit 2016. Anzahl Bussen pro         einem H&M.
Weil die Umfrageergebnisse ziemlich         Jahr: etwa sechs. In St. Gallen ist ein         Das klingt nicht gerade weltbewe­
deutlich und stabil sind. Weil es bei       Verbot seit zwei Jahren in Kraft. An­       gend, aber in meinem Mikrokosmos ist
allen Abstimmungen (national oder           zahl Bussen: null.                          das bemerkenswert, denn vor ein paar
kantonal), die sich gegen einen wie              Wenn man sich nun vergegenwär­         Jahren bedeutete mir der H&M noch
auch immer definierten «Islamismus»         tigt, wie man vor zehn Jahren über die      die Welt. Als Teenager kaufte ich mir
richteten, so war. Beim Minarett-Ver­       Minarette stritt und wie man heute          dort ständig irgendwelche Glitzertops
bot vor über zehn Jahren, bei den kan­      über die Burka streitet, dann steht die     und 25-Stutz-Jeans, weil ich unbedingt
tonalen Abstimmungen in St. Gallen          Heftigkeit und Giftigkeit der Debatte       mit den coolen Mädchen an der Schu­
                                                                                                                                  DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

und dem Tessin, als es schon einmal         in einem absolut lächerlichen Verhält­      le mithalten wollte, die immer das
gegen die Burka ging.                       nis zu den Auswirkungen. Selbst wenn        neuste Zeug trugen.
     Und weil beim Verhüllungsverbot        man aus feministischen Gründen für              Später liess dieser Druck nach und
für einmal alles zusammenkommt,             ein Verbot des Ganzkörperschleiers          mich begannen Fast-Fashion-Ketten
was die direkte Demokratie manchmal         stimmt: Aus dem Tessin oder aus             wie Zara oder Mango – die jedes Jahr
so frustrierend macht. Ein Problem,         St.Gallen ist nicht ein einziger Fall be­   bis zu vierundzwanzig Kollektionen
das keines ist. Eine Lösung, die nichts     kannt, in dem das bestehende Verbot         raushauen – abzustossen. Warum ge­

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Unter Musliminnen N 07 - 20. Februar 2021 - Gesellschaft der Stadt Aarau
Religionsunterricht
         Wieder mal reden in der Schweiz alle über Musliminnen und Muslime.
         Wir haben mit ihnen geredet.

                                               Text  TuĞba Aya z

«‫ ا‬Elif; ‫ ﺏ‬Be; ‫ ت‬Te; ‫ ﺙ‬Se…» Vage klingt    In der Schweiz leben knapp eine halbe        und der Grossmutter in Bosnien auf.
das Flüstern in der Moschee in mir         Million Musliminnen und Muslime.             Mit sechzehn floh sie vor dem Krieg.
nach. Verschwommen sehe ich das            Meine Eltern zählen zu den vierzig           Sie durchquerte Serbien und Ungarn,
hellblaue Heft vor mir, bedruckt mit       Prozent unter ihnen, die ihren Glau-         kam nach Wien. Ihre Mutter holte sie
Punkten und Strichen die Laute be-         ben nicht praktizieren. Ich selbst war       nach Kreuzlingen, wo Fata die Schule
deuten sollten. «Elif, Be…?», fragt der    seit meinem Koranunterricht nur noch         nachholen wollte. Dort müsse sie das
Imam. Ich bin an der Reihe, das arabi-     im Ausland in einer Moschee gewesen          Kopftuch ablegen, hiess es in der Be-
sche Alphabet aufzusagen, bemüht,          – um deren Bau zu bestaunen. Ich hat-        rufsberatung. «Damals war ich die
keinen falschen Laut von mir zu geben.     te keinen Eindruck vom muslimischen          Einzige mit Kopftuch, keine der ande-
     Mehr als zwanzig Jahre ist mein       Leben in der Schweiz, kein Gefühl da-        ren Musliminnen trug eins. Sie wollten
Koranunterricht her. Meine Schwester       für, wie es aussieht. Auch kannte ich,       ihre Religion nicht nach aussen tragen
und ich besuchten ihn kaum ein Jahr        abgesehen von meinen Eltern und ein          in einem Land, wo kaum Muslime
lang. Wir wollten lieber in die Badi, in   paar ihrer Freunde, keine Schweizer          lebten. Ich hörte ständig: Tue nöd so
den Wald. Bescheiden ist meine Prä-        Musliminnen und Muslime. Ich ver-            blöd, ziehs ab!»
gung durch den Islam, der Religion, in     folgte die Debatten um Hassprediger,              Ein Bekannter habe damals von
die ich hineingeboren wurde. Was mir       Anschläge und Minarette. Wenn Poli-          einer freien Stelle gewusst, doch trau-
meine Eltern an Werten mitgaben, wa-       tikerinnen, Intellektuelle, vermeintli-      te er sich wegen ihres Kopftuchs nicht,
ren universelle Dinge wie Aufrichtig-      che und tatsächliche Islamexperten           Redzic seinem Chef vorzuschlagen.
keit, Demut, Fleiss, Empathie, Ge-         über «die Muslime» sprachen, fragte               Fata Redzics ersten Jahre in der
meinschaftssinn, der Glaube an das         ich mich: Wer sind sie? Was beschäftigt      Schweiz Anfang der Neunziger waren
Schicksal. Sie lebten uns keine religiö-   sie? Und wie denken jene Muslimin-           von einem Gefühl bestimmt: Exotin zu
se Praxis vor, schickten uns dennoch in    nen und Muslime, die ihren Glauben           sein. Ähnlich war es in ihrer Heimat
den Koranunterricht. Die Religion, so      wirklich praktizieren? Diesen Fragen         Bosnien gewesen. Ihre Eltern wuchsen
glaubten sie, würde uns mit der türki-     bin ich nachgegangen.                        im Geiste des Marxismus auf. Gläubi-
schen Kultur verbinden. Muslimisch                                                      ge verschmähte man.
und türkisch sein, das ist für sie eins.   Kopftuch bedeutet Exotik                          Die Grossmutter schickte sie den-
     «Als Eltern in der Diaspora zwei-     «Für keinen Job hätte ich das Kopftuch       noch in den Koranunterricht. Die Reli-
felten wir ständig, ob wir genug von       abgelegt», sagt Fata Redzic. «Ich wur-       gionslehrerin beeindruckte Redzic. Sie
der türkischen Kultur vermitteln, ohne     de aus meinem Land vertrieben, weil          war jung, gebildet, trug Kopftuch und
die schweizerische zu vernachlässi-        ich bin, wer ich bin. Und jetzt bin ich in   gab ihr Bücher von bosnischen Intel-
gen», sagt meine Mutter.                   einer Demokratie unerwünscht?»               lektuellen zum Lesen. Dabei hatte
                                                                                                                                    DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

     Sie gaben uns viel mit: die türki-         Fata Redzic ist eine vierundvier-       doch Redzic gelernt, dass religiöse
sche Sprache, die türkische Musik, die     zigjährige Unternehmensberaterin.            Menschen ungebildet seien.
türkischen Erzählungen. «Hätten wir        Sie empfängt mich in ihrem Einfami-               Mit vierzehn wollte Fata Redzic
in der Türkei religiöser gelebt?», frage   lienhaus bei Baden, wo sie mit zwei          Kopftuch tragen, fragte sich aber: Wie
ich. «Nicht wirklich», seufzen beide.      Kindern und ihrem Mann lebt. Die             sage ich das meiner Familie? «Es war
Mein Vater: «Wir sind gläubig, nicht       bosnische Moschee in Schlieren be-           ein outing. ‹Du bist verrückt, wirst dei-
religiös.»                                 sucht sie wöchentlich.                       ne Jugend vertun!›, sagte mein Vater.
                                                Ihre Mutter zog 1977 in die             Er bezeichnete sich zwar als Muslim,
10                                         Schweiz. Redzic wuchs mit dem Vater          doch das hiess lediglich: einmal im
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Wie sieht es in europäischen Nachbarländern aus? In Deutschland sind Gesichtsvervüllungen im Strassenverkehr verboten.

