Ist die Erziehung des Geistes obsolet? - Zur Frage nach der Aktualität von Sprangers und Litts Konzeptionen der Selbsterziehung und Selbstbildung ...

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PR 2022, 76. Jahrgang, S. 261-282
                      © 2022 Dietmar Langer - DOI https://doi.org/10.3726/PR032022.0025

                                             Dietmar Langer

         Ist die Erziehung des Geistes obsolet?
     Zur Frage nach der Aktualität von Sprangers und Litts
     Konzeptionen der Selbsterziehung und Selbstbildung

1. Einleitung                                              bruchstückhaft ahnen. … Die Sprache ist
                                                            hier nur stellvertretend für das Strukturge-
In den 1960er Jahren hieß das heutige                       füge des geistigen Lebens überhaupt. Wir
Schulfach Sport noch Leibeserziehung                        müssen annehmen, daß es irgendwie ein
und die Theorie der Leibeserziehung ar-                     ewiges Gerüst habe. Aber dieses selbst
gumentierte im Rückbezug auf die geis­                      bleibt immer im Hintergrund“.1 Und für
teswissenschaftliche Pädagogik. Für                         Theodor Litt war der Geist ausdrücklich
gebildete Turnlehrer stand damals aber                      das erste und grundlegende Prinzip allen
fest, dass man nicht nur den Leib bzw.                      Seins.
Körper des Schülers als etwas rein Materi-                      Allerdings war beiden klar, dass der
elles trainieren, sondern den ganzen Men-                   Geist eines Menschen nicht direkt bzw. un­
schen durch kulturelle Objektivationen                      mittelbar zugänglich ist, von außen weder
in Form von Spiel, Leistung, Wettkampf,                     durch Erziehung noch sonst wie, also auch
Gestaltung, Tanz etc. bilden und erziehen                   nicht mit hochtechnisierten Methoden der
wollte.                                                     heutigen Hirnforschung, aber auch nicht
    Doch nicht jedes Spiel oder jeder                       von innen, etwa durch Introspektion. Je-
Wettkampf waren dafür geeignet. Der                         doch glaubte Litt schon daran, die Subs-
Gehalt einer Objektivation stelle nur dann                  tanz des Geistes mit einer Meta-Reflexion
einen tragfähigen Bildungsinhalt dar, wenn                  nachweisen zu können (vgl. 7.1). Unser
damit ganz bestimmte Werte verbun-                          Geist ist jedenfalls nach wie vor nicht in
den seien. Für Eduard Spranger spielten                     seinen Ursachen fassbar, sondern nur in
neuhumanistische Werte des Wahren, Ge-                      seinen Wirkungen zugänglich und kommt
rechten und Echten sowie die Werte des                      mittelbar im Denken, Sprechen, Erkennen,
Heiligen eine große Rolle, die nur noch                     Verstehen, Bewerten, Glauben, Fühlen,
von der Bedeutung seiner lebensphiloso-                     Wollen und Handeln zum Vorschein und
phischen Auffassung übertroffen wurde:                      z.B. in regelgerechtem Spiel oder fairem
„Das >Leben< ist von seinen Wurzeln an                      Wettkampf idealtypisch zum Ausdruck.
geistig und deutet auf einen Gesamtgeist                        Geisteswissenschaftlich       orientierte
hin, dessen Organisation wir allerdings nur                 Pädagogen, wie z.B. Eduard Spranger

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und Theodor Litt, sprachen deshalb von                      2. Zur Zielsetzung und Aufbau                             1
der Erweckung des Geistes und nicht von                         des Beitrages                                          2
der Herstellung des Geistes. Sie inter-                                                                                3
pretierten Erziehung als jenen unverzicht-                                                                             4
baren Beistand zur Emporläuterung von                       Ob und inwieweit die Konzeptionen der                      5
einem egoistischen Ich, zu dem man nicht                    Selbsterziehung und Selbstbildung von                      6
erziehen braucht, weil es sich instinktiv von               Spranger und Litt den heute gestellten                     7
alleine durchsetzt, hin zu einem veredelten                 Ansprüchen in Theorie und Praxis gerecht                   8
Selbst, wobei dieser Beistand im günstigs-                  werden können, steht zur Debatte. Über                     9
ten Fall durch Selbsterziehung des Willens                  den von Litt angesprochenen >Sinn des                      10x
und Gewissens sowie durch Selbstbildung                     erzieherischen Tuns< (= Ermöglichung von                   1
der sittlichen Werte gewährleistet werden                   Bildung bzw. Mündigkeit) herrscht nach                     2
kann. Beide gingen also von einem zweifa-                   wie vor ein Konsens, nur über die Wege                     3
chen >Ich< aus, dem Ego und dem höhe­                       dorthin gehen die Ansichten auch heute                     4
ren Ich (= veredeltes Selbst).                              noch weit auseinander. Zurzeit spricht                     5
    Doch die Entwicklung vom egoisti-                       man in der professionalisierten Erzie-                     6
schen Ich zum veredelten Selbst kommt                       hungspraxis, vor allem in der Schule und                   7
nicht von ganz alleine zustande, schon                      Hochschule, kaum noch von der Erzie-                       8
gar nicht bloß durch eine natürliche Rei-                   hung des Geistes, etwa als Gewissens-,                     9
fung. Litt sprach zwar von einem Drang zur                  Willens- oder Moralerziehung. Im Main-                     20x
Selbsterziehung, der aber nur in einer Pä-                  stream der Pädagogik glaubt man mit der                    1
dagogik der Freiheit gebührend eingehegt                    Vermittlung von Schlüsselqualifikationen,                  2
werden kann, weil in der Freiheit sich das                  Bildungsstandards sowie mit Kompetenz-                     3
eigentliche Erwachen des Geistes mani-                      und Qualitätsprüfungen geeignete Wege                      4
festiert. Selbstbildung interpretierte er als               gefunden zu haben, um Zu-Erziehende                        5
verantwortliche Übernahme seiner selbst.                    den heutigen gesellschaftlichen Verhältnis-                6
Allerdings kann Fremderziehung dabei                        sen entsprechend bilden zu können. Damit                   7
nicht entbehrt werden. Nach Spranger                        wird aber nicht an Selbstbildung im Sinne                  8
soll sie zum Gewissen führen und Selbst-                    von Spranger und Litt, sondern eigentlich                  9
erziehung des Gewissens schließlich zum                     nur an effektive Ausbildung gedacht und                    30x
Verantwortungsbewusstsein. Oder wie es                      damit an überprüf- bzw. messbare Kompe-                    1
Spranger auch ausdrückte: Der subjektive                    tenzen (vgl. 3.5).                                         2
Geist des Zu-Erziehenden soll behutsam                          Eine Gedenkschrift für Erich Weniger                   3
geweckt werden, um einmal erwacht nach                      würdigte die Sichtweise der geisteswis-                    4
und nach in den objektiven und normati-                     senschaftlichen Pädagogik 1968 am Aus-                     5
ven Zeitgeist hineinzuwachsen. Bekannt-                     gang ihrer Epoche.3 Dass es zu diesem                      6
lich hatte Litt auf die Frage, ob man als                   Verlust in der Theorie kommen konnte, lag                  7
Erzieher den Zu-Erziehenden eher führen                     auch daran, dass das Subjekt bzw. Selbst                   8
oder lieber selber wachsen lassen soll,                     oder Ich der neuzeitlichen Bewusstsein-                    9
den letzten Schluss der pädagogischen                       sphilosophie schon am Anfang des 20.                       40x
Weisheit im Jahre 1927 so formuliert: „In                   Jahrhunderts von zwei Seiten angegriffen                   1
verantwortungsbewußtem Führen niemals                       wurde, einerseits von der analytischen                     2
das Recht vergessen, das dem aus eige-                      Sprachphilosophie und zum anderen von                      3
nem Grunde wachsenden Leben zusteht –                       der psychologischen Verhaltenstheorie.                     4
in ehrfürchtig-geduldigem Wachsenlassen                     Beide wollten den direkten Zugang zum                      5
niemals die Pflicht vergessen, in der der                   Bewusstsein vermeiden, verzichteten auf                    6
Sinn erzieherischen Tuns sich gründet“.2                    Intuition, Introspektion und Reflexion und                 47x

