ISLAM Vielfalt & Riten - Religion zwischen Tradition und Moderne - GEMEINSAM.SICHER Graz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Inhalt Die fünf Säulen des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Trilogie des Islam: Koran, Sira, Hadithen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Glaube im Widerspruch: Dualismus im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Religiöses Gesetz: Scharia, Fiqh und Fatwa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Islam und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Haus des Friedens, Haus des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Schwertvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Dschihad, Mudschahed, Schahid: Kampf auf dem Weg Gottes . . . . . . . . . . . 15 Vereint und doch getrennt: Sunniten und Schiiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Aleviten und Alawiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Weitere Strömungen im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Der Umgang mit Anders- und Nichtgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Islam im Alltagsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Internationale Organisationen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Islam in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Wichtige Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Exkurs: Abrahamitische Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Auflage, Februar 2018 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wurde zum Großteil auf Diakritika verzichtet. Dasselbe gibt für eine geschlechtsneutrale Schreibweise. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter bzw. für alle Menschen. Impressum Herausgeber: Verein GEMEINSAM.SICHER in Graz, ZVR: 066269364; Adresse: c/o Sicherheitsinformationszentrum Graz, Keplerstraße 25, 8020 Graz • Redaktion: Mag. Josef Klamminger, Werner Miedl, Linda Trinkl • Layout und Gestaltung: netWERKER Mediahaus, 8551 Wies; www.netwerker.at • Druck: Druck.at 3
Vorwort Der Islam als Teil einer pluralistischen Ge- Zur Person: sellschaft ist Vielfalt, ist Religion, ist sozial- Mag. Josef Klamminger, ge- boren 1955, trat im Jahr 1976 wissenschaftlich Lebens- und Staatsform, ist in den Polizeidienst ein. Er war mekkanisch und abrogierend medinensisch. mehrere Jahre lang in Graz im Es spannt sich der Bogen vom mystisch-spi- exekutiven Außendienst – unter rituellen Sufismus über den Mainstream und anderem bei der Polizei Eggen- puristischen Salafismus, ferner Wahhabis- berg und in der Karlauerstraße – tätig. In den 80er-Jahren ab- mus, einer besonderen Form des politischen solvierte Klamminger berufs- Islamismus in Saudi Arabien, bis hin zum begleitend das Jus-Studium, dschihadistischen Salafismus, Terrorismus. nach dem Abschluss wechselte Friedlich und unfriedlich zugleich lässt der er im Jahr 1990 als Kommissär Islam innewohnende Widersprüche als duale Besonderheit in die Sicherheitsverwaltung der damaligen Bundespolizeidirek- nebeneinander bestehen. Vordergründig gilt es, zwischen den tion Graz. Ab dem Jahr 2000 Konfessionen Sunniten, Schiiten, Alewiten und Alawiten zu fungierte Klamminger als Leiter unterscheiden. der Sicherheitsdirektion Steier- Integration bedeutet Zusammenfließen zu einem neuen mark, dem auch das Landesamt Ganzen, heißt miteinander unter dem Dach der Demokratie, für Verfassungsschutz unterstellt war. Zu dieser Zeit begann er, verlangt Kenntnis und Wissen über die jeweils andere Kultur, sich verstärkt für Extremismus verlangt Toleranz, die wohl schon innerhalb der eigenen Kom- zu interessieren und sein Wissen mune zu beginnen hat. darüber zu vertiefen. Im Zuge der Dem Gebot der Sachlichkeit folgend versteht sich die vor- Behördenreform im Jahr 2012 liegende Broschüre als Erläuterung und Zusammenfassung und der damit verbundenen Im- plementierung der Landespolizei- von Begrifflichkeiten und bezieht sich ausschließlich auf direktion wurde Klamminger zum öffentliche Quellen. steirischen Landespolizeidirektor ernannt. Mit Ende 2017 trat er in Mag. Josef Klamminger den Ruhestand. 4
Die 5 Säulen des Islam 1. Das Glaubensbekenntnis Tage kürzer als der Sonnenkalender, deshalb findet der Rama- Das Glaubensbekenntnis lautet „Es gibt keinen Gott außer Allah dan jedes Jahr zu einer anderen Zeit statt. und Mohammed ist sein Prophet“. Das öffentliche Aussprechen Kranke Menschen, stillende Frauen und Reisende zum Beispiel der Formel bildet die erste Säule. Außerdem ist sie fester Be- sind vom Fasten befreit, sollten es aber später nachholen. standteil jedes rituellen Gebetes. Man nennt das Glaubensbe- Kleine Kinder fasten in der Regel auch nicht. Am Ende des Ra- kenntnis auch Schahāda. madans wird das Zuckerfest gefeiert, eines der wichtigsten Fes- te im Islam. 2. Das Gebet Fünfmal sollte ein Moslem am Tag beten. Vor Sonnenaufgang, 4. Soziale Pflichtabgabe am frühen Vormittag, am Mittag, vor Sonnenuntergang und vor Eine weitere Säule des Islam ist die Unterstützung der Bedürf- Mitternacht. Es ist in Ausnahmefällen, zum Beispiel auf Reisen, tigen, auch Zakāt genannt. Muslime, die nicht selbst hoch ver- gestattet, das Mittags- und das Nachmittagsgebet sowie das schuldet sind oder unter dem Existenzminimum leben, sollen in Abend- und Nachtgebet zusammenzulegen, sodass nur dreimal der Regel 2,5 Prozent ihres „ruhenden Netto-Kapitalvermögens“ täglich gebetet werden muss. Diese Regelung gilt bei den Schi- spenden. iten, nicht jedoch für alle Sunniten. Muslime beten in Richtung Mekka und verbinden dies mit be- Die soziale Pflichtabgabe soll in erster Linie an arme Menschen stimmten Bewegungen, wie zum Beispiel sich verbeugen, nie- gehen, kann aber auch zum Beispiel als Werbung für den Islam derknien und aufstehen. Bei der vor dem islamischen Gebet verwendet werden. Die Spende fördert die soziale Sicherheit und vorgeschriebenen rituellen Reinigung wäscht man sich unter das Gemeinschaftsgefühl zwischen den Menschen. Sie ist ein anderem das Gesicht, die Hände und die Füße. wichtiger Bestandteil jeder islamischen Gesellschaft, da sie je- dem Menschen die Lebensgrundlage sichert, ohne dass sich der 3. Das Fasten Empfänger jemandem verpflichtet fühlen muss. Die Spende wird Etwa 30 Tage soll ein Muslim während des Monats Ramadan gleichzeitig als eine Art Reinigung angesehen. fasten. Der Ramadan hat für Muslime eine besondere Bedeu- tung: In diesem Monat ist der Koran als Rechtleitung für die 5. Die Pilgerfahrt nach Mekka Menschen herabgesandt worden; dieser Zeitraum soll als ein Einmal im Leben sollten Muslime eine Pilgerfahrt nach Mekka Monat der inneren Einkehr und Besinnung für jeden einzelnen unternehmen, wenn sie dazu körperlich und finanziell in der Lage Muslim verstanden werden. Von Tagesanbruch bis Sonnen- sind. Jedes Jahr im zwölften Monat des islamischen Kalenders untergang ist es verboten zu essen, zu trinken, zu rauchen oder treffen sich bis zu drei Millionen Muslime in Mekka. Dort befindet Geschlechtsverkehr zu haben. sich auch die Kaaba, ein wichtiges Heiligtum des Islam. Gott, so Der Ramadan ist der neunte Monat des islamischen Kalenders. die Überlieferung, befahl Abraham und seinem Sohn Ismael, die Dieser richtet sich nach dem Mond. Er ist pro Jahr zehn oder elf Kaaba zu bauen. 5
