Jenseits von Idealisierung und Entfremdung - Jüdisch-muslimische Beziehungen in Deutschland, Israel und den USA - Internationale ...

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Sylke-Tempel-Fellowship 2020

                             Jenseits von
                            Idealisierung
                                 und
                            Entfremdung
                             Jüdisch-muslimische Beziehungen in
                               Deutschland, Israel und den USA

                                     Ein Text von Beyza Arslan

W
          enige Beziehungen scheinen auf den         in verschwörungstheoretischer Manier über die
          ersten Blick so konfliktgeladen wie die    „islamische Kooperation mit den Nazis“ berichtet.
          jüdisch-muslimischen. Besonders der           Aller Schwierigkeiten zum Trotz gab es in den
fortdauernde Nahost-Konflikt trägt dazu bei, dass    vergangenen Jahren vielfältige Versuche, die jü-
das Verhältnis zwischen beiden Gemeinschaften        disch-muslimischen Beziehungen auf eine feste
angespannt ist. Beide Seiten sind geprägt von tie-   und nachhaltige Grundlage zu stellen, teils mit Er-
fen Ressentiments gegen den jeweils „Anderen“.       folg: Neben spektakulären Gesten wie dem Ausch­
Antisemitische Haltungen finden sich nicht nur       witz-Besuch einer Delegation der Islamischen
in der Charta der Hamas, sondern auch in islamis-    Weltliga mit dem American Jewish Committee
tischen Bewegungen, die „die Juden und Israel“       gibt es auch in Deutschland zahlreiche Formate,
weltweit in ihren Predigten als „Strippenzieher“     um die jüdisch-muslimischen Beziehungen mit
brandmarken und zum ewigen Feind erklären.           neuen Narrativen zu besetzen.
   Auf der anderen Seite finden wir jüdische Stim-      Darunter sind Podcasts wie das von der Volks-
men, die vor einer vermeintlichen „Islamisierung“    wagenStiftung geförderte Projekt „Mekka und
warnen – etwa in der Splittergruppe „Juden in der    Jerusalem“ an der Hochschule für Jüdische Stu-
AfD“ oder in der Jüdischen Rundschau, die u.a.       dien Heidelberg und Veranstaltungen wie das

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Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

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Sylke-Tempel-Fellowship 2020

„Jüdisch-muslimisch-feministische Festival“ in          Soylu, die in Heidelberg derzeit mit Teilseiend
München. Hinzu kommen Begegnungsformate              e.V. eine Muslimische Akademie aufbaut, orga-
(„Schalom Aleikum“ des Zentralrats der Juden)        nisiert seit mehreren Jahren mit der Hochschule
oder wissenschaftliche Tagungen wie die Kon-         für Jüdische Studien Heidelberg, dem Kulturhaus
ferenz „Juden und Muslime in Deutschland“ in         Karlstorbahnhof und dem Amt für Chancengleich-
München Anfang 2020.                                 heit die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage. Ent-
   Auch auf universitärer Ebene wird der Versuch     standen ist das Projekt aus den Jüdischen Kultur-
unternommen, ein ganzheitliches Bild über den        tagen und den ersten Muslimischen Kulturtagen,
Nahen Osten und die sprachlichen, kulturellen        die 2017 zusammengeführt wurden. Durch das
sowie politischen Beziehungen zu vermitteln,         Zusammenspiel von kultureller und politischer
etwa im neuen gemeinsamen Nahost-Masterstu-
diengang der Uni Heidelberg und der Hochschule
für Jüdische Studien Heidelberg.

