Ist die Erziehung des Geistes obsolet? - Zur Frage nach der Aktualität von Sprangers und Litts Konzeptionen der Selbsterziehung und Selbstbildung ...
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PR 2022, 76. Jahrgang, S. 261-282 © 2022 Dietmar Langer - DOI https://doi.org/10.3726/PR032022.0025 Dietmar Langer Ist die Erziehung des Geistes obsolet? Zur Frage nach der Aktualität von Sprangers und Litts Konzeptionen der Selbsterziehung und Selbstbildung 1. Einleitung bruchstückhaft ahnen. … Die Sprache ist hier nur stellvertretend für das Strukturge- In den 1960er Jahren hieß das heutige füge des geistigen Lebens überhaupt. Wir Schulfach Sport noch Leibeserziehung müssen annehmen, daß es irgendwie ein und die Theorie der Leibeserziehung ar- ewiges Gerüst habe. Aber dieses selbst gumentierte im Rückbezug auf die geis bleibt immer im Hintergrund“.1 Und für teswissenschaftliche Pädagogik. Für Theodor Litt war der Geist ausdrücklich gebildete Turnlehrer stand damals aber das erste und grundlegende Prinzip allen fest, dass man nicht nur den Leib bzw. Seins. Körper des Schülers als etwas rein Materi- Allerdings war beiden klar, dass der elles trainieren, sondern den ganzen Men- Geist eines Menschen nicht direkt bzw. un schen durch kulturelle Objektivationen mittelbar zugänglich ist, von außen weder in Form von Spiel, Leistung, Wettkampf, durch Erziehung noch sonst wie, also auch Gestaltung, Tanz etc. bilden und erziehen nicht mit hochtechnisierten Methoden der wollte. heutigen Hirnforschung, aber auch nicht Doch nicht jedes Spiel oder jeder von innen, etwa durch Introspektion. Je- Wettkampf waren dafür geeignet. Der doch glaubte Litt schon daran, die Subs- Gehalt einer Objektivation stelle nur dann tanz des Geistes mit einer Meta-Reflexion einen tragfähigen Bildungsinhalt dar, wenn nachweisen zu können (vgl. 7.1). Unser damit ganz bestimmte Werte verbun- Geist ist jedenfalls nach wie vor nicht in den seien. Für Eduard Spranger spielten seinen Ursachen fassbar, sondern nur in neuhumanistische Werte des Wahren, Ge- seinen Wirkungen zugänglich und kommt rechten und Echten sowie die Werte des mittelbar im Denken, Sprechen, Erkennen, Heiligen eine große Rolle, die nur noch Verstehen, Bewerten, Glauben, Fühlen, von der Bedeutung seiner lebensphiloso- Wollen und Handeln zum Vorschein und phischen Auffassung übertroffen wurde: z.B. in regelgerechtem Spiel oder fairem „Das >Leben< ist von seinen Wurzeln an Wettkampf idealtypisch zum Ausdruck. geistig und deutet auf einen Gesamtgeist Geisteswissenschaftlich orientierte hin, dessen Organisation wir allerdings nur Pädagogen, wie z.B. Eduard Spranger 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 261 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und Theodor Litt, sprachen deshalb von 2. Zur Zielsetzung und Aufbau 1 der Erweckung des Geistes und nicht von des Beitrages 2 der Herstellung des Geistes. Sie inter- 3 pretierten Erziehung als jenen unverzicht- 4 baren Beistand zur Emporläuterung von Ob und inwieweit die Konzeptionen der 5 einem egoistischen Ich, zu dem man nicht Selbsterziehung und Selbstbildung von 6 erziehen braucht, weil es sich instinktiv von Spranger und Litt den heute gestellten 7 alleine durchsetzt, hin zu einem veredelten Ansprüchen in Theorie und Praxis gerecht 8 Selbst, wobei dieser Beistand im günstigs- werden können, steht zur Debatte. Über 9 ten Fall durch Selbsterziehung des Willens den von Litt angesprochenen >Sinn des 10x und Gewissens sowie durch Selbstbildung erzieherischen Tuns< (= Ermöglichung von 1 der sittlichen Werte gewährleistet werden Bildung bzw. Mündigkeit) herrscht nach 2 kann. Beide gingen also von einem zweifa- wie vor ein Konsens, nur über die Wege 3 chen >Ich< aus, dem Ego und dem höhe dorthin gehen die Ansichten auch heute 4 ren Ich (= veredeltes Selbst). noch weit auseinander. Zurzeit spricht 5 Doch die Entwicklung vom egoisti- man in der professionalisierten Erzie- 6 schen Ich zum veredelten Selbst kommt hungspraxis, vor allem in der Schule und 7 nicht von ganz alleine zustande, schon Hochschule, kaum noch von der Erzie- 8 gar nicht bloß durch eine natürliche Rei- hung des Geistes, etwa als Gewissens-, 9 fung. Litt sprach zwar von einem Drang zur Willens- oder Moralerziehung. Im Main- 20x Selbsterziehung, der aber nur in einer Pä- stream der Pädagogik glaubt man mit der 1 dagogik der Freiheit gebührend eingehegt Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, 2 werden kann, weil in der Freiheit sich das Bildungsstandards sowie mit Kompetenz- 3 eigentliche Erwachen des Geistes mani- und Qualitätsprüfungen geeignete Wege 4 festiert. Selbstbildung interpretierte er als gefunden zu haben, um Zu-Erziehende 5 verantwortliche Übernahme seiner selbst. den heutigen gesellschaftlichen Verhältnis- 6 Allerdings kann Fremderziehung dabei sen entsprechend bilden zu können. Damit 7 nicht entbehrt werden. Nach Spranger wird aber nicht an Selbstbildung im Sinne 8 soll sie zum Gewissen führen und Selbst- von Spranger und Litt, sondern eigentlich 9 erziehung des Gewissens schließlich zum nur an effektive Ausbildung gedacht und 30x Verantwortungsbewusstsein. Oder wie es damit an überprüf- bzw. messbare Kompe- 1 Spranger auch ausdrückte: Der subjektive tenzen (vgl. 3.5). 2 Geist des Zu-Erziehenden soll behutsam Eine Gedenkschrift für Erich Weniger 3 geweckt werden, um einmal erwacht nach würdigte die Sichtweise der geisteswis- 4 und nach in den objektiven und normati- senschaftlichen Pädagogik 1968 am Aus- 5 ven Zeitgeist hineinzuwachsen. Bekannt- gang ihrer Epoche.3 Dass es zu diesem 6 lich hatte Litt auf die Frage, ob man als Verlust in der Theorie kommen konnte, lag 7 Erzieher den Zu-Erziehenden eher führen auch daran, dass das Subjekt bzw. Selbst 8 oder lieber selber wachsen lassen soll, oder Ich der neuzeitlichen Bewusstsein- 9 den letzten Schluss der pädagogischen sphilosophie schon am Anfang des 20. 40x Weisheit im Jahre 1927 so formuliert: „In Jahrhunderts von zwei Seiten angegriffen 1 verantwortungsbewußtem Führen niemals wurde, einerseits von der analytischen 2 das Recht vergessen, das dem aus eige- Sprachphilosophie und zum anderen von 3 nem Grunde wachsenden Leben zusteht – der psychologischen Verhaltenstheorie. 4 in ehrfürchtig-geduldigem Wachsenlassen Beide wollten den direkten Zugang zum 5 niemals die Pflicht vergessen, in der der Bewusstsein vermeiden, verzichteten auf 6 Sinn erzieherischen Tuns sich gründet“.2 Intuition, Introspektion und Reflexion und 47x 262 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