Die Trilogie des Islam: Koran, Sira, Hadithen Man ist geneigt, den Islam auf der Grundlage des Korans zu be- greifen, obwohl dieser lediglich 14 Prozent der gesamten islami- schen Lehre repräsentiert und nur schwer verständlich ist. Der Prophet Mohammed ist deshalb der Schlüssel, um den Islam zu verstehen. Wir können in seiner Biographie, der sogenannten Sira, und seinen Bräuchen bzw. Verhaltensweisen, den Hadithen, lesen. Sira und Hadithen sind unter dem Begriff Sunna – dies bezeichnet die prophetische Tradition im Gesamten – zusam- mengefasst. Koran, Sira und Hadithen zusammen werden als Trilogie bezeichnet. Der Koran ist kein Bericht über das Leben eines Propheten, son- dern versteht sich als direkte, verschiedenen Anlässen entspre- chende Offenbarung Gottes und ist die erste Quelle des Islam. Er ist als heilige Schrift einzig nur in der arabischen Urform gültig und beinhaltet 114 Kapitel (Suren). Es wird zwischen mekkanischen und medinensischen Suren unterschieden. Die mekkanischen Suren wurden demnach in Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des der Zeit zwischen Mohammeds Berufung zum Propheten um Barmherzigen. Alles Lob gehört Allah, 610 bis zum Jahr 622 herabgesandt, die medinensischen da- nach. Dabei bezieht sich die Bezeichnung mekkanisch bezie- dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, hungsweise medinensisch nicht unbedingt auf den Ort, an dem dem Barmherzigen, dem Herrscher am die Offenbarung stattgefunden hat, sondern vielmehr auf den Tag des Gerichts. Dir allein dienen wir, Hauptwirkungsort des Propheten. Vor 622 handelt es sich da- bei um Mekka und nach 622 um Medina. Thematisch behandeln und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. die mekkanischen Suren hauptsächlich Geschichten und Ereig- Leite uns den geraden Weg, den Weg der- nisse aus der Vergangenheit und bekräftigen das Prophetentum jenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, Mohammeds. Daneben haben die medinensischen Suren den Zweck, die Menschen zu bekehren. nicht derjenigen, die (Deinen) Zorn er- regt haben, und nicht der Irregehenden! Eröffnungssure des Koran 7
Glaube im Widerspruch: Dualismus im Islam Der Islam ist im ethischen Sinne von Dualität geprägt, das heißt, Abrogation ist generell eine unsichere theologische Grundlage zwei sich diametral widersprechende Ansichten, Standpunkte und eine späte theologische Debatte, die unter anderem deshalb und Forderungen werden gleichzeitig gültig zugelassen. Zwei entstanden ist, um die Widersprüche im Koran erklären zu kön- vollkommen gegensätzliche Regeln oder Tatsachen im Islam nen. Für viele Fundamentalisten haben später offenbarte Verse sind gleichzeitig gültig. Der Islam ist Religion des Friedens, aber – also jene im medinensischen, kriegerisch geprägten Teil des auch Religion der Gewalt, ist Religion der religiösen Toleranz und Korans – eine stärkere Bedeutung; sie rechtfertigen damit terro- des Todesurteils für den Abfall, das Austreten aus dem Islam. ristische Handlungen im Namen Gottes. Abrogation Abrogation bedeutet, dass der zeitlich später offenbarte Vers eine Unter islamischen Theologen herrscht Uneinigkeit darüber, ob stärkere Bedeutung und damit eine aktuellere Wertigkeit hat als und in welchem Umfang mit Abrogation argumentiert werden der zeitlich frühere Vers. Trotzdem gelten beide Verse immer noch soll, um Widersprüche zu lösen. Deshalb werden auch die zu ab- als wahr, weil der Koran das exakte und genaue Wort Allahs ist rogierenden Verse im Koran unterschiedlich beziffert. Teilweise – auch wenn sich die einzelnen Inhalte gänzlich widersprechen. lehnen Gelehrte die Idee der Abrogation sogar komplett ab. 8
Religiöses Gesetz: Scharia, Fiqh und Fatwa Scharia Koran, Sira und Hadithen – also die Trilogie des Islam – bilden Der Unterschied zwischen Scharia und Fiqh ist wesentlich: die Grundlage der Scharia. Scharia ist gottgegebenes Recht, offenbart in Koran und Sunna, in den Grundzügen als Werteordnung unumstößlich und gültig Die Scharia (arabisch „Weg zur Tränke, Weg zur Wasserquelle, für alle Zeiten und Orte. Hingegen ist das Rechtssystem Fiqh, deutlicher, gebahnter Weg“) ist das religiöse Gesetz des Islam. das aus der Scharia abgeleitet wird, als menschengemacht an- Es verkörpert die übergeordnete Idee einer unter Gottes Gesetz erkannt und daher veränderlich und bietet Spielraum für Kontro- stehenden Lebensgestaltung gemäß den von Gott in seiner Of- versen. Fiqh ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle fenbarung dem Menschen auferlegten Verpflichtungen (Taklīf) Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. Islamwissen- und enthält die Gesamtheit der Verhaltensweisen, die in einer is- schaftler, Arabisten und Ethnologen betonen allerdings immer lamischen Gesellschaft zu beachten und zu erfüllen sind. Sie ist wieder, dass Meinungspluralismus keineswegs in Widerspruch keine fixierte Gesetzessammlung wie etwa europäische Geset- zur Scharia stehe. zestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch, sondern eine Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung. Als unfehlbare Pflichtenlehre umfasst die Scharia das gesamte Es ist darauf zu achten, dass die religiösen Verpflichtungen des religiöse, politische, soziale, häusliche und individuelle Leben so- Einzelnen gegenüber Gott erfüllt werden und alle Beziehungen wohl der Muslime als auch das Leben der im islamischen Staat des Einzelnen zu seinen Mitmenschen – unter anderem Vermö- und außerhalb desselben vertraglich geschützten Andersgläubi- gensrecht, Familien- und Erbrecht, Strafrecht – stets diesen Ver- gen (Dhimmis) insofern, als ihre öffentliche Lebensführung dem pflichtungen entsprechen. Islam und den Muslimen in keiner Weise hinderlich sein darf. Die Einheit zwischen Religion und Recht bringt in einem theo- Um Glaubensfragen im engeren Sinne kümmert sich die Scha- kratischen Staatswesen auch die Einheit zwischen Religion und ria nicht. Der Muslim hat das islamische Recht mit seinen Be- Staat mit sich, die sich in den arabisch-islamischen Staaten der stimmungen und Widersprüchen kritiklos zu akzeptieren. Das Gegenwart (deren Staatsreligion der Islam ist) unterschiedlich Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik des göttlichen bemerkbar macht. Rechts ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist. Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die „Rechte und Ansprüche der Menschen erscheinen grund- Grundtendenz der Scharia. sätzlich nur als Reflexe religiöser Pflichten. Daher ist die Frei- heit des Einzelnen im Scharia-Recht oder in der Scharia weit mehr eingeschränkt als im abendländischen Recht. Während Fiqh hier alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist, verbie- Unter Fiqh versteht man dagegen die Rechtswissenschaft im tet der Islam alles, was nicht gesetzlich erlaubt ist. Er kennt Islam, deren Gegenstand die Scharia ist. Diese Jurisprudenz er- daher auch nicht den das europäische Recht beherrschenden streckt sich auf alle Beziehungen des religiösen, bürgerlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit; zulässig ist nur der Abschluss und staatlichen Lebens im Islam. von Verträgen, die schariarechtlich erlaubt sind“, schrieben die 9