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setzten auf intersubjektiv überprüfbare                     und Pädagogik (vgl. 4), um daran anschlie-
     Methoden sowie auf sprachliche Analysen,                    ßend zentrale Aspekte einschätzen zu kön-
     die sich vor allem an beobachtetem Verhal-                  nen, die sich auf eine eventuelle Aktualität
     ten orientieren sollten. Der Geist des Men-                 von deren Konzeptionen zur Selbsterzie-
     schen wurde aus behavioristischer Sicht                     hung und Selbstbildung beziehen (vgl. 5
     zur ‚black box‘ erklärt und aus sprachphi-                  und 6). Damit sollen naturalistische Be-
     losophischer Sicht wollte man das Mentale                   funde mit alten pädagogischen Einsichten
     nur noch mit Begriffsanalysen in den Griff                  erneut in Einklang gebracht werden, um
     bekommen (z.B. von Gilbert Ryle). Burr-                     zu zeigen, dass die Erziehung des Geistes
xX   hus F. Skinners Behaviorismus entpuppte                     aufgrund von Konzeptionen der Selbster-
     sich zwar schnell als Sackgasse, weil er                    ziehung und Selbstbildung keineswegs
     geistige Steuer- und Manipulierbarkeit still-               restlos obsolet ist (vgl. 7), und vor allem
     schweigend voraussetzte, aber geblieben                     auch wie sie heute zu handhaben ist (vgl.
     ist die Orientierung am Empirismus, die                     8). Allerdings geht es nicht darum, eine
     sich im Gefolge von Willard V. O. Quine                     Renaissance der geisteswissenschaft-
     in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts                  lichen Pädagogik in die Wege leiten zu
     noch dazu rasant verstärkte, wovon auch                     wollen. Vielmehr ist als zweites Hauptziel
     die Pädagogik nicht verschont blieb (vgl.                   an eine Wiedergeburt des Ich gedacht, je-
     3.5). Diese Entwicklung hin zum strengen                    doch nur in der Kleinschreibweise als Per-
xX   Naturalismus ist auch dafür verantwortlich,                 sonalpronomen. Denn, wenn es das >Ich<
     dass sich das uralte Leib-Seele-Problem                     auch nicht geben sollte, so gibt es doch
     vom Körper-Geist-Problem (vgl. 3.2) zu                      >mich< als Handlungssubjekt, und >ich<
     einer Verengung als Geist-Gehirn-Debatte                    kann über ein komplexes geistiges Vermö-
     verlagerte. Jedoch konnte sich die These                    gen verfügen.
     (Geist = Gehirn) nicht halten, wenngleich
     wir bis heute nicht wissen, was unser
     Geist im Grunde ist (vgl. 3.1). Es gibt zwar                3. Zur Problematik des Beitrages
     gute Gründe für die Verabschiedung vom
     Subjektbegriff bzw. vom Begriff des Selbst                  Beim Versuch einer sachgerechten Beant-
xX   oder Ich (vgl. 3.3), die auch eine Verab-                   wortung der Titelfragen zeigt sich sogleich
     schiedung vom ethischen Universalismus                      ein weitreichendes Problemfeld, das sich
     implizierte (vgl. 3.4), aber es ist dennoch                 vor allem auf fünf Bereiche ausdehnt: (1.)
     unverständlich, warum der ‚Geist‘ in der                    auf den Begriff des Geistes, (2.) auf die
     Pädagogik seit den 1970er Jahren – mit                      Beziehung von Geist und Körper, (3.) auf
     wenigen Ausnahmen – sträflich vernach-                      die Dezentrierung des Selbst bzw. Ich,
     lässigt wurde, warum man also den Faden                     welche die These vom theoretischen Tod
     zur Philosophie des Geistes fast völlig hat                 des Subjekts impliziert, (4.) auf die post-
     abreißen lassen. Ihn wieder aufzuspüren                     moderne Werteproblematik und (5.) auf
     und mit Hilfe der analytischen Einstellung                  die Auslegung von Kompetenzen aufgrund
xX   in der Philosophie des Geistes sowie der                    der Orientierung an wirtschaftlichen Inter-
     Vernunftauslegung des kritischen Rationa-                   essen und der empirischen Forschung.
     lismus neu aufzuspannen, ist ein Hauptziel
     des Beitrages.                                              3.1 Zur Problematik mit dem Begriff des
         Von Interesse ist in den folgenden                           Geistes
     Überlegungen vor allem die Einordnung
     der Denkweisen von Spranger und Litt in                     Hegel ging davon aus, dass das Wesen
xX   die positionelle Landschaft der Philosophie                 des Geistes der reine Begriff sei, der vor

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dem Hintergrund eines absoluten Welt-                       Thesen von Neurobiologen und Neurophi-                     1
geistes als Ich zum Dasein gekommen                         losophen konfrontiert, die sich dem stren-                 2
ist. Davon ging auch Fichte aus und woll-                   gen Naturalismus verpflichtet fühlen und                   3
te daraus das gesamte Sein deduzieren.                      einen Körper-Geist-Substanz-Dualismus                      4
Dagegen sprach Kant vom ‚Ich‘ bloß noch                     und auch die Verwendung des Geistbe-                       5
von einem leeren Begriff, der als transzen-                 griffs für obsolet erklären. Dieser Stand-                 6
dentales Bewusstsein alle unsere Begriffe                   punkt in der Philosophie des Geistes legt                  7
begleitet. Und Dilthey suchte in der Trias                  nunmehr einen Körper-Geist-Monismus                        8
‚Erlebnis – Verstehen – Ausdruck‘ einen                     zugrunde. Aber auch strengen Naturalis-                    9
Zugang zu unserem Geist. Die in einen                       ten ist es bislang nicht gelungen, die völ­                10x
tiefen Abgrund führende Problematik des                     lige Naturalisierung des Geistes restlos                   1
Geistbegriffs ist aber nach wie vor diesel-                 erklären zu können und somit auch nicht,                   2
be. Bertrand Russell hatte diese im Jahre                   einen freien Willen überzeugend weg zu                     3
1921 so formuliert: „Wer nicht gerade Me-                   erklären.6                                                 4
taphysiker von Beruf ist, wird gerne einge-                                                                            5
stehen, daß er nicht weiß, was ‚Geist‘ in                   3.3 Zur Problematik der Auslegung des                     6
Wirklichkeit ist“.4 Und heute müssen dies                        Selbst als Fundament                                  7
nicht nur Metaphysiker zugeben, sondern                                                                                8
auch strenge Naturalisten, wenn sie sich                    Das Subjekt der klassischen Bewusstsein-                   9
redlich um eine evolutionäre Erklärung des                  sphilosophie, z.B. von Descartes, Hob­                     20x
Geistes bemühen.5                                           bes, Locke, Kant bis Fichte und Hegel,                     1
                                                            auf das sich Spranger und Litt bezogen,                    2
3.2 Zur Problematik der Beziehung von                      wurde durch die seit dem 19. Jahrhun-                      3
     Geist und Körper                                       dert zunehmenden skeptischen Stimmen                       4
                                                            gegenüber den idealistischen und be-                       5
Spranger und Litt nahmen in ihren Konzep-                   wusstseinsphilosophischen Auslegungen                      6
tionen zur Selbsterziehung und Selbstbil-                   der Vernunft sprichwörtlich >zerlegt
zeigten sie uns die Rückseite der idealis-                  hinterherlaufen. Der Bildungsbegriff
     tischen Medaille und fassten das Subjekt                    wurde zwar vom Kompetenzbegriff in
     als Unterworfenes oder Zerfallendes auf,                    Theorie und Praxis abgelöst, aber letz-
     als ein Erzeugnis von Macht- und tech-                      terer konnte die mit ihm vor allem auch
     nisch-medialen Strukturen, gesellschaft-                    in der Schulpraxis gesteckten Erwartun-
     lichen Konstellationen bzw. Ideologien,                     gen nicht einlösen. „Der Bildungsbegriff
     als Spielball des Unterbewusstseins und                     scheint eine überkommene Kategorie pä-
     Opfer von Unstetigkeit und Kontingenz                       dagogischen Denkens geworden zu sein.
     (im Sinne von nicht unmöglich, aber auch                    Als Leitkategorie didaktischer Entschei-
xX   nicht notwendig).                                           dungen wurde er Ende der 1960er Jahre
                                                                 durch den Qualifikationsbegriff bedrängt
     3.4 Zur postmodernen Werteproblematik                      und spätestens mit dem … Schlüssel-
                                                                 qualifikationsbegriff verdrängt. Da sich
     Mit der Dekonstruktion bzw. Dezentrie-                      die damit verbundenen Hoffnungen nicht
     rung des Subjekts und dem Verlust des                       erfüllt haben (nicht erfüllen konnten)
     Status als fundamentales Zentrum in der                     ‚… setzte sich im Laufe der 90er Jahre
     Erkenntnistheorie, wobei hier primär der                    der Kompetenzbegriff … durch …‘ Zwi-
     Verstand gemeint ist, ging einher auch                      schenzeitlich ist der Kompetenzbegriff
     der Verlust des Glaubens an die Leis-                       umfassend in Schule und Unterricht ein-
xX   tungsfähigkeit der Vernunft bei Fragen                      gesickert“.7 Aber er lässt sich nicht mit
     nach der Richtigkeit des Handelns. Das                      der Vorstellung der Selbstbildung ver-
     heißt, auch wenn ein vernünftiger Wille                     gleichen, denn Selbstkompetenz ergibt
     vorhanden ist, kann niemand dem moral-                      wenig Sinn.
     philosophischen Dezisionismus entgehen.                          In einer detaillierten Analyse des
     Und das bedeutet, Wertungen ergeben                         Kompetenzbegriffs hält Siegfried Däsch-
     sich nicht aus rational oder empirisch be-                  ler-Seiler als Resümee fest, dass jegliche
     gründeten Erkenntnissen, z.B. die Wahl                      Einseitigkeit einem philosophisch reflek-
     zwischen zwei Absichten, Normen oder                        tierten Erziehungsbegriff nicht gerecht
     Zielen folgt nicht zwingend aus Fakten.                     wird: „So erweist sich ein seit langem in
xX   Sie beruht stets auf einem wertenden Ent­                   die Erziehungswissenschaft eingeführter
     schluss, und das gilt auch für letzte Ziele                 Begriff (‚Kompetenz‘, D.L.), der durchaus
     oder oberste Weltanschauungen. Ein ethi-                    leistungsfähig ist und sich auf ein Konzept
     scher Universalismus als Grundlage für                      von Fähigkeiten bezieht, als Indikator einer
     absolut gültige Werte ist in der Postmo-                    pädagogischen Semantik, die sich an das
     derne genauso obsolet wie die Annahme                       Paradigma der industriellen Produktion an-
     eines cartesischen Ausgangspunkt in der                     lehnt, dieses durch die Terminologie der
     Erkenntnistheorie.                                          empirischen Forschung forciert und einen
                                                                 philosophisch reflektierten Erziehungsbe-
     3.5 Zur Problematik des Kompetenz­                         griff letztlich verfehlt“.8
xX        begriffs aufgrund der Orientierung an                       Damit kommen wir zu Spranger und Litt
          wirtschaftlichen Interessen und der                    zurück, deren Herzensangelegenheit darin
          empirischen Forschung                                  bestand, einen solchen Erziehungs- und
                                                                 Bildungsbegriff zu entwickeln und zu be-
     Pädagogen sollten modischen Trends                          gründen.9 Sowohl Spranger als auch Litt
     wie auch einer hirnphysiologisch ausge-                     hatten damals schon die Sorge geplagt,
     richteten Bildungstheorie nicht unkritisch                  dass „im überbordenden Funktionalismus
xX