setzten auf intersubjektiv überprüfbare und Pädagogik (vgl. 4), um daran anschlie- Methoden sowie auf sprachliche Analysen, ßend zentrale Aspekte einschätzen zu kön- die sich vor allem an beobachtetem Verhal- nen, die sich auf eine eventuelle Aktualität ten orientieren sollten. Der Geist des Men- von deren Konzeptionen zur Selbsterzie- schen wurde aus behavioristischer Sicht hung und Selbstbildung beziehen (vgl. 5 zur ‚black box‘ erklärt und aus sprachphi- und 6). Damit sollen naturalistische Be- losophischer Sicht wollte man das Mentale funde mit alten pädagogischen Einsichten nur noch mit Begriffsanalysen in den Griff erneut in Einklang gebracht werden, um bekommen (z.B. von Gilbert Ryle). Burr- zu zeigen, dass die Erziehung des Geistes xX hus F. Skinners Behaviorismus entpuppte aufgrund von Konzeptionen der Selbster- sich zwar schnell als Sackgasse, weil er ziehung und Selbstbildung keineswegs geistige Steuer- und Manipulierbarkeit still- restlos obsolet ist (vgl. 7), und vor allem schweigend voraussetzte, aber geblieben auch wie sie heute zu handhaben ist (vgl. ist die Orientierung am Empirismus, die 8). Allerdings geht es nicht darum, eine sich im Gefolge von Willard V. O. Quine Renaissance der geisteswissenschaft- in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lichen Pädagogik in die Wege leiten zu noch dazu rasant verstärkte, wovon auch wollen. Vielmehr ist als zweites Hauptziel die Pädagogik nicht verschont blieb (vgl. an eine Wiedergeburt des Ich gedacht, je- 3.5). Diese Entwicklung hin zum strengen doch nur in der Kleinschreibweise als Per- xX Naturalismus ist auch dafür verantwortlich, sonalpronomen. Denn, wenn es das >Ich< dass sich das uralte Leib-Seele-Problem auch nicht geben sollte, so gibt es doch vom Körper-Geist-Problem (vgl. 3.2) zu >mich< als Handlungssubjekt, und >ich< einer Verengung als Geist-Gehirn-Debatte kann über ein komplexes geistiges Vermö- verlagerte. Jedoch konnte sich die These gen verfügen. (Geist = Gehirn) nicht halten, wenngleich wir bis heute nicht wissen, was unser Geist im Grunde ist (vgl. 3.1). Es gibt zwar 3. Zur Problematik des Beitrages gute Gründe für die Verabschiedung vom Subjektbegriff bzw. vom Begriff des Selbst Beim Versuch einer sachgerechten Beant- xX oder Ich (vgl. 3.3), die auch eine Verab- wortung der Titelfragen zeigt sich sogleich schiedung vom ethischen Universalismus ein weitreichendes Problemfeld, das sich implizierte (vgl. 3.4), aber es ist dennoch vor allem auf fünf Bereiche ausdehnt: (1.) unverständlich, warum der ‚Geist‘ in der auf den Begriff des Geistes, (2.) auf die Pädagogik seit den 1970er Jahren – mit Beziehung von Geist und Körper, (3.) auf wenigen Ausnahmen – sträflich vernach- die Dezentrierung des Selbst bzw. Ich, lässigt wurde, warum man also den Faden welche die These vom theoretischen Tod zur Philosophie des Geistes fast völlig hat des Subjekts impliziert, (4.) auf die post- abreißen lassen. Ihn wieder aufzuspüren moderne Werteproblematik und (5.) auf und mit Hilfe der analytischen Einstellung die Auslegung von Kompetenzen aufgrund xX in der Philosophie des Geistes sowie der der Orientierung an wirtschaftlichen Inter- Vernunftauslegung des kritischen Rationa- essen und der empirischen Forschung. lismus neu aufzuspannen, ist ein Hauptziel des Beitrages. 3.1 Zur Problematik mit dem Begriff des Von Interesse ist in den folgenden Geistes Überlegungen vor allem die Einordnung der Denkweisen von Spranger und Litt in Hegel ging davon aus, dass das Wesen xX die positionelle Landschaft der Philosophie des Geistes der reine Begriff sei, der vor 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 263 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
dem Hintergrund eines absoluten Welt- Thesen von Neurobiologen und Neurophi- 1 geistes als Ich zum Dasein gekommen losophen konfrontiert, die sich dem stren- 2 ist. Davon ging auch Fichte aus und woll- gen Naturalismus verpflichtet fühlen und 3 te daraus das gesamte Sein deduzieren. einen Körper-Geist-Substanz-Dualismus 4 Dagegen sprach Kant vom ‚Ich‘ bloß noch und auch die Verwendung des Geistbe- 5 von einem leeren Begriff, der als transzen- griffs für obsolet erklären. Dieser Stand- 6 dentales Bewusstsein alle unsere Begriffe punkt in der Philosophie des Geistes legt 7 begleitet. Und Dilthey suchte in der Trias nunmehr einen Körper-Geist-Monismus 8 ‚Erlebnis – Verstehen – Ausdruck‘ einen zugrunde. Aber auch strengen Naturalis- 9 Zugang zu unserem Geist. Die in einen ten ist es bislang nicht gelungen, die völ 10x tiefen Abgrund führende Problematik des lige Naturalisierung des Geistes restlos 1 Geistbegriffs ist aber nach wie vor diesel- erklären zu können und somit auch nicht, 2 be. Bertrand Russell hatte diese im Jahre einen freien Willen überzeugend weg zu 3 1921 so formuliert: „Wer nicht gerade Me- erklären.6 4 taphysiker von Beruf ist, wird gerne einge- 5 stehen, daß er nicht weiß, was ‚Geist‘ in 3.3 Zur Problematik der Auslegung des 6 Wirklichkeit ist“.4 Und heute müssen dies Selbst als Fundament 7 nicht nur Metaphysiker zugeben, sondern 8 auch strenge Naturalisten, wenn sie sich Das Subjekt der klassischen Bewusstsein- 9 redlich um eine evolutionäre Erklärung des sphilosophie, z.B. von Descartes, Hob 20x Geistes bemühen.5 bes, Locke, Kant bis Fichte und Hegel, 1 auf das sich Spranger und Litt bezogen, 2 3.2 Zur Problematik der Beziehung von wurde durch die seit dem 19. Jahrhun- 3 Geist und Körper dert zunehmenden skeptischen Stimmen 4 gegenüber den idealistischen und be- 5 Spranger und Litt nahmen in ihren Konzep- wusstseinsphilosophischen Auslegungen 6 tionen zur Selbsterziehung und Selbstbil- der Vernunft sprichwörtlich >zerlegt
zeigten sie uns die Rückseite der idealis- hinterherlaufen. Der Bildungsbegriff tischen Medaille und fassten das Subjekt wurde zwar vom Kompetenzbegriff in als Unterworfenes oder Zerfallendes auf, Theorie und Praxis abgelöst, aber letz- als ein Erzeugnis von Macht- und tech- terer konnte die mit ihm vor allem auch nisch-medialen Strukturen, gesellschaft- in der Schulpraxis gesteckten Erwartun- lichen Konstellationen bzw. Ideologien, gen nicht einlösen. „Der Bildungsbegriff als Spielball des Unterbewusstseins und scheint eine überkommene Kategorie pä- Opfer von Unstetigkeit und Kontingenz dagogischen Denkens geworden zu sein. (im Sinne von nicht unmöglich, aber auch Als Leitkategorie didaktischer Entschei- xX nicht notwendig). dungen wurde er Ende der 1960er Jahre durch den Qualifikationsbegriff bedrängt 3.4 Zur postmodernen Werteproblematik und spätestens mit dem … Schlüssel- qualifikationsbegriff verdrängt. Da sich Mit der Dekonstruktion bzw. Dezentrie- die damit verbundenen Hoffnungen nicht rung des Subjekts und dem Verlust des erfüllt haben (nicht erfüllen konnten) Status