Von Amerika und Israel lernen
Was sind die besonderen Herausforderungen            In Deutschland
der jüdisch-muslimischen Beziehungen – und
was können die muslimischen und jüdischen
Gemeinschaften in Deutschland von anderen            sind heute jüdisch­-
Vorbildern lernen? Im Folgenden wollen wir eine
virtuelle Reise in drei unterschiedliche Kontexte
unternehmen, in denen jüdisch-muslimische Be-
                                                     muslimische Veran-
ziehungen vor jeweils eigenen Herausforderun-
gen stehen: Deutschland, Israel und die USA. Und     staltungen möglich,
auch wenn das Diktum der Religionswissenschaft-
lerin Mehnaz Afridi „Wir können uns nicht davor
drücken, über Israel und Palästina zu sprechen       über die man vor
– das wäre einfach unehrlich“ weiter gilt: Es wird
dabei oft um ganz andere Fragen gehen als um den
arabisch-israelischen Konflikt.
                                                     zehn Jahren nicht
   Einen erfreulichen Anstieg von jüdisch-musli-
mischen Kooperationen in Deutschland beobach-        diskutiert hätte
tet Yasemin Soylu, Studienleiterin für „Muslimi-
sche Zivilgesellschaft“ bei Teilseiend e.V.: „Den
Mut, aufeinander zuzugehen, nehme ich sehr stark
wahr, zumindest bei zivilgesellschaftlichen Orga-
nisationen, die sich muslimisch oder jüdisch ver-
orten.“ Nach und nach entstehen immer mehr For-      Bildung soll mehr Sichtbarkeit für jüdische und
mate, die jüdischen und muslimischen Menschen        muslimische Individuen geschaffen werden: „Es
mehr Sichtbarkeit verleihen. Natürlich bedeutet      geht uns nicht darum, den jüdischen Autor X oder
das nicht zwingend, dass sämtliche Formate bei       den muslimischen Schauspieler Y zu finden. Es
beiden Glaubensgemeinschaften vollständige Ak-       geht darum, Kunst- und Kulturschaffenden eine
zeptanz finden; doch zumindest in Deutschland        Bühne, eine Plattform zu geben, auf der sie sich
sind heute Veranstaltungen möglich, über die man     mit ihren vielfältigen Identitäten wiederfinden“,
vor zehn Jahren nicht einmal diskutiert hätte.       so Yasemin Soylu.

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Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

