Die Beziehungen der deutschsprachigen Pädagogik und Erziehungswissenschaft Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf (1912-1932)

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PR 2020, 74. Jahrgang, S. 17-38
                   © 2020 Hans-Ulrich Grunder - DOI https://doi.org/10.3726/PR012020.0002

                                        Hans-Ulrich Grunder

  Die Beziehungen der deutschsprachigen
   Pädagogik und Erziehungswissenschaft
 Zum Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf
                 (1912-1932)
Die Beziehungen zwischen deutschspra-                       der vorletzten Jahrhundertwende in der
chigen Pädagogen und Erziehungswis-                         öffentlichen Diskussion allmählich Gehör
senschaftlern und Mitarbeitenden des                        verschafft haben. Ich verzichte auf eine
Instituts Jean-Jacques Rousseau in Genf                     Netzwerkanalyse, zu deren Verfertigung
sind – das zeigt die Recherche in dieser                    ich jedoch anregen will.
erstmals eingenommenen Perspektive
– beiderseitig vielfältig, verzweigt, un-
programmatisch und weitgehend zufällig.                     1. Die Fragen, der Zeitraum, die
Die hier zwischen ihnen als interessierte                       Quellenlage, die Quellen
Zurückhaltung beurteilte Position wirft
Fragen nach der Existenz und der Qualität                   Die Kontakte zwischen deutschsprachigen
persönlicher Beziehungen und den daran                      Pädagogen und Erziehungswissenschaft-
Beteiligten auf.                                            lern und den Mitarbeitern des Institut
    Ich präsentiere das quellengestützte1                   Jean-Jacques Rousseau2 sind verzweigt,
Ergebnis einer institutionengeschichtli-                    unprogrammatisch, pragmatisch ausge-
chen und personengeschichtlichen Re-                        staltet und weitgehend arbiträr. Dieser
cherche in der spezifischen Literatur                       Sachverhalt irritiert insbesondere ange-
zur deutschsprachigen Schulreformbe-                        sichts der Stellung des Instituts als über
wegung sowie in den Archives Institut                       die Grenzen der Schweiz hinaus allmäh-
Jean-Jacques Rousseau und eines dar-                        lich bekanntgewordenes Zentrum für die
auf vorgenommenen Abgleichs mit den                         Erforschung des Kindes und seiner Lern-
Listen externer Dozierender, Lehrbeauf-                     prozesse3 und seines in der Schweiz ein-
tragter und Gastreferenten am Institut                      zigartigen Bestrebens, eine akademisierte
Jean-Jacques Rousseau. Damit will ich,                      Lehrerbildung anzubieten, insbesondere,
personenbezogen, das Verhältnis der                         was die Zeitspanne zwischen 1912 und
deutschsprachigen Pädagogik und Erzie-                      1932 betrifft4.
hungswissenschaft zur Genfer Pädagogik                          Wenngleich die Genfer Erziehungs-
und Erziehungswissenschaft zwischen                         wissenschaftler die Arbeiten deutsch-
1912 und 1932 illustrieren, nachdem ich                     sprachiger Kollegen zur Kenntnis nahmen,
skizziert habe, wie sich in der Schweiz                     und obwohl die deutschsprachigen Erzie-
die schulreformorientierten Kräfte kurz vor                 hungswissenschaftler und Pädagoginnen

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es ihnen gleichtaten, wirft die zwischen                         Die Exponentinnen und Propagan-
ihnen dominierende Zurückhaltung Fragen                     disten der neuen Erziehung, die im
auf: Welche Beziehungen existierten? Wer                    Nachhinein als Reformpädagogik, éduca-
war beteiligt? Wie waren sie ausgestaltet?                  tion nouvelle, progressive education oder
Die hier zu illustrierende These lautet: Man                scuola attiva etikettiert wurde, visierten
nimmt sich zwar gegenseitig zur Kenntnis,                   mit beträchtlichem Werbeaufwand Ziele
bewahrt aber eine interessiert-reservierte                  an, welche die Historiographie der Erzie-
Zurückhaltung – mit wenigen aufschluss-                     hung gebündelt hat: Geistige Mündigkeit
reichen Ausnahmen5.                                         des Kindes, Menschenbildung (weniger
    Einleitend ist auf die schulreformeri-                  Wissensvermittlung), Förderung von Inter­
schen Initiativen in der Schweiz anfangs                    esse, Selbsttätigkeit und Selbstbestim-
des 20. Jahrhunderts zu verweisen, kurz                     mung, Lernen durch praktisches Tun,
bevor in Genf 1912 das Institut Jean-                       Ablösen von Spezialistentum zugunsten
Jacques Rousseau als universitätsnahes                      einer allgemeinen Bildung, Einsicht in die
Lehrerausbildungs- und Weiterbildungs-                      Grenzen der Lernschule, Überwinden
institut gegründet worden ist6.                             der Kluft zwischen Schule und Leben.
                                                            Zu den übergreifenden Begehren traten
                                                            auf den Unterricht bezogene: Man sprach
2. Schulreformmotive zu Beginn                             von einer veränderten Lehrerrolle und den
    des 20. Jahrhunderts                                    weitgespannten Ansprüchen an den mo-
                                                            dernen Lehrer angesichts der reinterpre-
Unter dem Jahre später von Herman Nohl                      tierten Funktion des Educanden.
geprägten Begriff Reformpädagogische                             Setze man radikal auf das Kind und
Bewegung7 firmieren ideelle und praxis-                     seine kognitiven, seelischen und sozialen
wirksame, schulerneuernde, bildungs-                        Bedürfnisse, so unterstellten die reform-
reformerische Initiativen, die zu Beginn                    orientierten Publizisten, würde sich der
des 20. Jahrhunderts mit erheblicher                        schwelende gesellschaftspolitische Kon-
propagandistischen Verve in die bildungs-                   flikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts all-
politische Landschaft vor allem der euro-                   mählich entschärfen. Mündige Menschen
päischen Staaten eingedrungen sind. Ihre                    – vermöge einer neuen Erziehung und
Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert zu-                    einer neuen Schule dazu befähigt – soll-
rück. Ihre Protagonisten diskreditierten                    ten die zu erwartenden Krisen kraft ihres
das Schulsystem des 19. Jahrhunderts,                       Wissens, selbständigen Entscheidens
das sie selber durchlaufen hatten, nun                      sowie entschlossenen Handelns meistern.
aber als nicht kindgemäße Lern-, Buch-,                     In ihrem engagierten Impetus unterschied
Pauk- und Drillschule. Bis heute ist nicht                  sich diese Perspektive wenig von anderen
eindeutig geklärt, wie die weitverzweigten                  hohen Zeiten der Pädagogik: Regressiv
Reformkräfte bildungshistorisch einzustu-                   modern und konservativ revolutionär, war
fen sind, zumal wohl noch nicht alle ihnen                  sie, als Rezept aufgefasst, die Antwort der
zuzuschreibenden Phänomene erforscht                        Erziehung auf die als drohender Zerfall ge-
zu sein scheinen. Unbestritten ist: Wer                     deutete Erosion der Werte am Ende des
heute schulreformerisch tätig ist, bezieht                  19. Jahrhunderts – insofern also die Re-
sich in der Regel auch auf Konzepte, die in                 aktion der Pädagogik auf gesellschaftliche
der Epoche reformpädagogischer Schul-                       Modernisierungsprozesse. Darum ver-
erneuerung, also etwa zwischen 1880 und                     sprach man sich von einer pädagogisch
1930 vorgestellt und oft auch realisiert                    begründeten Reformintention, obschon in
worden sind.                                                sich widersprüchlich, uneinheitlich und in