Islamwissenschaftler Otto Spies und Erwin Pritsch 1964 in ei- nem Ergänzungsband des „Handbuchs der Orientalistik“. Gott gilt in diesem Rechtssystem als oberster Gesetzgeber, die Rechtsgelehrten leiten aus dem Koran Gesetze ab. Der Koran als die Offenbarung Gottes enthält nur einige Rechtsnormen, ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Schon früh in der islamischen Geschichte trat daher neben den Koran die Sunna als zweite Quelle des Rechtes in den Vordergrund und war Mittelpunkt des Interesses der Rechtsgelehrsamkeit. Die von den Traditionen in den Hadithen überlieferten Aussagen und nachahmenswerten Handlungen des Propheten erfüllten unter anderem die Rolle, ritualrechtliche und andere Rechtsfragen des täglichen Lebens, die der Koran nicht enthält, zu beantworten. Fatwa Eine Fatwa ist eine von einer muslimischen Autorität auf Anfra- ge erteilte Rechtsauskunft, die dem Zweck dient, ein religiöses oder rechtliches Problem zu klären, das unter den muslimischen Gläubigen aufgetreten ist. Derjenige, der die Rechtsauskunft er- teilt, in der Regel ein Spezialist der islamischen Jurisprudenz (Fiqh), wird als Mufti bezeichnet; derjenige, der um die Rechts- auskunft bittet, Mustaftī genannt. Als Rechtsauskunft ist die Fatwa somit die islamische Entsprechung zur Responsa, den Rechtsauskünften halachischer Autoritäten im Judentum. Historische Darstellung eines Muftis von Jean-Léon Gérôme (1824-1904) „Es gibt keinen Sieger außer Gott“: Wandfliese im Gerichtssaal der Alhambra 10
Islam und Demokratie Demokratie bezeichnet Herrschaftsformen, politische Ordnun- Zivilrecht – also das Ehe-, Familien- und Erbrecht – in arabi- gen oder politische Systeme, in denen Macht, Regierung und das schen Ländern ist grundsätzlich am Schariarecht ausgerichtet, Recht vom Volk als Souverän ausgehen. Der Islam als private das heißt es existiert dort kein säkulares Zivilrecht. Frauen sind Religionsausübung oder ethisches Wertegerüst wird einer De- dementsprechend rechtlich benachteiligt, Konvertiten und Min- mokratie kaum entgegenstehen. Allerdings gilt das lediglich in derheiten diskriminiert und benachteiligt. Bezug auf den Islam als persönlicher Glaube, nicht in Bezug auf den Islam als Rechtssystem, das Gesetze, Werte und Normen bestimmt. Das sogenannte positive bzw. gesatzte Recht ist das „vom Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam Menschen gesetzte Recht“. Gegenbegriffe sind das überpositi- (KEMR, 5. August 1990) ve Recht, auch als Naturrecht bezeichnet, sowie das göttliche Die Organisation der Islamischen Konferenz – Organization of Recht. Anschaulich erklärt ist positives Recht jenes Recht, das the Islamic Conference (OIC), ein Zusammenschluss von 57 vom Menschen erschaffen wird, während Naturrecht vom Men- muslimisch geprägten Staaten – verabschiedete 1990 diese schen bloß entdeckt wird. Das positive Recht ist unvollkom- zwischenstaatliche Menschenrechtserklärung. Die KEMR ist al- men und jederzeit veränderbar, beansprucht jedoch als jeweils lerdings völkerrechtlich nicht bindend und sie wird von der UNO gegenwärtige Gestalt der Rechtsordnung zunächst einmal Be- auch nicht als regionales Menschenrechtsinstrument anerkannt. folgung. Es steht dann aber allen der gerichtliche Weg offen; das positive Recht kann außerdem durch Einwirkung auf die Parla- In der Kairoer Erklärung wird die Scharia als alleinige Grundlage mente als Gesetzgeber neu gefasst werden. von Rechten und Freiheiten definiert. In Artikel 25 heißt es: „Die islamische Scharia ist die einzige zuständige Quelle für die Aus- Als göttliches Recht werden Rechtsnormen bezeichnet, die nach legung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“ Ansicht der eine Rechtsordnung beherrschenden Religion auf Die KEMR hat eine weitgehend symbolische und indirekt men- Rechtssetzungen Gottes oder einer göttlichen Instanz zurück- schenrechtspolitische Bedeutung. Auf dieser Ebene markiert sie zuführen sind (etwa auf die Zehn Gebote) und die daher unabän- einen islamischen Gegenentwurf zur Allgemeinen Erklärung der derlich gelten. Göttliches Recht gehört zum überpositiven Recht Menschenrechte. (Naturrecht) und wurde lange mit diesem gleichgesetzt. Im Gegensatz dazu gibt es muslimische Intellektuelle, die eine Die Scharia ist das religiös legitimierte Rechtssystem des Islam. Vereinbarkeit von Islam und der UN-Menschenrechtscharta Dieses kann unmittelbar der Offenbarung entnommen werden, durchaus begründen können. Der iranische Philosoph Abdolkarim woraus ein Recht auf Selbstbestimmung als wesentlicher Teil Soroush etwa verfolgt unter anderem den Ansatz, zwischen dem einer demokratischen Ordnung nicht abgeleitet werden kann. göttlichen Anspruch der Scharia und der mit Fehlern behafteten Als Offenbarungsrecht im engeren Sinn gilt göttliches Recht, das menschlichen Auslegung zu unterscheiden. Schriften und Über- „nur im Glauben erkennbar“ ist - und daher im Grunde auch nur lieferungen, darunter auch der Koran als eine Quelle der Scharia, Gläubige verpflichten kann. Viele gläubige Muslime stellen das seien von Menschen geschaffen und daher fehlbar. Die Vernunft Offenbarungsrecht über das gesatzte, menschliche Recht und erlaube außerdem eine neue Deutung der islamischen Quellen, erachten es im Vergleich zur Demokratie als einzig verbindlich. denn das, was aus der Perspektive der Vernunft gut ist, könne Eine Trennung von Staat und Religion ist dem Islam fremd. Das nicht im Gegensatz zum Islam bzw. einer Religion an sich stehen. 11
12