als fundamentales Zentrum in der ‚… setzte sich im Laufe der 90er Jahre Erkenntnistheorie, wobei hier primär der der Kompetenzbegriff … durch …‘ Zwi- Verstand gemeint ist, ging einher auch schenzeitlich ist der Kompetenzbegriff der Verlust des Glaubens an die Leis- umfassend in Schule und Unterricht ein- xX tungsfähigkeit der Vernunft bei Fragen gesickert“.7 Aber er lässt sich nicht mit nach der Richtigkeit des Handelns. Das der Vorstellung der Selbstbildung ver- heißt, auch wenn ein vernünftiger Wille gleichen, denn Selbstkompetenz ergibt vorhanden ist, kann niemand dem moral- wenig Sinn. philosophischen Dezisionismus entgehen. In einer detaillierten Analyse des Und das bedeutet, Wertungen ergeben Kompetenzbegriffs hält Siegfried Däsch- sich nicht aus rational oder empirisch be- ler-Seiler als Resümee fest, dass jegliche gründeten Erkenntnissen, z.B. die Wahl Einseitigkeit einem philosophisch reflek- zwischen zwei Absichten, Normen oder tierten Erziehungsbegriff nicht gerecht Zielen folgt nicht zwingend aus Fakten. wird: „So erweist sich ein seit langem in xX Sie beruht stets auf einem wertenden Ent die Erziehungswissenschaft eingeführter schluss, und das gilt auch für letzte Ziele Begriff (‚Kompetenz‘, D.L.), der durchaus oder oberste Weltanschauungen. Ein ethi- leistungsfähig ist und sich auf ein Konzept scher Universalismus als Grundlage für von Fähigkeiten bezieht, als Indikator einer absolut gültige Werte ist in der Postmo- pädagogischen Semantik, die sich an das derne genauso obsolet wie die Annahme Paradigma der industriellen Produktion an- eines cartesischen Ausgangspunkt in der lehnt, dieses durch die Terminologie der Erkenntnistheorie. empirischen Forschung forciert und einen philosophisch reflektierten Erziehungsbe- 3.5 Zur Problematik des Kompetenz griff letztlich verfehlt“.8 xX begriffs aufgrund der Orientierung an Damit kommen wir zu Spranger und Litt wirtschaftlichen Interessen und der zurück, deren Herzensangelegenheit darin empirischen Forschung bestand, einen solchen Erziehungs- und Bildungsbegriff zu entwickeln und zu be- Pädagogen sollten modischen Trends gründen.9 Sowohl Spranger als auch Litt wie auch einer hirnphysiologisch ausge- hatten damals schon die Sorge geplagt, richteten Bildungstheorie nicht unkritisch dass „im überbordenden Funktionalismus xX 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 265 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
der Technik und Wirtschaft der Mensch sich in Bezug auf Wilhelm Dilthey die 1 als Person auf der Strecke bleibe“.10 geisteswissenschaftliche Position (Nohl, 2 Weniger, Frischeisen-Köhler, Spranger, 3 Litt, W. Flitner, A. Fischer, Reichwein, 4 4. Einordnung von Sprangers Blättner, Reble u.a.). Dilthey war Lehrer 5 und Litts Denkweisen in renommierter Vertreter dieser Denkweise 6 die Theorienlandschaft der in der Pädagogik, wie z.B. von Herman 7 Nohl und Max Frischeisen-Köhler. Spran- 8 Philosophie und Pädagogik ger war auch ein Schüler Diltheys, promo- 9 vierte 1905 jedoch bei Friedrich Paulsen, 10x Das Gesamtwerk von Eduard Spranger weil er Diltheys Relativismus kritisierte, 1 füllt ebenso wie jenes von Theodor Litt zu- indem er ihm vorwarf, zwar das Problem, 2 sammen mit Büchern und Aufsätzen über aber nicht die Gefahr des aufkommenden 3 diese Werke weltweit sehr viele Regale Werte-Relativismus zu sehen. Hier zeigt 4 in Bibliotheken. Um Spranger im kulturel- sich eine Annäherung Sprangers an die 5 len Gedächtnis zu behalten, haben sich neukantianische Wertphilosophie, doch 6 vor allem Walter Eisermann11 und Wolf- „Sprangers Erziehungs- und Bildungsthe- 7 gang Hinrichs12 sowie Gottfried Bräuer, orie ist insgesamt stärker durch die Tradi- 8 Andreas Flitner und Otto F. Bollnow (vgl. tion der Klassik und des Neuhumanismus 9 Anmerkungen 1 und 18) bemüht. Über Litt geprägt als durch Einflüsse Diltheys und 20x wurden ebenfalls unzählige Texte verfasst, der Neukantianer“.14 1 wie z.B. von Rudolf Lassahn13 und Wolf- Zwar war Spranger einer der führen- 2 gang Klafki (vgl. Anmerkung 9). Letzterer den Köpfe in den 1920er Jahren, kann 3 hatte Litt als einen Klassiker der Pädago- aber nicht leichthin als einer der Hauptver- 4 gik des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet, treter der geisteswissenschaftlichen Päd- 5 der 1920 Nachfolger von Spranger auf agogik traktiert werden, weil er zwischen 6 dem Lehrstuhl für Philosophie und Päd- ‚Geisteswissenschaftlicher Psychologie‘ 7 agogik in Leipzig wurde. Auch Spranger und ‚Philosophischer Pädagogik‘ unter- 8 zählt sicherlich zu diesen Klassikern. Zwar schieden hatte, ohne diese Aufteilung allzu 9 war für beide das Bildungsideal der deut- sehr hervorzuheben. Es waren aber doch 30x schen Klassik und des Neuhumanismus zwei Seiten einer Medaille, wenngleich 1 von großer Bedeutung, so hatten sie doch sich ihre Aufgabenfelder überschneiden 2 auch unterschiedliche philosophische konnten. Hegels Philosophie spielte für 3 Schwerpunkte für ihr Denken gesetzt. Spranger zwar auch eine Rolle, aber keine 4 Doch gingen beide davon aus, dass Phi- Hauptrolle wie bei Litt, wobei sich beide 5 losophie und Pädagogik eine gemeinsame mehr oder weniger intensiv mit Kant und 6 Wurzel haben, und zwar der Mensch und dem Neukantianismus auseinandergesetzt 7 sein Handeln und Denken, wobei Gemein- hatten. Insbesondere wurde Spranger 8 schaft und Geschichte eine zentrale Rolle auch von Fichte inspiriert. 9 spielen. Vor allem setzten sie voraus, dass Schopenhauer sah die Quelle allen 40x unser Geist die Natur übersteigt, denn nur menschlichen Leidens im >ich willEgo
des Leidens beitragen zu können. Theodor Im Grunde ging es Spranger in seiner Litt wird oftmals auch der geisteswissen- Konzeption der Selbsterziehung und schaftlichen Pädagogik zugeordnet15, er Selbstbildung darum, dass nur ein pflicht- hatte aber auch transzendental-kritisches bewusst denkendes und „vernünftig wol- Denken verwendet und 1953 mit seinem lendes Selbst (= höheres Ich im Sinne Hegel-Buch eine Wende zu Hegels Dia- eines veredelten Selbst) () >Träger von Ver- lektik vollzogen.16 Litt war zwar ein stren- antwortungen< werden (kann)“.18 Denn: ger Anhänger von Hegels Idealismus und „Persönliche Sittlichkeit entfaltet sich erst, hatte grundsätzlich an dessen Philosophie wenn das Individuum eine höhere geistige xX angeknüpft, wobei der Geist für beide Reife erreicht hat“, wobei die „Gruppen- das primäre >Sein-Prinzip< darstellte (vgl. moral () ein überindividuelles Geistesgebil- 7.1). Litt wies aber doch eine wichtige Di- de (ist)“.19 Insofern betonte Spranger nicht stanzierung zu Hegel auf, weil er zuletzt nur eine Höherentwicklung des Ich zum