                                   Jahr in die Moschee und keinen Al­             oder verunsichert. Ich glaube, die              chen Gebet und das Fasten machen
                                   kohol im Fastenmonat. Selbst meine             Menschen reagieren so, weil sie das             aber nur einen Bruchteil aus. Der Is­
                                   Grossmutter zeigte mir den Vogel.              Unbekannte verunsichert.»                       lam ist mit all meinen Lebensberei­
                                   Keine fünf Mädchen trugen in meiner                 Redzic ist der Ansicht, die Musli­         chen verflochten. Lebt man zum Bei­
                                   Geburtsstadt ein Kopftuch.» Nichts             minnen und Muslime bräuchten noch­              spiel vegetarisch, heisst das ja auch
                                   davon beirrte sie. «Alle wussten, sie          mals dreissig Jahre, bis sie – wie die Ita­     nicht nur, kein Fleisch zu essen. Dahin­
                                   waren chancenlos, es mir auszu­                lienerinnen und Italiener – in der              ter ist eine Haltung zur Umwelt, zum
                                   reden.»                                        Schweiz nicht mehr fremd wirkten.               Tier, zur Industrie. Doch die umfas­
                                        «Ist Ihr Exotinnen-Dasein mit             Eine Veränderung bemerke sie jetzt              sende Haltung zum Glauben erkennen
                                   Kopftuch heute vorbei?»                        schon, sagt sie. Es gebe mittlerweile           einige Muslime nicht. Sie praktizieren,
                                        «Ja, keine Frage. Gelegentlich irri­      mehr Musliminnen und Muslime, die               ohne viel zu verstehen.»
BI L D: ROBE RT R I E GE R

                                   tiert es noch. Empfange ich als Unter­         ihre Schweizer Nachbarn oder Arbeits­                An der vermeintlich simplen Fra­
                                   nehmensberaterin Kunden, blicke ich            kolleginnen kennen lernen.                      ge, was man unter dem Muslimsein
                                   in staunende Gesichter. Sobald ich                  Das Minarettverbot allerdings              versteht, zeigt sich mir, wie heterogen
                                   Deutsch spreche, entspannen sie sich.          empfand sie als Rückschritt. «Ich ver­          das muslimische Selbstverständnis in
                                   Nach einem Seminar sagte mir ein Kol­          stand zwar die Gegenseite. Die Plaka­           der Schweiz ist. In meinen Gesprächen
                                   lege: ‹Fata, du bist ja wie wir!› Habe         te voller Minarette verängstigten viele.        bekomme ich Antworten wie: Gott­
                                   aber auch schon anderes erlebt. Im             Doch fragte ich mich damals: Ist mein           ergeben handeln, den Koran verste­
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                                   vollen Pendlerzug sagte einer gehäs­           Platz noch hier? Nicht weil ich unbe­           hen, ein guter Mensch sein, Schweizer
                                   sig, mit so einer stehe er nicht im sel­       dingt ein Minarett brauche. Ich fühlte          sein. Und all diese Gegensätze allein
                                   ben Coupé. Dann müsse er ins nächs­            mich in meinem Muslimsein nicht                 schon unter jenen, die regelmässig
                                   te, antwortete ich ruhig.»                     anerkannt.»                                     praktizieren.
                                        «Verletzte Sie das?»                           «Was bedeutet es denn für Sie,                  Eine Studie des Bundes erfasste
                                        «Gar nicht. Weicht man ab vom             Muslimin zu sein?»                              im jahr 2010 die unterschiedlichen
                                   Durchschnitt, und das tut man hierzu­               «Es ist Teil meiner DNA. Seit über         Profile der Schweizer Musliminnen
                                   lande mit Kopftuch, gehört das leider          dreissig Jahren lese ich den Koran. Die
                                   dazu. Der Typ war schlecht gelaunt             Schriften zu verinnerlichen, das tägli­                                              11
und Muslime. Auch da zeigte sich: Das
Spektrum reicht von einer zwingenden
Befolgung der Gebote über die kultu-
relle Einbettung der muslimischen Le-
bensweisen bis zu einer Auslegung
nach individuellem Empfinden.
     Kommt hinzu, dass die hiesigen
Musliminnen und Muslime von ver-
schiedenen Konfessionen und Her-
kunftsländern geprägt sind. Über 35
Prozent besitzen den Schweizer Pass.
Fast so gross ist der Anteil jener mit
Staatsbürgerschaft eines Balkanlan-
des. Die drittgrösste Gruppe bilden die
türkischen Musliminnen und Muslime
mit rund 10 Prozent. Der Anteil spät
Zugewanderter aus Nahost, aus dem
Maghreb oder der Subsahara liegt je-
weils bei unter 5 Prozent. Sunnitisch
geprägt sind 85 Prozent, je 7 Prozent
sind schiitisch und alevitisch, wenige
gehören zu kleinen Gruppen wie der          In Frankreich dürfen Gesichter in der Öffentlichkeit nicht verhüllt werden, in Österreich
Ahmadiyya.                                  auch nicht. Unser Bild zeigt muslimische Frauen in Paris.
     Von all diesen Musliminnen und
Muslimen besuchen nur etwa 12 Pro-
zent regelmässig eine Moschee. Nach         ten. Der Islam stand für das arme,                Schöni trägt zu ihren weiten Hosen
den Konfessionslosen bilden Men-            ungebildete Volk. Ähnliche Vorurteile             Filzfinken mit einem Schweizer Kreuz.
schen aus der muslimischen Gemein-          sind nach wie vor verbreitet, wogegen             Ihr Kopftuch trägt sie in der Wohnung
schaft die zweitgrösste Bevölkerungs-       die Regierungspartei AKP aber mit ei-             nicht, ihre Tochter Maryam schon.
gruppe, die keine Religion praktiziert.     nigem Erfolg vorgegangen ist. Der                      Die Familie praktiziert den schiiti-
                                            Zwist um den Platz der Religion spaltet           schen Islam. Muslimisch zu sein, sa-
«Die Kultur unterdrückt,                    die Türkei bis heute.                             gen die drei, sei für sie eine religiöse
nicht der Islam»                                 Viele der Missstände in muslimi-             Identität. «Für viele gebürtige Musli-
Wie gross die Gegensätze selbst inner-      schen Ländern, so höre ich in meinen              me bedeutet es hingegen, Iraner oder
halb eines muslimischen Landes sein         Gesprächen, seien kulturell bedingt.              Libanese zu sein. Sie würden eher eine
können, erfuhr ich als Kind bei Besu-       Manche betonen etwa, dass sie man-                Sünde begehen, als ihre kulturellen
chen in der Türkei. Meine Grosseltern       gelnde Frauenrechte und die strikte               Werte und Bräuche zu verraten», sagt
mütterlicherseits waren Freigeister.        Geschlechtertrennung im öffentlichen              Pascal Schöni. Um islamische Gebote
Meine Grossmutter väterlicherseits          Leben als ein kulturelles Problem se-             handle es sich dabei nicht unbedingt.
hingegen, jung verwitwet, erzählte uns      hen und nicht als eines der Religion.                  Houwayda Schöni flüchtete als
von einem Gott, der alle straft, die             Dieser Meinung ist auch Pascal               Sechzehnjährige mit ihrer Familie aus
nicht beten und fasten. Provozierten        Schöni. Der Schweizer konvertierte                dem Libanon in die Schweiz. Als es
wir als Teenagermädchen mit freien          vor zwanzig Jahren zum Islam. Er mel-             hier um die Teilnahme an einer Schul-
Schultern oder kurzen Röcken, fand          det sich telefonisch auf meinen Aufruf.           reise ging, lernte die gebürtige Musli-
ich es cool, dass mein Vater für uns ein-   Bei diesem ersten Gespräch sagt er:               min, Kultur und Religion zu unter-
stand. Heute verstehe ich: Er verteidig-    «In meiner Familie trennen wir Kultur             scheiden. Im Libanon galt eine Schul-
te unsere Lebensart. Eine Lebensart,        und Religion. Würden das alle ma-                 reise mit Übernachtung als haram,
die meine Eltern aber nicht erst in der     chen, hätten wir keine Probleme.»                 verboten. «Ist dieses Verbot wirklich
Schweiz pflegten.                                Aber lassen sich denn die beiden             religiös begründet?», fragte sie ihren
     Die Türkei ihrer Jugend war eine       Dinge so klar trennen? Das frage ich              Vater in der Schweiz. Weil dieser ver-
junge Republik, in der der Laizismus        mich auf dem Weg nach Bümpliz zur                 neinte, ging sie mit auf die Schulreise
                                                                                                                                          DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

nach französischem Vorbild eisern           Familie Schöni. Für meine Eltern                  und auch ins Freibad. Zuvor hatte sie
durchgesetzt wurde. Eine militärische       jedenfalls ist muslimisch und türkisch            aus Protest ihr Kopftuch abgelegt.