   Bei den Jüdisch-Muslimischen Kulturtagen           eigenen. Dann hat sich natürlich auch das Bild
gelingt das durch Filme, Musik, Stadtführungen        verschoben: Wer sind jetzt wir und wer sind die?“
oder durch Fachvorträge und Podiumsdiskussio-         So beschreibt Ilja Sichrovsky den Kern der Muslim
nen. Soylu betont, dass dadurch Räume geschaf-        Jewish Conference (MJC). Sichrovsky ist Gründer
fen werden, in denen Aushandlungsprozesse             und Generalsekretär der MJC, einer jährlichen
stattfinden und in denen man sich auch darüber        sechstägigen Konferenz, die 2015 und 2016 in Ber-
austauschen kann, worin man uneins ist – etwa         lin stattfand und dort über 160 junge muslimische
im Rahmen der Fachtagung „Jüdische und musli-         und jüdische Menschen aus mehr als 65 Ländern
mische Positionen zur Gegenwart“ oder bei Stadt-      zusammenbrachte.
führungen unter dem Motto „Muslimisches/jüdi-            Die Non-Profit-Organisation möchte nun ihren
sches Leben in Heidelberg“, die vergangenes Jahr      Sitz von Wien nach Berlin verlegen, um dort u.a.
im Rahmen der Kulturtage stattfanden.                 eine „Jüdisch-Muslimische Allianz“ zu gründen.
   Damit solche Veranstaltungen keine einmali-        Ziel ist es, sich zu institutionalisieren und somit
gen Ereignisse bleiben, möchte man Menschen           unabhängig und für alle Altersgruppen agieren zu
aus der Mehrheitsgesellschaft mitnehmen und auf       können. Angefangen hat Sichrovsky, als er 2009
Stereotype gegenüber der jüdischen und muslimi-       für die Universität Wien auf einer internationalen
schen Gemeinschaft aufmerksam machen. Führt           Konferenz seine ersten längeren und tiefgehenden
man sich vor Augen, dass es in Deutschland rund       Gespräche mit Muslimen führte. Dort bemerkte er,
99 000 Jüdinnen und Juden gibt (0,1 Prozent der       dass er als junger europäischer Jude bisher keinen
Gesamtbevölkerung) und 4,4 bis 4,7 Millionen          Kontakt zu muslimischen Menschen hatte.
Musliminnen und Muslime (5,4 bis 5,7 Prozent             Nun organisiert er seit 2010 die internatio-
der Gesamtbevölkerung), dann erscheint das be-        nale Muslim Jewish Conference: „2010 war jü-
sonders wichtig.                                      disch-muslimischer Dialog genauso aktuell wie
   Dass es antisemitische Ressentiments auch in-      Ufos. Das war nichts, was in irgendeiner Weise
nerhalb der muslimischen Gemeinschaften gibt,         auf der Tagesordnung stand, weder in jüdischen
lässt sich nicht leugnen; es ist allerdings nur ein   noch in muslimischen Organisationen oder in der
Ausschnitt aus den jüdisch-muslimischen Bezie-        Mehrheitsgesellschaft.“ Es habe keine geeigne-
hungen, und es ist kein vornehmlich muslimisches      te Plattform gegeben, um offen miteinander zu
Problem. So sind laut einer aktuellen Statistik des   sprechen. Der Redebedarf sei aber bereits groß
Bundesinnenministeriums 93,4 Prozent der an-          gewesen: „Diese Neugier, endlich die Chance zu
tisemitischen Straftaten rechtsextrem motiviert       haben, alles, was du einen Juden oder Muslimen
und im Vergleich zu 2018 um 13 Prozent gestiegen.     fragen wolltest, aber nie konntest.“
Dasselbe lässt sich auch für islamfeindliche Ver-        Um über den Nahost-Konflikt oder andere pola-
brechen beobachten, die zu 90,1 Prozent rechtsex-     risierende Themen zu sprechen, müsse man zuerst
trem motiviert und um 4,4 Prozent gestiegen sind.     eine gemeinsame Sprache finden und Vertrauen
                                                      aufbauen. Auf der Konferenz wurde der Nah-
Wer sind „wir“ und wer sind „die“?                    ost-Konflikt nicht ignoriert, sondern u.a. durch
„Am Anfang haben wir sehr brutal Stereotype           Gastredner*innen aus der Region thematisiert, wie
und Vorurteile gebrochen. (…) Intern hat sich das     Sichrovsky berichtet: „… meistens Vertreter von
Bild des anderen dann auf einmal verschoben.          Familien, die Menschen in dem Konflikt verloren
Säkulare Juden haben gemerkt, dass sie eher mit       haben. Da sind Brüder, Söhne, Väter und Töchter
säkularen Muslimen auf einer Linie sind als mit       gestorben und die sitzen dann vor dieser Gruppe
den religiösen aus der eigenen Gemeinschaft. Es       junger Studierender und sagen ihnen mit ihrer
gab viele Themen, wo auf einmal der Konsens mit       Erfahrung, dass die Quintessenz dessen, was sie
der anderen Gruppe viel stärker war als mit der       durchgemacht haben, genau das ist: dass sie jetzt

