ISLAM Vielfalt & Riten - Religion zwischen Tradition und Moderne - GEMEINSAM.SICHER Graz

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ISLAM
  Vielfalt & Riten

Religion zwischen Tradition und Moderne
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Inhalt
Die fünf Säulen des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Die Trilogie des Islam: Koran, Sira, Hadithen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Glaube im Widerspruch: Dualismus im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Religiöses Gesetz: Scharia, Fiqh und Fatwa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Islam und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Haus des Friedens, Haus des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Schwertvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Dschihad, Mudschahed, Schahid: Kampf auf dem Weg Gottes . . . . . . . . . . . 15
Vereint und doch getrennt: Sunniten und Schiiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
         Aleviten und Alawiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Weitere Strömungen im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Der Umgang mit Anders- und Nichtgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Islam im Alltagsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Internationale Organisationen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Islam in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Wichtige Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Exkurs: Abrahamitische Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

1. Auflage, Februar 2018
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wurde zum Großteil auf Diakritika
verzichtet. Dasselbe gibt für eine geschlechtsneutrale Schreibweise. Entsprechende
Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter
bzw. für alle Menschen.

Impressum
Herausgeber: Verein GEMEINSAM.SICHER in Graz, ZVR: 066269364; Adresse: c/o
Sicherheitsinformationszentrum Graz, Keplerstraße 25, 8020 Graz • Redaktion: Mag. Josef
Klamminger, Werner Miedl, Linda Trinkl • Layout und Gestaltung: netWERKER Mediahaus, 8551
Wies; www.netwerker.at • Druck: Druck.at

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Vorwort

                        Der Islam als Teil einer pluralistischen Ge-         Zur Person:
                        sellschaft ist Vielfalt, ist Religion, ist sozial-   Mag. Josef Klamminger, ge-
                                                                             boren 1955, trat im Jahr 1976
                        wissenschaftlich Lebens- und Staatsform, ist
                                                                             in den Polizeidienst ein. Er war
                        mekkanisch und abrogierend medinensisch.             mehrere Jahre lang in Graz im
                        Es spannt sich der Bogen vom mystisch-spi-           exekutiven Außendienst – unter
                        rituellen Sufismus über den Mainstream und           anderem bei der Polizei Eggen-
                        puristischen Salafismus, ferner Wahhabis-            berg und in der Karlauerstraße
                                                                             – tätig. In den 80er-Jahren ab-
                        mus, einer besonderen Form des politischen
                                                                             solvierte Klamminger berufs-
                        Islamismus in Saudi Arabien, bis hin zum             begleitend das Jus-Studium,
                        dschihadistischen Salafismus, Terrorismus.           nach dem Abschluss wechselte
                        Friedlich und unfriedlich zugleich lässt der         er im Jahr 1990 als Kommissär
         Islam innewohnende Widersprüche als duale Besonderheit              in die Sicherheitsverwaltung der
                                                                             damaligen Bundespolizeidirek-
         nebeneinander bestehen. Vordergründig gilt es, zwischen den
                                                                             tion Graz. Ab dem Jahr 2000
         Konfessionen Sunniten, Schiiten, Alewiten und Alawiten zu           fungierte Klamminger als Leiter
         unterscheiden.                                                      der Sicherheitsdirektion Steier-
         Integration bedeutet Zusammenfließen zu einem neuen                 mark, dem auch das Landesamt
         Ganzen, heißt miteinander unter dem Dach der Demokratie,            für Verfassungsschutz unterstellt
                                                                             war. Zu dieser Zeit begann er,
         verlangt Kenntnis und Wissen über die jeweils andere Kultur,
                                                                             sich verstärkt für Extremismus
         verlangt Toleranz, die wohl schon innerhalb der eigenen Kom-        zu interessieren und sein Wissen
         mune zu beginnen hat.                                               darüber zu vertiefen. Im Zuge der
         Dem Gebot der Sachlichkeit folgend versteht sich die vor-           Behördenreform im Jahr 2012
         liegende Broschüre als Erläuterung und Zusammenfassung              und der damit verbundenen Im-
                                                                             plementierung der Landespolizei-
         von Begrifflichkeiten und bezieht sich ausschließlich auf
                                                                             direktion wurde Klamminger zum
         öffentliche Quellen.                                                steirischen Landespolizeidirektor
                                                                             ernannt. Mit Ende 2017 trat er in
         Mag. Josef Klamminger                                               den Ruhestand.

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Die 5 Säulen des Islam

1. Das Glaubensbekenntnis                                          Tage kürzer als der Sonnenkalender, deshalb findet der Rama-
Das Glaubensbekenntnis lautet „Es gibt keinen Gott außer Allah     dan jedes Jahr zu einer anderen Zeit statt.
und Mohammed ist sein Prophet“. Das öffentliche Aussprechen        Kranke Menschen, stillende Frauen und Reisende zum Beispiel
der Formel bildet die erste Säule. Außerdem ist sie fester Be-     sind vom Fasten befreit, sollten es aber später nachholen.
standteil jedes rituellen Gebetes. Man nennt das Glaubensbe-       Kleine Kinder fasten in der Regel auch nicht. Am Ende des Ra-
kenntnis auch Schahāda.                                            madans wird das Zuckerfest gefeiert, eines der wichtigsten Fes-
                                                                   te im Islam.
2. Das Gebet
Fünfmal sollte ein Moslem am Tag beten. Vor Sonnenaufgang,         4. Soziale Pflichtabgabe
am frühen Vormittag, am Mittag, vor Sonnenuntergang und vor        Eine weitere Säule des Islam ist die Unterstützung der Bedürf-
Mitternacht. Es ist in Ausnahmefällen, zum Beispiel auf Reisen,    tigen, auch Zakāt genannt. Muslime, die nicht selbst hoch ver-
gestattet, das Mittags- und das Nachmittagsgebet sowie das         schuldet sind oder unter dem Existenzminimum leben, sollen in
Abend- und Nachtgebet zusammenzulegen, sodass nur dreimal          der Regel 2,5 Prozent ihres „ruhenden Netto-Kapitalvermögens“
täglich gebetet werden muss. Diese Regelung gilt bei den Schi-     spenden.
iten, nicht jedoch für alle Sunniten.
Muslime beten in Richtung Mekka und verbinden dies mit be-         Die soziale Pflichtabgabe soll in erster Linie an arme Menschen
stimmten Bewegungen, wie zum Beispiel sich verbeugen, nie-         gehen, kann aber auch zum Beispiel als Werbung für den Islam
derknien und aufstehen. Bei der vor dem islamischen Gebet          verwendet werden. Die Spende fördert die soziale Sicherheit und
vorgeschriebenen rituellen Reinigung wäscht man sich unter         das Gemeinschaftsgefühl zwischen den Menschen. Sie ist ein
anderem das Gesicht, die Hände und die Füße.                       wichtiger Bestandteil jeder islamischen Gesellschaft, da sie je-
                                                                   dem Menschen die Lebensgrundlage sichert, ohne dass sich der
3. Das Fasten                                                      Empfänger jemandem verpflichtet fühlen muss. Die Spende wird
Etwa 30 Tage soll ein Muslim während des Monats Ramadan            gleichzeitig als eine Art Reinigung angesehen.
fasten. Der Ramadan hat für Muslime eine besondere Bedeu-
tung: In diesem Monat ist der Koran als Rechtleitung für die       5. Die Pilgerfahrt nach Mekka
Menschen herabgesandt worden; dieser Zeitraum soll als ein         Einmal im Leben sollten Muslime eine Pilgerfahrt nach Mekka
Monat der inneren Einkehr und Besinnung für jeden einzelnen        unternehmen, wenn sie dazu körperlich und finanziell in der Lage
Muslim verstanden werden. Von Tagesanbruch bis Sonnen-             sind. Jedes Jahr im zwölften Monat des islamischen Kalenders
untergang ist es verboten zu essen, zu trinken, zu rauchen oder    treffen sich bis zu drei Millionen Muslime in Mekka. Dort befindet
Geschlechtsverkehr zu haben.                                       sich auch die Kaaba, ein wichtiges Heiligtum des Islam. Gott, so
Der Ramadan ist der neunte Monat des islamischen Kalenders.        die Überlieferung, befahl Abraham und seinem Sohn Ismael, die
Dieser richtet sich nach dem Mond. Er ist pro Jahr zehn oder elf   Kaaba zu bauen.