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Flügelkämpfe verstrickt, auch wichtige so-                      Die schulreformerischen Postulate ver-
ziopolitische Anstöße mit Blick auf die ge-                 breiteten sich kurz nach der Jahrhundert-
sellschaftliche Entwicklung. Der Ausbruch                   wende auch in der Schweiz. Ich schildere
des Ersten Weltkriegs verunsicherte diese                   sie hier verkürzt, entlang einer zwar gängi-
hoffnungsvolle Perspektive und ihre Re-                     gen, jedoch oft kritisierten Einteilung der
präsentanten zutiefst.                                      einzelnen Stränge der Bewegung, deren
    Verlangten die schulreformerischen                      Charakteristika es nahelegen, die Entwick-
Kräfte zwar mehr als eine didaktische Re-                   lung in der Schweiz in den europäischen
form hin zum differenzierenden Unterricht8,                 Kontext zu stellen.
verwiesen ihre grundlegenden Postulate
auch auf gelockerte didaktische Formen:
Kinder seien von der Tyrannei des Stoffs                    3. Kultur- und Schulerneuerung
und des Lehrers, von der Stoffhuberei,                          in der Schweiz
wie es hieß, zu befreien. Handelndes Ler-
nen, arbeitendes Handeln seien zentral.                     Was die Aktivität des Wandervogels an-
Die neue Erziehung empfahl, im Unter-                       belangt, sind in diesem Bereich die weit-
richt seien die sozialen Formen nach-                       reichendsten Aktionen zu verorten9. In
haltiger zu gewichten. Schüleraktivität                     der Schweiz formiert sich nach der Jahr-
und selbstgesteuertes Lernen wurden zu                      hundertwende eine Jugendbewegung und
unterrichtsdidaktischen Maximen und zum                     jugendbewegte Zeitschriften werden ver-
pädagogischen Prinzip, was Lehr- und                        breitet. Sozialistische Jugendorganisatio-
Lernprozesse anging. Deshalb galten das                     nen entstehen und zu Beginn des zweiten
Kind und seine Interessen als die Basis                     Jahrzehnts fassen die Pfadfinder Fuß. Der
schulischen Lernens und Lebensgemäß-                        schweizerischen Jugendbewegung lässt
heit wurde zur Devise der Unterrichtenden,                  sich jedoch nicht (schon was die Zahlen
die sich in ihrer Rolle als Lernbegleiter neu               anbelangt) auch nur annähernd ein so
definierten. Weil das Schulzimmer für Ein-                  großes Gewicht beimessen wie der deut-
flüsse von außen zu öffnen war, sollten die                 schen. Ein Beobachter konzediert, man
Kinder so oft wie möglich zum Lernen in                     könne nur bedingt von einer Jugendbe-
die Natur geführt werden.                                   wegung in der Schweiz sprechen, zumal
    Die Postulate der neuen Erziehung                       der Wandervogel als Altersklassenbewe-
waren Teil einer kulturerneuernden Bewe-                    gung nie große Massen ergriffen habe.
gung zu Beginn des Jahrhunderts – neben                     Die Gründe erkennt er darin, dass damals
den Vegetariern, den Lebenskünstlern,                       die sozialen Gegensätze in der Schweiz
Dadaisten, Naturisten, Abstinenzlern und                    nicht annähernd stark ausgebildet waren
weiteren, insbesondere kunsterneuernden                     wie in anderen europäischen Staaten,
Motiven. Was viele pädagogisch Handeln-                     dass Großstädte und eine elementare
de unter den Reformern auszeichnete, war                    Natursehnsucht fehlten, die als tragende
ihr oft kritikloser Rousseauismus, der den                  Basis für die Jugendbewegung vonnöten
Impuls zur gesellschaftlichen Erneuerung                    seien. Zudem sei die höhere Schule keine
als der Pädagogik inhärent begriff. Außer-                  Standesschule und die schweizerische
dem schien der Glaube an das Kind und                       Bereitschaft, sich zu verständigen und zu
in die hohe Qualität seiner Lernprozesse                    vertragen, wirke sich aggressionsmildernd
die erst zwanzig Jahre später, insbeson-                    aus. Trotzdem sei die Jugendbewegung
dere von Siegried Bernfeld beschworene                      an der Schweiz nicht spurlos vorüber-
Grenze pädagogischer Einwirkung vorerst                     gegangen. Dies belegen die Quellen im
auszublenden.                                               Sozialarchiv (Zürich), wo sich das Archiv

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des Wandervogels befindet. Sie lassen                       Lehrkräfte, die sich um die Schrift-, Zei-
den Schluss zu, dass nie mehr als 2000                      chen- und Singreform bemühten.
Jugendliche eingeschriebene Wandervö-                           Bedeutend gewichtiger war die Kont-
gel waren. Insoweit deute ich den Wan-                      roverse um die Arbeitsschule12, die ein Vor-
dervogel als Gruppierung zwischen den                       trag Kerschensteiners vor Zürcher Lehrern
Polen eines solitären Kuriosums und einer                   entfachte13. Der Sekundarlehrer und späte-
abgerundeten Gestalt. Gemessen an der                       re Pädagogikdozent an ETH und Universi-
Mitgliederzahl fand diese Gruppe jedoch                     tät Zürich sowie Schweizer Parlamentarier
damals eine überproportionale öffent­                       Robert Seidel bezichtigte den Münchner
liche Resonanz. Die Idee des Jugendwan-                     Stadtschulrat des Plagiats bezüglich des
derns war nach der Jahrhundertwende                         Begriffs Arbeitsschule14. In der Folge ent-
von Deutschland her über Basel (1914:                       spann sich eine öffent­liche Diskussion um
65 Mitglieder) und Zürich in die Nordost-                   Vor- und Nachteile der Arbeitsschule und
schweiz eingedrungen, wo sie allmählich                     des Handarbeitsunterrichts für Knaben
Wurzeln schlug und sich gegen Westen                        und Mädchen. An der Debatte, die sich
und Süden ausdehnte. In der Romandie                        auch in Lehrerzeitschriften niederschlug,
und der Südschweiz vermochte sie al-                        beteiligten sich Seminardirektoren, Univer-
lerdings nicht zu wachsen. In der West-                     sitätspädagogen, Politiker und Lehrkräfte.
schweiz existierte, abgesehen von jener                     Die Kontrahenten trugen den offen ausge-
in Neuchâtel, nur noch je eine Wander-                      brochenen Streit bis in die Niederungen
vogelgruppe in Le Locle (1915: 43 Mit-                      der Unterrichtsmethodik: So publizierte
glieder) und Genf (1913: 21 Mitglieder).                    die Lehrerpresse als Lektionsvorbereitun-
Die Berner Gruppe war klein, bestehend                      gen explizit auf arbeitsschulpädagogischer
aus unter hundert eingeschriebenen Mit-                     Basis gründende Präparationen – was die
gliedern; in Genf schlossen sich einige                     Gegnerschaft heftig kritisierte. Obschon
Deutschschweizer Wandervögel (1914:                         die Arbeitsschulidee schon in der Mitte
21 Mitglieder) zusammen und – eine Ku-                      des 19. Jahrhunderts in der Schweiz pro-
riosität – eine Ortsgruppe bestehend aus                    pagiert worden war, in den achtziger Jah-
Studierenden bildete sich auch in Paris                     ren auch von Robert Seidel, fasste erst
(Gründung: 1914, Mitgliederzahl: 5).                        der Genfer Adolphe Ferrière die bürger-
Diese Zahlen legen es nahe, den Schwei-                     liche Version der Arbeitsschulidee syste-
zer Wandervogel als deutschschweize-                        matisch zusammen15, als er gegen Seidels
risches Phänomen zu interpretieren. Das                     sozialdemokratisch-marxistischen Ansatz
Ende der Bewegung trat leise ein: 1955,                     das arbeitspädagogische Motiv des frü-
anlässlich seiner Landsgemeinde löste ein                   hen Kerschensteiner zum umfassenderen
nunmehr kleines Grüppchen von Mitglie-                      einer Tatschule, einer École active, erwei-
dern den Schweizer Wandervogel unwi-                        terte. Schon 1883 waren in einigen Kanto-
derruflich auf10.                                           nen erste Handfertigkeitskurse für Knaben
     Ähnliches mag für die kunsterzieheri-                  eingerichtet worden. Aus dem zweiten
schen Bemühungen gelten, deren Verlauf                      Berner Handfertigkeitskurs für Lehrer von
allerdings noch unzureichender erforscht ist                1883 erwuchsen Thesen, die belegen,
als der Schweizer Wandervogel. Zu erwäh-                    wie weit sich die Kontroverse akzentuiert
nen sind jedoch der Genfer Musikpädago-                     hatte, und die illustrieren, wie die Ver-
ge und Rhythmiker Émile Jaques-Dalcroze11                   treter der Arbeitsschule argumentierten:
sowie Mimi Scheiblauer, die sich um die                     Der Arbeitsunterricht diene allein erzie-
Einführung der Rhythmik als Schulfach                       herischen Zwecken und solle die formale
engagierten. Zu nennen sind außerdem                        Bildung fördern, liest man in einem der