nicht mehr glaubte, dass die Welt in ihrem kultivierten Ich, sondern auch eine Höher- Innersten vernünftig strukturiert sei, so- führung der geschichtlichen Kultur, wobei dass die Menschen selber Verantwortung das Kulturideal als Repräsentation einer für ihr Handeln übernehmen müssen und ewigen Idee fungierte. Insofern verweisen diese nicht mehr einer anderen Instanz historische Bildungsideale auf eine über (Gott, absoluter Geist etc.) überlassen ihnen stehende Bildungsidee, die Univer- xX können (vgl. 7.3). salität, Totalität und Individualität umfasst. Selbstbildung zeigt sich insofern in der Aufnahme objektiver Werte und soll alle im Subjekt angelegten Wertrichtungen ent- 5. Zur Auslegung der Selbstbildung binden. Dies wird durch die Auseinander- und Selbsterziehung von Eduard setzung mit der Kultur als der historischen Spranger Verwirklichung der Werte ermöglicht. Wertvolle Gehalte der Kultur sind zugäng- Das Hauptanliegen von Spranger bestand lich im Verstehen als einer Bewegung des in der Entwicklung und Begründung einer Geistes, wobei der Geist sich selbst erar- xX Theorie der Bildung des geschichtlichen beitet. Dabei impliziert jeder einzelne As- Menschen und seiner Kultur. In seinem pekt, der schon in sich selbst unbegrenzt 1924 erschienenen Werk Psychologie ist, noch dazu eine sich in unendliche des Jugendalters zeigte Spranger, wie der Weiten ausdehnende geistige Dimension. junge Mensch an dem Sinngehalt der ver- Verstehen deutete Spranger auch als Er- schiedenen Kulturgebiete produktive Teil- kennen mittels besonderer Auffassungs- habe erlernen kann. Der Geist des jungen formen, die somit geistige Grundakte Menschen wachse allmählich in den Geist darstellen und bezogen sind auf objektiv der jeweiligen Zeit hinein.17 Spranger setz- gültige Werte und entsprechendem Sinn. te beim Thema Geist zwar verschiedene Das Gelingen der Selbsterziehung xX Seinsweisen des Geistigen voraus, z.B. kommt vor allem in Selbstkontrolle, Selbst- subjektiven, objektiven und normativen achtung und Selbstkritik zum Ausdruck, Geist, Naturgeist und göttlichen Geist, aber auch in der Fähigkeit zum Selbstge- aber er beschränkte sich hauptsächlich spräch. Selbsterziehung des Gewissens auf den in seinen Wirkungen erfahrbaren zum gewissenhaften Verantwortungs- Geist des Menschen, der auch als Team- bewusstsein aufgrund selbstkritischer geist oder Geist einer Gruppe oder Institu- Reflexion bedeutet somit eine Erziehung xX tion zur Anwendung kommen kann. zur Selbstgesetzlichkeit und zur sittlichen 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 267 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Freiheitsgestaltung.20 Denn Freiheit sig- und Vernunft. … Der Gewissensappell ist 1 nalisiert das eigentliche Erwachen des seine politische Antwort auf 1933“.23 2 Geistes, wobei Spranger dabei auch eine 3 Gefahr sah: „Und so ist denn das Ent- 4 scheidende schon geschehen, wenn der 6. Zur Auslegung der Selbstbildung 5 junge Mensch reif wird, darüber nachzu- und Selbsterziehung von 6 denken, was er denn eigentlich von seiner Theodor Litt 7 Freiheit hat. Dieser Augenblick ist dann al- 8 lerdings gefährlich“.21 Man denke etwa an 9 das gegenwärtige Alkoholproblem man- Theodor Litt entwickelte eine eigenständi- 10x cher Jugendlichen oder die Anwendung ge Sichtweise in der Auseinandersetzung 1 von Gewalt und Hetze, insbesondere auch mit Hegel, Kant, Dilthey, Simmel und Cas- 2 in den (a)sozialen Medien. sirer, die neue Wege in der Kulturphiloso- 3 Um also überhaupt handeln zu können, phie und philosophischen Anthropologie 4 müssen wir nach Spranger einen freien aufzeigte. Sein Ansatz war geprägt von der 5 Willen voraussetzen. Jedoch ist dieser dialektischen Erörterung des Verhältnisses 6 nicht per se auch ein vernünftiger Wille, von Individuum und Gesellschaft, Mensch 7 wie Kant mit seiner These der menschli- und Welt sowie Vernunft und Leben. 8 chen Autonomie bzw. von der Einheit von Für Litt waren Selbsterziehung und 9 >Wille und Vernunft< noch angenommen Selbstbildung notwendige Faktoren für 20x hatte. Auch für Hegel galt noch, dass Ver- den Aufbau einer humanen Existenz auf- 1 nunft immer schon den Willen zur Vernunft grund der Idee der personalen Mensch- 2 impliziert. Jeder vernünftige Wille ist zwar werdung, denn Humanität gründet sich in 3 ein freier, aber nicht umgekehrt. Und auch einem harmonischen Menschen. „Begriffe 4 das Gewissen ist nicht automatisch an wie Universalität, Totalität, Individualität – in 5 einen vernünftigen Willen geknüpft. Gera- dieser Trias hat bekanntlich Spranger den 6 de die Erweckung des Geistes um dieser Kern von W. von Humboldts Humanitäts- 7 Verknüpfung willen lag Spranger sehr am gedanken gefunden – mögen wohl geeig- 8 Herzen, wobei er auch nicht abgeneigt net sein, gewisse dauernde Wesenszüge 9 gegenüber Hegel war. Spranger wusste und Richtungen echten Bildungsstrebens 30x genau, dass nahezu alles Denken über das zu bezeichnen“.24 Und das Potenzial des 1 Geistesleben tief dialektisch ist. Und wenn Geistes zeigt sich im selbstbewussten Ich, 2 eben viele Lebenserfahrungen dialektisch wobei das veredelte Selbst als Vereinheit- 3 sind, sich also widersprechen, so bedarf lichung und Zusammenschluss von Ego 4 es umso dringlicher eines wachen Gewis- und höherem Ich zum Vorschein kommt. 5 sens. Spranger galt selber eine Zeitlang Selbsterziehung deutete Litt als Hilfe 6 als das Gewissen in der pädagogischen zur Gestaltwerdung des ganzen Men- 7 Szene. Denn gerade „durch seinen hohen schen. Sie bezieht sich auf die Entwicklung 8 Idealismus wurde Spranger für einige der Möglichkeit des Geistes als Gestaltung 9 Jahrzehnte eine Autorität und ein ‚Gewis- der sittlichen Persönlichkeit. Gelunge- 40x sen‘ der deutschen Pädagogik und des ne Selbsterziehung kommt in Selbstbe- 1 Bildungssystems“.22 Vor allem „war Spran- aufsichtigung, Selbstermächtigung und 2 gers Philosophie eminent pädagogisch. … selbstbesinnlicher Reflexionsfähigkeit zum 3 Nicht zufällig spielt Fichte für Spranger Ausdruck, um somit sein Handeln, Wollen, 4 auch eine größere Rolle als Kant. Das Glauben etc. zu durchschauen. Großen 5 ‚Gewissen‘ ist sein ‚Faktum‘ der Freiheit Wert legte Litt auf die politische Selbst- 6 erziehung, die auf eine Selbstbestimmung 47x 268 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