Haus des Friedens, Haus des Krieges Der islamische Rechtsbegriff Dar al-Islam („Haus des Islam“) „Märtyrer“) unmittelbar in den Himmel ein, wo er von den so ge- bezeichnet alle Gebiete unter muslimischer Herrschaft. Gegen- nannten Paradiesjungfrauen und anderen Freuden umgeben ist. begriff ist Dar al-Harb („Haus des Krieges“). Im Gegensatz zu Umma (Gemeinschaft der Muslime) geht der Begriff auf keine Nach ursprünglicher Auffassung ist es einem Muslim verboten, Textstelle im Koran oder in der Sunna zurück. Er ist vielmehr in der Dar al-Harb zu leben, und er muss, wenn es ihm irgendwie eine Auslegung der Rechtsgelehrten: Gebiete, die nicht von der möglich ist, von dort in die Dar al-Islam auswandern (Hidschra). Umma kontrolliert werden, gelten als Dar al-Harb. So wie einst der Prophet Mohammed aus Mekka, bevor es isla- misch war, nach Medina auswanderte. Aus politischen und ideologischen Gründen wird der Dar al-Is- lam als „Haus des Friedens“ bezeichnet. Die Bewohner des In späterer Zeit wurden Begriffe wie Dar as-Sulh („Gebiet mit Dar al-Islam sind entweder Muslime oder aber sogenannte Friedensvertrag“) geschaffen. Sie bezeichneten Gebiete, die Dhimmis, Schutzbefohlene minderen Rechts. Nicht-Muslime einen Vertrag mit der Dar al-Islam geschlossen hatten und tri- aus dem Dar al-arb müssen einen zeitweiligen Schutzvertrag butpflichtig waren. Aus diesen Gebieten mussten Muslime auch (Aman) abschließen, wenn sie den Dar al-Islam betreten wollen, nicht zwingend auswandern. da sie sonst keine Rechte hätten, nicht einmal das Recht auf Le- ben. Nach klassischer Lehre dürfen Polytheisten im Dar al-Islam dazu gezwungen werden, den Islam anzunehmen. Der arabische Begriff Dar al-Harb heißt wörtlich übersetzt „Haus des Krieges“ oder besser „Gebiet des Krieges“ und bezeichnet alle Gebiete der Welt, in denen der Islam nicht Staatsreligion ist, die kein Gebiet des Vertrages sind. Der Begriff taucht nicht im Koran auf, sondern geht Yusuf al-Qaradawi zufolge auf den Be- gründer der hanafitischen Rechtsschulen Abu Hanifa (699-767) zurück. Kriegszüge gegen die Dar al-Harb werden aus traditioneller Sicht des Islam nicht als Kriege betrachtet und deshalb auch nicht als solche bezeichnet, sondern als Öffnungen. Nach tradi- tioneller islamischer Auffassung kann es keinen Frieden mit der Dar al-Harb geben, sondern nur einen zeitlich begrenzten Waf- fenstillstand. Kriege gegen die Dar al-Harb werden traditionell als Dschihad bezeichnet. Wer den Dschihad betreibt, wird als Mudschahed bezeichnet. Der Dschihad ist keine Pflicht des individuellen Muslims, sondern Pflicht für die Gesamtheit der Muslime. Wer während des Dschi- had getötet wird, geht als Schahid (wörtlich übersetzt „Zeuge“, Weiße Tauben nahe der Blauen Moschee in Mazar-e-Sharif, Afghanistan 13
Schwertvers Sure 9, Vers 5: Krieg im Namen des Islams Angesichts grausamer Taten, die Menschen unter Berufung Und wenn die heili- auf den Islam in der jüngeren Vergangenheit begangen haben, gehört die Frage nach dem Dschihad – verstanden als religiös gen Monate abgelaufen legitimierter Krieg – zu einer der meist diskutierten in der Ge- genwart. Krieg kann laut Koran grundsätzlich gerechtfertigt sein. sind, dann tötet die Diskutiert wurde und wird daher vor allem, wie und wann Musli- me zu den Waffen greifen dürfen. Götzendiener, wo im- mer ihr sie findet, und ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf. Sure 9:5 Der zitierte Vers wurde kurz vor dem Ableben Mohammeds of- fenbart. Die Muslime werden hier bedingungslos aufgerufen, die Polytheisten (arabisch „muschrikûn“) zu bekämpfen und zu töten. Als Schwertvers bezeichnet man im klassischen islamischen Korankommentatoren argumentierten, Sure 9 Vers 5 hebe all die Recht und in der klassischen Koranexegese einen Teil des Ko- früheren Verse zur Kriegsführung auf. Sie lasen aus dem Vers ranverses von Sure 9:5, der als juristische Begründung für den sogar eine bedingungslose Pflicht der gesamten Gemeinde zum Dschihad herangezogen wurde. Die Bezeichnung Schwertvers Kampf gegen die Polytheisten heraus. Demnach wird solange ist nicht koranisch und kommt auch nicht in den kanonischen gekämpft, bis die Polytheisten den Islam annehmen – im Fall Hadithsammlungen vor. Sie taucht aber relativ früh in der Koran- von Juden und Christen: Bis diese die muslimische Herrschaft exegese auf, vor allem in den Werken der Abrogationsliteratur. anerkennen und bereit sind, eine Kopfsteuer zu zahlen. So be- sagt es Vers 29 in Sure 9, der ebenfalls Schwertvers genannt Der Schwertvers abrogiert gemäß der klassischen juristischen wird: „Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und an den Koranexegese alle anderen Koranverse über den Umgang mit Jüngsten Tag glauben […], bis sie eigenhändig den Tribut in voller Nicht-Muslimen – eine heute von Muslimen allgemein kritisierte Unterwerfung entrichten.“ Methode und Sichtweise. Das Prinzip der Abrogation ist ein zen- trales Interpretationsinstrument, um die Botschaften des Islams Der Schwertvers wird unter islamischen Theologen äußerst kon- in Einklang zu bringen. Dieses Prinzip spielt eine entscheidende trovers – sowohl mit kriegerischen als auch pazifistischen Zu- Rolle für die Doktrin des Dschihad. gängen – diskutiert. 14
Dschihad, Mudschahed, Schahid: Kampf auf dem Weg Gottes Dschihad Glaubens und eine allen Muslimen auferlegte Pflicht ein wich- Der Begriff Dschihad (auch Djihad oder gelegentlich in der eng- tiges Glaubensprinzip des Islam dar. Manche sunnitische Ge- lischen Schreibweise Jihad) bedeutet Anstrengung, Kampf, Be- lehrte erachten den Dschihad als sechste der fünf Säulen des mühung, Einsatz und bezeichnet im religiösen Sinne ein wichti- Islams. ges Konzept der islamischen Religion, die Anstrengung bzw.den Im europäischen Sprachraum wird der Begriff öfter mit dem Kampf auf dem Wege Gottes. Ausdruck Heiliger Krieg übersetzt. Dem entgegnen muslimische Autoren, dass Dschihad semantisch nicht nur Kriegsführung Etymologisch steht er für eine auf ein bestimmtes Ziel gerichtete bezeichne und es nichtmilitärische Bedeutungen des Dschihad- Anstrengung. Im Koran und der Sunna bezeichnet dieser Begriff begriffs gebe. Sie sehen deshalb eine derartige Übersetzung als primär militärischen Kampf. Aus dem Koran geht nicht eindeutig falsch an und lehnen sie ab. hervor, ob es sich dabei um einen universellen Kampf gegen An- dersgläubige handelt oder dieser Kampf nur defensive Ziele ver- Mudschahedin folgt: „Das vorhandene Schriftmaterial bedarf der Interpretation, Der Ausdruck Mudschahed, Mehrzahl Mudschahedin oder Mud- wobei die Haltung der Interpreten von entscheidender Bedeu- schaheddin, bedeutet arabisch „sich anstrengen“, ist von Dschi- tung ist, die maßgeblich von den unterschiedlichen politischen had abgeleitet und bedeutet ins Deutsche übersetzt „Kämpfer“ und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt wurde und oder „jemand, der sich anstrengt“. wird“, schreibt der deutsche Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe in seinem Buch „Das islamische Recht. Geschich- Das Wort wird oft im Zusammenhang mit dem Islam verwendet te und Gegenwart“. und bezeichnet dann in der Regel islamistische Kämpfer oder islamistische Guerilla-Gruppierungen. Islamische Widerstands- Nach klassischer islamischer