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Kursprotokolle. Überdies entschied sich                     den Landerziehungsheimen nicht festzu-
1924 die Mehrheit der Lehrerschaft der                      stellen18. Dafür ist die Zahl dieser écoles
Romandie anlässlich ihres vierten Jahres-                   nouvelles à la campagne zu klein und ihre
kongresses dafür, die Maximen der École                     pädagogische Relevanz zu schwach. Trotz-
activ seien einer künftigen staatlichen                     dem sind die schweizerischen Landerzie-
Regelschule zugrunde zu legen. Infolge-                     hungsheime im Rückblick pädagogische
dessen sollte zunächst die Primarstufe (1.                  und didaktische Anreger der staatlichen
bis 9. Klasse) zu einer Tatschule werden.                   Schulen, potentiell verunsicherndes schul-
Dieses kräftige schulreformerische Votum                    reformerisches Korrektiv zur damals domi-
hinterliess allerdings in den Publikationen                 nierenden didaktisch-methodischen Praxis
der folgenden Jahre erstaunlicherweise                      an den Schulen.
keine Spuren.                                                    Die von den Schulerneuerern in der
    Ebenso konturiert zeigte sich in der                    Schweiz ins Zentrum gerückten Begriffe
Schweiz die Bewegung Vom Kinde aus.                         (Anschauung, Selbsttätigkeit, Selbstän-
Sie lehnte sich an jene der Landerzie-                      digkeit, dazu: Arbeitsschule, harmonische
hungsheime, zumal deren Exponenten die                      Bildung) bilden die Brennpunkte der da-
Postulate ersterer in ihren privaten Interna-               maligen Argumentation. Allerdings waren
ten zu realisieren versuchten.                              die den Termini Anschauung, Selbsttätig-
    In Genf entwickelte sich die Bewe-                      keit und Selbständigkeit zugrundeliegen-
gung Vom Kinde aus zu einer die päda-                       den Maximen bereits während des 19.
gogische Argumentation strukturierenden                     Jahrhunderts schulreformerische Slogans
Kraft. Daraus ergab sich eine der wenigen                   gewesen. Sie verwiesen auf jene Kon-
Folgen schulerneuernder Aktivität, die bis                  zepte, worauf vorwiegend die Lehreraus-
in die Gegenwart reicht: Die 1927 von                       bildung nach 1870 abstellte. Zielvorgaben
einem der Genfer Schule nahestehenden                       und methodische Absicht in einem, um-
Politiker geforderte Gesamtschule / Ein-                    schrieben Selbsttätigkeit und Selbstän-
heitsschule heute der Cycle d’ Orientation                  digkeit dort den Zweck einer erfolgreich
(Orientierungsstufe).                                       abgeschlossenen Ausbildungszeit des
    Der Genfer Adolphe Ferrière akzentu-                    künftigen Lehrers. Dass selbsttätiges Ler-
ierte die für ihn zentrale Position der Hand-               nen einen Beitrag zur Entwicklung eines
arbeit in den Landerziehungsheimen als                      dereinst selbständigen Menschen leiste,
moralische Erziehung in praktischer Ab-                     bekräftigten alle, die sich mit der Frage
sicht zugunsten der realen Autonomie der                    des schulischen Lernens beschäftigten.
Landerziehungsheim-Schüler16. Entstanden                    Die Schwierigkeit des Umgangs mit den
aus den Erlebnissen ihrer späteren Grün-                    Worthülsen der an der Debatte Beteiligten
der als Lehrer in Abbotsholme (Reddie),                     liegt zweifellos in der unterschiedlichen
Bedales (Badley), Ilsenburg (Lietz) oder                    Interpretation ihres Inhalts.
Roches (Demolins), nahmen die Landerzie-                         Anschaulich zu unterrichten war in
hungsheime in der Schweiz einen gesamt-                     dieser Kontroverse eine Forderung des
europäischen Impuls auf und führten ihn                     methodischen Repertoires, das jeder
jahrzehntelang weiter, bis sie – nach dem                   Lehrkraft geläufig sein sollte. Der Begriff
Kriegsende 1945 – ihren Selbstanspruch                      wurde in seinem didaktischen Gehalt
als Reformschulen weitgehend aufgaben17.                    einem       traditionell-klassenzimmerorien-
    Eine weitreichende Bewegung weg                         tierte, lehrerzentrierten, am Lehrbuch
von den staatlichen Institutionen und hin                   haftenden Lehrstil entgegengesetzt, den
zu den privaten Schulen ist in der Schweiz                  es zu überwinden gelte, wie die Refor-
zu Beginn des Jahrhunderts aber auch mit                    mer monierten. Darum verlangten sie von

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jedem Unterricht, dass er anschaulich sei.                  Naturlehre, das Unterrichten gemäß dem
Anschauung, bezogen auf die damalige                        Arbeitsprinzip zu vermitteln.19
Lehrerbildung in der Schweiz, setzte den
didaktischen Anspruch an einen schüler-
gerechteren, weder über- noch unterfor-                     4. Das Institut Jean-
dernden Unterricht fest. Anschaulich, also                      Jacques Rousseau, sein
am Objekt, an der Sache, erarbeitend,
                                                                Patronatskomitee, die
sollte diese Perspektive praktische, die
Kinder beschäftigende Fragen aufgreifen.                        Publikationen, die Schüler,
    Bereits in den 70er Jahren des 19.                          die Briefpartner, die
Jahrhunderts wurde die traditionelle Buch-                      eingeladenen Referenten
schule mit der Forderung konfrontiert,
man möge anschaulich unterrichten. In                       Insbesondere am Genfer Institut Jean-
der Ausbildung der Lehrkräfte engagierten                   Jacques Rousseau20 wurden die schul-
sich einige Seminardirektoren für eine Se-                  erneuernden Konzepte erörtert und in
minarreform, die auf Stoffabbau und ver-                    schulreformerisches Handeln umgesetzt.
tiefendes Lernen setzte, den Seminaristen                   Das Institut wurde so zur Drehscheibe der
beim Erarbeiten der Inhalte vermehrt Frei-                  Schulreform in der Romandie. Die Durch-
heiten gewährte und dabei die methodi-                      sicht der Akten in den Archives fördert die
sche Komponente nachhaltiger hervorhob.                     Namen jener Personen zutage, welche dort
    Die Ausbildner der künftigen Lehrkräf-                  angehende Lehrkräfte (in der damals und
te, die Seminarlehrer, verstanden die Idee                  lange Zeit danach einzigen nachmaturitären
der Anschauung jedoch keineswegs als                        Lehrerbildung in der Schweiz) unterrichtet
ein allein auf die Lehrerbildung bezogenes                  haben. Ich lege den Akzent auf jene Dozie-
Reform­ instrument, sondern als Transmis-                   renden aus dem deutschsprachigen Raum,
sionsriemen jeder Schul- und Unterrichts-                   welche die Verantwortlichen des Instituts
reform, als umgreifendes Reformkonzept.                     als Referenten, als Lehrbeauftragte und als
Darum wiesen die seminaristischen Lehrer-                   Gäste in Diskussionen einluden21.
ausbildner ausgangs des Jahrhunderts den
Anspruch, den die selbsternannten Schuler-                  4.1. Das Comité international de Patrona-
neuerer mit dem Hinweis auf einen anschau-                        ge: Support
lichen Unterricht erhoben, indigniert zurück.
    Die Begriffe Anschauung, Selbsttä-                      Das zentrale Gremium in der Trägerschaft
tigkeit und Selbständigkeit waren in der                    des Instituts war sein Comité internatio-
Schweiz also lange vor der Jahrhundert-                     nal de Patronage22. Unter den dort ge-
wende geläufig. Folgten die einen dabei                     nannten sechsundsechzig Mitgliedern
der in der zweiten Jahrhunderthälfte gän-                   finden sich die Namen bekannter auslän-
gigen Pestalozzi-Interpretation, zählten an-                discher und schweizerischer Erziehungs-
dere die drei Termini zum Vokabular, das                    wissenschaftler und Pädagoginnen, z.B.
sich gegen eine als verkrustete Institution                 Georges Bertier (École des Roches),
qualifizierte Schule einsetzen ließ. Eng                    Ferdinand Buisson (Paris/Wien), Gabriel
verknüpft mit Konzepten zur Handarbeit,                     Compayré (Paris), Ovide Decroly (Brüs-
Handfertigkeit und zur Arbeitsschule tra-                   sel), Karl Groos (Tübingen), Stanley Hall
ten sie später im Reformdiskurs wieder                      (Worcester), Ellen Key (Alvastra), Georg
auf. Einige Lehrerausbildner bemühten                       Kerschensteiner (München), August Lay
sich allerdings schon vor der Jahrhundert-                  (München), Ernst Meumann (Hamburg),
wende, etwa in den Fächern Deutsch oder                     Maria Montessori (Rom), Wilhelm Ostwald