     3 / 2022                                 Pädagogische Rundschau                                                 265

      Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                                  wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
der Technik und Wirtschaft der Mensch                       sich in Bezug auf Wilhelm Dilthey die                      1
als Person auf der Strecke bleibe“.10                       geisteswissenschaftliche Position (Nohl,                   2
                                                            Weniger, Frischeisen-Köhler, Spranger,                     3
                                                            Litt, W. Flitner, A. Fischer, Reichwein,                   4
4. Einordnung von Sprangers                                Blättner, Reble u.a.). Dilthey war Lehrer                  5
    und Litts Denkweisen in                                 renommierter Vertreter dieser Denkweise                    6
    die Theorienlandschaft der                              in der Pädagogik, wie z.B. von Herman                      7
                                                            Nohl und Max Frischeisen-Köhler. Spran-                    8
    Philosophie und Pädagogik
                                                            ger war auch ein Schüler Diltheys, promo-                  9
                                                            vierte 1905 jedoch bei Friedrich Paulsen,                  10x
Das Gesamtwerk von Eduard Spranger                          weil er Diltheys Relativismus kritisierte,                 1
füllt ebenso wie jenes von Theodor Litt zu-                 indem er ihm vorwarf, zwar das Problem,                    2
sammen mit Büchern und Aufsätzen über                       aber nicht die Gefahr des aufkommenden                     3
diese Werke weltweit sehr viele Regale                      Werte-Relativismus zu sehen. Hier zeigt                    4
in Bibliotheken. Um Spranger im kulturel-                   sich eine Annäherung Sprangers an die                      5
len Gedächtnis zu behalten, haben sich                      neukantianische Wertphilosophie, doch                      6
vor allem Walter Eisermann11 und Wolf-                      „Sprangers Erziehungs- und Bildungsthe-                    7
gang Hinrichs12 sowie Gottfried Bräuer,                     orie ist insgesamt stärker durch die Tradi-                8
Andreas Flitner und Otto F. Bollnow (vgl.                   tion der Klassik und des Neuhumanismus                     9
Anmerkungen 1 und 18) bemüht. Über Litt                     geprägt als durch Einflüsse Diltheys und                   20x
wurden ebenfalls unzählige Texte verfasst,                  der Neukantianer“.14                                       1
wie z.B. von Rudolf Lassahn13 und Wolf-                          Zwar war Spranger einer der führen-                   2
gang Klafki (vgl. Anmerkung 9). Letzterer                   den Köpfe in den 1920er Jahren, kann                       3
hatte Litt als einen Klassiker der Pädago-                  aber nicht leichthin als einer der Hauptver-               4
gik des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet,                     treter der geisteswissenschaftlichen Päd-                  5
der 1920 Nachfolger von Spranger auf                        agogik traktiert werden, weil er zwischen                  6
dem Lehrstuhl für Philosophie und Päd-                      ‚Geisteswissenschaftlicher Psychologie‘                    7
agogik in Leipzig wurde. Auch Spranger                      und ‚Philosophischer Pädagogik‘ unter-                     8
zählt sicherlich zu diesen Klassikern. Zwar                 schieden hatte, ohne diese Aufteilung allzu                9
war für beide das Bildungsideal der deut-                   sehr hervorzuheben. Es waren aber doch                     30x
schen Klassik und des Neuhumanismus                         zwei Seiten einer Medaille, wenngleich                     1
von großer Bedeutung, so hatten sie doch                    sich ihre Aufgabenfelder überschneiden                     2
auch unterschiedliche philosophische                        konnten. Hegels Philosophie spielte für                    3
Schwerpunkte für ihr Denken gesetzt.                        Spranger zwar auch eine Rolle, aber keine                  4
Doch gingen beide davon aus, dass Phi-                      Hauptrolle wie bei Litt, wobei sich beide                  5
losophie und Pädagogik eine gemeinsame                      mehr oder weniger intensiv mit Kant und                    6
Wurzel haben, und zwar der Mensch und                       dem Neukantianismus auseinandergesetzt                     7
sein Handeln und Denken, wobei Gemein-                      hatten. Insbesondere wurde Spranger                        8
schaft und Geschichte eine zentrale Rolle                   auch von Fichte inspiriert.                                9
spielen. Vor allem setzten sie voraus, dass                      Schopenhauer sah die Quelle allen                     40x
unser Geist die Natur übersteigt, denn nur                  menschlichen Leidens im >ich willEgo
des Leidens beitragen zu können. Theodor                        Im Grunde ging es Spranger in seiner
     Litt wird oftmals auch der geisteswissen-                   Konzeption der Selbsterziehung und
     schaftlichen Pädagogik zugeordnet15, er                     Selbstbildung darum, dass nur ein pflicht-
     hatte aber auch transzendental-kritisches                   bewusst denkendes und „vernünftig wol-
     Denken verwendet und 1953 mit seinem                        lendes Selbst (= höheres Ich im Sinne
     Hegel-Buch eine Wende zu Hegels Dia-                        eines veredelten Selbst) () >Träger von Ver-
     lektik vollzogen.16 Litt war zwar ein stren-                antwortungen< werden (kann)“.18 Denn:
     ger Anhänger von Hegels Idealismus und                      „Persönliche Sittlichkeit entfaltet sich erst,
     hatte grundsätzlich an dessen Philosophie                   wenn das Individuum eine höhere geistige
xX   angeknüpft, wobei der Geist für beide                       Reife erreicht hat“, wobei die „Gruppen-
     das primäre >Sein-Prinzip< darstellte (vgl.                 moral () ein überindividuelles Geistesgebil-
     7.1). Litt wies aber doch eine wichtige Di-                 de (ist)“.19 Insofern betonte Spranger nicht
     stanzierung zu Hegel auf, weil er zuletzt                   nur eine Höherentwicklung des Ich zum
     nicht mehr glaubte, dass die Welt in ihrem                  kultivierten Ich, sondern auch eine Höher-
     Innersten vernünftig strukturiert sei, so-                  führung der geschichtlichen Kultur, wobei
     dass die Menschen selber Verantwortung                      das Kulturideal als Repräsentation einer
     für ihr Handeln übernehmen müssen und                       ewigen Idee fungierte. Insofern verweisen
     diese nicht mehr einer anderen Instanz                      historische Bildungsideale auf eine über
     (Gott, absoluter Geist etc.) überlassen                     ihnen stehende Bildungsidee, die Univer-
xX   können (vgl. 7.3).                                          salität, Totalität und Individualität umfasst.
                                                                     Selbstbildung zeigt sich insofern in der
                                                                 Aufnahme objektiver Werte und soll alle im
                                                                 Subjekt angelegten Wertrichtungen ent-
     5. Zur Auslegung der Selbstbildung
                                                                 binden. Dies wird durch die Auseinander-
         und Selbsterziehung von Eduard                          setzung mit der Kultur als der historischen
         Spranger                                                Verwirklichung der Werte ermöglicht.
                                                                 Wertvolle Gehalte der Kultur sind zugäng-
     Das Hauptanliegen von Spranger bestand                      lich im Verstehen als einer Bewegung des
     in der Entwicklung und Begründung einer                     Geistes, wobei der Geist sich selbst erar-
xX   Theorie der Bildung des geschichtlichen                     beitet. Dabei impliziert jeder einzelne As-
     Menschen und seiner Kultur. In seinem                       pekt, der schon in sich selbst unbegrenzt
     1924 erschienenen Werk Psychologie                          ist, noch dazu eine sich in unendliche
     des Jugendalters zeigte Spranger, wie der                   Weiten ausdehnende geistige Dimension.
     junge Mensch an dem Sinngehalt der ver-                     Verstehen deutete Spranger auch als Er-
     schiedenen Kulturgebiete produktive Teil-                   kennen mittels besonderer Auffassungs-
     habe erlernen kann. Der Geist des jungen                    formen, die somit geistige Grundakte
     Menschen wachse allmählich in den Geist                     darstellen und bezogen sind auf objektiv
     der jeweiligen Zeit hinein.17 Spranger setz-                gültige Werte und entsprechendem Sinn.
     te beim Thema Geist zwar verschiedene                           Das Gelingen der Selbsterziehung
xX   Seinsweisen des Geistigen voraus, z.B.                      kommt vor allem in Selbstkontrolle, Selbst-
     subjektiven, objektiven und normativen                      achtung und Selbstkritik zum Ausdruck,
     Geist, Naturgeist und göttlichen Geist,                     aber auch in der Fähigkeit zum Selbstge-
     aber er beschränkte sich hauptsächlich                      spräch. Selbsterziehung des Gewissens
     auf den in seinen Wirkungen erfahrbaren                     zum gewissenhaften Verantwortungs-
     Geist des Menschen, der auch als Team-                      bewusstsein aufgrund selbstkritischer
     geist oder Geist einer Gruppe oder Institu-                 Reflexion bedeutet somit eine Erziehung
xX   tion zur Anwendung kommen kann.                             zur Selbstgesetzlichkeit und zur sittlichen