zum demokratischen Staatsbewusstsein mit sich selbst‘, die Unruhe in uns selbst, abzielt und somit keine egoistische Ange- der innere Sinn für ethische Qualitäten, legenheit ist, sondern sich auf die gesamte das untrügliche Gefühl für das Rechte, der Gemeinschaft bezieht.25 gute Drang im Menschen, daß dieses Ge- Vor allem im Erkennen wird Selbstdis- wissen, folgt man nicht den Biologen, sei- ziplin benötigt: „Der Mensch entschließt nen Ursprung und Sitz nicht in den Genen sich im Erkenntnisprozeß freiwillig zur me- hat, sondern auf Haltungen und Sensibili- thodischen Selbstdisziplinierung. Mit die- sierungen zurückzuführen ist, die aus der ser gewinnt er Erkenntnisse, die zwar real Lebenswelt der kleinen Gruppe (Familie, xX sind, aber nicht die Totalität des Wirklichen Freunde, Partner-, Lebensgemein- oder umfassen, sie können deshalb nichts über Belegschaft etc.) stammen und auf vorra die Zwecke aussagen, zu denen sie ver- tionale Tätigkeiten zurückzuführen sind“.27 wendet werden sollen. Bestimmung von Mittel und Zwecken erfolgt immer aus der Lebenstotalität heraus“.26 Insofern bleibt 7. Warum die Erziehung des eine Kluft zwischen Sein und Sollen be- Geistes nicht veraltet ist stehen. In der ganzen nicht-menschlichen Natur gibt es kein Sollen. Wie soll man der Um zeigen zu können, dass und warum Natur ein Geschehen zum Vorwurf ma- die Erziehung des Geistes nicht veraltet xX chen, etwa einem Vulkan vorhalten, er solle ist, ziehen wir die fünf eingangs genannten lieber nicht ausbrechen. Und in Bezug auf Problembereiche heran und erörtern aktu- die menschliche Natur ist es nicht sinnvoll, elle Lösungsvorschläge. unser Gehirnorgan zu ermahnen, es solle nach einer umweltbedingten Reizeinwir- 7.1 Zur Auslegung des Geistbegriffs kung die dadurch ausgelösten neuronalen Prozesse gefälligst unterlassen? Es macht Für Hegel bestand die Substanz des Geis- keinen Sinn, dass in der Natur etwas sein tes in der Freiheit des sich selbst den- soll. Nur der geistige Mensch ist damit kenden Geistes, so wie die Schwere die konfrontiert und muss das Spannungsver- Substanz der Materie darstellt. Betrach- xX hältnis zwischen Sein und Sollen immer ten wir nun einmal den Versuch von Litt, wieder aufs Neue dialektisch angehen und die Substanz des Geistes nachzuweisen. Verstand und Vernunft mit Bedürfnissen, Mit einer Resubstantivierung wollte er da- Motiven und Emotionen in Einklang brin- maligen Kritikern entgegentreten, die die gen, was eben letztlich nur mit Selbstbil- Substanz des Geistes anzweifelten. Litt dung und Selbsterziehung gelingen kann. bediente sich dabei einer Meta-Reflexion Selbstbildung besteht bei Litt in der bzw. „einer Rückbesinnung auf die Rück- Intellektbildung, doch Priorität erhält die besinnung“28, die aber nicht von ihm selber Charakterbildung. Beide stellen eine geis- stammt. Schon Kant betonte, dass man tige Arbeit an sich selbst dar und kommen mit einer Reflexion der Reflexion nichts xX im Verstehen seiner selbst und der Welt über das >Ding an sich< wissen könne, zum Ausdruck. Für die Charakterbildung sondern nur dessen Erscheinung ist für ist das Gewissen von großer Bedeutung, uns zugänglich. Fichte kritisierte zwar das sich zwar nicht ohne Vernunft entfal- Kant, indem er ihm vorhielt, damit nur das ten kann, aber Rationalität ist nur die eine ‚Nicht-Sehen-Können‘ des >Ding an sich< Seite der Selbstbildung. „Entscheidend ins Visier zu nehmen, nicht aber das ‚Den- aber bleibt, daß das Gewissen, … Hegel ken‘ des >Ding an sich
das Noumenon (=Ding an sich) erken- Eine ähnliche Problematik trat auch 1 nen, wir dagegen können es nur denken. bei Karl-Otto Apels Versuch der Letzt- 2 Denken ist aber nicht schon Erkennen. begründung der Vernunft auf und konnte 3 Deshalb ist bei Kant ein Noumenon im nicht gelöst werden. Dies hat Hans Al- 4 negativen Verstande bloß ein Grenzbe bert schon 1975 hervorgehoben: Eine 5 griff. Indem das transzendentale Denken rational begründete „Ethik, so zeige sich 6 „(ohne Anschauung!) das Transzendente nämlich, könne >die logische und empi- 7 zwar nicht erkennt, aber immerhin denkt, risch wissenschaftliche Rechtfertigung 8 ist es als bloßes Denken die Erfahrung von Meinungen< sogar >als Anspruch 9 >transzendierendtranszen- aller Mitglieder der Argumentationsge- 10x dentaltranszenden- Logik und der Wissenschaftwenn wir logische Argumentation über- 7 verstehenden Dialektik von These-Antithe- haupt wollendas 9 Litts Resubstantivierungsversuch be- entscheidende – unabhängige – Argument 20x sagt nun, dass sich in einer ersten Refle- zur ‚Letztbegründung‘ der Logik mitsamt 1 xion die Apriorität der denkenden Vernunft der von ihr vorausgesetzten Ethik< noch 2 zeigt. In einer zweiten Reflexion findet man aussteht, worin wir (Hans Albert u.a.) ihm 3 dann ein Apriori des Apriori, und dass sei wohl beipflichten können“.32 4 eben die Substanz des Geistes. Denn Und auch die evolutionäre Erkenntnis- 5 hier „geschieht nur dies, daß das apriori- theorie konnte das Problem der Vernunft, 6 sche Wissen … die Struktur des auf die dass sie sich bei ihrer Begründung im Kreis 7 Voraussetzungen der Empirie bezüglichen dreht, unendlich weiter begründet oder 8 Wissens durchleuchtet, so nunmehr sich dogmatisch abbricht, nicht lösen. Dieses 9 seine eigene Struktur bis auf den Grund Trilemma der Vernunft, „macht uns klar, 30x durchsichtig macht. … Es ist Wissen … daß das Problem der Vernunft aus dem 1 auch um sich selbst“.30 Diese Folgerung Innern der bloßen Vernunft prinzipiell nicht 2 ist zwar logisch richtig, stellt aber nur ein zu lösen ist. Und gerade diese Hoffnungs- 3 Postulat dar, denn die „durch mein Denken losigkeit macht dem (Neuro-)Biologen Hoff- 4 geforderte Sinnhaftigkeit behält nur dann nung; denn er besitzt jenen Standpunkt, 5 ihren Wert, solange ich sie mit meiner der es ermöglicht, die Vernunft von außen 6 Überzeugung stütze. Fehlt aber diese her zu begründen. Dies ist die evolutionä- 7 Überzeugung, was bei Resignation oder re Erkenntnistheorie“.33 Weil man bei der 8 Pessimismus der Fall ist, fällt auch der Be- Begründung, dass es nur einen einzigen 9 weisgrund weg. … Litt ist folglich … eine kategorialen Rahmen möglicher Erkennt- 40x Verwechslung zwischen einer subjektiven nis geben könne, und dass dieser durch 1 Überzeugung und einer objektiven Gültig- die Natur unserer Erkenntnisfähigkeiten, 2 keit unterlaufen. Das eine, die subjektive also durch ihre Apriorität, vor jeder Erfah- 3 Überzeugung, lässt sich nicht durch sich rung festgelegt, damit dem historischen 4 selber in das andere, die objektive Gültig- Wandel entzogen und für alle Zeiten gültig 5 keit, überführen“.31 sei, aber keinen Standpunkt außerhalb der 6 Vernunft einnehmen kann, da dies einer 47x 270 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Blickrichtung von nirgendwo oder eben war, stand dagegen fest, dass der Geist einer göttlichen Sicht entspräche, ist – in sich als Ersatzfunktion evolutionär entwi- Worten von Hans Michael Baumgartner ckelte, um verloren gegangene