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(Leipzig), Wilhelm Rein (Jena), Medard                      aus 49 Ländern haben die Lehrveranstal-
Schuyten (Anvers), William Stern, (Berlin).                 tungen frequentiert, darunter 216 Männer
    Zu den sechzehn Mitgliedern aus                         und 555 Frauen, 318 Schweizer und 435
der Schweiz23 zählen: Érnest Briod (Lau-                    Ausländer; 160 Diplome sind verliehen
sanne), De Cristiani (Genf), Eugène                         worden, nebst 214 Certificats d’étude26.
Dévaud (Fribourg), Dr. Dubois (Bern),                           Sucht man in den Listen der élèves27,
Théodore Flournoy (Genf), Friedrich Wil-                    der Studenten, nach deutschschweizer
helm Foerster (Zürich), Friedrich Fritschi                  Namen, fallen zu Beginn (1912) lediglich
(Zürich), René Guisan (Lausanne), Philip-                   einige Studierende aus der deutschspra-
pe-Auguste Guye (Genf), Émile Jaques-                       chigen Schweiz und noch weniger aus
Dalcroze (Genf/Hellerau), Carl Gustav                       dem deutschsprachigen Raum auf. Im
Jung (Zürich), Jean Larguier Bancel (Lau-                   Studienjahr 1918/1919 sind es bereits
sanne), Édouard Quartier-La-Tente (Neu-                     mehr, und im Studienjahr 1920/1921 stam-
châtel), Dr. Schmid (Bern), Émile Yung                      men über 50% der Studierenden aus der
(Genf), Friedrich Zollinger (Zürich).                       deutschsprachigen Schweiz – ein Phäno-
    Unter diesen sechzehn Personen fin-                     men, das sich bislang nicht erklären lässt.
den wir sechs Deutschschweizer oder                         Nur wenige Hörer in dieser Zeitspanne
Deutsche: Dr. Dubois (Professor an der                      stammen aus dem nichtschweizerischen
Universität Bern), Friedrich Wilhelm Förs-                  deutschsprachigen Raum.
ter (Professor an der Universität Zürich),
Carl Gustav Jung (Privatdozent an der                       4.4. Die Correspondants: Briefpartner
Universität Zürich), Dr. Schmid (Direktor                         und Briefpartnerinnen
des eidgenössischen Gesundheitsbü-
ros), Dr. Friedrich Zollinger (Sekretär des                 Die Korrespondenzliste28 weist etliche
Unterrichtsdepartements des Kantons                         Briefpartner mit deutschsprachig klingen-
Zürich).                                                    den Vornamen und Namen auf. In die-
                                                            ser Liste sind insbesondere verzeichnet:
4.2. Die Publications: Veröffentlichungen                  Marthe Bruppacher, Sigmund Freud, Carl
                                                            Gustav Jung, Carl Albert Loosli, Elisabeth
Geht es um Publikationen aus dem Insti-                     Rotten, Sabine Spielrein-Scheftel, neben
tut24, verweist Bovet auf Werke zahlrei-                    Ovide Decroly und Maria Montessori,
cher Protagonistinnen und Vertreter der                         In einer weiteren Liste, dem Index des
Schulreform, die unter der Ägide des In-                    correspondants, finden sich Hinweise auf
stituts publiziert worden sind (Montessori,                 deutschsprachig klingende Namen. In die-
Dewey, Baden-Powell). Ebenfalls erwäh-                      ser Liste sind insbesondere verzeichnet:
nenswert findet er Texte von Absolventen                    Dr. Binswanger, Eugen Bleuler, C. Buol,
der Kurse am Institut (Dottrens, Gunning,                   Eva Cassirer (Odenwaldschule), Jean-
Walther, Anderson, Petre-Lazar), nebst                      Pierre Egger, Franz Hilker, Ernest Jouhy,
dem Verweis auf zwei Periodika (L’Inter-                    Gabriel Mutzenberg, Ida Somazzi, William
médiaire des éducateurs, Archives de                        G. Stern, neben Célestin Freinet und Mar-
Psychologie), an deren Erscheinen das                       tinus J. Langeveld.29
Institut maßgeblich beteiligt war.
                                                            4.5. Die Conférenciers: Referentinnen,
4.3. Die élèves: Studierende                                     Referenten und Lehrbeauftragte

Was die Absolventen25 betrifft, gibt der                    Mit Blick auf die bereits kurz nach der Grün-
Autor Zahlen bekannt: 818 Studierende                       dung eingeladenen Referenten erwähnt

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Bovet30 Kurse, Wochenend­­     seminare und                 dem deutschsprachigen Raum, ergibt sich
zufällige Lektionen als Gespräche, die in                   folgendes Bild.
den Lehrprogrammen oft nicht erwähnt
seien31. Doch eine Liste aller Namen würde                  4.6.1 Personen aus Deutschland
Bovet zufolge Seiten füllen. Der Chronist
konzediert, dass von den in den ersten                      Unter jenen knapp zehn Personen
Jahren Lehraufträgen32 von Gästen etliche                   aus Deutschland, die das Institut zwi-
Themen allmählich in das Curriculum inkor-                  schen 1912 und 1932 zu einem Referat
poriert worden seien. Später sei es dabei                   nach Genf einlud, greife ich die in der
eher um delikate oder kontroverse Fragen                    deutschsprachigen Bildungsgeschichte
gegangen, welche Spezialisten dargestellt                   wichtigsten Figuren heraus.34
hätten – etwa um die religiöse oder die
sexuelle Erziehung, die Nationalerziehung                   Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966)
und die staatsbürgerliche Erziehung sowie,                  Gastreferent, zwei Mal
maliziös: um „…praktische Lektionen in                      Foerster studiert Philosophie in Freiburg
Schweizerdeutsch“33, neben Vortrag­                         i.Br. und Berlin und habilitiert sich (1898)
sreihen über Philanthropie und Erziehung                    an der Universität Zürich für Ethik und Pä-
oder zeitgenössische französische Psy-                      dagogik. Nach einer kurzen Zeit als Pri-
chologie. Erwähnenswert findet Bovet hier                   vatdozent (Universität Zürich: 1899-1901,
den Hinweis auf Wolfgang Köhlers (Berlin)                   ETH: 1901-1912), ist er Professor (1913-
Referat mit dessen Film über die Schim­                     1914) für Ethik und Sozialwissenschaften
pansen.                                                     an den Universitäten Wien (1913/1914)
    Eine Reihe von Personen hat improvi-                    und München (1914-1920). Erst 1917
sierte Vorträge gehalten: Adolphe Ferriè-                   gibt er seine kriegsverherrlichende Posi-
re, Paul Geheeb, Ovide Decroly, Marietta                    tion auf und wandelt sich zum Pazifisten.
Johnson, António de Sena Faria de Va-                       Von Eisner zum Bayerischen Minister in
sconcellos, Elisabeth Rotten, Karl Wilker,                  der Schweiz ernannt, vom Bundesrat
Wilhelm Paulsen, Maria Boschetti-Alberti                    aber nicht anerkannt, überträgt Foerster
und Célestin Freinet. Heinrich Hansel-                      Deutschland die Verantwortung in der
mann hat über Heilpädagogik gesprochen.                     Kriegsschuldfrage und setzt auf einen
Dazu kommen Romain Rolland, Emma                            Friedensvertrag. Von 1920 bis 1926 lebt
Pieczynska (1921) und der Inder Rabin-                      er im Exil in Zürich, dann (1926-1936) in
dranath Tagore.                                             Paris und Hochsavoyen. Nachdem 1933
    Fazit: Die Angaben Bovets stimmen                       die Nationalsozialisten seine Schriften ver-
mit den Einträgen auf der Liste der Refe-                   brannt hatten, emigriert er (1940) nach
renten nicht überein. Sich ein Bild zu ma-                  New York. 1963 kehrt er in die Schweiz
chen, fällt infolgedessen schwer.                           zurück.