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Die Trilogie des Islam:
Koran, Sira, Hadithen
Man ist geneigt, den Islam auf der Grundlage des Korans zu be-
greifen, obwohl dieser lediglich 14 Prozent der gesamten islami-
schen Lehre repräsentiert und nur schwer verständlich ist. Der
Prophet Mohammed ist deshalb der Schlüssel, um den Islam
zu verstehen. Wir können in seiner Biographie, der sogenannten
Sira, und seinen Bräuchen bzw. Verhaltensweisen, den Hadithen,
lesen. Sira und Hadithen sind unter dem Begriff Sunna – dies
bezeichnet die prophetische Tradition im Gesamten – zusam-
mengefasst. Koran, Sira und Hadithen zusammen werden als
Trilogie bezeichnet.

Der Koran ist kein Bericht über das Leben eines Propheten, son-
dern versteht sich als direkte, verschiedenen Anlässen entspre-
chende Offenbarung Gottes und ist die erste Quelle des Islam. Er
ist als heilige Schrift einzig nur in der arabischen Urform gültig
und beinhaltet 114 Kapitel (Suren).

Es wird zwischen mekkanischen und medinensischen Suren
unterschieden. Die mekkanischen Suren wurden demnach in              Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des
der Zeit zwischen Mohammeds Berufung zum Propheten um                  Barmherzigen. Alles Lob gehört Allah,
610 bis zum Jahr 622 herabgesandt, die medinensischen da-
nach. Dabei bezieht sich die Bezeichnung mekkanisch bezie-           dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer,
hungsweise medinensisch nicht unbedingt auf den Ort, an dem            dem Barmherzigen, dem Herrscher am
die Offenbarung stattgefunden hat, sondern vielmehr auf den            Tag des Gerichts. Dir allein dienen wir,
Hauptwirkungsort des Propheten. Vor 622 handelt es sich da-
bei um Mekka und nach 622 um Medina. Thematisch behandeln               und zu Dir allein flehen wir um Hilfe.
die mekkanischen Suren hauptsächlich Geschichten und Ereig-          Leite uns den geraden Weg, den Weg der-
nisse aus der Vergangenheit und bekräftigen das Prophetentum          jenigen, denen Du Gunst erwiesen hast,
Mohammeds. Daneben haben die medinensischen Suren den
Zweck, die Menschen zu bekehren.                                      nicht derjenigen, die (Deinen) Zorn er-
                                                                      regt haben, und nicht der Irregehenden!
                                                                               Eröffnungssure des Koran

                                                                                                                  7
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Glaube im Widerspruch:
    Dualismus im Islam
    Der Islam ist im ethischen Sinne von Dualität geprägt, das heißt,     Abrogation ist generell eine unsichere theologische Grundlage
    zwei sich diametral widersprechende Ansichten, Standpunkte            und eine späte theologische Debatte, die unter anderem deshalb
    und Forderungen werden gleichzeitig gültig zugelassen. Zwei           entstanden ist, um die Widersprüche im Koran erklären zu kön-
    vollkommen gegensätzliche Regeln oder Tatsachen im Islam              nen. Für viele Fundamentalisten haben später offenbarte Verse
    sind gleichzeitig gültig. Der Islam ist Religion des Friedens, aber   – also jene im medinensischen, kriegerisch geprägten Teil des
    auch Religion der Gewalt, ist Religion der religiösen Toleranz und    Korans – eine stärkere Bedeutung; sie rechtfertigen damit terro-
    des Todesurteils für den Abfall, das Austreten aus dem Islam.         ristische Handlungen im Namen Gottes.

    Abrogation
    Abrogation bedeutet, dass der zeitlich später offenbarte Vers eine    Unter islamischen Theologen herrscht Uneinigkeit darüber, ob
    stärkere Bedeutung und damit eine aktuellere Wertigkeit hat als       und in welchem Umfang mit Abrogation argumentiert werden
    der zeitlich frühere Vers. Trotzdem gelten beide Verse immer noch     soll, um Widersprüche zu lösen. Deshalb werden auch die zu ab-
    als wahr, weil der Koran das exakte und genaue Wort Allahs ist        rogierenden Verse im Koran unterschiedlich beziffert. Teilweise
    – auch wenn sich die einzelnen Inhalte gänzlich widersprechen.        lehnen Gelehrte die Idee der Abrogation sogar komplett ab.

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Religiöses Gesetz:
Scharia, Fiqh und Fatwa
Scharia
Koran, Sira und Hadithen – also die Trilogie des Islam – bilden     Der Unterschied zwischen Scharia und Fiqh ist wesentlich:
die Grundlage der Scharia.                                          Scharia ist gottgegebenes Recht, offenbart in Koran und Sunna,
                                                                    in den Grundzügen als Werteordnung unumstößlich und gültig
Die Scharia (arabisch „Weg zur Tränke, Weg zur Wasserquelle,        für alle Zeiten und Orte. Hingegen ist das Rechtssystem Fiqh,
deutlicher, gebahnter Weg“) ist das religiöse Gesetz des Islam.     das aus der Scharia abgeleitet wird, als menschengemacht an-
Es verkörpert die übergeordnete Idee einer unter Gottes Gesetz      erkannt und daher veränderlich und bietet Spielraum für Kontro-
stehenden Lebensgestaltung gemäß den von Gott in seiner Of-         versen. Fiqh ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle
fenbarung dem Menschen auferlegten Verpflichtungen (Taklīf)         Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. Islamwissen-
und enthält die Gesamtheit der Verhaltensweisen, die in einer is-   schaftler, Arabisten und Ethnologen betonen allerdings immer
lamischen Gesellschaft zu beachten und zu erfüllen sind. Sie ist    wieder, dass Meinungspluralismus keineswegs in Widerspruch
keine fixierte Gesetzessammlung wie etwa europäische Geset-         zur Scharia stehe.
zestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch,
sondern eine Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung.          Als unfehlbare Pflichtenlehre umfasst die Scharia das gesamte
Es ist darauf zu achten, dass die religiösen Verpflichtungen des    religiöse, politische, soziale, häusliche und individuelle Leben so-
Einzelnen gegenüber Gott erfüllt werden und alle Beziehungen        wohl der Muslime als auch das Leben der im islamischen Staat
des Einzelnen zu seinen Mitmenschen – unter anderem Vermö-          und außerhalb desselben vertraglich geschützten Andersgläubi-
gensrecht, Familien- und Erbrecht, Strafrecht – stets diesen Ver-   gen (Dhimmis) insofern, als ihre öffentliche Lebensführung dem
pflichtungen entsprechen.                                           Islam und den Muslimen in keiner Weise hinderlich sein darf.
                                                                    Die Einheit zwischen Religion und Recht bringt in einem theo-
Um Glaubensfragen im engeren Sinne kümmert sich die Scha-           kratischen Staatswesen auch die Einheit zwischen Religion und
ria nicht. Der Muslim hat das islamische Recht mit seinen Be-       Staat mit sich, die sich in den arabisch-islamischen Staaten der
stimmungen und Widersprüchen kritiklos zu akzeptieren. Das          Gegenwart (deren Staatsreligion der Islam ist) unterschiedlich
Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik des göttlichen        bemerkbar macht.
Rechts ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist.
Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die        „Rechte und Ansprüche der Menschen erscheinen grund-
Grundtendenz der Scharia.                                           sätzlich nur als Reflexe religiöser Pflichten. Daher ist die Frei-
                                                                    heit des Einzelnen im Scharia-Recht oder in der Scharia weit
                                                                    mehr eingeschränkt als im abendländischen Recht. Während
Fiqh                                                                hier alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist, verbie-
Unter Fiqh versteht man dagegen die Rechtswissenschaft im           tet der Islam alles, was nicht gesetzlich erlaubt ist. Er kennt
Islam, deren Gegenstand die Scharia ist. Diese Jurisprudenz er-     daher auch nicht den das europäische Recht beherrschenden
streckt sich auf alle Beziehungen des religiösen, bürgerlichen      Grundsatz der Vertragsfreiheit; zulässig ist nur der Abschluss
und staatlichen Lebens im Islam.                                    von Verträgen, die schariarechtlich erlaubt sind“, schrieben die

                                                                                                                                           9
ISLAM Vielfalt & Riten - Religion zwischen Tradition und Moderne - GEMEINSAM.SICHER Graz
Islamwissenschaftler Otto Spies und Erwin Pritsch 1964 in ei-
                                                                             nem Ergänzungsband des „Handbuchs der Orientalistik“.