Elite hatte im Zug einer Zwangsmo-          sein ein und dasselbe.                            Doch als sie mit neunzehn ihren künf-
dernisierung den Islam aus der Öffent-           Im Wohnzimmer der Schönis ver-               tigen Mann, Päscu, kennen lernte, der
lichkeit verbannt. Das Kopftuch war         sinke ich in einer Sofalandschaft. Mir            soeben aus Mekka zurückgekehrt war,
an Schulen, Universitäten, im Parla-        gegenüber sitzen Pascal Schöni, 44,               begann sie es wieder zu tragen. Da-
ment und für Staatsangestellte verbo-       seine Frau Houwayda, 35, und ihre                 heim hatte sie gelernt: Ist der Ehe-
                                            Tochter Maryam, 15. Die zwei kleinen              mann nach Mekka gepilgert, trägt die
12                                          Söhne spielen draussen. Houwayda                  Frau Kopftuch.
spielsweise betonte die grosse, 2015
                                                                                                                                                                    verstorbene marokkanische Feminis-
                                                                                                                                                                    tin und Soziologin Fatima Mernissi,
                                                                                                                                                                    dass Frauen in der arabischen Welt in-
                                                                                                                                                                    nerhalb islamischer Bewegungen
                                                                                                                                                                    kämpfen, indem sie Gleichstellung auf
                                                                                                                                                                    islamischen Grundlagen neu denken
                                                                                                                                                                    oder das muslimische Erbe einer neu-
                                                                                                                                                                    en Lektüre unterziehen.
                                                                                                                                                                        In Westeuropa fliessen solche
                                                                                                                                                                    Ideen kaum ein. Besonders aufgela-
                                                                                                                                                                    den ist die Debatte um den Gesichts-
                                                                                                                                                                    schleier, Nikab. Er ist zum Symbol für
                                                                                                                                                                    den Islam und die Fremdenfeindlich-
                                                                                                                                                                    keit geworden – man denke an die
                                                                                                                                                                    Kampagne gegen die erleichterte Ein-
                                                                                                                                                                    bürgerung der dritten Generation in
                                                                                                                                                                    der Schweiz, die eine Nikabträgerin
                                                                                                                                                                    abbildete.
                                                                                                                                                                        Die britische Fotokünstlerin
                                                                                                                                                                    Shaista Chishty zeigt das Missverhält-
                                                                           In Schweden sind Gesichtsverhüllungen nicht verboten. Dafür aber in Dänemark             nis zwischen der Wahrnehmung und
                                                                           und in den Niederlanden. Unser Bild zeigt Musliminnen mit Hidschab in Stockholm.         der Realität des Gesichtsschleiers in
                                                                                                                                                                    Europa. Ihre Installation «The Daily
                                                                                                                                                                    Veil», die kürzlich im Fotomuseum
                                                                           Durch ihn, ergänzt Pascal Schöni, habe         Wittern sie Differenzen oder Zurecht-     Lausanne zu sehen war, besteht aus
                                                                           sie noch klarer erkannt, «dass Frauen          weisung, halten sie sich bedeckt. Ich     einer Zeitung, die auf jeder Seite, auf
                                                                           in einigen muslimischen Ländern aus            erinnere mich an folgende Situation:      jedem Bild eine Frau mit Nikab zeigt.
                                                                           kulturellen, aber nicht religiösen             Sie besuchten mich in London, wo ich      Daneben poppen auf einem Bild-
                                                                           Gründen unterdrückt sind.»                     im Austauschprogramm studierte. Bei       schirm Zahlen auf, zum Beispiel
                                                                                Mich irritiert die Aussage. Patriar-      einem Glas Wein in der Lobby ihres        «0.00057 %». Das war der Anteil der
                                                                           chale Strukturen, so denke ich, sind –         Hotels kamen wir mit einem Ge-            Nikabträgerinnen an der Gesamtbe-
                                                                           egal in welchen Gesellschaften – aus           schäftsmann aus Senegal ins Ge-           völkerung Frankreichs, als 2010 das
                                                                           kulturellen, sozialen, politischen, his-       spräch. Der Kellner bot auch ihm Wein     Verhüllungsverbot verhandelt wurde.
                                                                           torischen und eben auch religiösen             an, doch er winkte ab. Als gläubiger          Die Schweiz stimmt am 7. März
BI L DE R – S .1 2 : F R A NC E K E Y S E R ; S .1 3: M A S KO T/F OL IO

                                                                           Gründen entstanden. Ich setze an:              Muslim trinke er keinen Alkohol, sagte    über ein nationales Verbot der Vollver-
                                                                           «Die Stellung der Frau im Islam ist ein        er zu uns und fragte, woher wir kom-      hüllung ab. Angenommen wurde ein
                                                                           grosses Thema…»                                men. Mein Vater hatte schon «Switzer-     Verhüllungsverbot bereits in den Kan-
                                                                                «…Unterdrückung hat nichts mit            land» gesagt, da flüsterte mir meine      tonen Tessin (2013) und St. Gallen
                                                                           dem Islam zu tun, das ist nur Kultur!»,        Mutter zu: «Sag bloss nicht, dass wir     (2018). Der Gesichtsschleier ist in der
                                                                           sagt Houwayda Schöni. Diesen Satz              auch Muslime sind. Ich mag nicht dis-     Schweiz eine Randerscheinung. Das
                                                                           sollte ich in diesen Wochen oft hören.         kutieren, warum wir Wein trinken.»        Buch «Verhüllung» des Religionswis-
                                                                                Maryam Schöni wollte das Kopf-                                                      senschaftlers Andreas Tunger-Zanetti
                                                                           tuch schon in der vierten Klasse tra-          Für was steht die Verhüllung?             ist die erste umfassende Arbeit zur
                                                                           gen. Ihre Mutter verbot es ihr. Als Ma-        An der Verhüllung der Frau scheiden       Vollverhüllung in der Schweiz. Tun-
                                                                           ryam einmal ohne Erlaubnis mit dem             sich die Geister – auch unter Muslimin-   ger-Zanetti hat die Zahl vollverhüllter
                                                                           Kopftuch zur Schule ging, gab ihr die          nen und Muslimen. In westlichen           Frauen in der Schweiz zu eruieren ver-
                                                                           Mutter einen Chlapf. Mühsam sei es             Diskussionen hält sich die Meinung,       sucht: Es sind maximal 37.