Rechtslehre (Fiqh), deren Entwick- kämpfer und Terrorgruppen nennen sich selbst Mudschahedin. lung in die ersten Jahrhunderte nach dem Tode Mohammeds Der Begriff kann sich aber auch allgemeiner auf Personen bezie- zu datieren ist, dient dieser Kampf der Erweiterung und Verteidi- hen, die sich um die Verbreitung oder Verteidigung des Islam be- gung islamischen Territoriums, bis der Islam die beherrschende mühen oder individuell bestrebt sind, „Gottes Weg zu folgen“. In Religion ist. In seiner späteren Entwicklung sowie insbesondere diesem Sinne kann jemand, der seinen Glauben (z. B. den Islam) im Zuge der Moderne haben muslimische Gelehrte begonnen, studiert und diesen reinen Gewissens lebt, ein Mudschahed sein. nichtmilitärische Aspekte dieses Kampfes zu betonen. Autoren der Moderne sehen ausschließlich solche Kriege als legitim an, Als Mudschahed bezeichneten sich übrigens auch die verschie- die der Verteidigung islamischer Staaten, der Freiheit der Musli- denen Guerilla-Gruppierungen, die von 1979 bis 1989 in Afgha- me, den Islam außerhalb dieser zu verkünden, und dem Schutz nistan gegen die sowjetischen Truppen und die von ihnen ge- der Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft dienen. Dem stützte kommunistische Regierung (Sowjetische Intervention in entspricht ihre Auslegung entsprechender Koranverse. Afghanistan) kämpften. Sie erhielten finanzielle und materielle Unterstützung vor allem von den Vereinigten Staaten, Pakistan Der Dschihad stellt als eines der Grundgebote des islamischen und Saudi-Arabien. 15
Schahid Der Begriff Märtyrer („šhahīd“) ist im Arabischen gleichbedeu- tend mit Zeuge. Ein Märtyrer bezeugt durch sein Martyrium die Wahrheit. Märtyrer ist im Islam ein Muslim, der bei der Ausübung seiner Re- ligion von Gegnern getötet wird, sei es im Krieg zur Verteidigung der Muslime und der Unterdrückten oder sei es während eines zivilen Einsatzes, bei dem er Opfer eines Anschlages wird. Auch ein Pilger, wenn er während der Pilgerfahrt (Haddsch) verstirbt oder eine Mutter, die beim Gebären stirbt, gelten als Märtyrer. Der Märtyrer durchlebt keine Todeszwischenphase (Barsach), sondern geht direkt ins Paradies (Dschanna) ein, wo ihn 72 Jungfrauen erwarten. Er hat die höchste Stufe der Ergebenheit (Taslim) vorgelebt. Der im Krieg oder durch Terror gewaltsam getötete Märtyrer bedarf weder der rituellen Vollkörperreinigung noch des Leichentuchs. Er wird so bestattet, wie er verstorben ist, denn er ist rein! Grundsätzlich aber gibt es im Islam keine Heilgewissheit für einen gläubigen Muslimen, einzige Ausnahme ist nur der Mudschahed selbst. Islamische Gebetsketten – es gibt sie mit elf, 33, 99 oder 1000 Perlen Auch jemand, der seinen Glauben studiert und reinen Gewissens lebt, kann als Mudschahed bezeichnet werden 16
Vereint und doch getrennt: Sunniten und Schiiten Die Sunniten bilden die größte Glaubensrichtung und Mehrheits- strömung im Islam. Die Bezeichnung stammt von dem Wort Sunna (Tradition des Propheten). Sie werden auch als Volk der Tradition und der Einheit der Muslime bezeichnet, was darauf hinweisen soll, dass sie vereinigt sind. Sie stellen einen Zweig des Islams dar, der aus dem von Abu Bakr as-Siddiq gegründe- ten Kalifat entstammt. Sunniten stellen in den meisten islamischen Ländern die Mehr- heit der Muslime, mit Ausnahme von Iran, Irak, Bahrain, Aserbai- dschan, Oman und Libanon. Sie lassen sich wiederum nach den sunnitischen Rechtsschu- len (Madhhab) in Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten und Schafiiten einteilen. Sunniten sind auch die Wahhabiten, eine sehr kon- servative und dogmatische Richtung des sunnitischen Islams hanbalitischer Richtung. Wahhabismus ist die Staatsreligion Saudi-Arabiens. Der Prophet Mohammed hinterließ keine männlichen Nach- kommen, die sein religiöses und politisches Lebenswerk hätten fortführen können. Sunnitische Geschichtsquellen sagen: Der Prophet bestimmte weder einen Nachfolger noch hinterließ er Richtlinien für die Suche. Das führte rasch zum Schisma, einer Glaubensspaltung der ersten Gemeinde und zu einem regel- rechten Bürgerkrieg. Die konkurrierenden Gefährten des Propheten benannten durch eine Art Ältestenrat den ersten Kalifen Abu Bakr as-Siddiq. Er galt als treuer Anhänger Mohammeds und war durch seine Tochter Aisha, die Lieblingsehefrau Mohammeds, ein Schwiegervater Mohammeds. Nach sunnitischer Überlieferung soll Abu Bakr vor seinem Tod ei- nen Nachfolger ernannt haben, nämlich Umar Ibn al-Chattab, der Die Glaubensspaltung erfolgte nach seinem Tod: Ali Ibn Abi Talib 17
Bekannte Darstellung von Hasan (links) und Husain ibn Ali in Maschhad, Iran Tafeln mit Kalligrafien zu Imam Hasan (rechts) und Uthman in der Hagia Sophia, Istanbul dann auch zehn Jahre lang (634–644) mit eiserner Hand die nämlich hatte der Prophet drei Monate vor seinem Tod den Vet- zerstrittenen Vertreter des Islams unter seine Kontrolle brach- ter Ali zum rechtmäßigen Nachfolger ernannt. Zwei koranische te. Durch die Eheschließung des Propheten mit Umars Tochter Stellen (Sure 33:33 und 42:24) belegen laut späterer schiitischer Hafsa war auch er ein Schwiegervater Mohammeds. Er wurde Koranexegese den Leitungsauftrag an die blutsverwandte Fami- schließlich von einem unzufriedenen muslimischen Sklaven ge- lie des Propheten (Ahl al-Beit). Dass Ali trotzdem nicht unmit- tötet. Noch auf dem Totenbett berief er ein sechsköpfiges Be- telbar dem Propheten nachfolgte, sahen die Schiiten als Ergeb- ratungsgremium aus Gefährten der ersten Stunde ein, darunter nis sunnitischer Intrigen. Nach dem Tod Alis richteten sich ihre Ali und Uthman Ibn Affan. Auf Letzteren fiel die Wahl zum Nach- Hoffnungen nun auf dessen Söhne Hasan und Husain. Doch die folger. Auch in seiner Regierungszeit (644–656) kam es zu politi- kamen nicht an die Macht, und im Jahr 680 wurde Hussein, der schen Tumulten, denn man warf ihm Nepotismus vor: die Beset- jüngste Sohn, im Irak durch sunnitische Machthaber grausam zung der wichtigsten Positionen im neu entstehenden Reich mit getötet, ebenso sämtliche männliche Begleiter. Diese Morde be- Angehörigen seines Clans. Am Ende wurde Uthman von unzu- gründeten den Märtyrerkult der Schiiten. friedenen Muslimen in seinem Haus belagert und dort ermordet. Und weiter? Nachfolger wurde der Vetter und Schwiegersohn Seither sehen sie sich als verfolgte Minderheit. Tatsächlich sind des Propheten Ali Ibn Abi Talib (600–661). Er spielte keine gro- heute nur etwa 15 Prozent aller Muslime Schiiten. Die bedeu- ße politische Rolle, galt aber als religiöse Autorität. Würde er die tendste und zahlenmäßig größte Gruppe unter den Schiiten ist wachsenden Konflikte entlang der Stammes- oder Clangrenzen die Zwölfer-Schia. Der Name bezieht sich auf eine Reihe von befrieden? Den Forderungen nach Blutrache am Mörder Uth- zwölf Imamen, religiösen Führern aus der Familie des Prophe- mans gab er nicht nach, doch auch seine Amtszeit (656–661) ten, beginnend mit Ali. Der zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi, war ein Desaster mit drei blutigen Kriegen. Auch Ali wurde er- ist nach ihrer Auffassung nicht gestorben, sondern lebt seit frü- mordet. her Kindheit durch Gottes Wunder im Verborgenen. Mit seiner Rückkehr verbinden die Schiiten die Hoffnung auf eine gerechte Glaubensspaltung Herrschaft. Unterdessen bleiben die Grabmäler der anderen elf Daraufhin vollzog sich das eigentliche Schisma zwischen Sun- Imame wichtige Pilgerstätten und dem Tag der Ermordung Alis niten und Schiiten. Nach Meinung der Schiiten (der Partei Alis) wird mit Passionsspielen gedacht. 18
Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten waren an- dessen designierten Nachfolger (Kalif), jedoch politisch und fänglich nicht theologischer Natur, sondern entsprangen der nicht religiös betrachtet, und als ihren ersten Imam. Ihrem Glau- Frage, wer die Gemeinschaft der Muslime leiten soll. Bei den ben nach kann die Prophetennachfolge nur von einem Nachfah- Sunniten bildete sich das Kalifat heraus, bei den Schiiten das ren Alis bzw. einem Imam erfolgen, da dieser als einziger göttlich Imamat. Beide Konfessionen bekämpfen sich in einigen Ländern legitimiert sei. In den Jahrhunderten nach dem Tod des Prophe- wie Irak oder Indien und sind teilweise tödlich verfeindet. ten Mohammed und der politischen Abspaltung der Sunniten Die Mehrheit der Muslime, die Sunniten, berufen sich auf den wurde außerdem die theologische Lehre der Schiiten in einzel- Kalifen (vom Arabischen „chalifa“, „Stellvertreter/Nachfolger“), nen Aspekten weiterentwickelt, so dass sich schiitisches Recht also eine fähige Person, die die Muslime führt und anfangs durch heute in Teilen von sunnitischem Recht unterscheidet. Im Laufe Konsens gewählt oder ernannt wurde. Die ersten drei Kalifen der Zeit kamen dann weitere Unterschiede hinzu, besonders im Abu Bakr, Umar und Uthman waren Gefährten des Propheten. Hinblick auf die schiitischen Imamiten, weniger im Hinblick auf Ihnen folgte Imam Ali als der vierte Kalif. Diese vier sind für die die ebenfalls schiitischen Zaiditen. Sunniten die „rechtgeleiteten Kalifen“. Demnach wird Ali von den Sunniten nur als solcher anerkannt. In späteren Dynastien, z.B. Strömungen in der Schia bei den Umayyaden und Abbasiden, wurde das Kalifat vererbt; Heute stellen die Schiiten ca. 15 Prozent der Muslime (Stand Söhne, Brüder oder Vettern konnten ernannt werden. Die letzten 2013, die Spanne in der Literatur reicht von 10 bis 25 Prozent). In Kalifen waren die Sultane der Dynastie der Osmanen. Das Kalifat der Schia haben sich unterschiedliche Strömungen herausgebil- wurde 1924 von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der säku- det, die jeweils eine verschiedene Anzahl von Imamen akzeptie- laren Republik der Türkei, abgeschafft. ren. Die Staaten, in denen die Schiiten die Bevölkerungsmehrheit stellen oder eine einflussreiche Minderheit sind, werden manch- Die Anhänger der Schia, die Schiiten, betrachten Alī ibn Abī Tālib, mal unter dem Begriff „Schiitischer Halbmond“ zusammenge- den Schwiegersohn und Vetter des Propheten Mohammed, als fasst. Das Grab Uthmans auf dem Friedhof Dschannat-ul-Baqi in Medina 19
Die meisten Schiiten erkennen die ersten drei Kalifen nicht an und fallen die beiden Begriffe bedeutungsmäßig nicht völlig zusam- behaupten, dass die rechtmäßigen Nachfolger aus der Familie men, denn im Mittelalter gab es neben der Zwölfer-Schia noch des Propheten stammen sollten. Sie berufen sich auf mündliche verschiedene andere imamitische Gruppierungen. Überlieferungen (Hadithen). Da Mohammed keinen Sohn hatte, den er ernennen hätte können, wurde zunächst Ali als Nach- Die Zaiditen bilden innerhalb des Islams einen Zweig der Schi- folger ernannt und später die Söhne aus seiner Ehe mit Fatima, iten. Sie sind nach Zaid ibn Ali benannt, einem Enkel des Pro- der Tochter Mohammads. Ali, seine Söhne und deren männliche phetenenkels Husain, der sich 740 in Kufa gegen die Herrschaft Nachkommen sind die Imame (arab. „Vorsteher“). Die Schiiten der Umayyaden erhob und dabei den Tod fand. Die Zaiditen ver- folgten somit dem Imamat. Die Imame, insgesamt zwölf an der fügen über eine eigene Rechtsschule und sind seit dem 9. Jahr- Zahl, sind für die Schiiten unfehlbar. Mit Schiiten sind im Sprach- hundert vor allem im Jemen verwurzelt, wo ihre Imame bis 1962 gebrauch die Zwölfer-Schiiten gemeint, die es hauptsächlich im über ein selbstständiges Fürstentum herrschten. Iran und im Irak gibt. Es gibt auch Schiiten, die sich bis heute auf weniger oder mehr Imame berufen. Die Zaiditen werden manchmal auch Fünfer-Schiiten genannt, doch ist diese Bezeichnung irreführend, weil anders als bei den Die Zwölfer-Schia ist eine Gruppierung, die im frühen 10. Jahr- Zwölfer-Schiiten die Anzahl der Imame bei den Zaiditen nicht auf hundert im Irak entstanden ist und nach deren Lehre es zwölf eine bestimmte Anzahl beschränkt ist. In der wissenschaftlichen Imame gibt; der letzte von ihnen soll in der Verborgenheit leben, Literatur zur Schia wird diese Bezeichnung auch nicht verwen- aber am Ende der Zeiten zurückkehren, um in Gerechtigkeit zu det. herrschen. Die Zwölfer-Schiiten bilden mit 85 Prozent Anteil die überwältigende Mehrheit der Schiiten, weshalb man sie häufig Die Ismailiten sind ein Zweig des schiitischen Islams, die sich auch nur ganz allgemein als die Schiiten bezeichnet. durch eine spezielle Imamreihe auszeichnen. Die etwa 18 Mil- Anhänger der Zwölfer-Schia leben in der Gegenwart vor allem in lionen Ismailiten leben heute vorwiegend in Indien (vor allem in Iran, im Irak, in Aserbaidschan, Bahrain, Libanon, Kuwait, Pakis- den Bundesstaaten Gujarat und Maharashtra), Pakistan (Hun- tan, Afghanistan, Saudi-Arabien, Syrien und in Indien. Die Zwöl- za), Afghanistan, Tadschikistan, Syrien, im Jemen, im Iran, in fer-Schiiten werden auch als Imamiten bezeichnet, allerdings Oman, Bahrain, in der Osttürkei, in Ostafrika sowie verstreut in Die Jamkaram-Moschee in Ghom (Iran) – hier soll sich der zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi, zurückgezogen haben und eines Tages einem Brunnen entsteigen 20