                                                                             Gott gilt in diesem Rechtssystem als oberster Gesetzgeber, die
                                                                             Rechtsgelehrten leiten aus dem Koran Gesetze ab. Der Koran
                                                                             als die Offenbarung Gottes enthält nur einige Rechtsnormen,
                                                                             ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer
                                                                             allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Schon
                                                                             früh in der islamischen Geschichte trat daher neben den Koran
                                                                             die Sunna als zweite Quelle des Rechtes in den Vordergrund und
                                                                             war Mittelpunkt des Interesses der Rechtsgelehrsamkeit. Die
                                                                             von den Traditionen in den Hadithen überlieferten Aussagen und
                                                                             nachahmenswerten Handlungen des Propheten erfüllten unter
                                                                             anderem die Rolle, ritualrechtliche und andere Rechtsfragen des
                                                                             täglichen Lebens, die der Koran nicht enthält, zu beantworten.

                                                                             Fatwa
                                                                             Eine Fatwa ist eine von einer muslimischen Autorität auf Anfra-
                                                                             ge erteilte Rechtsauskunft, die dem Zweck dient, ein religiöses
                                                                             oder rechtliches Problem zu klären, das unter den muslimischen
                                                                             Gläubigen aufgetreten ist. Derjenige, der die Rechtsauskunft er-
                                                                             teilt, in der Regel ein Spezialist der islamischen Jurisprudenz
                                                                             (Fiqh), wird als Mufti bezeichnet; derjenige, der um die Rechts-
                                                                             auskunft bittet, Mustaftī genannt. Als Rechtsauskunft ist die
                                                                             Fatwa somit die islamische Entsprechung zur Responsa, den
                                                                             Rechtsauskünften halachischer Autoritäten im Judentum.

     Historische Darstellung eines Muftis von Jean-Léon Gérôme (1824-1904)   „Es gibt keinen Sieger außer Gott“: Wandfliese im Gerichtssaal der Alhambra

10
Islam und Demokratie
Demokratie bezeichnet Herrschaftsformen, politische Ordnun-         Zivilrecht – also das Ehe-, Familien- und Erbrecht – in arabi-
gen oder politische Systeme, in denen Macht, Regierung und das      schen Ländern ist grundsätzlich am Schariarecht ausgerichtet,
Recht vom Volk als Souverän ausgehen. Der Islam als private         das heißt es existiert dort kein säkulares Zivilrecht. Frauen sind
Religionsausübung oder ethisches Wertegerüst wird einer De-         dementsprechend rechtlich benachteiligt, Konvertiten und Min-
mokratie kaum entgegenstehen. Allerdings gilt das lediglich in      derheiten diskriminiert und benachteiligt.
Bezug auf den Islam als persönlicher Glaube, nicht in Bezug auf
den Islam als Rechtssystem, das Gesetze, Werte und Normen
bestimmt.

Das sogenannte positive bzw. gesatzte Recht ist das „vom            Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam
Menschen gesetzte Recht“. Gegenbegriffe sind das überpositi-        (KEMR, 5. August 1990)
ve Recht, auch als Naturrecht bezeichnet, sowie das göttliche       Die Organisation der Islamischen Konferenz – Organization of
Recht. Anschaulich erklärt ist positives Recht jenes Recht, das     the Islamic Conference (OIC), ein Zusammenschluss von 57
vom Menschen erschaffen wird, während Naturrecht vom Men-           muslimisch geprägten Staaten – verabschiedete 1990 diese
schen bloß entdeckt wird. Das positive Recht ist unvollkom-         zwischenstaatliche Menschenrechtserklärung. Die KEMR ist al-
men und jederzeit veränderbar, beansprucht jedoch als jeweils       lerdings völkerrechtlich nicht bindend und sie wird von der UNO
gegenwärtige Gestalt der Rechtsordnung zunächst einmal Be-          auch nicht als regionales Menschenrechtsinstrument anerkannt.
folgung. Es steht dann aber allen der gerichtliche Weg offen; das
positive Recht kann außerdem durch Einwirkung auf die Parla-        In der Kairoer Erklärung wird die Scharia als alleinige Grundlage
mente als Gesetzgeber neu gefasst werden.                           von Rechten und Freiheiten definiert. In Artikel 25 heißt es: „Die
                                                                    islamische Scharia ist die einzige zuständige Quelle für die Aus-
Als göttliches Recht werden Rechtsnormen bezeichnet, die nach       legung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“
Ansicht der eine Rechtsordnung beherrschenden Religion auf          Die KEMR hat eine weitgehend symbolische und indirekt men-
Rechtssetzungen Gottes oder einer göttlichen Instanz zurück-        schenrechtspolitische Bedeutung. Auf dieser Ebene markiert sie
zuführen sind (etwa auf die Zehn Gebote) und die daher unabän-      einen islamischen Gegenentwurf zur Allgemeinen Erklärung der
derlich gelten. Göttliches Recht gehört zum überpositiven Recht     Menschenrechte.
(Naturrecht) und wurde lange mit diesem gleichgesetzt.
                                                                    Im Gegensatz dazu gibt es muslimische Intellektuelle, die eine
Die Scharia ist das religiös legitimierte Rechtssystem des Islam.   Vereinbarkeit von Islam und der UN-Menschenrechtscharta
Dieses kann unmittelbar der Offenbarung entnommen werden,           durchaus begründen können. Der iranische Philosoph Abdolkarim
woraus ein Recht auf Selbstbestimmung als wesentlicher Teil         Soroush etwa verfolgt unter anderem den Ansatz, zwischen dem
einer demokratischen Ordnung nicht abgeleitet werden kann.          göttlichen Anspruch der Scharia und der mit Fehlern behafteten
Als Offenbarungsrecht im engeren Sinn gilt göttliches Recht, das    menschlichen Auslegung zu unterscheiden. Schriften und Über-
„nur im Glauben erkennbar“ ist - und daher im Grunde auch nur       lieferungen, darunter auch der Koran als eine Quelle der Scharia,
Gläubige verpflichten kann. Viele gläubige Muslime stellen das      seien von Menschen geschaffen und daher fehlbar. Die Vernunft
Offenbarungsrecht über das gesatzte, menschliche Recht und          erlaube außerdem eine neue Deutung der islamischen Quellen,
erachten es im Vergleich zur Demokratie als einzig verbindlich.     denn das, was aus der Perspektive der Vernunft gut ist, könne
Eine Trennung von Staat und Religion ist dem Islam fremd. Das       nicht im Gegensatz zum Islam bzw. einer Religion an sich stehen.

                                                                                                                                         11
12
Haus des Friedens, Haus des Krieges
Der islamische Rechtsbegriff Dar al-Islam („Haus des Islam“)          „Märtyrer“) unmittelbar in den Himmel ein, wo er von den so ge-
bezeichnet alle Gebiete unter muslimischer Herrschaft. Gegen-         nannten Paradiesjungfrauen und anderen Freuden umgeben ist.
begriff ist Dar al-Harb („Haus des Krieges“). Im Gegensatz zu
Umma (Gemeinschaft der Muslime) geht der Begriff auf keine            Nach ursprünglicher Auffassung ist es einem Muslim verboten,
Textstelle im Koran oder in der Sunna zurück. Er ist vielmehr         in der Dar al-Harb zu leben, und er muss, wenn es ihm irgendwie
eine Auslegung der Rechtsgelehrten: Gebiete, die nicht von der        möglich ist, von dort in die Dar al-Islam auswandern (Hidschra).
Umma kontrolliert werden, gelten als Dar al-Harb.                     So wie einst der Prophet Mohammed aus Mekka, bevor es isla-
                                                                      misch war, nach Medina auswanderte.
Aus politischen und ideologischen Gründen wird der Dar al-Is-
lam als „Haus des Friedens“ bezeichnet. Die Bewohner des              In späterer Zeit wurden Begriffe wie Dar as-Sulh („Gebiet mit
Dar al-Islam sind entweder Muslime oder aber sogenannte               Friedensvertrag“) geschaffen. Sie bezeichneten Gebiete, die
Dhimmis, Schutzbefohlene minderen Rechts. Nicht-Muslime               einen Vertrag mit der Dar al-Islam geschlossen hatten und tri-
aus dem Dar al-arb müssen einen zeitweiligen Schutzvertrag            butpflichtig waren. Aus diesen Gebieten mussten Muslime auch
(Aman) abschließen, wenn sie den Dar al-Islam betreten wollen,        nicht zwingend auswandern.
da sie sonst keine Rechte hätten, nicht einmal das Recht auf Le-
ben. Nach klassischer Lehre dürfen Polytheisten im Dar al-Islam
dazu gezwungen werden, den Islam anzunehmen.