                                                                           jetzt bei der Lehrstellensuche: «Sie           dass Hidschab, Nikab oder Burka die           Am Telefon erzählt er mir von sei-
                                                                           müssten es bei einer Zusage ablegen»,          Frau entrechten. Für viele im Westen,     nen Erkenntnissen im Feld: «Die we-
                                                                           hört sie immer wieder. Sie hadert. In          allen voran für die bekannte Feminis-     nigen bekannten Biografien zeigen,
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                                                                           Bümpliz nimmt man sie als Maryam               tin Alice Schwarzer, ist die Verhüllung   dass Schweizer Nikabträgerinnen sich
                                                                           wahr, anderswo als Muslimin.                   ein Symbol der Unterdrückung.             in das Bild einfügen, das die Forschung
                                                                                Nach unserem Gespräch fragen                   Zwangsverschleierung existiert in    in anderen westeuropäischen Ländern
                                                                           mich Herr und Frau Schöni: «Und Sie,           der muslimischen Welt, keine Frage.       zeichnet: Sie sind im Westen aufge-
                                                                           sind Sie Sunnitin? Haben Sie den Ko-           Doch im Geiste von Schwarzer gepräg-      wachsen, stammen meist aus reli-
                                                                           ran nicht gelesen? Sie sind aber schon         te Feministinnen verkennen, dass          gionsfernen christlichen oder musli-
                                                                           Muslimin?»                                     Musliminnen unter Selbstermächti-         mischen Familien, entdecken für sich
                                                                                Als ich auf die S-Bahn warte, den-        gung nicht zwingend die «Befreiung»
                                                                           ke ich: Du machst es wie deine Eltern.         von ihrer Verhüllung verstehen. Bei-                                          13
den Islam und möchten ihren Glauben       religiösen Ideologie, die Frauen un-       Laila, die ihren richtigen Namen nicht
nun besonders umfassend umsetzen.         sichtbar macht, Gleichstellung verwei-     in einer Zeitung lesen möchte. «Man
Sie beginnen den Nikab sehr oft gegen     gert und Kinderehen zulässt. Sie hat       kann einen Nikab als selbstbewusste,
den Willen von Eltern oder Ehemann        ausgedehnte Recherchen zum Thema           intelligente Frau freiwillig tragen»,
zu tragen – sofern sie überhaupt ver-     Frauenrechte und Islam unternom-           sagt sie. Sie trägt einen Dschilbab, ein
heiratet sind. Bestimmend ist eine in-    men und mehrere Bücher verfasst.           weites Ganzkörpergewand mitsamt
dividuelle Mischung aus persönlichem      Über Jemen, wo der Gesichtsschleier        Kopfbedeckung, und einen Gesichts-
Frömmigkeitsstil, Körperempfinden         Tradition hat, sagt sie am Telefon:        schleier in Altrosa. Im Vereinslokal
und dem Wunsch, dem anderen Ge-           «Keine Frau dort sagte mir, sie trägt      legt sie den Gesichtsschleier ab, was
schlecht nur in streng regulierter Form   den Gesichtsschleier freiwillig. Der so-   für sie geht, weil ich eine Frau bin. Wir
zu begegnen. Wenige der Frauen sind       ziale Druck lässt kaum eine Wahl. Eine     sitzen auf dem Boden, es sind Teppi-
über vierzig Jahre alt. Der Gesichts-     bekannte Aktivistin vertraute mir an,      che und Kissen ausgelegt.
schleier gehört also für Nikabträgerin-   ohne den Gesichtsschleier hätte die             «Viele glauben, wir sind unmündi-
nen im Westen zu einer Phase der          Familie ihr nicht erlaubt zu arbeiten.     ge Frauen. Auf der Strasse werde ich
Identitätsbildung.»                       Der Nikab steht für eine fundamenta-       aber nie gefragt: Unterdrückt Sie Ihr
     Die schweizerisch-jemenitische       listische Strömung. Die Verbreitung        Mann? Brauchen Sie Hilfe? Ein Frau-
Politologin Elham Manea hat «grosse       dieser Ideologie müssen wir in West-       enhaus? Was ich täglich höre, sind Sät-
Mühe» mit dem Nikab. Sie erkennt an,      europa entschieden eindämmen.»             ze wie: Dass das erlaubt ist in der
dass ihn die wenigen Frauen in der             Ich möchte Antworten von einer        Schweiz! – Geh dorthin, wo du her-
Schweiz freiwillig tragen, doch für sie   Schweizer Nikabträgerin. In einem          kommst! – Es ist keine Fasnacht!»
ist der Nikab Symbol einer extremen       muslimischen Frauenverein treffe ich            «Wie reagieren Sie darauf?»
                                                                                          «Ich kann es ignorieren. Sind mei-
                                                                                     ne Kinder dabei, lasse ich es mir nicht
                                                                                     gefallen. Sie sollen sehen: Unser Mami
                                                                                     kann sich wehren, mit Anstand und
                                                                                     Respekt. Wissen Sie, ich erwarte kein
              Gsella m acht sich einen R eim auf ...                                 Verständnis für den Nikab. Sogar die
                                                                                     wenigsten Muslime verstehen das.
                         NACH DEM K LICK                                             Was ich erwarte, ist Akzeptanz. Wir
                                                                                     sind anständig, wir gaffen nicht, wir
                       Man surft herum und bleibt an was,                            behandeln alle gleich – das sind
                       Das hat man lang schon angepeilt,                             Schweizer Werte, die mir meine Eltern
                       Und dieses Mal, da kauft man das,                             mitgaben, die mir wichtig sind, heute
                        Denn gerne ist man zweigeteilt.                              aber kaum mehr gelten.»
                                                                                          Laila wuchs auf dem Land in einer
                        Teil A erstrahlt wie hocherfreut:                            traditionell christlichen Familie auf.
                       «Nun ist die Butter auf dem Brot!»                            Mit sechzehn trat sie aus der Kirche
                         Teil B winkt ab, denn er bereut                             aus. Nach der Ausbildung zog sie in
                          Und sagt: «Teil A, du Idiot.                               einen Kibbuz. «Dort faszinierte mich,
                    Du weisst doch: Das da brauchst du nicht.                        dass selbst die Jungen in Palästina
                     Du weisst: Nicht das da war gemeint.                            stolz sagten: Ich bin Muslim. Da fragte
                     Du weisst doch, dass dein Sonnenlicht                           ich mich: Was hat der Islam für sich? In
                     Mit dem da just gleichdüster scheint.»                          Europa sagen die Jungen höchstens
                                                                                     beschämt: Auf dem Papier bin ich
                      «Ich weiss, ich weiss», gibt A zurück.                         Christ.»
                      «Doch ist dein Hirn noch so gesund:                                 Laila reiste durch den Nahen Os-
                    Du hast kein Herz, Teil B!» «Zum Glück!»                         ten und lebte ein Jahr in Ägypten, sie
                       «Ich habe eins. Und das ist wund.»                            fand im Koran Antworten auf ihre da-
                    «Komm her, ich drücks an meinen Kopf.»                           mals brennenden Fragen: Wie bewäl-
                         Gesagt, getan. Und frisch liiert,                           tige ich Konflikte? Wie geht Verzeihen?
                     Nimmt man die Einigkeit beim Schopf,                            Was ist Mitgefühl? Sie spürte: Das ist
                                                                                                                                 DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

                        Geht zur Bestellung und storniert                            es. Anfang zwanzig konvertierte sie.