4.6. Deutschsprachige externe Dozie-
      rende, Lehrbeauftragte und Gast-                      Hugo Gaudig (1860-1923) Gastreferent
      referenten am Institut Jean-Jacques                   Nach Studium (Theologie, Philosophie;
      Rousseau: Personen, biographische                     Halle) und Promotion (1883) arbeitet Gau-
      Hintergründe                                          dig als Lehrer an den Franckeschen Stiftun-
                                                            gen in Halle/Saale und am Realgymnasium
Sucht man nach den vom Institut                             in Gera. Als Direktor der höheren Mäd-
zwischen 1912 und 1932 eingeladenen                         chenschule und des Lehrerseminars kehrt
Lehrbeauftragten und Vortragenden aus                       er 1896 an die Franckeschen Stiftungen

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zurück und wechselt (1900) nach Leipzig                     Ecole d’Humanité in Goldern/Hasliberg im
an die Städtische Höhere Schule für Mäd-                    Kanton Bern als internationales, koeduka-
chen. Seine neuen Lehrmethoden (Freie                       tiv geführtes Internat mit einem markanten
geistige Schularbeit, Selbsttätigkeit) las-                 pädagogischen Profil ins Leben.
sen die Anmeldezahlen hochschnellen.
Schulrat und Professor, lehnt er eine Be-                   Wolfgang Köhler (1887-1967) Gastreferent
rufung ins Sächsische Kultusministerium                     Köhler, mit Max Wertheimer und Kurt
und die Nachfolge auf Sprangers Pro-                        Koffka später der Begründer der Ge-
fessur für Erziehungswissenschaft an der                    staltpsychologie und -theorie, studiert
Universität Leipzig ab. Seine Schule wird                   Philosophie, Naturwissenschaften und
zu einem Kristallisationspunkt der deut-                    Psychologie in Tübingen, Bonn und Berlin,
schen Schulreform. Er stellt das Training                   promoviert (1909) in Psychoakustik und
der Lernmethoden der höheren Töchter                        arbeitet am Psychologischen Institut in
ins Zentrum: Arbeitsteilung, Gruppen-                       Frankfurt am Main, wo er Wertheimer und
arbeit, Projektlernen35. Gaudig verbreitet                  Koffka kennenlernt. Zwischen 1914 und
seine Sicht der Didaktik und der Unter-                     1920 führt er auf Teneriffa seine wegwei-
richtsmethodik 1922 im Baltikum – just zu                   senden Studien zum Werkzeuggebrauch
jener Zeit, als Ernst Schneider an der Uni-                 und Problemlöseverhalten von Schimpan-
versität in Riga lehrt.                                     sen durch. In der Ära des Behaviorismus
                                                            wurden seine Arbeiten ignoriert. Nachdem
Paul Geheeb (1870-1961) Gastreferent                        die Anthropoidenstation auf Teneriffa ge-
Nach dem Abschluss seiner langdauern-                       schlossen worden war, kehrt Köhler als
den Studien (zwanzig Semester in vielerlei                  Professor (Göttingen) zurück, bevor er an
Fächern (1899), einer Tätigkeit als Lehrer                  der heutigen Humboldt Universität (1922-
an den Trüper’schen Anstalten für sonder-                   1935) als Direktor des Psychologischen
pädagogisch zu betreuende Kinder in Jena,                   Instituts arbeitet. Während der 1920er
einem kurzen Engagement im Kindersana-                      Jahre gilt Köhler international als einer der
torium Wyk auf Föhr, arbeitet er (ab 1902)                  bekanntesten Psychologen, bevor er nach
als Mitarbeiter von Hermann Lietz im Deut-                  erfolglosen Protesten gegen die Repres-
schen Landerziehungsheim Haubinda in                        salien der Nationalsozialistischen 1935
Thüringen, ab 1904 als dessen Direktor.                     seine Emeritierung verlangt, Deutschland
Infolge persönlicher, politischer und päd-                  verlässt und als Hochschullehrer in Penn-
agogischer Differenzen trennt er sich von                   sylvania tätig ist.
Lietz, gründet 1906 mit Gustav Wyneken
die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und                     Wilhelm Paulsen (1875-1943) Gastrefer-
schliesslich 1910 mit Edith Geheeb-Cassi-                   ent, zwei Mal
rer die Odenwaldschule in Ober-Hambach                      Paulsen, Schulreformer und Mitglied des
(Hessen). Bis 1930 baut das Paar mit den                    Bundes Entschiedener Schulreformer
Mitarbeitenden das Landerziehungsheim                       (ab 1919), entwickelt als Berliner Ober-
kontinuierlich auf. Aufgrund nationalsozia-                 stadtschulrat (ab 1921) die Pädagogik
listischer Drohungen emigrieren sie 1934                    der Lebensgemeinschaftsschulen (gutes
mit einigen jüdischen Kindern über den                      Lernklima, Vermittlung von Inhalten ent-
Bodensee (unter Mithilfe von Schohaus                       lang den aktuellen gesellschaftlichen Be-
und Ferrière) in die Schweiz. Nach mehre-                   dürfnissen – und dies Vom Kinde aus).
ren Ortswechseln und Umzügen (Grunder                       1920 wird Paulsen erster Schulleiter der
1987c), einem erniedrigenden Hin- und                       Versuchsschule Tieloh Süd, bevor er kurz
Her, rufen er und Edith Geheeb 1946 die                     später Oberstadtschulrat in Berlin wird.

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1924 tritt er aus politischen Gründen zu-                   Hof Oberkirch ist (1934-1937). Die letzte
rück. Zu Beginn der 1930er Jahren zwin-                     Phase seines beruflichen Lebens verbringt
gen ihn die Nationalsozialisten, seinen                     er in Südafrika und Transvaal, ist Head-
Lehrauftrag in Hannover abzugeben. Sein                     master des Adam College (1937-1955)
Buch zur Überwindung der Schule und zur                     und nach dessen Schließung ab 1956
Grundlegung der Gemeinschaftsschule                         als Psychologe und Psychotherapeut am
sollte ein Jahr später – von Adolphe Fer-                   Meyrick Bennett Children’s Centre der
rière übersetzt und mit einem Vorwort ver-                  University of Natal, Durban, tätig. 1964
sehen – unter dem Titel L’Ecole Solidariste                 kehrt Wilker in die BRD zurück. 1975 ver-
in französischer Sprache erscheinen.                        leiht ihm die Universität Frankfurt am Main
                                                            die Ehrendoktorwürde.
Karl Wilker (1885-1980) Gastreferent,
mehrmals                                                    4.6.2 Personen aus der deutschspra-
In Jena und Göttingen studiert Wilker Na-                          chigen Schweiz
turwissenschaften und Pädagogik, wird
bei Wilhelm Rein promoviert und legt                        Das Institut, v.a. Pierre Bovet, laden zwi-
(1909) das Staatsexamen für das Höhere                      schen 1912 und 1932 rund ein Dutzend
Lehramt (Botanik, Zoologie, Mineralogie,                    Erziehungswissenschaftler und Pädagogin­
Geologie, Pädagogik) ab. Teilzeitlehrer,                    nen aus der deutschsprachigen Schweiz
Vertreter der Abstinenzbewegung (ab                         zu Vortrag und Diskussion nach Genf ein.
1906), Mitglied des Wandervogels und                        Einige der bekanntesten Persönlichkeiten
Journalist, schließt er 1914 ein Zweit-                     greife ich heraus.
studium (Medizin und Psychologie) ab.                           Aufgrund dieser personengeschichtli-
Nach seinem Einsatz als Arzt für das Rote                   chen Herangehensweise wird bald einmal
Kreuz übernimmt er (1917) die Direktion                     klar, dass die zu Referaten und Diskussio-
der Zwangserziehungsanstalt Berlin-Lich-                    nen eingeladenen Personen zumindest in
tenberg (umgangssprachlich: Lindenhof),                     einem der vier Beziehungen gestanden
die er zu einem Modell für eine humanere                    haben, die sich zwischen einer Person
Fürsorgeerziehung macht. Nach Streit mit                    und einer Institution ausbilden können:
Vorgesetzten und Mitarbeitern beendet er                    persönliche Freundschaft, wissenschaft-
den Versuch (1920) unter Protest und gro-                   liche Neugier, wissenschaftliche Affinität,
ßer öffentlicher Anteilnahme. Nach einer                    Karriererunterstützung.
Ausbildung zum Silberschmied (in Helle-
rau) hält er mehrere Vorträge im Institut                   Carl Albert Loosli (1877-1959) Gastreferent
und ist als Pädagoge Mitarbeiter in den                     Mit dem autobiographisch grundierten
Volkshochschulen Thüringens und Sach-                       Pamphlet über die damaligen KInderver-
sens. Mit Elisabeth Rotten gründet er die                   wahranstalten und seiner radikalen An-
deutschsprachige Sektion des Weltbunds                      staltskritik ist der Berner Kulturkritiker
für Erneuerung der Erziehung (New Edu-                      und Journalist Carl Albert Loosli in der
cation Fellowship) (1922) und ediert die                    deutschsprachigen Schweiz Mitte der
Zeitschrift Das Werdende Zeitalter (1923-                   1920er Jahre schlagartig bekannt und mit
1933). Die französischsprachige Ausga-                      seiner klaren und sachlichen Replik auf
be verantwortet Adolphe Ferrière. 1933                      die Einwände seiner Gegner auch für (so-
emigriert Wilker endgültig in die Schweiz,                  zial)pädagogische Fachkreise interessant
wo er zwei Jahre lang an der Schweizer                      geworden. 1927 nimmt Loosli am Institut
Erziehungs-Rundschau mitarbeitet und                        als Referent an der zweiten Konferenz
Co-Direktor des Landerziehungsheims                         über schwererziehbare Kinder teil: „Das