     3 / 2022                                 Pädagogische Rundschau                                                 267

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Freiheitsgestaltung.20 Denn Freiheit sig-                   und Vernunft. … Der Gewissensappell ist                    1
nalisiert das eigentliche Erwachen des                      seine politische Antwort auf 1933“.23                      2
Geistes, wobei Spranger dabei auch eine                                                                                3
Gefahr sah: „Und so ist denn das Ent-                                                                                  4
scheidende schon geschehen, wenn der                        6. Zur Auslegung der Selbstbildung                        5
junge Mensch reif wird, darüber nachzu-                         und Selbsterziehung von                                6
denken, was er denn eigentlich von seiner                       Theodor Litt                                           7
Freiheit hat. Dieser Augenblick ist dann al-                                                                           8
lerdings gefährlich“.21 Man denke etwa an                                                                              9
das gegenwärtige Alkoholproblem man-                        Theodor Litt entwickelte eine eigenständi-                 10x
cher Jugendlichen oder die Anwendung                        ge Sichtweise in der Auseinandersetzung                    1
von Gewalt und Hetze, insbesondere auch                     mit Hegel, Kant, Dilthey, Simmel und Cas-                  2
in den (a)sozialen Medien.                                  sirer, die neue Wege in der Kulturphiloso-                 3
    Um also überhaupt handeln zu können,                    phie und philosophischen Anthropologie                     4
müssen wir nach Spranger einen freien                       aufzeigte. Sein Ansatz war geprägt von der                 5
Willen voraussetzen. Jedoch ist dieser                      dialektischen Erörterung des Verhältnisses                 6
nicht per se auch ein vernünftiger Wille,                   von Individuum und Gesellschaft, Mensch                    7
wie Kant mit seiner These der menschli-                     und Welt sowie Vernunft und Leben.                         8
chen Autonomie bzw. von der Einheit von                         Für Litt waren Selbsterziehung und                     9
>Wille und Vernunft< noch angenommen                        Selbstbildung notwendige Faktoren für                      20x
hatte. Auch für Hegel galt noch, dass Ver-                  den Aufbau einer humanen Existenz auf-                     1
nunft immer schon den Willen zur Vernunft                   grund der Idee der personalen Mensch-                      2
impliziert. Jeder vernünftige Wille ist zwar                werdung, denn Humanität gründet sich in                    3
ein freier, aber nicht umgekehrt. Und auch                  einem harmonischen Menschen. „Begriffe                     4
das Gewissen ist nicht automatisch an                       wie Universalität, Totalität, Individualität – in          5
einen vernünftigen Willen geknüpft. Gera-                   dieser Trias hat bekanntlich Spranger den                  6
de die Erweckung des Geistes um dieser                      Kern von W. von Humboldts Humanitäts-                      7
Verknüpfung willen lag Spranger sehr am                     gedanken gefunden – mögen wohl geeig-                      8
Herzen, wobei er auch nicht abgeneigt                       net sein, gewisse dauernde Wesenszüge                      9
gegenüber Hegel war. Spranger wusste                        und Richtungen echten Bildungsstrebens                     30x
genau, dass nahezu alles Denken über das                    zu bezeichnen“.24 Und das Potenzial des                    1
Geistesleben tief dialektisch ist. Und wenn                 Geistes zeigt sich im selbstbewussten Ich,                 2
eben viele Lebenserfahrungen dialektisch                    wobei das veredelte Selbst als Vereinheit-                 3
sind, sich also widersprechen, so bedarf                    lichung und Zusammenschluss von Ego                        4
es umso dringlicher eines wachen Gewis-                     und höherem Ich zum Vorschein kommt.                       5
sens. Spranger galt selber eine Zeitlang                        Selbsterziehung deutete Litt als Hilfe                 6
als das Gewissen in der pädagogischen                       zur Gestaltwerdung des ganzen Men-                         7
Szene. Denn gerade „durch seinen hohen                      schen. Sie bezieht sich auf die Entwicklung                8
Idealismus wurde Spranger für einige                        der Möglichkeit des Geistes als Gestaltung                 9
Jahrzehnte eine Autorität und ein ‚Gewis-                   der sittlichen Persönlichkeit. Gelunge-                    40x
sen‘ der deutschen Pädagogik und des                        ne Selbsterziehung kommt in Selbstbe-                      1
Bildungssystems“.22 Vor allem „war Spran-                   aufsichtigung, Selbstermächtigung und                      2
gers Philosophie eminent pädagogisch. …                     selbstbesinnlicher Reflexionsfähigkeit zum                 3
Nicht zufällig spielt Fichte für Spranger                   Ausdruck, um somit sein Handeln, Wollen,                   4
auch eine größere Rolle als Kant. Das                       Glauben etc. zu durchschauen. Großen                       5
‚Gewissen‘ ist sein ‚Faktum‘ der Freiheit                   Wert legte Litt auf die politische Selbst-                 6
                                                            erziehung, die auf eine Selbstbestimmung                   47x