                                                                                          Laila trug das Kopftuch erstmals in
                          Und hat die ganze blöde Qual                               Ägypten während des Fastenmonats,
                        Vertrieben bis zum nächsten Mal.                             um sich anzupassen. Als es sich «rich-
                                                                                     tig anfühlte», behielt sie es an. Zurück
                                               Thom as Gsella                        in der Schweiz, trug sie zunehmend
                                                                                     weite Kleider, schliesslich den Dschil-
                                                                                     bab. Bald wusste sie: Sie will auch ihr
14                                                                                   Gesicht verhüllen. Bei der Arbeit stör-
te sie der lockere Umgang der Kolle­       immer verschiedenfarbige Nikabs, nie       Musliminnen und Muslime. Ist diese
                                   gen, die zufälligen Berührungen. Sie       einen schwarzen.»                          Behauptung nicht genauso pauschali­
                                   hätte das mehrfach gesagt, erzählt sie,         Einen Zwang zum Nikab findet sie      sierend, wie wenn Musliminnen und
                                   doch es hätte wenig genützt. Sie dach­     verwerflich. Den Nikab zu tragen hat       Muslime mit stereotypen Zuschrei­
                                   te: Mit dem Nikab könnte ich mich          aus ihrer Sicht nur einen Wert, wenn       bungen abgestempelt werden? Eine
                                   noch deutlicher von den Männern ab­        man es aus Überzeugung macht. «Al­         Studie des Bundes zeigt allerdings,
                                   grenzen. «Das Gesicht einer Frau of­       lah sieht in unsere Herzen».               dass in der Schweiz 29 Prozent der Be­
                                   fenbart ihre Schönheit, das behalte ich         Wenn es zum Verbot käme, wäre         völkerung gegenüber dem Islam nega­
                                   meiner Familie vor.»                       das für Laila «sehr schlimm». Aber         tiv eingestellt sind. Laut der Studie ist
                                        Zudem glaubt Laila, dass sie mit      Gesetze zu missachten, widerspricht        die Skepsis gegenüber dem Islam ten­
                                   dem Nikab Gott näherkommen kann.           ihren Werten, sagt sie. Deshalb würde      denziell grösser als die feindliche Ein­
                                   Die Gesichtsverhüllung sei eine zusätz­    sie sich an das Verbot halten und statt­   stellung gegenüber People of Colour
                                   liche Option, ungefähr so, wie wenn        dessen eine Hygienemaske tragen.           oder Jüdinnen und Juden.
                                   man neben den vorgeschriebenen                  Monate nach unserem Gespräch,              Der deutsche Historiker Wolfgang
                                   Gebeten noch freiwillige verrichtet.       nachdem Laila ihre Zitate gegenge­         Benz zeigt in seinem Buch «Die Feinde
                                        Als sie den Nikab schliesslich        lesen hat, wird sie mir am Telefon sa­     aus dem Morgenland», wie tief «das
                                   trägt, ist Laila verheiratet, hat Kinder   gen, dass sie inzwischen nicht mehr        Konstrukt eines Feindes» seit 9/11 in
                                   und ist nicht mehr berufstätig. Ihren      bereit sei, einen Kompromiss beim Ge­      der westlichen Gesellschaft verankert
                                   Mann, einen gebürtigen Palästinenser,      sichtsschleier einzugehen. Sie wird er­    ist. Er schreibt: «Es geht nicht um die
                                   der damals noch in Deutschland lebte,      zählen, dass sie und ihr Mann mit dem      Terrorakte radikaler Islamisten oder
                                   lernte sie online kennen, wo sie gezielt   Gedanken spielen, in ein muslimi­          um Modernisierungsdefizite in islami­
                                   nach einem praktizierenden Muslim          sches Land auszuwandern – auch weil        schen Staaten oder Gesellschaften.
                                   gesucht hatte.                             sie davon ausgehen, dass die Initiative    Gegenstand sind Ressentiments gegen
                                        Ihr Mann, sagt sie, habe ihren Ent­   angenommen wird.                           Muslime in unserer Gesellschaft, die
                                   scheid nicht beeinflusst: «Er sagte,            Bei unserem ersten Gespräch fügt      diskriminiert werden, weil sie Musli­
                                   dass ich von ihm aus keinen Nikab tra­     sie am Ende hinzu: «In der Schweiz ist     me sind.»
                                   gen muss, er mich aber unterstützt,        praktisch alles mehrheitsfähig: Bud­            Angesichts dieser beiden Positio­
                                   wenn ich das möchte.»                      dhist, Jude, Christ oder konfessionslos    nen – Opfer-Narrativ versus Muslim­
                                        Lailas Geschichte klingt plausibel.   zu sein, homo- oder bisexuell, kinder­     feindlichkeit – frage ich mich: Wie ist
                                   Der Nikab löst bei mir ein Unbehagen       los oder unehelich zu leben, nur nicht     Kritik am Islam möglich, die frei von
                                   aus, selbst wenn ihn Frauen wie Laila      Muslim zu sein, Kopftuch oder ge­          antimuslimischem Rassismus ist?
                                   freiwillig tragen. Als Kind verängstigte   schweige denn Nikab zu tragen.»
                                   es mich, wenn ich in der Türkei Frauen          Nach dem Treffen mit Laila spa­       Wie denn den Islam kritisieren?
                                   mit dem çarşaf – so nennt sich im Tür­     ziere ich mit gemischten Gefühlen          In einem Café an der Europaallee in
                                   kischen die Vollverschleierung – sah.      durch die Stadt. Einerseits beein­         Zürich sitzt mir eine zwanzigjährige
                                   Çarşaf bedeutet «Bettlaken». Auf die­      druckt mich ihre Überzeugung. Ande­        Studentin gegenüber. Sie könne keine
                                   ses Wort folgte in meiner Familie im­      rerseits hadere ich mit einer Aussage      grosse Erzählung anbieten, sagt Hibaq,
                                   mer ein abfälliges Schnalzen.              Lailas: «Ich will nicht in der Mitte der   deren Nachname der Redaktion be­
                                        Lange vor dieser Recherche muss­      Gesellschaft stehen. Auch das signali­     kannt ist. Muslimin zu sein sei nicht
                                   te ich mir eingestehen, dass ich selbst    siere ich mit dem Nikab.» Sie will sich    spektakulär, es werde spektakulär
                                   in meiner Haltung zum Kopftuch be­         unsichtbar machen, dabei ist sie mit       gemacht.
                                   fangen war. Obwohl ich nie in der Tür­     dem Nikab unübersehbar.                         Hibaq wurde 1999 in Zürich gebo­
                                   kei gelebt habe, hat es mich geprägt,           Ein paar Tage später erinnere ich     ren, wo sie von klein auf lernte, den Ko­
                                   von klein auf von meinen Tanten zu         mich an ihre Aussage, in der Schweiz       ran zu lesen, die täglichen Gebete zu
                                   hören: Das Kopftuch ist für Rück­          seien viele Lebensentwürfe mehr­           verrichten, zu fasten. Ihre Eltern stam­
                                   ständige! Nie dürft ihr so werden! Ich     heitsfähig, nur nicht ein muslimischer.    men aus Somalia. Sie und ihre Ge­
                                   lernte, mir diesen Reflex abzutrainie­     Ähnliches hörte ich während meiner         schwister sprechen untereinander So­
                                   ren, indem ich mich bei jeder Be­          Recherche immer wieder. Gegenstim­         malisch, in Somalia waren sie aber nie.
                                   gegnung fragte: Hier steht eine ver­       men, wie jene aus Deutschland von          Als sie in ihrem Umfeld erzählt habe,
                                   schleierte Frau vor dir; was passiert      Hamed Abdel Samad oder Ahmad               dass sie mit einer Journalistin über den
                                   jetzt bei dir?                             Mansour, kritisieren diese Einteilung      Islam spreche, hätten viele Vorbehalte
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                                        Ich frage Laila: «Meine Kleider,      in Täter und Opfer. Ihnen zufolge ver­     gehabt, sagt Hibaq. Dies sei momen­
                                   die Farben und Formen, sind für mich       unmöglicht diese Haltung jede Kritik       tan ein heikles Thema. Ihr sei es den­
                                   essenziell, wie eine zweite Haut. Fehlt    an Musliminnen und Muslimen, weil          noch wichtig, sich zu äussern, weil sie
                                   Ihnen das nicht?»                          sich diese zu Opfern der nicht-musli­      möchte, dass Musliminnen und Musli­
                                        «Ich will ausdrücklich nicht dem      mischen Gesellschaften stilisieren.        me eine Stimme haben.
                                   Modezwang unterliegen. Ich will we­             Mir behagt diese Perspektive               «Warum die Vorbehalte?», frage
                                   gen meines Charakters und Intellekts       nicht. Andererseits irritiert es mich      ich.