der westlichen Welt – insgesamt in mehr als 25 Staaten. Die heutigen Ismailiten sind in mehrere Gruppen aufgespalten, von denen die Nizariten und die Musta‘lī-Taiyibiten die zahlenmäßig bedeutendsten sind. Die Ismailiten werden manchmal in Gegenüberstellung zu den Zwölfer-Schiiten als Siebener-Schiiten bezeichnet, doch diese moderne Bezeichnung ist ebenfalls irreführend, weil sie den An- schein erweckt, als rechne die Gruppe nur mit einer Reihe von sieben Imamen. Dies trifft jedoch nur auf einzelne frühe ismailiti- sche Gruppen wie die Qarmaten zu. Die anderen ismailitischen Gruppen haben dagegen die Reihe der Imame weitergeführt. Den nizaritischen Ismailiten gilt zum Beispiel der derzeitige Agha Khan als der 49. Imam. Aufgrund seiner Unrichtigkeit wird heute dazu geraten, den Begriff Siebener-Schiiten als Bezeichnung für die Ismailiten ganz zu vermeiden. Aleviten und Alawiten Aleviten sind eine auf das 13./14. Jahrhundert zurückgehende, in Anatolien entstandene Religionsgemeinschaft, die Ähnlich- keiten mit dem schiitischen Islam aufweist. Man unterscheidet ethnisch türkische und kurdische Aleviten. Aleviten (türkisch Alevî, kurdisch und zazaisch Elewî; aus dem Arabischen „Anhänger Alis“‘) sind Mitglieder einer vorwiegend in der Türkei beheimateten Glaubensrichtung, die mit dem Zu- zug von turkmenischen Stämmen nach Anatolien entstand. Sie stellen die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei, schätzungs- weise 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung, dar. Ob das Aleviten- tum in seiner heutigen Form dem Islam zuzuordnen ist oder eine eigenständige Religion darstellt, ist in der Forschung und unter den Aleviten selbst umstritten. Eine Beziehung zum schiitischen Islam lässt sich über den Schah Ismail I. herstellen. Ziel eines Aleviten ist die Erleuchtung und Vollkommenheit durch Werte wie Nächstenliebe, Bescheidenheit und Geduld. Humanis- mus und Universalismus prägen den alevitischen Glauben. Die Mehrheit der für Sunniten und Schiiten geltenden Verbote und Gebote aus dem Koran werden von Aleviten nicht befolgt. Die grundlegenden Unterschiede zwischen Aleviten und Sunni- ten sind seit der osmanischen Zeit der (Haupt-)Grund der Unter- drückung und Verfolgung der Aleviten. 21
Die Religion an sich wird als Alevitentum oder seltener Alevis- mente aus Zentralasien und anderen religiösen Traditionen, zum mus bezeichnet. Aleviten wurden früher, insbesondere im his- Beispiel aus dem Christentum enthalten. Das Alevitentum wurde torischen Kontext der Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, von Mystikern („Sufis“) geprägt, Literatur und Litanei sind Tür- als Kizilbasch (Kızılbaş) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist heute kisch. Es ist eine offene Gemeinschaft, Frauen und Männer sind eher außer Gebrauch gekommen. gleichwertig, beide beteiligen sich an religiösen Zeremonien. Die fünf Grundregeln des Islam, unter anderem das Ritualgebet Die türkischen Aleviten sind nicht identisch mit den gleichnami- in der Moschee, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt, gen Alawiten in Syrien, die in der Türkei auch arabische Aleviten werden esoterisch ausgelegt und nicht praktiziert. Der Koran ist genannt werden und früher als Nusairier bezeichnet wurden. nach Ansicht der Aleviten verfälscht worden und wird nicht ak- Das Wort alevî kann im Türkischen als Synonym zu Schiit an- zeptiert. Sie gehen nicht in die Moschee, sondern vollziehen ihre gesehen werden, bezeichnet meist aber, und im nichttürkischen rituellen Tänze als Gottesdienst im „Haus der Versammlung“ Schrifttum so gut wie ausschließlich, die Aleviten. (Cemevi). Bis heute werden die Aleviten und ihre Cemevis nicht offiziell vom türkischen Staat anerkannt. Bei den Alawiten handelt es sich um einer schiitischen Sonder- gemeinschaft mit Hauptsiedlungsgebiet in Kilikien und Westsy- Das Alawitentum hingegen ist arabischen Ursprungs und im rien, in der Zeit zwischen 1840 und 1918, also in der Zeit des 9. Jahrhundert innerhalb des schiitischen Islams im Irak ent- spätosmanischen Reiches. Die Nusairier sind die heutigen Ala- standen. In der Schia gab es damals verschiedene Strömungen, witen in Syrien, nicht zu verwechseln mit den Aleviten in der Tür- die die Göttlichkeit der Imame hervorhoben. Vor allem Imam Ali kei. Die Begrifflichkeiten sind für Laien kompliziert, so geht auch wurde als göttliche Inkarnation oder Gott selber angesehen, der in der medialen Berichterstattung über die aktuelle Situation in alles erschaffen hat und der dem Prophet Mohammed über- Vorderasien vieles durcheinander. geordnet war. Aufgrund dieser Lehre, oder Irrlehre gemäß den Sunniten, wurden diese schiitischen Gruppen als „Übertreiber“ „Alawi“ und „Alevi“ – man sagt auch Alawite und Alevite – sind (arab. ghulat) oder „extreme Schia“ bezeichnet und als Häreti- eigentlich ein und dasselbe Wort, das erste ist Arabisch ausge- ker abgestempelt. Die Alawiten gehören dieser Strömung an und sprochen und das zweite Türkisch. Beides wird von „Ali“ abge- bilden die einzige Gruppe, die all die Verfolgungen durch die Sun- leitet: Es ist jemand, der Imam Ali, dem Vetter und Schwieger- niten überlebt haben. Sie waren zunächst als Nusairier bekannt. sohn des Propheten Mohammed, folgt und ihn verehrt, also ein Diese Bezeichnung geht auf einen gewissen Muhammad ibn „Ali-Anhänger“. Jemand der Ali folgt, ist Schiite und somit sind Nusair zurück, einem Gefährten des elften Imam Hasan al-As- wir wieder bei der Kernfrage, die die Sunniten von den Schiiten kari, einem Nachfahren Alis. Ibn Nusair wird nachgesagt, dass er unterscheidet: Wer ist der rechtmäßige Nachfolger von Moham- dem Imam Göttlichkeit zugesprochen hätte, von ihm als Prophet med? erkoren wurde und auch sein „Tor“ (arab. bab) sei: Die Gläubi- gen würden nur durch ihn zum Imam gelangen. Nach Ibn Nusair Die Sunniten berufen sich auf den Kalifen, die Schiiten auf den haben einige Männer die Glaubensinhalte erweitert und somit Imam. Obwohl sich die arabischen Alawiten in Syrien und die eine Theologie erschaffen, in deren Zentrum die Göttlichkeit Alis türkischen und kurdischen Aleviten in der Türkei auf Imam Ali steht. Sie sind die eigentlichen Gründer des Nusairi-Glaubens und die nachfolgenden elf Imame berufen, sind das Alawitentum und haben ihre Sekte später in Syrien durch aktive Missionierung und das Alevitentum zwei verschiedene religiöse Traditionen. verbreitet. Später, als sie durch sunnitische Dynastien verfolgt wurden, zogen sich die Nusairier in die Berge im Westen Syriens Unterschiedlich gelebter Glaube hinter Latakia zurück. Die Berge sind als Nusairier-Berge oder Das Alevitentum ist eine Religionsgemeinschaft, die im 13./14. Alawiten-Berge bekannt. Bis heute ist diese Region das Kern- Jahrhundert in Anatolien entstanden ist und hat schiitische land der Alawiten. Es gibt auch Alawiten in der Südtürkei in der Wurzeln; es sind aber auch vorislamische schamanistische Ele- Provinz Hatay und westlich davon in Adana und Mersin. 22