Fähigkei- – die „evolutionäre Erkenntnistheorie bes- ten zu kompensieren. Beim Aufbau seines tenfalls eine kohärente Deutung der wis- Weltbildes ging er von vier Stufen aus: 1. senschaftlichen Ergebnisse gemäß unserer Anorganisches, 2. Lebendiges, 3. Instinkt eigenen Verfassung des begrifflichen Den- und 4. Geist. Für Litt kam jedoch im Rück- kens. So gesehen ist sie keine Theorie der bezug auf Hegels Weltgeist nur die umge- Vernunft von außen (wovon Riedl ausging kehrte Reihenfolge infrage, also: 1. Geist xX – vgl. Anmerkung 33), sondern eine unser (Mensch), 2. Tier, 3. Pflanze und 4. Mate- Denken befriedigende Selbstauslegung. rie. Allerdings konnten weder Hegel noch Die Apriorität unserer subjektiven Erkennt- Litt erklären, warum die Gestaltenklarheit nisstrukturen ist daher nur in (neuro-)biolo- des zu sich selbst kommenden Geistes der gischer Perspektive verständlich gemacht; vorhandenen geballten Menge an Leid be- aber für die (Neuro-)Biologie selbst not- dürfe, um in Form einer leuchtenden Welt wendig vorausgesetzt. Für die Apriorität des Geistes hell über dem dunklen Tal des insbesondere der Strukturen der reflexi- Übels zu scheinen (vgl. 7.4). ven und der wissenschaftlichen Erkenntnis Mittlerweile hat sich die evolutionä- bleibt ein Erklärungsdefizit“.34 re Sicht zur Erklärung unseres Geistes xX Solange wir gar keine Vorstellung davon etabliert. Doch falsch ist die Annahme haben, wie das Hirnorgan subjektiven Geist von einigen heutigen Hirnforschern, dass als reales Bewusstsein aufbaut, haben wir Philosophen immer nur von Introspektion eine Erklärungslücke, die eine Lücke in der ausgingen. Dilthey hatte mit seiner Trias Theorie der Beschaffenheit der Welt bedeu- von ‚Erlebnis – Verstehen – Ausdruck‘ tet. Und solange dies ein echtes Rätsel ist, ganz bewusst einen anderen Zugang zu können wir weder Vernunft noch unseren unserem Geist gesucht. Und „Dilthey sieht Geist restlos erklären. Bertrand Russells zudem deutlich, daß auch die geistigen Feststellung hat also weiterhin Gültigkeit Gebilde und intentionalen Zusammen- (vgl. Anmerkung 4). Weder unsere Vernunft hänge, die er ‚Lebensäußerungen‘ nennt, xX noch unser Geist ist im Ursachenbereich stets durch ‚Tatsachen der Natur‘ bedingt erklärbar, vor allem weil wir beide dabei sind, so daß also das Studium der ‚geisti- immer schon benutzen, also voraussetzen. gen‘ auch von dem der ‚physischen‘ Tatsa- Beide sind jedoch in Wirkungen zugänglich. chen abhängt. Trotzdem ist er nicht bereit, Vernunft lässt sich auslegen und anwenden, die Unterschiede beider Bereiche einfach und unser Geist kommt als Inbegriff eines zu nivellieren“.35 komplexen Vermögens (Denken, Glauben, Ist man aber dazu bereit, wie z.B. ei- Fühlen, Wollen und Handeln) zum Vor- nige Hirnforscher bzw. Naturphilosophen, schein und in vielen weiteren Kompetenzen so ergibt sich vor allem das Problem, wie zum Ausdruck (vgl. 7.5). das Gehirn außer als Kausalorgan auch xX als logisches Handlungssubjekt von Tätig 7.2 Zur Auslegung der Körper-Geist- keiten fungieren könne. Dieses Problem Beziehung ist auch für strenge Naturalisten noch ein völliges Rätsel und bislang ungelöst. Und Spranger und Litt gingen noch von einem wenn z.B. Daniel Dennett als strenger Na- cartesischen Körper-Geist-Substanz-Du- turalist die These vertritt, dass Gedanken alismus aus. Für Arnold Gehlen, der von aus Molekülen, Proteinen etc. entstehen, xX 1930 bis 1938 ein Kollege von Litt in Leipzig dann hat er sicherlich Recht.36 Der absolute 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 271 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Idealismus im Sinne einer Philosophie des Gemeinschaften unter historischen Be- 1 reinen bzw. immateriellen Geistes ist ob- dingungen. Hirnzustände sind also etwas, 2 solet. Menschen sind zwar Naturwesen, das der Fall ist, ein bewusster Gedanke 3 und unseren Geist gäbe es nicht ohne kann dagegen auch zum Ausdruck brin- 4 biologische Grundlagen, doch ist er aus gen, was zu wollen richtig ist, was aus 5 Sicht der Emergenz zugleich mehr als die guten Gründen sein soll. 6 Summe seiner Entstehungsbedingungen. Die dabei angenommenen mentalen 7 Aber genau diese Emergenz kann die Evo- Zustände sind an der Erzeugung mensch- 8 lutionstheorie nicht erklären. Emergenz lichen Handelns beteiligt. Irgendwo, ir- 9 bezeichnet das Auftreten neuer Systemei- gendwann und irgendwie müssen sie zu 10x genschaften, die in den Einzelteilen des Ursachen werden. Dass sie zu Ursachen 1 Systems nicht einmal in Spuren vorkom- werden, davon kann ausgegangen werden. 2 men. Zwar gibt es das Phänomen, das mit Wie dies genau im Sinne naturalistischer 3 Emergenz beschrieben wird, jedoch hat Ursachen geschieht, ist (noch?) nicht be- 4 der Emergenzbegriff in Bezug auf unseren kannt. Und auch umgekehrt ist es noch ein 5 Geist bzw. das menschliche Bewusstsein Rätsel, wie aus biochemischen Prozessen 6 keinen Erklärungswert, er ist im Grunde ein bewusster Gedanke überhaupt zu Stan- 7 ein verkappter substanzdualistischer Ge- de kommen kann. Walter Schulz gab zu 8 danke und stellt sogar, genau genommen, bedenken: „Der Mensch ist ein welthaftes 9 eine Erklärungsverweigerung dar, indem er Wesen, er kann nur denken, >auf Grund< 20x dem, was sich der reduzierenden Erklärung eines intakten Gehirns. Das ist eine Tatsa- 1 entzieht, bloß einen Namen gibt. Wie der che, die jeden Versuch, den Menschen in 2 qualitative Sprung möglich wird, durch den einer reinen intelligiblen Dimension anzusie- 3 jede neue Kognition (Gedanke, Urteil etc.) deln, zunichte macht. Aber der Mensch ist 4 seine biochemischen Voraussetzungen eben in der Lage, diese naturale Bedingt- 5 übersteigt, ist nach wie vor ein großes Ge- heit seines Denkens zu denken und sie zu 6 heimnis der Natur. Das weiß auch Dennett, reflektieren“.38 Hirnforscher, die dies nicht 7 findet sich aber damit ab und konstatiert: berücksichtigen und geistige Freiheiten 8 „Die Evolution ist (halt) schlauer als du“.37 bestreiten, geraten in einen Selbstwider- 9 Geist ohne neuronale Bedingtheit spruch. Aus dem neuronal-orientierten 30x bringt zwar gar kein Verhalten hervor, aber Aspekt des Geistes folgt jedenfalls nicht, 1 das Gehirn als Organ des Menschen ist dass die naturalistisch-technomorphe Be- 2 nicht identisch mit dem Geist der Person, schreibung von Denken, Fühlen, Wollen 3 die der Mensch werden kann. Der Mensch und Glauben die Sache selbst schon be- 4 kann lernen, Ansichten zu erzeugen, die greifen, denn die gedachten, gefühlten, 5 wahr oder falsch sind, ebenso Einstel- gewollten oder geglaubten Inhalte lassen 6 lungen, die gut oder böse sein können, sich nicht bloß durch die Analyse des neu- 7 Hirnvorgänge sind weder das eine noch ronalen Geschehens erfassen, geschweige 8 das andere, sie laufen halt ab oder nicht. denn erkennen, begreifen, verstehen oder 9 Hirnvorgänge sind bloß naturbedingt, Gül- restlos erklären. 40x tigkeitsbezüge sind dagegen kulturelle 1 Errungenschaften, die unter normativen 7.3 Zur These vom theoretischen Tod 2 Bedingungen entstehen und symbolischen des Subjekts 3 Bedeutungswert haben. Erkenntnisse als 4 wahrheitsfähige Ansichten und Urteile als Eine Rückkehr zur geisteswissenschaft- 5 moralfähige Einsichten sind abhängig von lichen Pädagogik aufgrund der neuzeitli- 6 normativen Festlegungen menschlicher chen Philosophie ist jedenfalls nicht mehr 47x 272 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