                                                                                         IP Special • 2 /2020   | 31
Sylke-Tempel-Fellowship 2020

nebeneinander sitzen und miteinander reden. Und          wirklich schwach ist – mein Leiden ist größer als
was soll unsere Ausrede dafür sein, wenn wir es          dein Leiden. So können wir keinen Dialog und
nicht tun?“                                              Frieden haben.“ Umgekehrt erlebe sie allerdings
   Jedes Jahr kamen Jugendliche von der Kon-             auch oft Vorwürfe seitens jüdischer Gemeinschaf-
ferenz zurück und trugen ihre Erfahrungen in             ten, die sich unter dem Eindruck von ethnischen
ihre Gemeinden, Organisationen oder Städte. Im           Konflikten oder islamistischen Terroranschlägen
Rahmen der Konferenz fanden Besuche in Sre-              von muslimischen Menschen distanzieren.
brenica (Bosnien) und im Konzentrationslager                 Zwischen den USA und Europa sieht sie erheb-
Mauthausen (Österreich) statt. Für Sichrovsky            liche Unterschiede, was die jüdisch-muslimischen
war es ein herausragender Moment, als Muslime            Beziehungen angehe. Das liege nicht so sehr an
aus 40 Ländern in einem Konzentrationslager das          der unterschiedlichen Größe der Minderheiten, ob-
muslimische Gebet für die Verstorbenen sprachen.         gleich die jüdische Minderheit in den USA anders
Dies habe ihm die Möglichkeit gegeben, an einem          als in Europa mit 6,9 Millionen Menschen deutlich
solchen Ort Zugang zu einer ganz neuen Emotio-           größer ist als die muslimische (3,45 Millionen). Es
nalität zu finden.                                       hat eher mit der amerikanischen Identität zu tun,
                                                         die beide Gemeinschaften trotz unterschiedlicher
„Goldenes Zeitalter“ der Koexistenz                      religiöser Verankerung teilen. Jüdische Amerika-
  Das gemeinsame Erinnern an die Vergangenheit           ner*innen gehen für muslimische Menschen nicht
  beider Gemeinschaften ist auch für die Religi-         nur auf die Straße, sie engagieren sich auch für
  onswissenschaftlerin Afridi ein zentraler Punkt,       Minderheitenrechte in vielen Konflikten, etwa in
  um zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu ge-          Myanmar, dem Südsudan oder in Xinjiang.
  langen. Und: „Als es unter der Trump-Regierung             Natürlich gebe es dennoch Antisemitismus
  den Einreisestopp für viele muslimische Länder         unter muslimischen und Islamophobie unter jü-
  gab“, fügt sie an, „haben mehr Juden als Muslime       dischen Menschen, so Afridi. Der Antisemitismus
­demonstriert.“                                          sei dabei in den USA ein größeres Problem als Is-
     In den USA sind jüdisch-muslimische Koope-          lamophobie; er sei jedoch nicht nur Muslim*innen
  rationen kein Neuland mehr. Als muslimische Di-        zuzuschreiben, sondern komme vermehrt aus den
  rektorin des interreligiösen Bildungszentrums für      Reihen weißer Nationalisten. In der Statistik des
  Erziehung über den Holocaust und andere Völker-        US-Justizministeriums von 2018 waren 59,6 Pro-
  morde (angesiedelt am Manhattan College) beob-         zent der Opfer aufgrund ihrer ethnischen und
  achtet Afridi allerdings, dass sich beide Gruppen      18,7 Prozent aufgrund ihrer religiösen Zugehörig-
  oft in der Sehnsucht nach vermeintlich „idealen“       keit von sogenannter Hasskriminalität betroffen.
  Epochen der Koexistenz verlieren. So diene etwa        Hier waren 53 Prozent der Täter*innen weiß, wo-
  das sogenannte „Goldene Zeitalter“ des islami-         hingegen nur 24 Prozent schwarz und 12,9 Prozent
  schen Al-Andalus von 711 bis 1492 als Beispiel für     als „unbekannt“ eingestuft wurden. Taten gegen
  eine „perfekte“ und tolerante Zeit, in der alle drei   jüdische und muslimische Menschen sind auch
  Religionen „in Harmonie“ lebten.                       unter „Race“ einzuordnen, da etwa das Judentum
     In ihrem Buch „Shoah through the Mus-               nicht nur eine Religion, sondern auch eine Ethnie
 lim Eyes“ thematisiert Afridi das Problem der           ist und Muslim*innen zum Beispiel auch oft durch
 ­Schoah-Relativierung innerhalb vieler muslimi-         ihre Hautfarbe Opfer von Hass­kriminalität werden.
  scher Gemeinschaften. Es herrsche Unwissenheit             Ari Gordon, Direktor für jüdisch-muslimische
  unter Muslim*innen, was die Schoah betreffe. Oft       Beziehungen beim American Jewish Committee
  unternehme man einen Vergleich, um die Proble-         (AJC), betont deshalb, dass sowohl die muslimi-
  me und das Leid heutiger Muslim*innen zu ver-          schen als auch die jüdischen Gemeinschaften aus-
  deutlichen: „Es gibt immer diesen Vergleich, der       gesprochen divers sind und in ihrem jeweiligen

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Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