Der arabische Begriff Dar al-Harb heißt wörtlich übersetzt „Haus
des Krieges“ oder besser „Gebiet des Krieges“ und bezeichnet
alle Gebiete der Welt, in denen der Islam nicht Staatsreligion ist,
die kein Gebiet des Vertrages sind. Der Begriff taucht nicht im
Koran auf, sondern geht Yusuf al-Qaradawi zufolge auf den Be-
gründer der hanafitischen Rechtsschulen Abu Hanifa (699-767)
zurück.

Kriegszüge gegen die Dar al-Harb werden aus traditioneller
Sicht des Islam nicht als Kriege betrachtet und deshalb auch
nicht als solche bezeichnet, sondern als Öffnungen. Nach tradi-
tioneller islamischer Auffassung kann es keinen Frieden mit der
Dar al-Harb geben, sondern nur einen zeitlich begrenzten Waf-
fenstillstand. Kriege gegen die Dar al-Harb werden traditionell
als Dschihad bezeichnet.

Wer den Dschihad betreibt, wird als Mudschahed bezeichnet.
Der Dschihad ist keine Pflicht des individuellen Muslims, sondern
Pflicht für die Gesamtheit der Muslime. Wer während des Dschi-
had getötet wird, geht als Schahid (wörtlich übersetzt „Zeuge“,       Weiße Tauben nahe der Blauen Moschee in Mazar-e-Sharif, Afghanistan

                                                                                                                                            13
Schwertvers
     Sure 9, Vers 5: Krieg im Namen des Islams
     Angesichts grausamer Taten, die Menschen unter Berufung                     Und wenn die heili-
     auf den Islam in der jüngeren Vergangenheit begangen haben,
     gehört die Frage nach dem Dschihad – verstanden als religiös              gen Monate abgelaufen
     legitimierter Krieg – zu einer der meist diskutierten in der Ge-
     genwart. Krieg kann laut Koran grundsätzlich gerechtfertigt sein.
                                                                                 sind, dann tötet die
     Diskutiert wurde und wird daher vor allem, wie und wann Musli-
     me zu den Waffen greifen dürfen.
                                                                                Götzendiener, wo im-
                                                                                mer ihr sie findet, und
                                                                               ergreift sie und belagert
                                                                                 sie und lauert ihnen
                                                                                aus jedem Hinterhalt
                                                                                           auf.
                                                                                                     Sure 9:5

                                                                         Der zitierte Vers wurde kurz vor dem Ableben Mohammeds of-
                                                                         fenbart. Die Muslime werden hier bedingungslos aufgerufen, die
                                                                         Polytheisten (arabisch „muschrikûn“) zu bekämpfen und zu töten.

     Als Schwertvers bezeichnet man im klassischen islamischen           Korankommentatoren argumentierten, Sure 9 Vers 5 hebe all die
     Recht und in der klassischen Koranexegese einen Teil des Ko-        früheren Verse zur Kriegsführung auf. Sie lasen aus dem Vers
     ranverses von Sure 9:5, der als juristische Begründung für den      sogar eine bedingungslose Pflicht der gesamten Gemeinde zum
     Dschihad herangezogen wurde. Die Bezeichnung Schwertvers            Kampf gegen die Polytheisten heraus. Demnach wird solange
     ist nicht koranisch und kommt auch nicht in den kanonischen         gekämpft, bis die Polytheisten den Islam annehmen – im Fall
     Hadithsammlungen vor. Sie taucht aber relativ früh in der Koran-    von Juden und Christen: Bis diese die muslimische Herrschaft
     exegese auf, vor allem in den Werken der Abrogationsliteratur.      anerkennen und bereit sind, eine Kopfsteuer zu zahlen. So be-
                                                                         sagt es Vers 29 in Sure 9, der ebenfalls Schwertvers genannt
     Der Schwertvers abrogiert gemäß der klassischen juristischen        wird: „Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und an den
     Koranexegese alle anderen Koranverse über den Umgang mit            Jüngsten Tag glauben […], bis sie eigenhändig den Tribut in voller
     Nicht-Muslimen – eine heute von Muslimen allgemein kritisierte      Unterwerfung entrichten.“
     Methode und Sichtweise. Das Prinzip der Abrogation ist ein zen-
     trales Interpretationsinstrument, um die Botschaften des Islams     Der Schwertvers wird unter islamischen Theologen äußerst kon-
     in Einklang zu bringen. Dieses Prinzip spielt eine entscheidende    trovers – sowohl mit kriegerischen als auch pazifistischen Zu-
     Rolle für die Doktrin des Dschihad.                                 gängen – diskutiert.

14
Dschihad, Mudschahed, Schahid:
Kampf auf dem Weg Gottes
Dschihad                                                            Glaubens und eine allen Muslimen auferlegte Pflicht ein wich-
Der Begriff Dschihad (auch Djihad oder gelegentlich in der eng-     tiges Glaubensprinzip des Islam dar. Manche sunnitische Ge-
lischen Schreibweise Jihad) bedeutet Anstrengung, Kampf, Be-        lehrte erachten den Dschihad als sechste der fünf Säulen des
mühung, Einsatz und bezeichnet im religiösen Sinne ein wichti-      Islams.
ges Konzept der islamischen Religion, die Anstrengung bzw.den       Im europäischen Sprachraum wird der Begriff öfter mit dem
Kampf auf dem Wege Gottes.                                          Ausdruck Heiliger Krieg übersetzt. Dem entgegnen muslimische
                                                                    Autoren, dass Dschihad semantisch nicht nur Kriegsführung
Etymologisch steht er für eine auf ein bestimmtes Ziel gerichtete   bezeichne und es nichtmilitärische Bedeutungen des Dschihad-
Anstrengung. Im Koran und der Sunna bezeichnet dieser Begriff       begriffs gebe. Sie sehen deshalb eine derartige Übersetzung als
primär militärischen Kampf. Aus dem Koran geht nicht eindeutig      falsch an und lehnen sie ab.
hervor, ob es sich dabei um einen universellen Kampf gegen An-
dersgläubige handelt oder dieser Kampf nur defensive Ziele ver-     Mudschahedin
folgt: „Das vorhandene Schriftmaterial bedarf der Interpretation,   Der Ausdruck Mudschahed, Mehrzahl Mudschahedin oder Mud-
wobei die Haltung der Interpreten von entscheidender Bedeu-         schaheddin, bedeutet arabisch „sich anstrengen“, ist von Dschi-
tung ist, die maßgeblich von den unterschiedlichen politischen      had abgeleitet und bedeutet ins Deutsche übersetzt „Kämpfer“
und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt wurde und          oder „jemand, der sich anstrengt“.
wird“, schreibt der deutsche Rechts- und Islamwissenschaftler
Mathias Rohe in seinem Buch „Das islamische Recht. Geschich-        Das Wort wird oft im Zusammenhang mit dem Islam verwendet
te und Gegenwart“.                                                  und bezeichnet dann in der Regel islamistische Kämpfer oder
                                                                    islamistische Guerilla-Gruppierungen. Islamische Widerstands-
Nach klassischer islamischer Rechtslehre (Fiqh), deren Entwick-     kämpfer und Terrorgruppen nennen sich selbst Mudschahedin.
lung in die ersten Jahrhunderte nach dem Tode Mohammeds             Der Begriff kann sich aber auch allgemeiner auf Personen bezie-
zu datieren ist, dient dieser Kampf der Erweiterung und Verteidi-   hen, die sich um die Verbreitung oder Verteidigung des Islam be-
gung islamischen Territoriums, bis der Islam die beherrschende      mühen oder individuell bestrebt sind, „Gottes Weg zu folgen“. In
Religion ist. In seiner späteren Entwicklung sowie insbesondere     diesem Sinne kann jemand, der seinen Glauben (z. B. den Islam)
im Zuge der Moderne haben muslimische Gelehrte begonnen,            studiert und diesen reinen Gewissens lebt, ein Mudschahed sein.
nichtmilitärische Aspekte dieses Kampfes zu betonen. Autoren
der Moderne sehen ausschließlich solche Kriege als legitim an,      Als Mudschahed bezeichneten sich übrigens auch die verschie-
die der Verteidigung islamischer Staaten, der Freiheit der Musli-   denen Guerilla-Gruppierungen, die von 1979 bis 1989 in Afgha-
me, den Islam außerhalb dieser zu verkünden, und dem Schutz         nistan gegen die sowjetischen Truppen und die von ihnen ge-
der Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft dienen. Dem          stützte kommunistische Regierung (Sowjetische Intervention in
entspricht ihre Auslegung entsprechender Koranverse.                Afghanistan) kämpften. Sie erhielten finanzielle und materielle
                                                                    Unterstützung vor allem von den Vereinigten Staaten, Pakistan
Der Dschihad stellt als eines der Grundgebote des islamischen       und Saudi-Arabien.