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zum demokratischen Staatsbewusstsein                        mit sich selbst‘, die Unruhe in uns selbst,
     abzielt und somit keine egoistische Ange-                   der innere Sinn für ethische Qualitäten,
     legenheit ist, sondern sich auf die gesamte                 das untrügliche Gefühl für das Rechte, der
     Gemeinschaft bezieht.25                                     gute Drang im Menschen, daß dieses Ge-
          Vor allem im Erkennen wird Selbstdis-                  wissen, folgt man nicht den Biologen, sei-
     ziplin benötigt: „Der Mensch entschließt                    nen Ursprung und Sitz nicht in den Genen
     sich im Erkenntnisprozeß freiwillig zur me-                 hat, sondern auf Haltungen und Sensibili-
     thodischen Selbstdisziplinierung. Mit die-                  sierungen zurückzuführen ist, die aus der
     ser gewinnt er Erkenntnisse, die zwar real                  Lebenswelt der kleinen Gruppe (Familie,
xX   sind, aber nicht die Totalität des Wirklichen               Freunde, Partner-, Lebensgemein- oder
     umfassen, sie können deshalb nichts über                    Belegschaft etc.) stammen und auf vorra­
     die Zwecke aussagen, zu denen sie ver-                      tionale Tätigkeiten zurückzuführen sind“.27
     wendet werden sollen. Bestimmung von
     Mittel und Zwecken erfolgt immer aus der
     Lebenstotalität heraus“.26 Insofern bleibt                  7. Warum die Erziehung des
     eine Kluft zwischen Sein und Sollen be-                         Geistes nicht veraltet ist
     stehen. In der ganzen nicht-menschlichen
     Natur gibt es kein Sollen. Wie soll man der                 Um zeigen zu können, dass und warum
     Natur ein Geschehen zum Vorwurf ma-                         die Erziehung des Geistes nicht veraltet
xX   chen, etwa einem Vulkan vorhalten, er solle                 ist, ziehen wir die fünf eingangs genannten
     lieber nicht ausbrechen. Und in Bezug auf                   Problembereiche heran und erörtern aktu-
     die menschliche Natur ist es nicht sinnvoll,                elle Lösungsvorschläge.
     unser Gehirnorgan zu ermahnen, es solle
     nach einer umweltbedingten Reizeinwir-                      7.1 Zur Auslegung des Geistbegriffs
     kung die dadurch ausgelösten neuronalen
     Prozesse gefälligst unterlassen? Es macht                   Für Hegel bestand die Substanz des Geis-
     keinen Sinn, dass in der Natur etwas sein                   tes in der Freiheit des sich selbst den-
     soll. Nur der geistige Mensch ist damit                     kenden Geistes, so wie die Schwere die
     konfrontiert und muss das Spannungsver-                     Substanz der Materie darstellt. Betrach-
xX   hältnis zwischen Sein und Sollen immer                      ten wir nun einmal den Versuch von Litt,
     wieder aufs Neue dialektisch angehen und                    die Substanz des Geistes nachzuweisen.
     Verstand und Vernunft mit Bedürfnissen,                     Mit einer Resubstantivierung wollte er da-
     Motiven und Emotionen in Einklang brin-                     maligen Kritikern entgegentreten, die die
     gen, was eben letztlich nur mit Selbstbil-                  Substanz des Geistes anzweifelten. Litt
     dung und Selbsterziehung gelingen kann.                     bediente sich dabei einer Meta-Reflexion
          Selbstbildung besteht bei Litt in der                  bzw. „einer Rückbesinnung auf die Rück-
     Intellektbildung, doch Priorität erhält die                 besinnung“28, die aber nicht von ihm selber
     Charakterbildung. Beide stellen eine geis-                  stammt. Schon Kant betonte, dass man
     tige Arbeit an sich selbst dar und kommen                   mit einer Reflexion der Reflexion nichts
xX   im Verstehen seiner selbst und der Welt                     über das >Ding an sich< wissen könne,
     zum Ausdruck. Für die Charakterbildung                      sondern nur dessen Erscheinung ist für
     ist das Gewissen von großer Bedeutung,                      uns zugänglich. Fichte kritisierte zwar
     das sich zwar nicht ohne Vernunft entfal-                   Kant, indem er ihm vorhielt, damit nur das
     ten kann, aber Rationalität ist nur die eine                ‚Nicht-Sehen-Können‘ des >Ding an sich<
     Seite der Selbstbildung. „Entscheidend                      ins Visier zu nehmen, nicht aber das ‚Den-
     aber bleibt, daß das Gewissen, … Hegel                      ken‘ des >Ding an sich
das Noumenon (=Ding an sich) erken-                              Eine ähnliche Problematik trat auch                   1
nen, wir dagegen können es nur denken.                      bei Karl-Otto Apels Versuch der Letzt-                     2
Denken ist aber nicht schon Erkennen.                       begründung der Vernunft auf und konnte                     3
Deshalb ist bei Kant ein Noumenon im                        nicht gelöst werden. Dies hat Hans Al-                     4
negativen Verstande bloß ein Grenzbe­                       bert schon 1975 hervorgehoben: Eine                        5
griff. Indem das transzendentale Denken                     rational begründete „Ethik, so zeige sich                  6
„(ohne Anschauung!) das Transzendente                       nämlich, könne >die logische und empi-                     7
zwar nicht erkennt, aber immerhin denkt,                    risch wissenschaftliche Rechtfertigung                     8
ist es als bloßes Denken die Erfahrung                      von Meinungen< sogar >als Anspruch                         9
>transzendierendtranszen-                        aller Mitglieder der Argumentationsge-                     10x
dentaltranszenden-                       Logik und der Wissenschaftwenn wir logische Argumentation über-                     7
verstehenden Dialektik von These-Antithe-                   haupt wollendas                   9
     Litts Resubstantivierungsversuch be-                   entscheidende – unabhängige – Argument                     20x
sagt nun, dass sich in einer ersten Refle-                  zur ‚Letztbegründung‘ der Logik mitsamt                    1
xion die Apriorität der denkenden Vernunft                  der von ihr vorausgesetzten Ethik< noch                    2
zeigt. In einer zweiten Reflexion findet man                aussteht, worin wir (Hans Albert u.a.) ihm                 3
dann ein Apriori des Apriori, und dass sei                  wohl beipflichten können“.32                               4
eben die Substanz des Geistes. Denn                              Und auch die evolutionäre Erkenntnis-                 5
hier „geschieht nur dies, daß das apriori-                  theorie konnte das Problem der Vernunft,                   6
sche Wissen … die Struktur des auf die                      dass sie sich bei ihrer Begründung im Kreis                7
Voraussetzungen der Empirie bezüglichen                     dreht, unendlich weiter begründet oder                     8
Wissens durchleuchtet, so nunmehr sich                      dogmatisch abbricht, nicht lösen. Dieses                   9
seine eigene Struktur bis auf den Grund                     Trilemma der Vernunft, „macht uns klar,                    30x
durchsichtig macht. … Es ist Wissen …                       daß das Problem der Vernunft aus dem                       1
auch um sich selbst“.30 Diese Folgerung                     Innern der bloßen Vernunft prinzipiell nicht               2
ist zwar logisch richtig, stellt aber nur ein               zu lösen ist. Und gerade diese Hoffnungs-                  3
Postulat dar, denn die „durch mein Denken                   losigkeit macht dem (Neuro-)Biologen Hoff-                 4
geforderte Sinnhaftigkeit behält nur dann                   nung; denn er besitzt jenen Standpunkt,                    5
ihren Wert, solange ich sie mit meiner                      der es ermöglicht, die Vernunft von außen                  6
Überzeugung stütze. Fehlt aber diese                        her zu begründen. Dies ist die evolutionä-                 7
Überzeugung, was bei Resignation oder                       re Erkenntnistheorie“.33 Weil man bei der                  8
Pessimismus der Fall ist, fällt auch der Be-                Begründung, dass es nur einen einzigen                     9
weisgrund weg. … Litt ist folglich … eine                   kategorialen Rahmen möglicher Erkennt-                     40x
Verwechslung zwischen einer subjektiven                     nis geben könne, und dass dieser durch                     1
Überzeugung und einer objektiven Gültig-                    die Natur unserer Erkenntnisfähigkeiten,                   2
keit unterlaufen. Das eine, die subjektive                  also durch ihre Apriorität, vor jeder Erfah-               3
Überzeugung, lässt sich nicht durch sich                    rung festgelegt, damit dem historischen                    4
selber in das andere, die objektive Gültig-                 Wandel entzogen und für alle Zeiten gültig                 5
keit, überführen“.31                                        sei, aber keinen Standpunkt außerhalb der                  6
                                                            Vernunft einnehmen kann, da dies einer                     47x