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Wort erhielt auch Carl Albert Loosli, der in                der Minderjährigen – Polemiken und
der Deutschschweiz eine engagierte Kam-                     Ergebnisse.
pagne für die Reform der Heimerziehung
führt.“36                                                   Ernst Schneider (1878-1957) Lehr-
      Als Jugendfreund Bovets steht Loosli                  beauftragter; drei Jahre
häufig in Verbindung zum Institut. Er hatte                 Nach der Ausbildung zum Primarlehrer
im Waisenhaus der Familie Bovet (einer                      am Lehrerseminar Muristalden in Bern
guten Anstalt, wie er sagen wird) in Grand-                 ist Ernst Schneider bis 1899 Lehrer in
champ (Kanton Neuenburg) drei Jahre                         Innerberg (Gemeinde Wohlen) bei Bern,
seiner Kindheit verbracht (1889-1892)                       studiert dann an der Universität Bern Pä-
und dort auch perfekt Französisch gelernt.                  dagogik, Philosophie, Geographie und
Pierre Bovet, der Sohn des Heimleiter-                      Geschichte und promoviert 1904 in Päda-
paars, ein Jahr jünger als Loosli, ist fortan               gogik37. Als Lehrer und Oberlehrer wirkt er
ein sehr enger Freund. Dies ermöglicht es                   an der Übungsschule des Pädagogischen
ihm, sowohl mündlich als schriftlich in Fran-               Universitätsseminars. Gegen den Protest
zösisch zu argumentieren. Für Anstalts-                     der Lehrerschaft und der Freisinnigen Par-
leben sollte das Kuratorium der Stiftung                    tei wählt die zuständige Kommission den
Lucerna, in dem neben Bleuler, Schohaus                     27jährigen Pädagogen 1905 zum Direktor
und Binswanger auch Piere Bovet sitzt,                      des staatlichen Lehrerseminars des Kan-
1932 Loosli mit einem Preis ehren (Preis-                   tons Bern. Hier führt er Doppelstunden,
summe: sFr. 1000.-). Zwischen 1933 und                      Schulreisen, Unterrichtspraktika, freie Auf-
1936 wird Loosli gemeinsam mit Pierre                       sätze und neue Prüfungsformen ein. Nach
Bovet und Pierre de Mestral auf die Ju-                     dem Berner Seminarhandel und einer
gendrechtsgesetzgebung im Kanon Genf                        Hetzkampagne – Schneider wurde vor-
einwirken, was Genf 1937 ein fortschritt-                   geworfen, während des Unterrichts Psy-
liches Jugendgesetzt bringt.                                choanalyse38 betrieben zu haben – wird er
      Die Pädagogen in der Romandie ver-                    1915 trotz massiver Proteste seiner Schü-
standen sich mit Loosli gut. Schon 1924                     ler und vieler Seminarabsolventen suspen-
möchte die in Genf ansässige deutsch-                       diert. Aufgrund der Einladung von Bovet
sprachige Schriftstellerin Lisa Wenger                      und Claparède hält er am Institut akade-
Anstaltsleben ins Französische überset-                     mische Übungen ab: Zwischen 1916 und
zen. Leider scheut der Verlag Payot das                     1919 erteilt er insbesondere einen 14täg-
Risiko – das Projekt kommt nicht zustan-                    lichen Kurs über ausgewählte schulprak-
de. Auch Alice Descoeudres und Adolphe                      tische Themen, Unterrichtstechniken, das
Ferrière hatten Loosli zu seinem Pamphlet                   Thema Unterricht und Erziehung und Fra-
beglückwünscht.                                             gen der Psychoanalyse. Bovet stellt fest,
      1929 diskutiert Loosli, eingeladen von                sein Freund bekunde, anders als Loosli,
Bovet, an einem Tafelgespräch am Insti-                     Mühe, sich französisch auszudrücken –
tut Themen der Anstalts- und Familiener-                    darum sei der Kurs nicht ganz geglückt.
ziehung. Nachdem er im Mai 1932 in der                      Erminio Solari, einer seiner damaligen
Schweizerischen          Erziehungsrundschau                Studenten, schreibt, Schneider trage in
(S.E.R.) einen Aufsatz mit dem Titel An-                    ungeschicktem, aber klar verständlichen
staltserziehung veröffentlicht hatte, hält                  Französisch vor, behandle aber seine The-
er, kein Jahr danach, wiederum von Bovet                    men auf eindrücklich Art. 1918 kündigt
initiiert, institutsintern in Genf Referate                 Schneider die Gründung eines Instituts
zu den Themen Jugenderinnerungen, Die                       in Bern an, das dem Institut Jean-Jacques
Strafkolonie zu Trachselwald, Das Recht                     Rousseau nachempfunden sein würde