                                                                                                                                       15
Schahid
     Der Begriff Märtyrer („šhahīd“) ist im Arabischen gleichbedeu-
     tend mit Zeuge. Ein Märtyrer bezeugt durch sein Martyrium die
     Wahrheit.

     Märtyrer ist im Islam ein Muslim, der bei der Ausübung seiner Re-
     ligion von Gegnern getötet wird, sei es im Krieg zur Verteidigung
     der Muslime und der Unterdrückten oder sei es während eines
     zivilen Einsatzes, bei dem er Opfer eines Anschlages wird. Auch
     ein Pilger, wenn er während der Pilgerfahrt (Haddsch) verstirbt
     oder eine Mutter, die beim Gebären stirbt, gelten als Märtyrer.

     Der Märtyrer durchlebt keine Todeszwischenphase (Barsach),
     sondern geht direkt ins Paradies (Dschanna) ein, wo ihn 72
     Jungfrauen erwarten. Er hat die höchste Stufe der Ergebenheit
     (Taslim) vorgelebt. Der im Krieg oder durch Terror gewaltsam
     getötete Märtyrer bedarf weder der rituellen Vollkörperreinigung
     noch des Leichentuchs. Er wird so bestattet, wie er verstorben
     ist, denn er ist rein! Grundsätzlich aber gibt es im Islam keine
     Heilgewissheit für einen gläubigen Muslimen, einzige Ausnahme
     ist nur der Mudschahed selbst.                                                   Islamische Gebetsketten – es gibt sie mit elf, 33, 99 oder 1000 Perlen

     Auch jemand, der seinen Glauben studiert und reinen Gewissens lebt, kann als Mudschahed bezeichnet werden

16
Vereint und doch getrennt:
Sunniten und Schiiten
Die Sunniten bilden die größte Glaubensrichtung und Mehrheits-
strömung im Islam. Die Bezeichnung stammt von dem Wort
Sunna (Tradition des Propheten). Sie werden auch als Volk der
Tradition und der Einheit der Muslime bezeichnet, was darauf
hinweisen soll, dass sie vereinigt sind. Sie stellen einen Zweig
des Islams dar, der aus dem von Abu Bakr as-Siddiq gegründe-
ten Kalifat entstammt.

Sunniten stellen in den meisten islamischen Ländern die Mehr-
heit der Muslime, mit Ausnahme von Iran, Irak, Bahrain, Aserbai-
dschan, Oman und Libanon.

Sie lassen sich wiederum nach den sunnitischen Rechtsschu-
len (Madhhab) in Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten und Schafiiten
einteilen. Sunniten sind auch die Wahhabiten, eine sehr kon-
servative und dogmatische Richtung des sunnitischen Islams
hanbalitischer Richtung. Wahhabismus ist die Staatsreligion
Saudi-Arabiens.

Der Prophet Mohammed hinterließ keine männlichen Nach-
kommen, die sein religiöses und politisches Lebenswerk hätten
fortführen können. Sunnitische Geschichtsquellen sagen: Der
Prophet bestimmte weder einen Nachfolger noch hinterließ er
Richtlinien für die Suche. Das führte rasch zum Schisma, einer
Glaubensspaltung der ersten Gemeinde und zu einem regel-
rechten Bürgerkrieg.

Die konkurrierenden Gefährten des Propheten benannten durch
eine Art Ältestenrat den ersten Kalifen Abu Bakr as-Siddiq. Er galt
als treuer Anhänger Mohammeds und war durch seine Tochter
Aisha, die Lieblingsehefrau Mohammeds, ein Schwiegervater
Mohammeds.
Nach sunnitischer Überlieferung soll Abu Bakr vor seinem Tod ei-
nen Nachfolger ernannt haben, nämlich Umar Ibn al-Chattab, der        Die Glaubensspaltung erfolgte nach seinem Tod: Ali Ibn Abi Talib

                                                                                                                                         17
Bekannte Darstellung von Hasan (links) und Husain ibn Ali in Maschhad, Iran   Tafeln mit Kalligrafien zu Imam Hasan (rechts) und Uthman in der Hagia Sophia, Istanbul

     dann auch zehn Jahre lang (634–644) mit eiserner Hand die                     nämlich hatte der Prophet drei Monate vor seinem Tod den Vet-
     zerstrittenen Vertreter des Islams unter seine Kontrolle brach-               ter Ali zum rechtmäßigen Nachfolger ernannt. Zwei koranische
     te. Durch die Eheschließung des Propheten mit Umars Tochter                   Stellen (Sure 33:33 und 42:24) belegen laut späterer schiitischer
     Hafsa war auch er ein Schwiegervater Mohammeds. Er wurde                      Koranexegese den Leitungsauftrag an die blutsverwandte Fami-
     schließlich von einem unzufriedenen muslimischen Sklaven ge-                  lie des Propheten (Ahl al-Beit). Dass Ali trotzdem nicht unmit-
     tötet. Noch auf dem Totenbett berief er ein sechsköpfiges Be-                 telbar dem Propheten nachfolgte, sahen die Schiiten als Ergeb-
     ratungsgremium aus Gefährten der ersten Stunde ein, darunter                  nis sunnitischer Intrigen. Nach dem Tod Alis richteten sich ihre
     Ali und Uthman Ibn Affan. Auf Letzteren fiel die Wahl zum Nach-               Hoffnungen nun auf dessen Söhne Hasan und Husain. Doch die
     folger. Auch in seiner Regierungszeit (644–656) kam es zu politi-             kamen nicht an die Macht, und im Jahr 680 wurde Hussein, der
     schen Tumulten, denn man warf ihm Nepotismus vor: die Beset-                  jüngste Sohn, im Irak durch sunnitische Machthaber grausam
     zung der wichtigsten Positionen im neu entstehenden Reich mit                 getötet, ebenso sämtliche männliche Begleiter. Diese Morde be-
     Angehörigen seines Clans. Am Ende wurde Uthman von unzu-                      gründeten den Märtyrerkult der Schiiten.
     friedenen Muslimen in seinem Haus belagert und dort ermordet.
     Und weiter? Nachfolger wurde der Vetter und Schwiegersohn                     Seither sehen sie sich als verfolgte Minderheit. Tatsächlich sind
     des Propheten Ali Ibn Abi Talib (600–661). Er spielte keine gro-              heute nur etwa 15 Prozent aller Muslime Schiiten. Die bedeu-
     ße politische Rolle, galt aber als religiöse Autorität. Würde er die          tendste und zahlenmäßig größte Gruppe unter den Schiiten ist
     wachsenden Konflikte entlang der Stammes- oder Clangrenzen                    die Zwölfer-Schia. Der Name bezieht sich auf eine Reihe von
     befrieden? Den Forderungen nach Blutrache am Mörder Uth-                      zwölf Imamen, religiösen Führern aus der Familie des Prophe-
     mans gab er nicht nach, doch auch seine Amtszeit (656–661)                    ten, beginnend mit Ali. Der zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi,
     war ein Desaster mit drei blutigen Kriegen. Auch Ali wurde er-                ist nach ihrer Auffassung nicht gestorben, sondern lebt seit frü-
     mordet.                                                                       her Kindheit durch Gottes Wunder im Verborgenen. Mit seiner
                                                                                   Rückkehr verbinden die Schiiten die Hoffnung auf eine gerechte
     Glaubensspaltung                                                              Herrschaft. Unterdessen bleiben die Grabmäler der anderen elf
     Daraufhin vollzog sich das eigentliche Schisma zwischen Sun-                  Imame wichtige Pilgerstätten und dem Tag der Ermordung Alis
     niten und Schiiten. Nach Meinung der Schiiten (der Partei Alis)               wird mit Passionsspielen gedacht.