möglich. Man kann heute sowohl im wis- lösen, was wohl 1945 durch den Abwurf senschaftlichen als auch im ethischen von zwei Atombomben in Japan ausgelöst Bereich nur noch von hypothetischem wurde. Die Distanzierung von Hegel zeigt Wissen – auch in Bezug auf das Subjekt sich darin, dass Litt die Weltgeschichte – ausgehen. „Aber bedeutet dies, daß man nicht mehr nur als Erscheinung des ab- bedenkenlos den Verkündern des Todes soluten Geistes begreifen und insofern der Subjektivität zustimmen muß? Wer auch nicht alle menschlichen Gräueltaten hat denn die Einsicht in die Ohnmacht der (Kriege, Ausbeutung, Unterdrückung etc.) Subjektivität herbeigeführt? Es war die als unumgängliche Bestandteile dieser Er- xX Subjektivität selbst, die erkannte, daß sie scheinung deuten wollte. Vielmehr hegte nicht, von der Welt abgelöst, sich auf sich Litt die Überzeugung, dass die geschicht- stellen oder gar die Welt vom absoluten liche Verantwortung des Menschen für ihr Ich her deduzieren könne, sondern daß sie Handeln nicht an irgendeine übermensch- selbst weltgebunden ist“.39 liche Instanz (geschichtlicher Prozess, das Wird allerdings diese Weltgebunden- Absolute, Gott etc.) übertragen werden heit absolut gesetzt, so vertritt man als kann. strenger Naturalismus einen strikten An- Hier ergibt sich aber immer das Prob- ti-Transzendentalismus, setzt damit zu tief lem der Ideologisierung des Geistes, etwa in der Natur an und greift an den Mög- in extremer Weise in Form des Nationalso- xX lichkeiten eines freien Willens vorbei, der zialismus, der Taliban oder des Islamismus als geistige Fähigkeit zwar neuronal, aber der Gegenwart. Der ideologisierte Geist auch kulturell bedingt ist. Setzt man dage- handelt aus seiner Sicht ja nicht schlecht gen beim >absoluten Ich< an, wie etwa oder böse, sondern im Glauben an hohe Hegel und Fichte es taten, so greift man Ideale, z.B. deutsches Volkstum, den ari- zu hoch im Idealen bzw. im platonischen schen Menschen oder den Glauben an Himmel an und tastet an der Handlungs- Allah. Dabei drängt sich die Frage auf, realität vorbei. Denn es ist eben nicht alles warum man das Schlechte und Böse zwar vernünftig, was wirklich ist, und wir vermö- erkennen kann, aber trotzdem die Freiheit gen in der Postmoderne „nicht mehr wie des Geistes mit völlig ideologisch aufge- xX Hegel zu glauben, dass die Welt in ihrem ladenen Idealen missbraucht, indem die Innersten vernünftig strukturiert sei, und Vernunft als kritische Instanz völlig auf der wir sind davon überzeugt, dass in ihr nur Strecke bleibt, zwar nicht die theoretische so viel Vernunft zu finden ist, wie wir in ihr Vernunft als Verstand, aber doch in ihrer selbst verwirklicht haben“40 – eine Einsicht, praktischen Anwendung als verständi- die wir auch Litt zu verdanken haben, und gungsorientierte Vernunft. Mit Verstand die die Erziehung des Geistes auch heute werden Kriege organisiert, mit letzterer erforderlich macht und als notwendig aus- verhindert. weist. In diesem Sinne ist sie keinesfalls Litts kritische Haltung führte ihn zur veraltet. Einsicht, dass der Mensch einer zuneh- xX Der späte Litt verstand nämlich Sinn menden ‚Selbstgefährdung‘ ausgesetzt nicht mehr als werthaltig, sondern struktu ist, die von seiner Verführbarkeit herrührt, rell. Insofern impliziere er eben werthaltige welche eigentlich nur – falls überhaupt und wertlose Güter. Und eben darin liegt – mit aufklärender Bildung in maßvollem die postmoderne Werteproblematik (vgl. Rahmen gehalten werden kann, wovon 7.4). Litt hielt sich anfangs mit Kulturkritik z.B. auch Günther Patzig überzeugt war. zurück. Er musste sich erst langsam von Letzterer modernisierte Kants Überlegung xX Hegels Idee des ‚absoluten Weltgeistes‘ zur moralischen Motivation und hielt fest: 3 / 2022 Pädagogische Rundschau 273 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Kant „hat nicht recht, wenn er meint, die Sinnerlebnisse und Akte des Individuums 1 Triebfeder, die moralische Motivation, sei in den Vordergrund stellen … treiben wir 2 von allen anderen empirischen Triebfe- geisteswissenschaftliche Psychologie. 3 dern … radikal verschieden, ja sie sei Denn die Psychologie ist eine beschrei- 4 ‚die Sittlichkeit, das Sittengesetz selbst, bende und verstehende, keine normative 5 subjektiv betrachtet‘“.41 Und Patzig kam Wissenschaft. Nur glaube man nicht, daß 6 zu dem Schluss: „Der Wunsch, sich mo- Psychologie möglich wäre ohne Kennt- 7 ralisch richtig zu verhalten, kann dann nis des Normgemäßen oder Kritisch-Ob- 8 auch als ein Bedürfnis nach Rationalität jektiven“.43 Zum Beispiel stritten Eduard 9 des eigenen Handelns im weitesten Sinne Spranger und Max Weber im Wertur- 10x verstanden werden. Dieser Wunsch ist teilsstreit um 1913/14 heftig über diese 1 nicht selbst weiterhin rational begründbar; Möglichkeit. 2 er muß als eine existentielle, vorrationale Auch Theodor Litt hatte stets darauf 3 Entscheidung zugunsten von Rationalität verwiesen, dass nur derjenige wissen 4 aufgefaßt werden. Jedoch scheint die Pra- könne, was Erziehung tatsächlich ist, der 5 xis zu zeigen, daß durch geeignete Sozia- schon weiß, was Erziehung sein bzw. tun 6 lisation mehr und mehr Menschen für eine soll. Dabei ging er im Anschluss an Kant 7 solche Entscheidung gewonnen werden und Hegel vom Primat der praktischen 8 können“.42 Ein unentbehrlicher Bestandteil Vernunft aus. Allerdings war ihm der na- 9 dieser Sozialisation ist die Erziehung des turalistische Fehlschluss schon bewusst, 20x Geistes und deshalb keinesfalls veraltet. dass also aus dem, was der Fall ist, nicht 1 gefolgert werden kann, was sein soll. Bei- 2 7.4 Zur postmodernen Werteproblematik spielsweise „lehnte Litt ein ausdrückliches 3 Votum im Namen der Wissenschaft zu 4 Spranger ging in Anlehnung an die Idea- Gunsten der republikanischen Staatsform 5 le der Klassik und des Neuhumanismus in der Zeit bis 1933 ab“.44 Hans Albert hat 6 von einer materialen Wertethik aus, in als Hauptvertreter des kritischen Rationa- 7 der >niedrigere< und >höhere< Werte lismus im Anschluss an Karl Popper viele 8 zu unterscheiden sind: Die Wertreihe des Jahre später Webers Position verteidigt, 9 Angenehmen im Bereich des sinnlichen indem er das normative Fundament jeder 30x Fühlens, die vitalen Werte als Ausdruck Wissenschaft in deren Wertbasis einord- 1 edler Lebensgefühle (etwa Freude, Mut, nete, sodass wertfreie Aussagen über 2 Tapferkeit, aber auch Pünktlichkeit) und den Objektbereich schon möglich sind. 3 die geistigen Werte des Wahren, Gerech- Dennoch bleibt eine Kluft zwischen Sein 4 ten und Echten sowie die Werte des Hei- und Sollen bestehen, die nur mit Brücken- 5 ligen. prinzipien notdürftig geschlossen werden 6 In seinem Buch über Lebensformen kann, etwa: Sollen impliziert Können. 