                                   respektiert werden, nicht wegen mei­       auch, in meinen Gesprächen ständig
                                   nes Aussehens. Ausserdem trage ich         zu hören, die Gesellschaft sei gegen                                             15
«Seit den Anschlägen in Wien, Paris         Frauen schlagen. Solche Bemerkun-          sehe. Dass eine Verschwiegenheit da
und Nizza gibt es viele Spannungsfel-       gen bewogen sie dazu, ihr Maturarbeit      ist, in der eine grosse Angst mit-
der. Als Frau mit Kopftuch werde ich        zum Thema «Islam und Feminismus»           schwingt, für das Gesagte verurteilt zu
als Teil dieser Gruppe markiert. In der     zu schreiben.                              werden – von muslimischer und nicht-
Sek erklärte uns eine Berufsberaterin            Ähnlich wie für das Ehepaar Schö-     muslimischer Seite. Und die Frage an
die Bildungswege. Am Schluss musste         ni ist auch für Hibaq die Trennung von     mich, ob ich Muslimin sei, impliziert
ich als Einzige sitzenbleiben. Sie fragte   Religion und Kultur wichtig: Wegwei-       eine Erwartungshaltung: dass eine un-
mich nicht, was mich interessiert oder      send sollen religiöse Gebote sein, nicht   ausgesprochene Solidarität bestehen
wie meine Noten sind. Sie sagte: ‹Mit       Bräuche, die seit Generationen fort-       könnte, weil ich vielleicht «eine von
dem Tuch wird es schwierig, eine Leh-       dauern.                                    ihnen» bin.
re zu finden. Überleg dir, es abzulegen.›        Als ich nach einem Beispiel frage,
Ich dachte: Fuck, ich werde nichts er-      sagt sie: «In anderen muslimischen         Welche Verantwortung
reichen! Ich ging dann ans Gymi, um         Familien entscheiden die Eltern über       tragen Muslime?
die Berufswahl hinauszuzögern.»             den künftigen Ehepartner. Oft haben        Im November 2020 kreisten die Bei-
     Ich verstehe ihre Zurückhaltung,       sie Angst, dass sich ihre Kinder von der   träge in den Medien wieder um Fragen
doch da ist wieder dieses Opfer-Narra-      Herkunft entfernen. Ich aber finde,        wie diese: Wie radikalisieren sich Jun-
tiv. Also erwidere ich: «Muslime zu         das ist keine religiöse Argumentation,     ge? Was hat Religion damit zu tun?
kritisieren und Traditionen zu hinter-      sondern eine kulturelle. Der Koran         Was Moscheen? Es sind nicht die Fra-
fragen muss nicht zwingend anti­            verbietet keine Heirat zwischen ver-       gen, mit denen ich diese Recherche be-
muslimisch sein.»                           schiedenen Kulturen.»                      gonnen habe, doch nun beschäftigen
     «Muslime sind im Abwehrmodus,               Hibaq debattiert oft mit ihren El-    sie auch mich.
weil nur Negatives über den Islam kur-      tern oder Cousinen über Fragen wie:             Der fünfundzwanzigjährige Mole-
siert. Viele haben kein Interesse an        Wie wirken wir als Musliminnen? Was        kularbiologe Ramiz Saramati war drei
einer Diskussion, da man ständig nur        macht uns als Schweizer Musliminnen        Jahre lang Präsident der muslimischen
Vorurteile hört. Distanziert man sich       aus? Wo ist unser Platz? «Solche Fra-      Studierendenvereinigung der Uni
nicht von Anschlägen, wird einem das        gen muss sich ein alter, weisser Mann      Basel. Dort organsierte er Ausflüge,
Gefühl gegeben, dass man sie heimlich       nicht stellen. Ich gehöre so richtig zu    um den Austausch zwischen muslimi-
unterstütze. Dabei ist es doch logisch,     einer minority: dunkelhäutig, Kopf-        schen und nicht-muslimischen Studie-
dass kein Muslim das gutheisst! Kritik      tuch, Frau – Diskriminierung auf drei      renden zu fördern. Im Facetime-
braucht aber einen safe space. Man ver-     Ebenen.»                                   Gespräch stelle ich ihm zu Beginn die
sucht oft, mich vom Glauben, vom                 Als Kind fühlte sich Hibaq nicht      Frage: «Wie wurdest du religiös so­
Kopftuch ‹zu befreien›. Man gibt mir        fremd. In der Jugend war sie dann «the     zialisiert?»
das Gefühl, das Kopftuch würde mein         odd one out», weil sie nicht ausging,           Er sieht es als «grosses Glück»,
Denken einschränken.»                       nicht abstürzte wie alle anderen. «Leb     dass es einen Imam gab, der ihn «sta-
     Ich formuliere vorsichtig: «Viele      doch mal!», hörte sie von den Klassen-     bilisierte». Der Imam verbannte Ge-
Frauen durchlaufen beim Kopftuch            kollegen, die nicht verstanden, dass       danken wie diese aus seinem Kopf:
einen Prozess. Wie war es bei dir?»         die religiösen Rituale sie mit Leben       «Europäisch lebende Muslime sind
     «Uninteressant, überspringen wir       füllten. Heute, als junge Erwachsene,      Ungläubige. Frauen ohne Kopftuch ge-
das.»                                       wird sie oft auf Hochdeutsch ange-         hören in die Hölle.»
     Später wird Hibaq sagen, dass sie      sprochen, für ihr Schweizerdeutsch              Sein Vater kam als Gastarbeiter
die Frage satt hat, als zu persönlich       gelobt oder im Tram angestarrt. «Das       aus dem Kosovo nach Basel, mit vier
empfindet. Sie wird sie unbeantwortet       gibt mir das Gefühl, dass ich nicht zu     Jahren folgte Ramiz mit der Mutter.
lassen und dabei betonen, dass es ihre      dieser Gesellschaft gehören kann.»         Mit fünfzehn begann er sich für Reli-
freie Entscheidung gewesen ist, ein              Auch meine Frage, wie oft sie         gion zu interessieren. Er begleitete sei-
Kopftuch zu tragen.                         praktiziert, stört sie, weil die Antwort   nen älteren Bruder in die Moschee.
     In ihrer Jugend, erzählt Hibaq,        «täglich» für viele anrüchig wirke. Sie    Bald praktizierte er täglich, suchte
hätte sie genauer über ihren Glauben        verstehe die Forderung nicht, der Is-      Informationen zum Islam. «Schnell
Bescheid wissen wollen. Das Bedürf-         lam müsse mit Schweizer Werten             stiess ich im Internet auf Videos von
nis, gut informiert zu sein, sei auch da-   vereinbar sein, weil das für sie als       Hasspredigern und folgerte: So ist es.»
mit verknüpft gewesen, dass im Gymi         Schweizerin ohnehin logisch sei.                Als Gymnasiast trieben ihn ein
in Zürich viel über den Islam geredet            Die Befangenheit gegenüber dem        halbes Jahr lang Gedanken um, die
                                                                                                                                   DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

wurde. «Ich spürte, dass vieles davon       Islam, sagt sie, kann sich nur auflösen,   «ziemlich streng» waren. Dann öffne-
Mist war, hatte aber keine Gegenargu-       wenn Leute wie sie in der Politik, For-    te er sich seinem Bruder. Sie sprachen
mente.»                                     schung, Lehre vertreten sind.              mit dem Imam ihrer Moschee. «Er
     Ein Klassenkamerad sagte: Krass,            «Und du – du bist nicht Muslimin,     zeigte mir einen mittleren Weg. Die
er habe gedacht, Leute wie sie müssten      oder schon?», fragt mich Hibaq nach        Gespräche mit den Moscheemitglie-
heiraten und Hausfrau werden. Ein an-       dem Gespräch.                              dern holten mich auf den Boden. Ich
derer: Im Koran stehe, man dürfe                 Als ich nach Hause radle, habe ich    erkannte: Als Muslim habe ich einen
                                            wieder dieses diffuse Gefühl, dass ich     Platz in dieser Gesellschaft.» Ramiz
16                                          doch nicht ganz hinter die Fassaden        sieht diese Zeit als «kritische Phase»
auf der Suche nach seiner religiösen                                                  Gewalt ab. Aber beruft sich ein Atten-
                                   Identität. Jetzt, wo er eine «gute Ein-                                               täter auf den Islam, muss man darauf
                                   stellung» gefestigt habe, sei der Imam                                                eingehen. Man kann nicht sagen: Das
                                   für ihn keine wichtige Bezugsperson                                                   hat nichts mit dem Islam zu tun. Man
                                   mehr. Habe er Fragen, schreibe er aus-      Meine Eltern stört der                    muss versuchen, auf die Selbstwahr-
                                   gewählten Theologen oder Islamwis-          französische Zwang,                       nehmung des Attentäters einzugehen.