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– eine Idee, die er nicht realisiert. Ende                  Bundesparlament, dem Nationalrat (1911-
1919 fragt Bovet Schneider, ob dieser                       1917). Seidel zählt vom ausgehenden 19.
eine Berufung an die Universität Riga an-                   Jahrhundert an zu den Führern des linken
nehmen würde. Bovet war von der Fakul-                      Flügels der Arbeiterbewegung. Währen
tät beauftragt worden, „einen Schweizer,                    des 1. Weltkriegs polemisiert er gegen
der die westeuropäische Pädagogik kennt,                    seine Partei. Als linker Sozialpädagoge
ausfindig zu machen und vorzuschlagen“39.                   vertritt er, gegen Kerschensteiner, das
Nach einer Erkundungsreise nach Lettland                    Konzept einer Produktions- und Arbeits-
sagt dieser zu und übernimmt im März den                    schule. Als Referent tritt der im Institut erst
Lehrstuhl für Kinderpsychologie und päd-                    nach seiner Pensionierung auf.
agogische Pathologie an der dort kürzlich
eingerichteten pädagogischen Abteilung                      Walter Guyer (1892-1980) Gastreferent
der Philosophischen Fakultät. In seinen                     Nach dem Abschluss am Lehrerseminar
Briefen aus Riga diskutiert er in den Jahren                Küsnacht (ZH) unterrichtet Walter Guyer,
bis 1928 (als er die Stelle verlassen muss)                 während er in Zürich und Paris Pädagogik,
aktuelle pädagogische Fragen in der Zeit-                   Psychologie, Philosophie und Geschichte
schrift Die Schulreform.                                    studiert (1916-1920), promoviert (1920),
                                                            und wiederum als Sekundarlehrer arbei-
Robert Seidel (1850-1933) Gastreferent,                     tet (1925-1928), bevor er bis 1941 als
zwei Mal                                                    Hauptlehrer für Pädagogik am Seminar
Nach einer Tuchmacherlehre und kurzer                       Rorschach tätig und schließlich Direktor
Tätigkeit als Buckskinweber (Sachsen)                       des kantonalen Oberseminars in Zürich
wird Robert Seidel aktiver Sozialdemokrat                   ist (1942-1958). Er publiziert über Pesta­
und flieht 1870 nach Zürich, wo er als Ge-                  lozzi, zum Thema Schule und Nation in Be-
schäftsführer der Unternehmungen des                        drängnis, zu allgemeinpädagogischen und
Arbeiterbunds (1876-1879) tätig ist, sich                   lernpsychologischen Fragen. Gemäßigt
berufsbegleitend zum Primar- (1880), dann                   schulreformerisch eingestellt, vertritt er
an der Zürcher Universität zum Sekundar-                    eine Schule auf werktätiger Basis und for-
lehrer (1881-1883) ausbildet. Sechs Jahre                   dert eine philosophisch begründete Leh-
unterrichtet er an der Sekundarschule                       rerbildung. Guyer sollte Hans Aeblis von
Mollis (1884-1890), bevor er die politisch                  Jean Piaget betreute Genfer Dissertation
linksstehenden Publikationen Arbeiterstim-                  am Rand begleiten.
me (1890-1898), Volksrecht (ab 1898) und
Grütlikalender (1900-1926) redigiert. Bis                   Fritz Wartenweiler (1989-1985)
1912 ist er wiederum Sekundarlehrer, quali-                 Gas­treferent
fiziert sich aber auch wissenschaftlich (Pro-               Zwischen 1909 und 1911 studiert Fritz
motion, Habilitation): Zunächst Privatdozent                Wartenweiler Philologie und Philosophie in
für Pädagogik an der ETH (ab 1905), dann                    Berlin und Kopenhagen. In Dänemark liest
an der Universität Zürich (ab 1908, wo er                   er N.F.S. Grundtvigs Publikationen zur
bis 1929 als Hochschullehrer wirkt).                        Volksbildung – das Thema Erwachsenenbil-
     Wie seine journalistische und päda-                    dung sollte fortan seine wissenschaftliche
gogische Laufbahn, ist auch seine poli-                     und persönliche Biographie dominieren.
tische Karriere bemerkenswert: Für die                      1913 wird er an der Universität Zürich
Sozialdemokratische Partei sitzt er im                      mit seiner Studie über den Gedanken der
Großen Stadtrat von Zürich (1898-1916;                      Volkshochschule bei Grundtvig promo-
1919-1921), im Zürcher Kantonsrat (1893-                    viert. Wartenweiler amtet drei Jahre (1914-
1896; 1899-1917; 1920-1923) und im                          1917) als schulreformerisch engagierter

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Direktor des Solothurner Lehrerseminars,                    am Heilpädagogischen Seminar macht.
bevor er seine Stelle aufgrund des Dis-                     Mit dem Begriff Entwicklungshemmung
puts über eine Prüfungsnote unter Protest                   umreisst er ein neues heilpädagogisches
verlässt. Er wird Gründer (1919) und bis                    Konzept und weist damit der Sonderpäda-
1926 Vorsteher des Volksbildungsheims                       gogik die Aufgabe zu, präventiv oder korri-
Nussbaumen bei Frauenfeld. Zudem wirkt                      gierend auf die Entwicklungshemmungen
er, weil immer zu Fuß unterwegs, als wan-                   von Kindern einzuwirken. Bis heute wird
dernder Volksbildner und Vortragsred-                       Hanselmanns Einführung in die Heilpäda-
ner. Neben seinen Veröffentlichungen zu                     gogik (1930) zitiert.
Fragen der Volksbildung, zu Konzepten
dänischer Volkshochschulen und zum Ver-                     Eduard Oertli (1861-1950) Gastreferent
hältnis von Schule und Familie, verfasst er                 Nach der Ausbildung am Lehrerseminar
Biographien von Politikern und Philoso-                     Küsnacht (Kanton Zürich; 1877-1881)
phen (Ben Gurion, Gandhi, Nansen, Ein-                      ist Eduard Oertli neununddreißig Jahre
stein). 1940 gehört er zu den Mitgründern                   Primarlehrer in Riesbach (1890-1929).
der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft                     Neben dieser Tätigkeit wird er zu einem
für kriegsgeschädigte Kinder.                               der Hauptvertreter der Handarbeit in der
                                                            Schule – auch als langjähriger Redaktor
Heinrich Hanselmann (1885-1960)                             der Schweizerischen Blätter für Knaben-
Gastreferent                                                handarbeit (1896-1925). Oertli versucht,
Nach seiner Ausbildung am Lehrerseminar                     den Arbeitsschulgedanken in den deutsch-
(Schiers, Kanton Graubünden) ist Hein-                      schweizer Schulen praktisch umzusetzen.
rich Hanselmann Gehörlosenlehrer in St.                     So führt er, neben der Publikation zahl-
Gallen, bevor er in Zürich Psychologie stu-                 reicher kleiner Schriften zu Handarbeit,
diert (Studienaufenthalte in München und                    Volksschul- und Erziehungsfragen, als
Berlin), 1911 promoviert wird, kurzzeitig                   Präsident des Schweizerischen Vereins
Assistent am Psychologischen Institut des                   für Knabenhandarbeit und Schulreform
Senckenbergianums in Frankfurt am Main                      jeweils im Sommer Lehrerweiterbildungs-
wird, die Beobachtungsanstalt für verhal-                   kurse mit ursprünglich manuellen, ab 1909
tensgestörte Jugendliche Steinmühle nahe                    zusätzlich didaktisch-methodischen Pro-
Frankfurt am Main (1911-1916) leitet und                    grammakzenten durch. 1932 verleiht ihm
1916 kriegsbedingt nach Zürich zurück­                      die Universität Zürich für sein Wirken in
kehrt. Bis 1923 wirkt er als Sekretär von                   diesem Bereich den Titel eines Doktors
Pro Juventute, habilitiert sich (1924) an                   ehrenhalber.
der Universität Zürich mit einer Studie
über Die psychologischen Grundlagen der                     Max Oettli (1879-1965) Gastreferent
Heilpädagogik und initiiert die Gründung                    Oettli studiert am Eidgenössischen Poly-
des Heilpädagogischen Seminars an der                       technikum in Zürich Naturwissenschaften,
Universität, dessen erster Leiter er wird.                  erwirbt das Diplom als Fachlehrer (1902)
Ein Jahr danach (1925) unterstützt ihn                      und promoviert an der Universität Zürich
der Winterthurer Mäzen Alfred Reinhart                      mit einer Arbeit über die Ökologie der
bei der Gründung des Landerziehungs-                        Felsflora des Alpsteins. Bis 1921 ist er
heims Albisbrunn in Hausen am Albis (für                    Lehrer im Landerziehungsheim Glarisegg,
heilpädagogisch zu betreuende Kinder)                       wo er Ferrière und von Greyerz kenneng-
– in diesem Kontext muss Adolphe Fer-                       lernt haben muss, bevor er sein Lebens-
rière ihn kennengelernt haben –, das er                     thema, den Kampf gegen den Tabak- und
zur Übungsschule für die Studierenden                       Alkoholmissbrauch, auch zu seinem