„Die meisten Ju-                                      starke Zwang zur Positionierung hinsichtlich des
                                                      Nahost-­Konflikts setze jüdische und muslimische
                                                      Menschen erheblich unter Druck. Dennoch gelte
den“, meint Ari                                       für große Teile der amerikanischen Jüdinnen und
                                                      Juden: „Die meisten Juden haben Sympathie für
                                                      die Palästinenser und wollen einen Staat für sie,
Gordon, „haben                                        so wie sie einen Staat für die Juden wollen.“
                                                          Beim diesjährigen AJC Global Forum, das
Sympathie für die                                     75 Jahre nach dem Krieg in Berlin stattfinden soll-
                                                      te, waren neben anderen zwei besondere Sprecher
                                                      eingeladen: Mohammed Al-Issa, Generalsekretär
Palästinenser und                                     der Muslimischen Weltliga, und Anwar Gargash,
                                                      Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten
                                                      in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zudem
wollen einen Staat                                    veranstaltete AJC in Kooperation mit der Muslim
                                                      World League im Januar einen Besuch in Ausch-
für sie, so wie sie                                   witz-Birkenau, an der eine Delegation mit etwa
                                                      60 muslimischen Saudis teilnahm.
                                                          Ari Gordon beschreibt, wie religiöse Führungs-
einen Staat für die                                   kräfte aus Saudi-Arabien bei diesem Anlass mit jü-
                                                      dischen Menschen der Schoah gedachten und am
                                                      nächsten Tag bei einer Schabbat-Feier jüdisches
Juden wollen“                                         Leben würdigten: „Als Enkel von Holocaust-Über-
                                                      lebenden glaube ich nicht, dass sich meine Groß-
                                                      eltern, wenn sie noch am Leben gewesen wären,
                                                      hätten vorstellen können, dass die Welt so aus­
                                                      sehen würde.“
                                                          Verständigung kann also gelingen, wenn man
kulturellen Kontext verstanden werden müssen.         Persönlichkeiten zusammenbringt, die Zeichen
So könne man etwa türkisch-amerikanische und          setzen. Allerdings unterscheidet sich der ameri-
afroamerikanische Muslim*innen nicht gleichset-       kanische Kontext gesellschaftlich und politisch
zen, wenn man eine vertrauensvolle Beziehung          deutlich vom deutschen und vom israelischen.
aufbauen wolle. Nichtsdestotrotz ließen sich aber     Beim letzteren scheint der Konflikt unausweich-
gemeinsame Narrative entwickeln.                      lich. Viele Beobachter*innen gingen davon aus,
                                                      dass jüdische und muslimische Menschen in
Wie Verständigung gelingen kann                       Israel in großer Feindschaft zueinander lebten
Durch die Corona-Pandemie, die Black-Lives-Mat-       und gute Beziehungen quasi unmöglich seien,
ter-Proteste und das US-Wahljahr sind die Bezie-      sagt Arik Rudnitzky, Projektmanager beim Kon-
hungen derzeit auf eine intensive Probe gestellt.     rad-Adenauer-Programm für Jüdisch-Arabische
Viele Politiker*innen haben versucht, beide Ge-       Zusammenarbeit an der Universität Tel Aviv. Rud-
meinschaften zu polarisieren und auf ihre jewei-      nitzky sieht die zentrale Herausforderung bei der
lige Seite zu ziehen. Doch Institutionen wie das      Forschung zu jüdisch-muslimischen Beziehungen
AJC verstehen sich als strikt unpolitisch. Religiö-   in der Bewältigung eines nationalen Konflikts.
se und nationale Identität sollten Ari Gordon zu-         Immerhin: Trotz der Tatsache, dass beide
folge nicht im Konflikt miteinander stehen. Der       Glaubensgemeinschaften sich als die ­eigentlich