                                   senschaftlern.                              die Karikaturen zeigen                    Selbst wenn man wie ich der Meinung
                                        Die jüngsten Gräueltaten verstö-                                                 ist, dass nicht die Religion die Gewalt
                                   ren Ramiz. Doch wie viele Muslime,          zu müssen, aber auch                      auslöst. Doch dann wird es komplex.
                                   mit denen ich spreche, ist er über-         die Empfindlichkeit                       Die Biografien der Attentäter, ihre
                                   zeugt, dass er sich nicht von diesem        vieler Musliminnen                        Motive – internationale Studien bele-
                                   «unislamischen Verhalten» distanzie-                                                  gen das – sind selten religiös. Meist be-
                                   ren muss. «Es hat nichts mit dem Islam      und Muslime.                              gründen sie die Motive am Ende einer
                                   zu tun. Trotzdem wird man als Muslim                                                  Kette religiös, um sie zusätzlich zu le-
                                   beäugt.»                                                                              gitimieren. Die Aussage aus dem Arti-
                                        «Tragen Muslime gar keine Ver-                                                   kel greift aus meiner Sicht zu kurz, weil
                                   antwortung, wie dein Imam in deiner       Im Unterschied zu anderen, mit denen        sie diese komplexe Motivlage der
                                   ‹kritischen Phase›?»                      ich spreche, fühlt sich Ramiz als           Attentäter ausblendet. Deshalb stört
                                        «Doch, Familie und Freunde müs-      Schweizer Muslim anerkannt. Mus-            mich die Behauptung, Muslime hätten
                                   sen wach sein, wenn sich jemand von       limfeindlichkeit kenne er nicht, sagt       generell ein unkritisches Verhältnis
                                   seinem Umfeld isoliert. Mein Vater ist    er. Er hat eine Strategie, die sich schon   zur Gewalt.»
                                   bis heute nicht religiös. Erst war er     bei seiner ersten Anstellung in einem            «Distanzierung zu fordern ist also
                                   skeptisch, als mein Bruder, meine         Pharmakonzern bewährte: «Nieman-            nicht angebracht?»
                                   Mutter und ich es wurden. Er verge-       den überfordern. Schrittweise mittei-            «Ich finde es nicht hilfreich, das
                                   wisserte sich laufend, ob wir keine       len, dass man praktizierender Muslim        festzulegen. Ich verstehe, wenn das
                                   krummen Gedanken haben.»                  ist, Fragen beantworten.»                   eine Seite wünscht, weil sie sich fragt:
                                        «Die Mohammed-Karikaturen»,               «Wie gehst du mit Islamkritik          Was passiert wohl in der Moschee
                                   sagt Ramiz, «verletzen mich sehr.»        um?»                                        nebenan? Ich verstehe auch, wenn
                                   Was ihn an der Debatte darüber stört:          «Mich stört, wenn man ‹den Is-         Muslime unter dem Pauschalverdacht
                                   «Viele glauben, die Muslime sind          lam› kritisiert. Der Islam selbst kann      leiden. Es zeigt Verunsicherung beider
                                   gegen den Westen, gegen Satire, das       nicht problematisch sein, nur fehlbare      Seiten, die sich nur im Gespräch auf­
                                   stimmt nicht. Viele fühlen sich unver-    Menschen sind es. Man kann also sa-         lösen lässt.»
                                   standen, weil man uns nicht zugesteht,    gen: Ich befürworte nicht, was dieser            «Woran scheitert die Islam­
                                   dass uns die Karikaturen in unserer       Muslim macht. Verletzend finde ich          kritik?»
                                   Würde verletzen. Dort hört für mich       Aussagen wie: Der Islam gehört nicht             «Mohammed oder religiöse Inhal-
                                   die Meinungsfreiheit auf.»                zur Schweiz.»                               te zu kritisieren ist in vielen muslimi-
                                        Muss sich Satire zurückhalten?            Warum ist die Debatte um Mo-           schen Ländern tabu. Manche Muslime
                                   Die Meinungsfreiheit ist doch das         hammed-Karikaturen so vertrackt?            müssen lernen, dezidierte Kritik am
                                   höchste Gut einer liberalen Gesell-       Wie gehen wir mit islamistischem Ex­        Islam, an Mohammed zuzulassen. An-
                                   schaft, sage ich zu meinen Eltern, als    tremismus um? Müssen sich Musli-            dersherum erleben viele muslimische
                                   wir darüber sprechen. Sie teilen diese    minnen und Muslime von Gräueltaten          Minderheiten in Europa, dass unter
                                   Ansicht, dennoch haben auch sie           distanzieren? Die Fragen in meinem          dem Deckmantel der Kritik Herab­
                                   Mühe mit den Karikaturen. Sie stört       Kopf kreisen weiter. Ein wissenschaft-      lassung hergestellt wird.»
                                   der französische Zwang, die Karikatu-     licher Blick, so denke ich, vermag viel-         «Das Thema Karikaturen ist für
                                   ren zeigen zu müssen, andererseits        leicht meinen Knäuel zu entwirren.          viele Muslime emotional. Wie sehen
                                   aber auch die Empfindlichkeit vieler           Ich erreiche Professor Amir Dziri      Sie das als Wissenschaftler?»
                                   Musliminnen und Muslime.                  über Zoom in seinem Büro am Schwei-              «In Frankreich riskierten Karika-
                                        Liest Ramiz in diesen Tagen in den   zerischen Zentrum für Islam und Ge-         turisten im 19. und 20. Jahrhundert ihr
                                   Medien, was der Islam ist und was         sellschaft der Universität Freiburg,        Leben, indem sie sich gegen die Macht
                                   nicht, ärgern ihn das Halbwissen oder     dessen Co-Direktor er ist.                  von Staat und Kirche auflehnten. Die
                                   die Stereotype, aber auch die Tatsache,        «Herr Dziri, ‹Das hat nichts mit       Karikatur als Kritik am Despotismus
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                                   dass sich die Muslime kaum in die De-     dem Islam zu tun› hörte ich oft als         wurde zu einem kulturellen Wert. Er
                                   batte einmischen. Als Praktikant im       Kommentar zu islamistischen Terror-         stösst nun auf einen anderen kulturel-
                                   Labor kündigte er an, eine Pause für      akten. Ein muslimischer Jurist schrieb      len Wert, die Wertschätzung von Mo-
                                   das Gebet zu machen, woraufhin ein        in einem Beitrag in der ‹Zeit›: ‹Das hat    hammed bei Muslimen. Es braucht
                                   Mitarbeiter fragte: Was hältst du von     was mit uns Muslimen zu tun.› Wie se-       gegenseitiges Verstehen. Muslime
                                   der Emanzipation? «Ich galt als Femi-     hen Sie das?»                               sollten die Karikatur als historischen
                                   nist, bis ich das mit dem Beten sagte.         «Eigentlich wollen Muslime sa-         Wert der Herrschafts- und Kulturkritik
                                   Klar, aufzuklären ist mühsam, aber re-    gen: Wir wünschen uns, dass der Islam
                                   signieren gilt nicht.»                    nichts damit zu tun hat. Wir lehnen                                               17
anerkennen. Andererseits bedarf es          und Religionssoziologie in Bosnien         mischen Land muss der Imam wö-
von pluralen Gesellschaften mehr            und der Türkei.                            chentlich predigen, die Namensge-
Sensibilität für die Werte einzelner             Rehan Neziri entschuldigt sich für    bung und Beerdigung vollziehen. Mehr
Gruppen.»                                   die Verzögerung, in der Hand hält er       nicht. Neziri wirkt erschöpft, aber nicht
     «Mehrfach hörte ich, alles Negati-     das Buch «Die sieben Schläfer von          resigniert. Ihn bestärkt, dass man sich
ve im Islam sei kulturell bedingt. Man      Ephesus». «Ich überlege, wie ich das       in der Schweiz wissenschaftlich und
müsse deshalb zurück zum ‹reinen› Is-       mit den Jungen aufführen könnte.»          gesellschaftlich vernünftig mit dem Is-
lam, Kultur und Religion trennen.»          Mit solchen Projekten, sagt er, oder       lam auseinandersetzt. «Das wirkt sich
     «Hat es jemals einen ‹reinen› Is-      mit Fussball erreiche er die Jungen an-    auf die Schweizer Muslime aus. Sie re-
lam gegeben? Viele berufen sich auf         ders als in der Moschee.                   flektieren ihren Glauben kritischer.»