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Blickrichtung von nirgendwo oder eben                       war, stand dagegen fest, dass der Geist
     einer göttlichen Sicht entspräche, ist – in                 sich als Ersatzfunktion evolutionär entwi-
     Worten von Hans Michael Baumgartner                         ckelte, um verloren gegangene Fähigkei-
     – die „evolutionäre Erkenntnistheorie bes-                  ten zu kompensieren. Beim Aufbau seines
     tenfalls eine kohärente Deutung der wis-                    Weltbildes ging er von vier Stufen aus: 1.
     senschaftlichen Ergebnisse gemäß unserer                    Anorganisches, 2. Lebendiges, 3. Instinkt
     eigenen Verfassung des begrifflichen Den-                   und 4. Geist. Für Litt kam jedoch im Rück-
     kens. So gesehen ist sie keine Theorie der                  bezug auf Hegels Weltgeist nur die umge-
     Vernunft von außen (wovon Riedl ausging                     kehrte Reihenfolge infrage, also: 1. Geist
xX   – vgl. Anmerkung 33), sondern eine unser                    (Mensch), 2. Tier, 3. Pflanze und 4. Mate-
     Denken befriedigende Selbstauslegung.                       rie. Allerdings konnten weder Hegel noch
     Die Apriorität unserer subjektiven Erkennt-                 Litt erklären, warum die Gestaltenklarheit
     nisstrukturen ist daher nur in (neuro-)biolo-               des zu sich selbst kommenden Geistes der
     gischer Perspektive verständlich gemacht;                   vorhandenen geballten Menge an Leid be-
     aber für die (Neuro-)Biologie selbst not-                   dürfe, um in Form einer leuchtenden Welt
     wendig vorausgesetzt. Für die Apriorität                    des Geistes hell über dem dunklen Tal des
     insbesondere der Strukturen der reflexi-                    Übels zu scheinen (vgl. 7.4).
     ven und der wissenschaftlichen Erkenntnis                        Mittlerweile hat sich die evolutionä-
     bleibt ein Erklärungsdefizit“.34                            re Sicht zur Erklärung unseres Geistes
xX        Solange wir gar keine Vorstellung davon                etabliert. Doch falsch ist die Annahme
     haben, wie das Hirnorgan subjektiven Geist                  von einigen heutigen Hirnforschern, dass
     als reales Bewusstsein aufbaut, haben wir                   Philosophen immer nur von Introspektion
     eine Erklärungslücke, die eine Lücke in der                 ausgingen. Dilthey hatte mit seiner Trias
     Theorie der Beschaffenheit der Welt bedeu-                  von ‚Erlebnis – Verstehen – Ausdruck‘
     tet. Und solange dies ein echtes Rätsel ist,                ganz bewusst einen anderen Zugang zu
     können wir weder Vernunft noch unseren                      unserem Geist gesucht. Und „Dilthey sieht
     Geist restlos erklären. Bertrand Russells                   zudem deutlich, daß auch die geistigen
     Feststellung hat also weiterhin Gültigkeit                  Gebilde und intentionalen Zusammen-
     (vgl. Anmerkung 4). Weder unsere Vernunft                   hänge, die er ‚Lebensäußerungen‘ nennt,
xX   noch unser Geist ist im Ursachenbereich                     stets durch ‚Tatsachen der Natur‘ bedingt
     erklärbar, vor allem weil wir beide dabei                   sind, so daß also das Studium der ‚geisti-
     immer schon benutzen, also voraussetzen.                    gen‘ auch von dem der ‚physischen‘ Tatsa-
     Beide sind jedoch in Wirkungen zugänglich.                  chen abhängt. Trotzdem ist er nicht bereit,
     Vernunft lässt sich auslegen und anwenden,                  die Unterschiede beider Bereiche einfach
     und unser Geist kommt als Inbegriff eines                   zu nivellieren“.35
     komplexen Vermögens (Denken, Glauben,                            Ist man aber dazu bereit, wie z.B. ei-
     Fühlen, Wollen und Handeln) zum Vor-                        nige Hirnforscher bzw. Naturphilosophen,
     schein und in vielen weiteren Kompetenzen                   so ergibt sich vor allem das Problem, wie
     zum Ausdruck (vgl. 7.5).                                    das Gehirn außer als Kausalorgan auch
xX                                                               als logisches Handlungssubjekt von Tätig­
     7.2 Zur Auslegung der Körper-Geist-                        keiten fungieren könne. Dieses Problem
          Beziehung                                              ist auch für strenge Naturalisten noch ein
                                                                 völliges Rätsel und bislang ungelöst. Und
     Spranger und Litt gingen noch von einem                     wenn z.B. Daniel Dennett als strenger Na-
     cartesischen Körper-Geist-Substanz-Du-                      turalist die These vertritt, dass Gedanken
     alismus aus. Für Arnold Gehlen, der von                     aus Molekülen, Proteinen etc. entstehen,
xX   1930 bis 1938 ein Kollege von Litt in Leipzig               dann hat er sicherlich Recht.36 Der absolute

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Idealismus im Sinne einer Philosophie des                   Gemeinschaften unter historischen Be-                      1
reinen bzw. immateriellen Geistes ist ob-                   dingungen. Hirnzustände sind also etwas,                   2
solet. Menschen sind zwar Naturwesen,                       das der Fall ist, ein bewusster Gedanke                    3
und unseren Geist gäbe es nicht ohne                        kann dagegen auch zum Ausdruck brin-                       4
biologische Grundlagen, doch ist er aus                     gen, was zu wollen richtig ist, was aus                    5
Sicht der Emergenz zugleich mehr als die                    guten Gründen sein soll.                                   6
Summe seiner Entstehungsbedingungen.                            Die dabei angenommenen mentalen                        7
Aber genau diese Emergenz kann die Evo-                     Zustände sind an der Erzeugung mensch-                     8
lutionstheorie nicht erklären. Emergenz                     lichen Handelns beteiligt. Irgendwo, ir-                   9
bezeichnet das Auftreten neuer Systemei-                    gendwann und irgendwie müssen sie zu                       10x
genschaften, die in den Einzelteilen des                    Ursachen werden. Dass sie zu Ursachen                      1
Systems nicht einmal in Spuren vorkom-                      werden, davon kann ausgegangen werden.                     2
men. Zwar gibt es das Phänomen, das mit                     Wie dies genau im Sinne naturalistischer                   3
Emergenz beschrieben wird, jedoch hat                       Ursachen geschieht, ist (noch?) nicht be-                  4
der Emergenzbegriff in Bezug auf unseren                    kannt. Und auch umgekehrt ist es noch ein                  5
Geist bzw. das menschliche Bewusstsein                      Rätsel, wie aus biochemischen Prozessen                    6
keinen Erklärungswert, er ist im Grunde                     ein bewusster Gedanke überhaupt zu Stan-                   7
ein verkappter substanzdualistischer Ge-                    de kommen kann. Walter Schulz gab zu                       8
danke und stellt sogar, genau genommen,                     bedenken: „Der Mensch ist ein welthaftes                   9
eine Erklärungsverweigerung dar, indem er                   Wesen, er kann nur denken, >auf Grund<                     20x
dem, was sich der reduzierenden Erklärung                   eines intakten Gehirns. Das ist eine Tatsa-                1
entzieht, bloß einen Namen gibt. Wie der                    che, die jeden Versuch, den Menschen in                    2
qualitative Sprung möglich wird, durch den                  einer reinen intelligiblen Dimension anzusie-              3
jede neue Kognition (Gedanke, Urteil etc.)                  deln, zunichte macht. Aber der Mensch ist                  4
seine biochemischen Voraussetzungen                         eben in der Lage, diese naturale Bedingt-                  5
übersteigt, ist nach wie vor ein großes Ge-                 heit seines Denkens zu denken und sie zu                   6
heimnis der Natur. Das weiß auch Dennett,                   reflektieren“.38 Hirnforscher, die dies nicht              7
findet sich aber damit ab und konstatiert:                  berücksichtigen und geistige Freiheiten                    8
„Die Evolution ist (halt) schlauer als du“.37               bestreiten, geraten in einen Selbstwider-                  9
     Geist ohne neuronale Bedingtheit                       spruch. Aus dem neuronal-orientierten                      30x
bringt zwar gar kein Verhalten hervor, aber                 Aspekt des Geistes folgt jedenfalls nicht,                 1
das Gehirn als Organ des Menschen ist                       dass die naturalistisch-technomorphe Be-                   2
nicht identisch mit dem Geist der Person,                   schreibung von Denken, Fühlen, Wollen                      3
die der Mensch werden kann. Der Mensch                      und Glauben die Sache selbst schon be-                     4
kann lernen, Ansichten zu erzeugen, die                     greifen, denn die gedachten, gefühlten,                    5
wahr oder falsch sind, ebenso Einstel-                      gewollten oder geglaubten Inhalte lassen                   6
lungen, die gut oder böse sein können,                      sich nicht bloß durch die Analyse des neu-                 7
Hirnvorgänge sind weder das eine noch                       ronalen Geschehens erfassen, geschweige                    8
das andere, sie laufen halt ab oder nicht.                  denn erkennen, begreifen, verstehen oder                   9
Hirnvorgänge sind bloß naturbedingt, Gül-                   restlos erklären.                                          40x
tigkeitsbezüge sind dagegen kulturelle                                                                                 1
Errungenschaften, die unter normativen                      7.3 Zur These vom theoretischen Tod                       2
Bedingungen entstehen und symbolischen                           des Subjekts                                          3
Bedeutungswert haben. Erkenntnisse als                                                                                 4
wahrheitsfähige Ansichten und Urteile als                   Eine Rückkehr zur geisteswissenschaft-                     5
moralfähige Einsichten sind abhängig von                    lichen Pädagogik aufgrund der neuzeitli-                   6
normativen Festlegungen menschlicher                        chen Philosophie ist jedenfalls nicht mehr                 47x