18
Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten waren an-             dessen designierten Nachfolger (Kalif), jedoch politisch und
fänglich nicht theologischer Natur, sondern entsprangen der           nicht religiös betrachtet, und als ihren ersten Imam. Ihrem Glau-
Frage, wer die Gemeinschaft der Muslime leiten soll. Bei den          ben nach kann die Prophetennachfolge nur von einem Nachfah-
Sunniten bildete sich das Kalifat heraus, bei den Schiiten das        ren Alis bzw. einem Imam erfolgen, da dieser als einziger göttlich
Imamat. Beide Konfessionen bekämpfen sich in einigen Ländern          legitimiert sei. In den Jahrhunderten nach dem Tod des Prophe-
wie Irak oder Indien und sind teilweise tödlich verfeindet.           ten Mohammed und der politischen Abspaltung der Sunniten
Die Mehrheit der Muslime, die Sunniten, berufen sich auf den          wurde außerdem die theologische Lehre der Schiiten in einzel-
Kalifen (vom Arabischen „chalifa“, „Stellvertreter/Nachfolger“),      nen Aspekten weiterentwickelt, so dass sich schiitisches Recht
also eine fähige Person, die die Muslime führt und anfangs durch      heute in Teilen von sunnitischem Recht unterscheidet. Im Laufe
Konsens gewählt oder ernannt wurde. Die ersten drei Kalifen           der Zeit kamen dann weitere Unterschiede hinzu, besonders im
Abu Bakr, Umar und Uthman waren Gefährten des Propheten.              Hinblick auf die schiitischen Imamiten, weniger im Hinblick auf
Ihnen folgte Imam Ali als der vierte Kalif. Diese vier sind für die   die ebenfalls schiitischen Zaiditen.
Sunniten die „rechtgeleiteten Kalifen“. Demnach wird Ali von den
Sunniten nur als solcher anerkannt. In späteren Dynastien, z.B.       Strömungen in der Schia
bei den Umayyaden und Abbasiden, wurde das Kalifat vererbt;           Heute stellen die Schiiten ca. 15 Prozent der Muslime (Stand
Söhne, Brüder oder Vettern konnten ernannt werden. Die letzten        2013, die Spanne in der Literatur reicht von 10 bis 25 Prozent). In
Kalifen waren die Sultane der Dynastie der Osmanen. Das Kalifat       der Schia haben sich unterschiedliche Strömungen herausgebil-
wurde 1924 von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der säku-           det, die jeweils eine verschiedene Anzahl von Imamen akzeptie-
laren Republik der Türkei, abgeschafft.                               ren. Die Staaten, in denen die Schiiten die Bevölkerungsmehrheit
                                                                      stellen oder eine einflussreiche Minderheit sind, werden manch-
Die Anhänger der Schia, die Schiiten, betrachten Alī ibn Abī Tālib,   mal unter dem Begriff „Schiitischer Halbmond“ zusammenge-
den Schwiegersohn und Vetter des Propheten Mohammed, als              fasst.

Das Grab Uthmans auf dem Friedhof Dschannat-ul-Baqi in Medina

                                                                                                                                            19
Die meisten Schiiten erkennen die ersten drei Kalifen nicht an und             fallen die beiden Begriffe bedeutungsmäßig nicht völlig zusam-
     behaupten, dass die rechtmäßigen Nachfolger aus der Familie                    men, denn im Mittelalter gab es neben der Zwölfer-Schia noch
     des Propheten stammen sollten. Sie berufen sich auf mündliche                  verschiedene andere imamitische Gruppierungen.
     Überlieferungen (Hadithen). Da Mohammed keinen Sohn hatte,
     den er ernennen hätte können, wurde zunächst Ali als Nach-                     Die Zaiditen bilden innerhalb des Islams einen Zweig der Schi-
     folger ernannt und später die Söhne aus seiner Ehe mit Fatima,                 iten. Sie sind nach Zaid ibn Ali benannt, einem Enkel des Pro-
     der Tochter Mohammads. Ali, seine Söhne und deren männliche                    phetenenkels Husain, der sich 740 in Kufa gegen die Herrschaft
     Nachkommen sind die Imame (arab. „Vorsteher“). Die Schiiten                    der Umayyaden erhob und dabei den Tod fand. Die Zaiditen ver-
     folgten somit dem Imamat. Die Imame, insgesamt zwölf an der                    fügen über eine eigene Rechtsschule und sind seit dem 9. Jahr-
     Zahl, sind für die Schiiten unfehlbar. Mit Schiiten sind im Sprach-            hundert vor allem im Jemen verwurzelt, wo ihre Imame bis 1962
     gebrauch die Zwölfer-Schiiten gemeint, die es hauptsächlich im                 über ein selbstständiges Fürstentum herrschten.
     Iran und im Irak gibt. Es gibt auch Schiiten, die sich bis heute auf
     weniger oder mehr Imame berufen.                                               Die Zaiditen werden manchmal auch Fünfer-Schiiten genannt,
                                                                                    doch ist diese Bezeichnung irreführend, weil anders als bei den
     Die Zwölfer-Schia ist eine Gruppierung, die im frühen 10. Jahr-                Zwölfer-Schiiten die Anzahl der Imame bei den Zaiditen nicht auf
     hundert im Irak entstanden ist und nach deren Lehre es zwölf                   eine bestimmte Anzahl beschränkt ist. In der wissenschaftlichen
     Imame gibt; der letzte von ihnen soll in der Verborgenheit leben,              Literatur zur Schia wird diese Bezeichnung auch nicht verwen-
     aber am Ende der Zeiten zurückkehren, um in Gerechtigkeit zu                   det.
     herrschen. Die Zwölfer-Schiiten bilden mit 85 Prozent Anteil die
     überwältigende Mehrheit der Schiiten, weshalb man sie häufig                   Die Ismailiten sind ein Zweig des schiitischen Islams, die sich
     auch nur ganz allgemein als die Schiiten bezeichnet.                           durch eine spezielle Imamreihe auszeichnen. Die etwa 18 Mil-
     Anhänger der Zwölfer-Schia leben in der Gegenwart vor allem in                 lionen Ismailiten leben heute vorwiegend in Indien (vor allem in
     Iran, im Irak, in Aserbaidschan, Bahrain, Libanon, Kuwait, Pakis-              den Bundesstaaten Gujarat und Maharashtra), Pakistan (Hun-
     tan, Afghanistan, Saudi-Arabien, Syrien und in Indien. Die Zwöl-               za), Afghanistan, Tadschikistan, Syrien, im Jemen, im Iran, in
     fer-Schiiten werden auch als Imamiten bezeichnet, allerdings                   Oman, Bahrain, in der Osttürkei, in Ostafrika sowie verstreut in

     Die Jamkaram-Moschee in Ghom (Iran) – hier soll sich der zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi, zurückgezogen haben und eines Tages einem Brunnen entsteigen

20
der westlichen Welt – insgesamt in mehr als 25 Staaten. Die
heutigen Ismailiten sind in mehrere Gruppen aufgespalten, von
denen die Nizariten und die Musta‘lī-Taiyibiten die zahlenmäßig
bedeutendsten sind.