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beruflichen Schwerpunkt macht: als Leiter                   sowie Lehrer an der Kantonsschule Chur
der Schweizerischen Zentralstelle zur Be-                   (1893-1995) und entwickelt als theologisch
kämpfung des Alkoholismus (Lausanne;                        liberaler Geistlicher einen Sinn für soziale
1921-1947), Gründer der Geschäftsstel-                      Fragen. 1906 beteiligt er sich an der Ent-
le der Vereinigung zur Aufklärung über                      stehung der religiös-sozialen Bewegung
die Tabakgefahren und als Präsident des                     sowie an der Gründung der Zeitschrift
Alkoholgegner-Bundes. Oettli proagiert                      Neue Wege, die er als Hauptredaktor be-
Schülerexperimente im naturwissenschaft-                    treut (1921-1945). Professor für systema-
lichen Unterricht und gehört der Jugend-                    tische und praktische Theologie an der
schriftenkommission des Schweizerischen                     Universität Zürich (ab 1908), nähert sich
Lehrervereins an.                                           Ragaz der Arbeiterbewegung an, indem
                                                            er sich 1903 in Basel mit den streikenden
Clara Ragaz (1874-1957) Gastreferentin                      Bauarbeitern solidarisiert und später in Zü-
Nach dem Abschluss des aargauischen                         rich den Generalstreik unterstützt. In der
Lehrerseminars (1892) arbeitet Clara                        internationalen Bewegung des religiösen
Nadig als Hauslehrerin in England, Frank-                   Sozialismus’ eine zentrale Figur gewor-
reich und im Engadin sowie als Lehrerin                     den, kämpft er gegen marxistische und
in Zürich. Kurz vor ihrem Mann, Leonhard                    staatszentrierte politische Modelle und en-
Ragaz, tritt sie 1913 in die Sozialdemokra-                 gagiert sich für einen föderalistisch-genos-
tische Partei ein. Ragaz zählt 1902 zu den                  senschaftlich-pazifistischen Sozialismus.
Gründerinnen des Schweizerischen Bun-                       1921 tritt er von seiner Professur zurück
des abstinenter Frauen in Basel. Nach dem                   und geht in die Bildungsarbeit im Zürcher
Beitritt zur Union für Frauenbestrebungen                   Arbeiterquartier Aussersihl und in die re-
(1907), engagiert sie sich in der Sozialen                  ligiös-soziale Bewegung. Als Präsident
Käuferliga (1908-1915), leitet 1909 die                     der Schweizerischen Zentralstelle für Frie-
Schweizerische Heimarbeitsausstellung in                    densarbeit ist er zwischen 1918 und 1939
Zürich, neben ihrem sozialen Engagement                     einer der Exponenten der antimilitaristi-
für die Arbeiterinnen in Aussersihl. Als Do-                schen Friedensbewegung in der Schweiz.
zentin an der Sozialen Frauenschule prä-                    Als die Sozialdemokratische Partei 1935
sidiert sie (1929-1946) als Vizepräsidentin                 die militärische Landesverteidigung befür-
die Internationale Frauenliga für Frieden                   wortet, tritt Ragaz aus. Gegen Antisemitis-
und Freiheit, deren Schweizer Sektion sie                   mus und Nationalsozialismus engagiert,
1915 mitgründet. Damit zählt Clara Ragaz                    lässt er die Neuen Wege illegal erschei-
zu den bedeutendsten Schweizer Pazifis-                     nen (1941-1944), weil er die verordnete
tinnen und Feministinnen der ersten Hälfte                  Vorzensur verweigert. Mit seiner Reich-
des 20. Jahrhunderts. Das Gebot christ-                     Gottes-Theologie, die verbunden ist mit
licher Ethik impliziert für sie das Engage-                 politischem Engagement, liegt er nahe an
ment für eine gerechte Gesellschaft, für                    den nachmaligen befreiungstheologischen
den Frieden und für das Recht der Frauen                    Konzepten.
auf politische Beteiligung.
                                                            Elisabeth Rotten (1882-1964)
Leonhard Ragaz (1868-1945) Gastreferent                     Gastreferentin
Ragaz studiert Theologie in Basel, Jena                     In einer Berliner Familie aufgewachsen,
und Berlin, wird Pfarrer am Heinzenberg                     studiert Rotten Germanistik, Philosophie
(Kanton Graubünden; 1895-1902), in                          und neuere Sprachen an deutschen Uni-
Chur und am Basler Münster (1902-1908)                      versitäten, promoviert (1912), engagiert

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sich, zur Pazifistin geworden, während des                  bei Bern ein Erziehungsheim und wirkt als
1. Weltkriegs in der Kriegsgefangenenhil-                   Seminarlehrer in Rorschach (1925-1928),
fe und wird Mitgründerin der Auskunfts-                     bevor er 1928 als Direktor und Lehrer für
und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland                     Psychologie und Pädagogik an das thur-
und Ausländer in Deutschland (1914).                        gauische Lehrerseminar in Kreuzlingen
Nach dem Krieg setzt sie ihre Arbeit im                     berufen wird, wo er bis 1962 arbeitet.
pädagogischen Bereich fort und arbeitet                     Wichtig für Schohaus ist die These, wo-
international mit Friedensaktivisten und Ex-                nach die Qualität der Schule nicht von äu-
ponentinnen der Schulreformbewegung                         ßeren Reformen, sondern vom Geist des
zusammen. Mit Adolphe Ferrière und Beat-                    Lehrers abhänge. Er setzt auf eine Erzie-
rice Ensor gründet sie den Weltbund für Er-                 hung in bildender Kunst, Musik und Litera-
neuerung der Erziehung (World Education                     tur. 1933 erregt sein Buch Schatten über
Fellowship (WEF); 1921), ist Mitglied des                   der Schule ebenso Aufsehen wie 1936 die
Gründungsvorstands und ab 1949 dessen                       Pressekampagne gegen die Zustände in
Vizepräsidentin. Nachdem sie bis 1933                       der aargauischen Erziehungsanstalt Aar-
an mehreren pädagogischen Reformver-                        burg.
suchen in Deutschland mitgearbeitet hatte
(u.a. an der Odenwaldschule), emigriert                     Leo Weber (1876-1969) Gastreferent
sie 1934 in die Schweiz und lebt in Saa-                    Weber absolviert an der Pädagogischen
nen (Kanton Bern), wo sie sich nach 1945                    Abteilung der Kantonsschule Solothurn
am Aufbau des Kinderdorfs Pestalozzi in                     die    Lehrerausbildung    (Lehrerpatent:
Trogen beteiligt. Referentin in ganz Euro-                  1895), wird Lehrer in Breitenbach und
pa, verfasst sie pazifistische und pädagogi-                Deitingen, lässt sich an den Universitä-
sche Werke, arbeitet bei Fachzeitschriften                  ten Bern und Paris zum Sekundarlehrer
und ediert die deutschsprachige Version                     ausbilden (1897-1900), versieht Stellen
der Publikation des World Education Fel-                    in Biberist (1901-1908), an der Töchter­
lowship, Das werdende Zeitalter (1922-                      schule St. Johann in Basel (1908-1911)
1932)40. Sie ist mit Claparède, Bovet und                   und studiert berufsbegleitend Pädagogik
Ferrière Gründerin des Internationalen                      und Psychologie an der Universität Basel.
Erziehungsbüros (Bureau Internationale                      Weber ist Lehrer (Deutsch, Geschichte)
d’Education; 1925) in Genf41, ab 1919 Mit-                  an der Solothurner Kantonsschule (1911-
glied des Präsidiums der Deutschen Liga                     1914), Schulinspektor und schließlich So-
für den Völkerbund, wo sie die Erziehungs-                  lothurner Seminardirektor (1918-1946),
abteilung leitet), 1937 Vizepräsidentin der                 also der Nachfolger von Fritz Wartenwei-
Associazione Montessori Internazionale                      ler auf diesem Posten. Weber organisiert
und 1948 Mitgründerin der Fédération                        Bildungskurse für Arbeitslehrerinnen und
internationale des communautés d’enfants.                   Kindergärtnerinnen, verfasst Lesebücher
                                                            und Studien zur Schulgeschichte und ist
Willi Schohaus (1897-1981) Gastreferent                     Redaktor pädagogischer Periodika.
Nach deutschen Kriegsdienst (1917-1918)
und einer Mitgliedschaft im Spar­takusbund
und am Spartakusaufstand in Berlin                          5. Zusammenfassung und Fazit
(1919), studiert Schohaus Theologie in
Zürich und Basel sowie Philosophie, Päd-                    Zunächst scheinen es verstreute deutsch-
agogik und Psychologie in Bern, wird zum                    sprachige Pädagoginnen und Erziehungs-
Dr. phil. promoviert (1922), gründet in Muri                wissenschaftler zu sein42, deren Bezug

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