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möglich. Man kann heute sowohl im wis-                      lösen, was wohl 1945 durch den Abwurf
     senschaftlichen als auch im ethischen                       von zwei Atombomben in Japan ausgelöst
     Bereich nur noch von hypothetischem                         wurde. Die Distanzierung von Hegel zeigt
     Wissen – auch in Bezug auf das Subjekt                      sich darin, dass Litt die Weltgeschichte
     – ausgehen. „Aber bedeutet dies, daß man                    nicht mehr nur als Erscheinung des ab-
     bedenkenlos den Verkündern des Todes                        soluten Geistes begreifen und insofern
     der Subjektivität zustimmen muß? Wer                        auch nicht alle menschlichen Gräueltaten
     hat denn die Einsicht in die Ohnmacht der                   (Kriege, Ausbeutung, Unterdrückung etc.)
     Subjektivität herbeigeführt? Es war die                     als unumgängliche Bestandteile dieser Er-
xX   Subjektivität selbst, die erkannte, daß sie                 scheinung deuten wollte. Vielmehr hegte
     nicht, von der Welt abgelöst, sich auf sich                 Litt die Überzeugung, dass die geschicht-
     stellen oder gar die Welt vom absoluten                     liche Verantwortung des Menschen für ihr
     Ich her deduzieren könne, sondern daß sie                   Handeln nicht an irgendeine übermensch-
     selbst weltgebunden ist“.39                                 liche Instanz (geschichtlicher Prozess, das
          Wird allerdings diese Weltgebunden-                    Absolute, Gott etc.) übertragen werden
     heit absolut gesetzt, so vertritt man als                   kann.
     strenger Naturalismus einen strikten An-                         Hier ergibt sich aber immer das Prob-
     ti-Transzendentalismus, setzt damit zu tief                 lem der Ideologisierung des Geistes, etwa
     in der Natur an und greift an den Mög-                      in extremer Weise in Form des Nationalso-
xX   lichkeiten eines freien Willens vorbei, der                 zialismus, der Taliban oder des Islamismus
     als geistige Fähigkeit zwar neuronal, aber                  der Gegenwart. Der ideologisierte Geist
     auch kulturell bedingt ist. Setzt man dage-                 handelt aus seiner Sicht ja nicht schlecht
     gen beim >absoluten Ich< an, wie etwa                       oder böse, sondern im Glauben an hohe
     Hegel und Fichte es taten, so greift man                    Ideale, z.B. deutsches Volkstum, den ari-
     zu hoch im Idealen bzw. im platonischen                     schen Menschen oder den Glauben an
     Himmel an und tastet an der Handlungs-                      Allah. Dabei drängt sich die Frage auf,
     realität vorbei. Denn es ist eben nicht alles               warum man das Schlechte und Böse zwar
     vernünftig, was wirklich ist, und wir vermö-                erkennen kann, aber trotzdem die Freiheit
     gen in der Postmoderne „nicht mehr wie                      des Geistes mit völlig ideologisch aufge-
xX   Hegel zu glauben, dass die Welt in ihrem                    ladenen Idealen missbraucht, indem die
     Innersten vernünftig strukturiert sei, und                  Vernunft als kritische Instanz völlig auf der
     wir sind davon überzeugt, dass in ihr nur                   Strecke bleibt, zwar nicht die theoretische
     so viel Vernunft zu finden ist, wie wir in ihr              Vernunft als Verstand, aber doch in ihrer
     selbst verwirklicht haben“40 – eine Einsicht,               praktischen Anwendung als verständi-
     die wir auch Litt zu verdanken haben, und                   gungsorientierte Vernunft. Mit Verstand
     die die Erziehung des Geistes auch heute                    werden Kriege organisiert, mit letzterer
     erforderlich macht und als notwendig aus-                   verhindert.
     weist. In diesem Sinne ist sie keinesfalls                       Litts kritische Haltung führte ihn zur
     veraltet.                                                   Einsicht, dass der Mensch einer zuneh-
xX        Der späte Litt verstand nämlich Sinn                   menden ‚Selbstgefährdung‘ ausgesetzt
     nicht mehr als werthaltig, sondern struktu­                 ist, die von seiner Verführbarkeit herrührt,
     rell. Insofern impliziere er eben werthaltige               welche eigentlich nur – falls überhaupt
     und wertlose Güter. Und eben darin liegt                    – mit aufklärender Bildung in maßvollem
     die postmoderne Werteproblematik (vgl.                      Rahmen gehalten werden kann, wovon
     7.4). Litt hielt sich anfangs mit Kulturkritik              z.B. auch Günther Patzig überzeugt war.
     zurück. Er musste sich erst langsam von                     Letzterer modernisierte Kants Überlegung
xX   Hegels Idee des ‚absoluten Weltgeistes‘                     zur moralischen Motivation und hielt fest:

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Kant „hat nicht recht, wenn er meint, die                   Sinnerlebnisse und Akte des Individuums                    1
Triebfeder, die moralische Motivation, sei                  in den Vordergrund stellen … treiben wir                   2
von allen anderen empirischen Triebfe-                      geisteswissenschaftliche         Psychologie.              3
dern … radikal verschieden, ja sie sei                      Denn die Psychologie ist eine beschrei-                    4
‚die Sittlichkeit, das Sittengesetz selbst,                 bende und verstehende, keine normative                     5
subjektiv betrachtet‘“.41 Und Patzig kam                    Wissenschaft. Nur glaube man nicht, daß                    6
zu dem Schluss: „Der Wunsch, sich mo-                       Psychologie möglich wäre ohne Kennt-                       7
ralisch richtig zu verhalten, kann dann                     nis des Normgemäßen oder Kritisch-Ob-                      8
auch als ein Bedürfnis nach Rationalität                    jektiven“.43 Zum Beispiel stritten Eduard                  9
des eigenen Handelns im weitesten Sinne                     Spranger und Max Weber im Wertur-                          10x
verstanden werden. Dieser Wunsch ist                        teilsstreit um 1913/14 heftig über diese                   1
nicht selbst weiterhin rational begründbar;                 Möglichkeit.                                               2
er muß als eine existentielle, vorrationale                      Auch Theodor Litt hatte stets darauf                  3
Entscheidung zugunsten von Rationalität                     verwiesen, dass nur derjenige wissen                       4
aufgefaßt werden. Jedoch scheint die Pra-                   könne, was Erziehung tatsächlich ist, der                  5
xis zu zeigen, daß durch geeignete Sozia-                   schon weiß, was Erziehung sein bzw. tun                    6
lisation mehr und mehr Menschen für eine                    soll. Dabei ging er im Anschluss an Kant                   7
solche Entscheidung gewonnen werden                         und Hegel vom Primat der praktischen                       8
können“.42 Ein unentbehrlicher Bestandteil                  Vernunft aus. Allerdings war ihm der na-                   9
dieser Sozialisation ist die Erziehung des                  turalistische Fehlschluss schon bewusst,                   20x
Geistes und deshalb keinesfalls veraltet.                   dass also aus dem, was der Fall ist, nicht                 1
                                                            gefolgert werden kann, was sein soll. Bei-                 2
7.4 Zur postmodernen Werteproblematik                      spielsweise „lehnte Litt ein ausdrückliches                3
                                                            Votum im Namen der Wissenschaft zu                         4
Spranger ging in Anlehnung an die Idea-                     Gunsten der republikanischen Staatsform                    5
le der Klassik und des Neuhumanismus                        in der Zeit bis 1933 ab“.44 Hans Albert hat                6
von einer materialen Wertethik aus, in                      als Hauptvertreter des kritischen Rationa-                 7
der >niedrigere< und >höhere< Werte                         lismus im Anschluss an Karl Popper viele                   8
zu unterscheiden sind: Die Wertreihe des                    Jahre später Webers Position verteidigt,                   9
Angenehmen im Bereich des sinnlichen                        indem er das normative Fundament jeder                     30x
Fühlens, die vitalen Werte als Ausdruck                     Wissenschaft in deren Wertbasis einord-                    1
edler Lebensgefühle (etwa Freude, Mut,                      nete, sodass wertfreie Aussagen über                       2
Tapferkeit, aber auch Pünktlichkeit) und                    den Objektbereich schon möglich sind.                      3
die geistigen Werte des Wahren, Gerech-                     Dennoch bleibt eine Kluft zwischen Sein                    4
ten und Echten sowie die Werte des Hei-                     und Sollen bestehen, die nur mit Brücken-                  5
ligen.                                                      prinzipien notdürftig geschlossen werden                   6
    In seinem Buch über Lebensformen                        kann, etwa: Sollen impliziert Können.                      7
aus dem Jahre 1914, in dem Spranger                              Praktische Vernunft hat es mit der Be-                8
geistesphilosophische Grundlagen und                        gründung des Sollens zu tun, jedoch ist                    9
ideale Grundtypen der Individualität er-                    man dabei immer auch mit Begründungen                      40x
örterte und daraus Folgerungen für die                      konfrontiert nach dem, was bezüglich des                   1
Ethik und das Verstehen der geistigen                       Glaubens, Könnens und Wollens tatsäch-                     2
Strukturen zog, hielt er fest: „Sofern wir                  lich der Fall ist. Praktische Vernunft bezieht             3
unser Interesse nur auf die normativen                      sich dabei auf stichhaltige Argumente bzw.                 4
Wertgesetze und auf die normgemäßen                         gute Gründe, und wenn man etwas noch                       5
geistigen Wertgebilde richten, treiben wir                  besser begründen kann, dann scheint                        6
allgemeine Kulturethik. Sofern wir aber die                 es eben auch vernünftiger zu sein. Das                     47x