Die Ismailiten werden manchmal in Gegenüberstellung zu den
Zwölfer-Schiiten als Siebener-Schiiten bezeichnet, doch diese
moderne Bezeichnung ist ebenfalls irreführend, weil sie den An-
schein erweckt, als rechne die Gruppe nur mit einer Reihe von
sieben Imamen. Dies trifft jedoch nur auf einzelne frühe ismailiti-
sche Gruppen wie die Qarmaten zu. Die anderen ismailitischen
Gruppen haben dagegen die Reihe der Imame weitergeführt.
Den nizaritischen Ismailiten gilt zum Beispiel der derzeitige Agha
Khan als der 49. Imam. Aufgrund seiner Unrichtigkeit wird heute
dazu geraten, den Begriff Siebener-Schiiten als Bezeichnung für
die Ismailiten ganz zu vermeiden.

Aleviten und Alawiten
Aleviten sind eine auf das 13./14. Jahrhundert zurückgehende,
in Anatolien entstandene Religionsgemeinschaft, die Ähnlich-
keiten mit dem schiitischen Islam aufweist. Man unterscheidet
ethnisch türkische und kurdische Aleviten.

Aleviten (türkisch Alevî, kurdisch und zazaisch Elewî; aus dem
Arabischen „Anhänger Alis“‘) sind Mitglieder einer vorwiegend
in der Türkei beheimateten Glaubensrichtung, die mit dem Zu-
zug von turkmenischen Stämmen nach Anatolien entstand. Sie
stellen die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei, schätzungs-
weise 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung, dar. Ob das Aleviten-
tum in seiner heutigen Form dem Islam zuzuordnen ist oder eine
eigenständige Religion darstellt, ist in der Forschung und unter
den Aleviten selbst umstritten. Eine Beziehung zum schiitischen
Islam lässt sich über den Schah Ismail I. herstellen.

Ziel eines Aleviten ist die Erleuchtung und Vollkommenheit durch
Werte wie Nächstenliebe, Bescheidenheit und Geduld. Humanis-
mus und Universalismus prägen den alevitischen Glauben.
Die Mehrheit der für Sunniten und Schiiten geltenden Verbote
und Gebote aus dem Koran werden von Aleviten nicht befolgt.
Die grundlegenden Unterschiede zwischen Aleviten und Sunni-
ten sind seit der osmanischen Zeit der (Haupt-)Grund der Unter-
drückung und Verfolgung der Aleviten.

                                                                      21
Die Religion an sich wird als Alevitentum oder seltener Alevis-       mente aus Zentralasien und anderen religiösen Traditionen, zum
     mus bezeichnet. Aleviten wurden früher, insbesondere im his-          Beispiel aus dem Christentum enthalten. Das Alevitentum wurde
     torischen Kontext der Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts,        von Mystikern („Sufis“) geprägt, Literatur und Litanei sind Tür-
     als Kizilbasch (Kızılbaş) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist heute     kisch. Es ist eine offene Gemeinschaft, Frauen und Männer sind
     eher außer Gebrauch gekommen.                                         gleichwertig, beide beteiligen sich an religiösen Zeremonien.
                                                                           Die fünf Grundregeln des Islam, unter anderem das Ritualgebet
     Die türkischen Aleviten sind nicht identisch mit den gleichnami-      in der Moschee, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt,
     gen Alawiten in Syrien, die in der Türkei auch arabische Aleviten     werden esoterisch ausgelegt und nicht praktiziert. Der Koran ist
     genannt werden und früher als Nusairier bezeichnet wurden.            nach Ansicht der Aleviten verfälscht worden und wird nicht ak-
     Das Wort alevî kann im Türkischen als Synonym zu Schiit an-           zeptiert. Sie gehen nicht in die Moschee, sondern vollziehen ihre
     gesehen werden, bezeichnet meist aber, und im nichttürkischen         rituellen Tänze als Gottesdienst im „Haus der Versammlung“
     Schrifttum so gut wie ausschließlich, die Aleviten.                   (Cemevi). Bis heute werden die Aleviten und ihre Cemevis nicht
                                                                           offiziell vom türkischen Staat anerkannt.
     Bei den Alawiten handelt es sich um einer schiitischen Sonder-
     gemeinschaft mit Hauptsiedlungsgebiet in Kilikien und Westsy-         Das Alawitentum hingegen ist arabischen Ursprungs und im
     rien, in der Zeit zwischen 1840 und 1918, also in der Zeit des        9. Jahrhundert innerhalb des schiitischen Islams im Irak ent-
     spätosmanischen Reiches. Die Nusairier sind die heutigen Ala-         standen. In der Schia gab es damals verschiedene Strömungen,
     witen in Syrien, nicht zu verwechseln mit den Aleviten in der Tür-    die die Göttlichkeit der Imame hervorhoben. Vor allem Imam Ali
     kei. Die Begrifflichkeiten sind für Laien kompliziert, so geht auch   wurde als göttliche Inkarnation oder Gott selber angesehen, der
     in der medialen Berichterstattung über die aktuelle Situation in      alles erschaffen hat und der dem Prophet Mohammed über-
     Vorderasien vieles durcheinander.                                     geordnet war. Aufgrund dieser Lehre, oder Irrlehre gemäß den
                                                                           Sunniten, wurden diese schiitischen Gruppen als „Übertreiber“
     „Alawi“ und „Alevi“ – man sagt auch Alawite und Alevite – sind        (arab. ghulat) oder „extreme Schia“ bezeichnet und als Häreti-
     eigentlich ein und dasselbe Wort, das erste ist Arabisch ausge-       ker abgestempelt. Die Alawiten gehören dieser Strömung an und
     sprochen und das zweite Türkisch. Beides wird von „Ali“ abge-         bilden die einzige Gruppe, die all die Verfolgungen durch die Sun-
     leitet: Es ist jemand, der Imam Ali, dem Vetter und Schwieger-        niten überlebt haben. Sie waren zunächst als Nusairier bekannt.
     sohn des Propheten Mohammed, folgt und ihn verehrt, also ein          Diese Bezeichnung geht auf einen gewissen Muhammad ibn
     „Ali-Anhänger“. Jemand der Ali folgt, ist Schiite und somit sind      Nusair zurück, einem Gefährten des elften Imam Hasan al-As-
     wir wieder bei der Kernfrage, die die Sunniten von den Schiiten       kari, einem Nachfahren Alis. Ibn Nusair wird nachgesagt, dass er
     unterscheidet: Wer ist der rechtmäßige Nachfolger von Moham-          dem Imam Göttlichkeit zugesprochen hätte, von ihm als Prophet
     med?                                                                  erkoren wurde und auch sein „Tor“ (arab. bab) sei: Die Gläubi-
                                                                           gen würden nur durch ihn zum Imam gelangen. Nach Ibn Nusair
     Die Sunniten berufen sich auf den Kalifen, die Schiiten auf den       haben einige Männer die Glaubensinhalte erweitert und somit
     Imam. Obwohl sich die arabischen Alawiten in Syrien und die           eine Theologie erschaffen, in deren Zentrum die Göttlichkeit Alis
     türkischen und kurdischen Aleviten in der Türkei auf Imam Ali         steht. Sie sind die eigentlichen Gründer des Nusairi-Glaubens
     und die nachfolgenden elf Imame berufen, sind das Alawitentum         und haben ihre Sekte später in Syrien durch aktive Missionierung
     und das Alevitentum zwei verschiedene religiöse Traditionen.          verbreitet. Später, als sie durch sunnitische Dynastien verfolgt
                                                                           wurden, zogen sich die Nusairier in die Berge im Westen Syriens
     Unterschiedlich gelebter Glaube                                       hinter Latakia zurück. Die Berge sind als Nusairier-Berge oder
     Das Alevitentum ist eine Religionsgemeinschaft, die im 13./14.        Alawiten-Berge bekannt. Bis heute ist diese Region das Kern-
     Jahrhundert in Anatolien entstanden ist und hat schiitische           land der Alawiten. Es gibt auch Alawiten in der Südtürkei in der
     Wurzeln; es sind aber auch vorislamische schamanistische Ele-         Provinz Hatay und westlich davon in Adana und Mersin.