die Anfänge Mohammeds. Das konst-                Zu den Ursachen von Radikalisie-           Nach dem Gespräch sitze ich allei-
ruiert ein Ideal, das sich historisch gar   rung hat er dreieinhalb Jahre recher-      ne im Frauenbereich der Moschee.
nicht mehr erschliessen lässt. Ich finde    chiert, ein Buch dazu auf Albanisch        Mein Schal ist zum Kopftuch gebun-
es nicht zielführend, einem einstigen       veröffentlicht und nun vermittelt er       den, aus Respekt, wie es mir meine El-
‹idealen Islam› nachzueifern und zu         seine Erkenntnisse in Predigten. Um        tern beigebracht haben. Vor mir liegt
glauben, das würde alle Missstände          Junge vor Missbrauch der Religion zu       ein Mosaik aus den Ansichten prakti-
beseitigen. Stattdessen sollte man          bewahren, spricht Neziri mit ihnen         zierender Musliminnen und Musli-
unter Muslimen lernen, konstruktive         über Schwierigkeiten in der Ausbil-        men in der Schweiz. Für viele der ers-
muslimische Deutungen zu entwi-             dung, über Diskriminierung, über           ten Generation der Eingewanderten
ckeln. Etwa zu akzeptieren, dass es bei     Ängste.                                    ist die Verbindung zum Glauben vor al-
Fragen um das Kopftuch oder bi-                  Auch das Predigen eines «Schwei-      lem eine Verbindung zur Heimat. Die
religiöse Ehen unterschiedliche Ant-        zer Islam» hält er für ein taugliches      Secondos hingegen möchten ihr mus-
worten gibt.»                               Mittel: «Ich verknüpfe die universel-      limisches Selbstverständnis hier in der
     «Warum hält sich das Bild in West-     len Werte des Islam mit dem Leben in       Schweiz verorten, ohne kulturelle Prä-
europa so hartnäckig, der Islam sei         der Schweiz. Wir Muslime sind hier,        gungen durch die Heimat der Eltern.
frauenverachtend?»                          mittendrin.»                               Dann gibt es Konvertitinnen und Kon-
     «Historisch haben sich die christ-          «Wie entsteht ein ‹Schweizer Is-      vertiten, für die das religiöse Erschei-
liche und muslimische Zivilisation oft      lam›?»                                     nungsbild das Fundament ihrer neuen
in Abgrenzung voneinander definiert.             «Indem man historische Elemen-        Identität bildet. Da sind auch die
Dafür werden besonders Frauendar-           te ausblendet und sich fragt: Welche       jüngst in die Schweiz Migrierten, die
stellungen instrumentalisiert. Ebenso       Werte sind überzeitlich? In Zürich         durch die Integration ihr muslimisches
bestehen reale Unterschiede im Emp-         lässt sich der Islam nicht so praktizie-   Selbstverständnis überdenken. Und
finden von Scham oder sexueller             ren wie in Albanien oder Pakistan. Wir     da bin ich, die Reporterin, gebürtige
Selbstbestimmung. Als zentralen             Imame müssen historische und kul­          Muslimin und Schweizerin, die sich
Grund sehe ich aber eine Verunsiche-        turelle Zusammenhänge neu kon­             keiner dieser Welten zugehörig fühlt.
rung: Die Vielfalt von Lebensentwür-        textualisieren.»                                Der Ruf zum Abendgebet erklingt.
fen stellt die normative Ordnung stän-           Letzteres macht er auch an Schu-      Ich denke an meine Grossmutter, wie
dig in Frage. Man sucht vertraute Sym-      len, wenn es um das Händeschütteln         immer, wenn ich den Gebetsruf höre.
bole, um sich seines eigenen                mit dem anderen Geschlecht oder den        Lange verstand ich nicht, wie tief ihre
Lebensmodells zu vergewissern. In           Schwimmunterricht geht. «Beides            unerbittliche Angst sass, am jüngsten
Frankfurt gab es 2019 eine Ausstel-         sind keine islamischen Probleme. Man       Tag für ihre Kinder und Enkelinnen
lung zur Hidschab-Mode. Sie stand           kann sie als kulturelle Werte betrach-     büssen zu müssen. Heute ist sie sie-
unter Polizeischutz. Jemand rief: Heu-      ten. Zu sagen, der Islam verbiete das,     benundneunzig und erkennt mich
te ist der Hidschab eine Freiheit, mor-     ist reine Interpretation.» Meist ver­      nicht mehr. Aber ich höre sie noch im-
gen eine Pflicht! Viele fürchten, beson-    mittelt Neziri erfolgreich. Einmal         mer sagen: «Wenn du den Gebetsruf
ders in Bezug auf Musliminnen, dass         bezeichnete ihn ein bosnischer Vater       hörst, bist du zu Hause.» Für sie be-
das, was man an Anderssein toleriert,       als «schlechten Muslim». «Damit            deutet zu Hause, Muslimin zu sein. Für
irgendwann zur Norm wird. Wenige            kann ich umgehen.»                         mich, in verschiedenen Welten zu
registrieren dabei, wie unterschiedlich          Seit 2002 ist Neziri vollamtlicher    leben.
Muslime sind, weil sie an einer Deu-        Imam und die einzige angestellte Per-
tung von ‹dem Islam› oder ‹der westli-      son der Moschee. Täglich muss er fünf
                                                                                                                                     DA S M AG A Z I N N ° 07 — 202 1

chen Leitkultur› festhalten wollen.»        Gebete führen, freitags auf Deutsch          T UĞBA AYA Z ist freie Reporterin und
     Im Vorraum der albanischen Mo-         und Albanisch predigen, dreimal wö-           Übersetzerin. ayaz.tugba@icloud.com
schee in Kreuzlingen ziehe ich die          chentlich Koranunterricht erteilen,
Schuhe aus. Imam Rehan Neziri, 48,          sechs Lektionen an der öffentlichen        Für Recherchehinweise und Hintergrundge-
                                                                                            spräche dankt die Autorin Andreas
unterrichtet online im Klassenzimmer        Schule unterrichten, Jugendarbeit und
                                                                                       Tunger-Zanetti, Universität Luzern; Arlinda
der Moschee. Der gebürtige Mazedo-          Seelsorge leisten, mit anderen Mo-             Amiti und Asmaa Dehbi, Universität
nier studierte islamische Theologie         scheen und Kirchen Kontakt halten.          Freiburg; Javid Ahmadi, Vorstand schiiti-
                                                 «Man erwartet mehr von uns, als       sche Moschee Derendingen; Ajša Schenkel,
18                                          wir leisten können.» In einem musli-               Vorstand Verein Al-Rahman
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