274                                      Pädagogische Rundschau                                           3 / 2022

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                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Problem ist nur, was sind eigentlich gute                   Ratlosigkeit, die zum gewissenhaften
     Gründe? Diese Frage stellt sich heute                       Nachdenken anregen kann und soll. Und
     mit Vehemenz, weil es keine Letztbegrün-                    auch hierzu kann auf die Erziehung des
     dung mehr zu geben scheint, wie es das                      Geistes nicht verzichtet werden.
     postmoderne Denken in der Philosophie
     nahelegt, wobei das Motto lautet: Selbst-                   7.5 Zur Auslegung des Geistes als
     verwirklichung – aber welche? Auch Kants                         Inbegriff eines komplexen Vermögens
     kategorischer Imperativ ist hierfür keine
     Hilfe. Denn er bürdet uns ja die Einsicht                   Wie Geist ins Fleisch kommt und als be-
xX   auf, aus allen möglichen Maximen jene zu                    wusstes Fleisch z.B. semantische Urteile
     erkennen, die für alle Menschen gelten                      erzeugen und verstehen kann, ist nach wie
     sollen und können.                                          vor ein Rätsel. Nehmen wir z.B. das Wort
          Zwar sind Werturteile (bzw. auch Nor-                  >EselTier< oder >Dummkopf
auf jede Gemütsbewegung, Hoffnung,                          und Erkenntnisse gedeutet wurde und sy-                    1
Liebe, Furcht, Verzagen, Freude, Hass,                      nonym dazu vor allem als ‚Selbst‘ später                   2
Mut, Zorn, Traurigkeit, Angst, Ekel, Scham,                 auch zur Grundlegung des herkömmli-                        3
Reue, Empörung etc. (emotionaler Be-                        chen pädagogischen Gewissensbegriffs                       4
reich der Gefühle und Stimmungen), und                      im modernen Sinne diente, etwa auch bei                    5
zudem auf Entschluss, Begierde, Motive,                     Spranger und Litt. Jedoch ist der moder­                   6
Wille, Absicht etc. (voluntativer Bereich).                 ne Gewissensbegriff wegen der Dezent-                      7
Und was den unerschöpflichen Glaubens-                      rierung des Selbst heute obsolet, weil er                  8
bereich angeht, so neigt der Mensch auf-                    noch von einem ‚höheren Ich‘ ausgeht,                      9
grund seines geistigen Vermögens auch                       welches das ‚An-sich-Gute‘ durch die                       10x
zum Glauben an Übersinnliches, sei es seit                  Stimme des Gewissens vernehmen könne.                      1
jeher der religiöse Glaube an eine exter-                   Abgelehnt wird aus postmoderner Sicht                      2
ne Transzendenz im Sinne einer die Welt                     also die Deutung des Gewissens im Sinne                    3
übersteigenden Macht (Gott). Oder sei es                    einer Instanz, etwa als innere Schnittstel-                4
der philosophische Glaube an metaphy-                       le zur Wahrnehmung der Stimme Gottes                       5
sische Überlegungen, etwa der Glaube                        (Rahner), göttlicher Instinkt (Rousseau), in-              6
von Vertretern des Idealismus an einen                      nerer Gerichtshof (Kant), sittlicher Instinkt              7
Ideenhimmel (Platon), an einen absoluten                    (Herbart), Herz unseres Herzens (Kardinal                  8
Weltgeist (Hegel) oder daran, dass syn-                     Newman) oder als Über-Ich (Freud), aber                    9
thetische Urteile a priori nicht nur möglich,               auch weitere philosophische Deutungen                      20x
sondern auch gültig seien (Kant); und das                   werden zurückgewiesen, wie z.B. als                        1
heißt im Klartext: Zum Überleben müssen                     Strahl aus dem Unendlichen (Fichte) oder                   2
solche Urteile von uns als wahr geglaubt                    als menschliches Existenzial (Heidegger).                  3
werden (Nietzsche), obgleich sie natürlich                  An deren Stelle tritt der postmoderne Ge-                  4
noch falsche Urteile sein können (Popper),                  wissensbegriff als Platzhalter, der noch am                5
was vor allem auch für religiöse Urteile zu-                ehesten mit Hegels >tiefster innerlichen                   6
trifft (Albert). Oder sei es schließlich der                Einsamkeit mit sich selbst< und als >Un-                   7
pädagogische Glaube aufgrund einer im­                      ruhe in sich selbst< vereinbar ist, der aber               8
manenten Transzendenz an die Möglichkeit                    keine Instanz mehr ist, sondern Distanz                    9
der Erziehung des Geistes insbesondere                      schafft zu sich und zur Welt für eine kriti-               30x
zum vernünftigen Willen, also der Glaube,                   sche Vergewisserung seiner selbst, d.h.                    1
dass jeder Mensch seine Verhältnisse zum                    seines Denkens, Glaubens, Fühlens und                      2
Besseren verändern könne.                                   Wollens, also auch seiner Entschlüsse,                     3
      Um die vier Bereiche des Geistes                      Einstellungen und Handlungen.46                            4
(Denken, Glauben, Wollen und Fühlen)                            Und was die heutige Willenserziehung                   5
handlungstheoretisch       zusammenbinden                   betrifft, so hat Gottfried Bräuer, der Spran-              6
und erzieherisch beeinflussen zu können,                    ger in dessen letzten Lebensjahren mit                     7
müssen wir auf eine unentbehrliche geis-                    Helferdiensten (Korrekturlesen und vieles                  8
tige Fähigkeit zurückgreifen, die auch für                  mehr) sehr nahestand, im Jahr 1986 sechs                   9
Spranger und Litt von großer Bedeutung                      Voraussetzungen der Willenserziehung                       40x
war, nämlich auf das Gewissen. Aus phi-                     festgehalten, auf die keine Theorie der                    1
losophischer Sicht sollte die Stimme des                    Erziehung des Geistes verzichten kann.                     2
Gewissens als zentrales Organ abendlän-                     „Eine erste Voraussetzung der Herausbil-                   3
discher Ethik vom menschlichen Subjekt                      dung eines individuellen Willens ist ein sub-              4
vernommen werden, das z.B. von Fichte als                   limierender Umgang mit den Antrieben …                     5
‚Ich-Tätigkeit‘ bewusstseinsphilosophisch                   Zu den Voraussetzungen gehört zweitens                     6
im Sinne eines Fundaments für Einsichten                    aber die Einsicht, daß Selbstbeherrschung                  47x

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