                                                                                         IP Special • 2 /2020   | 33
Sylke-Tempel-Fellowship 2020

„­indigene“ Bevölkerung des Territoriums                 selbe Regierung, denselben öffentlichen Verkehr,
­ver­­stünden, wachse derzeit bei einigen Gruppen        dasselbe Bildungssystem, denselben Arbeits-
 die Bereitschaft, die andere Position zu verstehen.     markt. Wie schaffen wir es, dass es trotz unserer
 Auf persönlicher Basis und im Alltagsleben spiele       Meinungsverschiedenheiten funktioniert?“
 der Konflikt oft keine große Rolle, und es gebe viele      Auch die Tatsache, dass sowohl jüdische als
 Beispiele dafür, dass jüdisch-muslimische Koope-        auch muslimische Menschen an gewissen Konzep-
 rationen gelingen können. Gerade aufgrund der           ten festhalten, die für sie wahr und nicht verhan-
 schwierigen Lage wegen Covid-19 plädieren beide         delbar sind, lässt sich für Darawshe in ein Dialog-
 Gemeinschaften für mehr interreligiöse Solidari-        konzept einbinden: Man müsse nicht immer einer
 tät. Einschränkend fügt Rudnitzky hinzu: „Leider        Meinung sein und könne dennoch im Gespräch
 sind Islamophobie und Antisemitismus in unserer         bleiben („agree to disagree“).
 Welt der Ereignisse nach 9/11 eine Realität. Damit         Neben der Förderung guter Beziehungen zwi-
 müssen wir uns auseinandersetzen.“                      schen jüdischen und muslimischen Gemeinschaf-
    Antimuslimische und antisemitische Ressenti-         ten ist aus Darawshes Sicht die Gleichberechtigung
ments werden insbesondere dann greifbar, wenn            auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene
im April/Mai die jüdische Mehrheitsgesellschaft          essenziell, um die jüdisch-muslimischen Bezie-
ihren Unabhängigkeitstag feiert, der für die Paläs-      hungen in Israel auf eine solide Grundlage zu stel-
tinenser als „Nakba“-Tag (deutsch: Katastrophe)          len. Früher habe man nur auf die politische Bildung
gilt. Auch in der Universität Tel Aviv kommt es          gesetzt, doch heute gehe es auch um einen Wandel
während dieser Zeit zur Polarisierung. Das ändere        der Politik. Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung
aber nichts daran, dass beide Gruppen sich im Uni-
versitätsalltag mit denselben Problemen beschäf-
tigen müssten, meint Rudnitzky. Der Uni-Campus
sei eine gute Möglichkeit, mehr Begegnungen zu
schaffen und die andere Gemeinschaft im Alltags-
leben näher kennenzulernen.

Gleichberechtigt statt nur nebeneinander
Eine friedliche Koexistenz zwischen jüdischen            Soziale, wirtschaft-
und arabisch-palästinensischen Israelis ist auch
für Mohammad Darawshe ein wichtiges Ziel. Der
Direktor des Zentrums für Gleichberechtigung und         liche und politische
gemeinsame Gesellschaft „Givat Haviva“ weist
allerdings da­rauf hin, dass es den arabisch-pa-
lästinensischen Bürger*innen um mehr gehe: um
                                                         Gleichberechtigung
gesellschaftliche Gleichberechtigung. Am Givat
Haviva versucht Darawshe, bestehende Hierar-             ist essenziell für
chien in der israelischen Gesellschaft abzubauen.
   Die Mehrheit der arabisch-palästinensischen
Israelis sind Da­rawshe zufolge nicht mehr nur da-       die jüdisch-musli-
ran interessiert, „gemeinsam Hummus und Fala-
fel zu essen“: „Wir können einander zustimmen
oder widersprechen, uns mögen oder nicht mögen,
                                                         mischen Beziehun-
trotzdem haben wir gemeinsame Interessen. Wir
teilen dieselbe Wirtschaft, dieselbe Umwelt, die-        gen in Israel
34 | IP Special • 2 /2020
Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