Weitere Strömungen im Islam Sufismus doch, dass sich der Sufismus zu seiner vollen Blüte erst ab dem Sufismus (auch Sufitum oder Sufik) ist eine Sammelbezeich- Auftreten des Propheten Mohammed entwickelt habe, und dass nung für Strömungen im islamischen Kulturkreis, die asketische der Islam die geeignetsten metaphysischen Instrumente für die Tendenzen und eine spirituelle Orientierung aufweisen, die oft geistige und seelische Entwicklung des Menschen bereithalte. mit dem Wort Mystik bezeichnet wird. Einen Anhänger des Su- fismus nennt man Sufi, Sufist oder Derwisch. Für die Ausarbei- Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Überlieferung schon tung ihrer praktischen und theoretischen Lehren, die eine Einheit zu Lebzeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert ge- alles Existierenden annehmen, beziehen sich die Sufis auf einen geben haben. Sie sollen oft als einzelne Asketen gelebt haben. In „inneren Sinn“ des Korans und insbesondere auf Verse, welche der Stadt Basra im heutigen Irak lebte und wirkte Rabia al-Ada- sich auf eine individuelle Beziehung oder Unmittelbarkeit zu Gott wiyya (714 oder 717/718–801), eine der bedeutendsten weib- beziehen lassen, sowie auf die Sunna, die in diesem Sinne als lichen Sufis. Es wird angenommen, dass sie nie heiratete, allem Vorbild gedeutet werden. Weltlichen entsagte und sich selbst auferlegte, keinen Wohnsitz zu haben und stets zu fasten. Bis zum 9. Jahrhundert waren die Sufis eine asketische Rand- gruppe im heutigen Irak. Ab dem 10. Jahrhundert wurden sys- Islamismus tematische Handbücher zum spirituellen Weg des Sufi ausgear- Es handelt sich hier um einen Begriff aus den Sozialwissen- beitet, welche die Nähe zum orthodoxen Sunnitentum betonen. schaften, der seit den 1970er-Jahren zur Charakterisierung von Der Sufismus war in der Geschichte einer der wichtigsten Fakto- verschiedenen Ideologien und Bewegungen mit einem spezi- ren bei der Gewinnung von Nicht-Muslimen für den Islam. fischen Verständnis des Islam verwendet wird. Zur Frage der Abgrenzung des Begriffs Islamismus von anderen Begriffen wie Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbin- Islam, Islamischer Fundamentalismus, Islamistischer Terroris- dung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer mus und Politischer Islam existieren sehr unterschiedliche Aus- Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus legungen. älter ist als der geschichtliche Islam. Sufis selbst betonen je- Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbe- kämpfung (BVT) definiert den Begriff des Islamismus als religiös motivierte Form des politischen Extremismus. Islamisten sehen in den Schriften und Geboten nicht nur Regeln für die Ausübung der Religion, sondern auch Handlungsanweisungen für eine is- lamische Staats- und Gesellschaftsordnung. Ein Grundgedan- ke dieser Ideologie ist die Behauptung, alle Staatsgewalt könne ausschließlich nur von Gott ausgehen. Damit richten sich islami- sche Bestrebungen gegen die Wertvorstellungen, insbesondere gegen die freiheitliche, demokratische Grundordnung. Islamis- ten halten diese Gesellschaftsordnung für unabdingbar. Dieser Ordnung sollen letztlich sowohl Muslime als auch Nicht-Musli- me unterworfen werden. Traditionell gekleideter Derwisch Französische Wissenschaftler und Journalisten sahen sich in 23
den 1970er-Jahren vor der Herausforderung, den politisch-fun- zurück, dessen Wirken Nagel zufolge „von Anfang an ein ent- damentalistischen und extremistischen Islam korrekt zu be- schiedenes Streben nach Dominanz über alle anderen Men- schreiben und einzuordnen. Dieses Bestreben wurde maß- schenverbände“ innewohnte, weil es sich „als unerschütterbar geblich ausgelöst durch die Anwesenheit und das Wirken des wahr und endgültig richtig auffasste. Die Anwendung von Ge- schiitischen Ruhollah Chomeini in Paris sowie die in Ägypten walt zur Selbstbehauptung und dann zur Unterwerfung anderer und Algerien aufkeimenden Protestbewegungen, die sich auf ein Gemeinschaften, die eben nicht islamische waren, ist demge- fundamentalistisch ausgelegtes Islamverständnis bezogen. Der mäß ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Merkmal der Sozialwissenschaftler Gilles Kepel veröffentlichte 1984 in Frank- Geschichte des Wirkens Mohammeds in Medina.“ reich das Buch „Le Prophète et Pharaon. Les mouvements isla- mistes dans l’Égypte contemporaine“. Mit der Übersetzung des Andere Kritiker sehen in der Abgrenzung des Islamismus vom Buches ins Englische begann sich der Begriff, nach anfänglicher Islam ein Konstrukt, um den Islam vom Gewaltvorwurf zu ent- Übertragung des französischen Islamiste als Islamicist, immer lasten. So schreibt der Journalist Henryk M. Broder in seinem stärker durchzusetzen. In der Mitte der 1990er-Jahre war der Buch „Hurra, wir kapitulieren!“, der Unterschied zwischen Islam Begriff schließlich auch in der außerfranzösischen Forschung und Islamismus sei so wie der zwischen Alkohol und Alkoho- weit verbreitet. lismus: „Die vom Westen erfundene Differenzierung zwischen Islam und Islamismus ist politisch gewollt […] Darum wird ver- Der deutsche Politologe Armin Pfahl-Traughber nannte 2011 in sucht, jene Elemente im Islam zu verharmlosen oder zu verber- einem Dossier für die Bundeszentrale für politische Bildung fol- gen, die gemäß den westlichen Wertvorstellungen als inkompa- gende Punkte als typische Merkmale des Islamismus: tibel gesehen werden.“ 1. Absolutsetzung des Islam als Lebens- und Staatsordnung Salafismus 2. Gottes- statt Volkssouveränität als Legitimationsbasis Salafismus gilt als eine ultrakonservative Strömung innerhalb 3. Der Wunsch nach ganzheitlicher Durchdringung und des Islams, die eine sogenannte geistige Rückbesinnung auf die Steuerung der Gesellschaft „Altvorderen“ (arabisch salaf, „Vorfahre“ „Vorgänger‘) anstrebt. 4. Homogene und identitäre Sozialordnung im Namen des Der Ausdruck bezeichnet auch bestimmte Lehren des sunniti- Islam schen Islams. Diese orientieren sich nach ihrem Selbstverständ- 5. Frontstellung gegen den demokratischen Verfassungsstaat nis an der Zeit der „Altvorderen“. Unter den zeitgenössischen 6. Potenzial zu Fanatismus und Gewaltbereitschaft Strömungen zählen einerseits die Schülerschaft Muhammad Der deutsche Islamwissenschaftler Tilman Nagel vertrat 2005 in seinem Essay „Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenz- ziehung“ die Meinung, eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus sei „ohne Erkenntniswert“. „Islam und Islamismus sind so lange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sun- na als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“, scheibt Nagel. Er verwendet das Wort „Islamismus“ und setzt in seiner Argumentation den Begriff letzten Endes mit dem ortho- doxen Islam gleich. Nagel argumentiert, der Islam sei von Hause aus – mit Ausnahme der Mu‘tazila – fundamentalistisch. Der Islam richte sich nicht wie das Christentum in einem bestehen- den Staat ein, sondern gründe „einen eigenen“. Historisch führt Nagel dies auf die frühislamische Gemeinde unter Mohammed Proteste fundamentalistischer Muslime in Jakarta (Indonesien) im Jahr 2016 24
Sie können auch lesen