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Weitere Strömungen im Islam
Sufismus                                                            doch, dass sich der Sufismus zu seiner vollen Blüte erst ab dem
Sufismus (auch Sufitum oder Sufik) ist eine Sammelbezeich-          Auftreten des Propheten Mohammed entwickelt habe, und dass
nung für Strömungen im islamischen Kulturkreis, die asketische      der Islam die geeignetsten metaphysischen Instrumente für die
Tendenzen und eine spirituelle Orientierung aufweisen, die oft      geistige und seelische Entwicklung des Menschen bereithalte.
mit dem Wort Mystik bezeichnet wird. Einen Anhänger des Su-
fismus nennt man Sufi, Sufist oder Derwisch. Für die Ausarbei-      Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Überlieferung schon
tung ihrer praktischen und theoretischen Lehren, die eine Einheit   zu Lebzeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert ge-
alles Existierenden annehmen, beziehen sich die Sufis auf einen     geben haben. Sie sollen oft als einzelne Asketen gelebt haben. In
„inneren Sinn“ des Korans und insbesondere auf Verse, welche        der Stadt Basra im heutigen Irak lebte und wirkte Rabia al-Ada-
sich auf eine individuelle Beziehung oder Unmittelbarkeit zu Gott   wiyya (714 oder 717/718–801), eine der bedeutendsten weib-
beziehen lassen, sowie auf die Sunna, die in diesem Sinne als       lichen Sufis. Es wird angenommen, dass sie nie heiratete, allem
Vorbild gedeutet werden.                                            Weltlichen entsagte und sich selbst auferlegte, keinen Wohnsitz
                                                                    zu haben und stets zu fasten.
Bis zum 9. Jahrhundert waren die Sufis eine asketische Rand-
gruppe im heutigen Irak. Ab dem 10. Jahrhundert wurden sys-         Islamismus
tematische Handbücher zum spirituellen Weg des Sufi ausgear-        Es handelt sich hier um einen Begriff aus den Sozialwissen-
beitet, welche die Nähe zum orthodoxen Sunnitentum betonen.         schaften, der seit den 1970er-Jahren zur Charakterisierung von
Der Sufismus war in der Geschichte einer der wichtigsten Fakto-     verschiedenen Ideologien und Bewegungen mit einem spezi-
ren bei der Gewinnung von Nicht-Muslimen für den Islam.             fischen Verständnis des Islam verwendet wird. Zur Frage der
                                                                    Abgrenzung des Begriffs Islamismus von anderen Begriffen wie
Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbin-          Islam, Islamischer Fundamentalismus, Islamistischer Terroris-
dung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer      mus und Politischer Islam existieren sehr unterschiedliche Aus-
Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus        legungen.
älter ist als der geschichtliche Islam. Sufis selbst betonen je-
                                                                    Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbe-
                                                                    kämpfung (BVT) definiert den Begriff des Islamismus als religiös
                                                                    motivierte Form des politischen Extremismus. Islamisten sehen
                                                                    in den Schriften und Geboten nicht nur Regeln für die Ausübung
                                                                    der Religion, sondern auch Handlungsanweisungen für eine is-
                                                                    lamische Staats- und Gesellschaftsordnung. Ein Grundgedan-
                                                                    ke dieser Ideologie ist die Behauptung, alle Staatsgewalt könne
                                                                    ausschließlich nur von Gott ausgehen. Damit richten sich islami-
                                                                    sche Bestrebungen gegen die Wertvorstellungen, insbesondere
                                                                    gegen die freiheitliche, demokratische Grundordnung. Islamis-
                                                                    ten halten diese Gesellschaftsordnung für unabdingbar. Dieser
                                                                    Ordnung sollen letztlich sowohl Muslime als auch Nicht-Musli-
                                                                    me unterworfen werden.
Traditionell gekleideter Derwisch                                   Französische Wissenschaftler und Journalisten sahen sich in

                                                                                                                                        23
den 1970er-Jahren vor der Herausforderung, den politisch-fun-       zurück, dessen Wirken Nagel zufolge „von Anfang an ein ent-
     damentalistischen und extremistischen Islam korrekt zu be-          schiedenes Streben nach Dominanz über alle anderen Men-
     schreiben und einzuordnen. Dieses Bestreben wurde maß-              schenverbände“ innewohnte, weil es sich „als unerschütterbar
     geblich ausgelöst durch die Anwesenheit und das Wirken des          wahr und endgültig richtig auffasste. Die Anwendung von Ge-
     schiitischen Ruhollah Chomeini in Paris sowie die in Ägypten        walt zur Selbstbehauptung und dann zur Unterwerfung anderer
     und Algerien aufkeimenden Protestbewegungen, die sich auf ein       Gemeinschaften, die eben nicht islamische waren, ist demge-
     fundamentalistisch ausgelegtes Islamverständnis bezogen. Der        mäß ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Merkmal der
     Sozialwissenschaftler Gilles Kepel veröffentlichte 1984 in Frank-   Geschichte des Wirkens Mohammeds in Medina.“
     reich das Buch „Le Prophète et Pharaon. Les mouvements isla-
     mistes dans l’Égypte contemporaine“. Mit der Übersetzung des        Andere Kritiker sehen in der Abgrenzung des Islamismus vom
     Buches ins Englische begann sich der Begriff, nach anfänglicher     Islam ein Konstrukt, um den Islam vom Gewaltvorwurf zu ent-
     Übertragung des französischen Islamiste als Islamicist, immer       lasten. So schreibt der Journalist Henryk M. Broder in seinem
     stärker durchzusetzen. In der Mitte der 1990er-Jahre war der        Buch „Hurra, wir kapitulieren!“, der Unterschied zwischen Islam
     Begriff schließlich auch in der außerfranzösischen Forschung        und Islamismus sei so wie der zwischen Alkohol und Alkoho-
     weit verbreitet.                                                    lismus: „Die vom Westen erfundene Differenzierung zwischen
                                                                         Islam und Islamismus ist politisch gewollt […] Darum wird ver-
     Der deutsche Politologe Armin Pfahl-Traughber nannte 2011 in        sucht, jene Elemente im Islam zu verharmlosen oder zu verber-
     einem Dossier für die Bundeszentrale für politische Bildung fol-    gen, die gemäß den westlichen Wertvorstellungen als inkompa-
     gende Punkte als typische Merkmale des Islamismus:                  tibel gesehen werden.“

     1. Absolutsetzung des Islam als Lebens- und Staatsordnung           Salafismus
     2. Gottes- statt Volkssouveränität als Legitimationsbasis           Salafismus gilt als eine ultrakonservative Strömung innerhalb
     3. Der Wunsch nach ganzheitlicher Durchdringung und                 des Islams, die eine sogenannte geistige Rückbesinnung auf die
        Steuerung der Gesellschaft                                       „Altvorderen“ (arabisch salaf, „Vorfahre“ „Vorgänger‘) anstrebt.
     4. Homogene und identitäre Sozialordnung im Namen des               Der Ausdruck bezeichnet auch bestimmte Lehren des sunniti-
        Islam                                                            schen Islams. Diese orientieren sich nach ihrem Selbstverständ-
     5. Frontstellung gegen den demokratischen Verfassungsstaat          nis an der Zeit der „Altvorderen“. Unter den zeitgenössischen
     6. Potenzial zu Fanatismus und Gewaltbereitschaft                   Strömungen zählen einerseits die Schülerschaft Muhammad

     Der deutsche Islamwissenschaftler Tilman Nagel vertrat 2005 in
     seinem Essay „Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenz-
     ziehung“ die Meinung, eine Unterscheidung zwischen Islam und
     Islamismus sei „ohne Erkenntniswert“. „Islam und Islamismus
     sind so lange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sun-
     na als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“,
     scheibt Nagel. Er verwendet das Wort „Islamismus“ und setzt in
     seiner Argumentation den Begriff letzten Endes mit dem ortho-
     doxen Islam gleich. Nagel argumentiert, der Islam sei von Hause
     aus – mit Ausnahme der Mu‘tazila – fundamentalistisch. Der
     Islam richte sich nicht wie das Christentum in einem bestehen-
     den Staat ein, sondern gründe „einen eigenen“. Historisch führt
     Nagel dies auf die frühislamische Gemeinde unter Mohammed           Proteste fundamentalistischer Muslime in Jakarta (Indonesien) im Jahr 2016

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