(bottom up) sei zwar wichtig, greife jedoch nicht      ineinandergreifen. In Israel versucht Givat Haviva
schnell genug, wenn nicht von politischer Seite (top   nicht nur Bildungsarbeit zu leisten, sondern auch
down) gewisse Änderungen erfolgten.                    das Prinzip der Gleichberechtigung auf politischer
   Am Zentrum Givat Haviva wurden in den ver-          Ebene zu etablieren.
gangenen Jahren neben vielen anderen zwei Pro-            In Deutschland sind in den vergangenen Jahren
jekte entwickelt: der „Wegweiser für eine gemein-      bemerkenswerte Ansätze entstanden, allerdings
same Gesellschaft“, der Ziele für eine inklusive       befindet sich vieles noch im Aushandlungspro-
und gleichberechtigte israelische Gesellschaft         zess. Grund dafür sind unter anderem die sozio-
festlegt, sowie ein Schulprojekt, in dem jüdische      politischen Unterschiede zwischen Deutschland
Lehrer*innen in arabischsprachigen Schulen             und den USA, der unterschiedliche Umgang mit
und arabische Lehrer*innen in hebräischspra-           der Konstruktion nationaler hybrider Identitäten
chigen Schulen des Landes unterrichten. „Man           und das alarmierende Ansteigen von Hasskrimi-
normalisiert die Anwesenheit des anderen“, sagt        nalität und rechtsextremen Attentaten.
Darawshe, „ohne dass man ein Thema daraus ma-             Die Tatsache, dass jüdisches Leben in Deutsch-
chen muss. So bekämpft man Extremismus, man            land oft nur mit Stolpersteinen oder Gedenktafeln
entwickelt einen anderen Lebensstil.“                  in Verbindung gebracht wird, oder die Diskussio-
                                                       nen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört
Starke Bündnisse                                       oder nicht, erschweren es vielen jüdischen und
Um die Metaebene der verschiedenen nationalen          muslimischen Menschen, neue Narrative zu ge-
Kontexte und Interaktionsformen besser nach-           stalten, die über Fragen der bloßen Zugehörigkeit
vollziehen zu können, wurden in diesem Beitrag         oder Ausgrenzung hinausgehen.
die jüdisch-muslimischen Beziehungen anhand               Doch was bedeutet das für die Zukunft der jü-
dreier Länder (USA, Deutschland und Israel) skiz-      disch-muslimischen Beziehungen? In Deutsch-
ziert. Deutlich wurde dabei, dass viele Projekte       land müssten demnach muslimische und jüdische
und Akteur*innen der jüdisch-muslimischen Be-          Akademien kooperieren und von mehrheitsgesell-
ziehungen über das Stadium eines unreflektierten       schaftlichen Einrichtungen Zuspruch erhalten. In-
„Kuschelkurses“ weit hinaus sind. Heute möchte         terreligiöse Kooperationen müssen institutionali-
man stabile Beziehungen aufbauen, die es ermög-        siert sowie bildungspolitisch nachhaltig gefördert
lichen, von Angesicht zu Angesicht über aktuelle       und gepflegt werden. Nach dem Vorbild des AJC
und künftige Herausforderungen zu sprechen. Ein        in den USA und von Givat Haviva in Israel müs-
Dialog, der auf dem Konzept „Imam trifft Rabbi“        sen hier sowohl Führungskräfte als auch einzelne
beruht, ist nicht für jeden ansprechend.               Multiplikator*innen aus beiden Gemeinschaften
   In Israel lag der Fokus auf den Beziehungen         kooperieren und aktiv agieren.
im Schatten des Nahost-Konflikts, in den USA              „Halle“, „Hanau“ und der kürzliche Angriff auf
auf den Mehrheits-Minderheitsbeziehungen so-           einen jüdischen Studenten vor einer Hamburger
wie den hybriden Identitäten (Jewish-American/         Synagoge zeigen, welche Auswirkungen rechts-
Muslim-American) und in Deutschland auf der            extreme Ressentiments auf unser gesellschafts-
Entstehung neuer Solidaritätsformen und Alli-          politisches Leben haben, sowohl für jüdische als
anzen zwischen jüdischen und muslimischen              auch für muslimische Menschen in Deutschland.
Gemeinschaften.                                           Um es mit Ari Gordons Worten zu sagen: „Was
   Die Arbeit des American Jewish Committee in         uns zusammenbringt, ist weitaus erschrecken-
den USA zeigt, dass die Institutionalisierung und      der als das, was uns trennt.“ Diese Feststellung
Vernetzung von großen Organisationen unaus-            bietet viele Schnittpunkte, mit denen ein Anfang
weichlich sind, insbesondere wenn hier zivilge-        gemacht wurde; jetzt heißt es, diese Beziehungen
sellschaftliche und diplomatische Beziehungen          auszuweiten und zu stärken.

                                                                                         IP Special • 2 /2020   | 35
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