7 aus dem Jahre 1914, in dem Spranger Praktische Vernunft hat es mit der Be- 8 geistesphilosophische Grundlagen und gründung des Sollens zu tun, jedoch ist 9 ideale Grundtypen der Individualität er- man dabei immer auch mit Begründungen 40x örterte und daraus Folgerungen für die konfrontiert nach dem, was bezüglich des 1 Ethik und das Verstehen der geistigen Glaubens, Könnens und Wollens tatsäch- 2 Strukturen zog, hielt er fest: „Sofern wir lich der Fall ist. Praktische Vernunft bezieht 3 unser Interesse nur auf die normativen sich dabei auf stichhaltige Argumente bzw. 4 Wertgesetze und auf die normgemäßen gute Gründe, und wenn man etwas noch 5 geistigen Wertgebilde richten, treiben wir besser begründen kann, dann scheint 6 allgemeine Kulturethik. Sofern wir aber die es eben auch vernünftiger zu sein. Das 47x 274 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Problem ist nur, was sind eigentlich gute Ratlosigkeit, die zum gewissenhaften Gründe? Diese Frage stellt sich heute Nachdenken anregen kann und soll. Und mit Vehemenz, weil es keine Letztbegrün- auch hierzu kann auf die Erziehung des dung mehr zu geben scheint, wie es das Geistes nicht verzichtet werden. postmoderne Denken in der Philosophie nahelegt, wobei das Motto lautet: Selbst- 7.5 Zur Auslegung des Geistes als verwirklichung – aber welche? Auch Kants Inbegriff eines komplexen Vermögens kategorischer Imperativ ist hierfür keine Hilfe. Denn er bürdet uns ja die Einsicht Wie Geist ins Fleisch kommt und als be- xX auf, aus allen möglichen Maximen jene zu wusstes Fleisch z.B. semantische Urteile erkennen, die für alle Menschen gelten erzeugen und verstehen kann, ist nach wie sollen und können. vor ein Rätsel. Nehmen wir z.B. das Wort Zwar sind Werturteile (bzw. auch Nor- >EselTier< oder >Dummkopf
auf jede Gemütsbewegung, Hoffnung, und Erkenntnisse gedeutet wurde und sy- 1 Liebe, Furcht, Verzagen, Freude, Hass, nonym dazu vor allem als ‚Selbst‘ später 2 Mut, Zorn, Traurigkeit, Angst, Ekel, Scham, auch zur Grundlegung des herkömmli- 3 Reue, Empörung etc. (emotionaler Be- chen pädagogischen Gewissensbegriffs 4 reich der Gefühle und Stimmungen), und im modernen Sinne diente, etwa auch bei 5 zudem auf Entschluss, Begierde, Motive, Spranger und Litt. Jedoch ist der moder 6 Wille, Absicht etc. (voluntativer Bereich). ne Gewissensbegriff wegen der Dezent- 7 Und was den unerschöpflichen Glaubens- rierung des Selbst heute obsolet, weil er 8 bereich angeht, so neigt der Mensch auf- noch von einem ‚höheren Ich‘ ausgeht, 9 grund seines geistigen Vermögens auch welches das ‚An-sich-Gute‘ durch die 10x zum Glauben an Übersinnliches, sei es seit Stimme des Gewissens vernehmen könne. 1 jeher der religiöse Glaube an eine exter- Abgelehnt wird aus postmoderner Sicht 2 ne Transzendenz im Sinne einer die Welt also die Deutung des Gewissens im Sinne 3 übersteigenden Macht (Gott). Oder sei es einer Instanz, etwa als innere Schnittstel- 4 der philosophische Glaube an metaphy- le zur Wahrnehmung der Stimme Gottes 5 sische Überlegungen, etwa der Glaube (Rahner), göttlicher Instinkt (Rousseau), in- 6 von Vertretern des Idealismus an einen nerer Gerichtshof (Kant), sittlicher Instinkt 7 Ideenhimmel (Platon), an einen absoluten (Herbart), Herz unseres Herzens (Kardinal 8 Weltgeist (Hegel) oder daran, dass syn- Newman) oder als Über-Ich (Freud), aber 9 thetische Urteile a priori nicht nur möglich, auch weitere philosophische Deutungen 20x sondern auch gültig seien (Kant); und das werden zurückgewiesen, wie z.B. als 1 heißt im Klartext: Zum Überleben müssen Strahl aus dem Unendlichen (Fichte) oder 2 solche Urteile von uns als wahr geglaubt als menschliches Existenzial (Heidegger). 3 werden (Nietzsche), obgleich sie natürlich An deren Stelle tritt der postmoderne Ge- 4 noch falsche Urteile sein können (Popper), wissensbegriff als Platzhalter, der noch am 5 was vor allem auch für religiöse Urteile zu- ehesten mit Hegels >tiefster innerlichen 6 trifft (Albert). Oder sei es schließlich der Einsamkeit mit sich selbst< und als >Un- 7 pädagogische Glaube aufgrund einer im ruhe in sich selbst< vereinbar ist, der aber 8 manenten Transzendenz an die Möglichkeit keine Instanz mehr ist, sondern Distanz 9 der Erziehung des Geistes insbesondere schafft zu sich und zur Welt für eine kriti- 30x zum vernünftigen Willen, also der Glaube, sche Vergewisserung seiner selbst, d.h. 1 dass jeder Mensch seine Verhältnisse zum seines Denkens, Glaubens, Fühlens und 2 Besseren verändern könne. Wollens, also auch seiner Entschlüsse, 3 Um die vier Bereiche des Geistes Einstellungen und Handlungen.46 4 (Denken, Glauben, Wollen und Fühlen) Und was die heutige Willenserziehung 5 handlungstheoretisch zusammenbinden betrifft, so hat Gottfried Bräuer, der Spran- 6 und erzieherisch beeinflussen zu können, ger in dessen letzten Lebensjahren mit 7 müssen wir auf eine unentbehrliche geis- Helferdiensten (Korrekturlesen und vieles 8 tige Fähigkeit zurückgreifen, die auch für mehr) sehr nahestand, im Jahr 1986 sechs 9 Spranger und Litt von großer Bedeutung Voraussetzungen der Willenserziehung 40x war, nämlich auf das Gewissen. Aus phi- festgehalten, auf die keine Theorie der 1 losophischer Sicht sollte die Stimme des Erziehung des Geistes verzichten kann. 2 Gewissens als zentrales Organ abendlän- „Eine erste Voraussetzung der Herausbil- 3 discher Ethik vom menschlichen Subjekt dung eines individuellen Willens ist ein sub- 4 vernommen werden, das z.B. von Fichte als limierender Umgang mit den Antrieben … 5 ‚Ich-Tätigkeit‘ bewusstseinsphilosophisch Zu den Voraussetzungen gehört zweitens 6 im Sinne eines Fundaments für Einsichten aber die Einsicht, daß Selbstbeherrschung 47x 276 Pädagogische Rundschau 3 / 2022 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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