Organspendeausweise bei Schockraumpatienten - Originalarbeit - Deutsches ...

 
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MEDIZIN

                        Originalarbeit

                        Organspendeausweise bei
                        Schockraumpatienten
                        Max Küpers, Marcel Dudda, Max Daniel Kauther, Bernd Schwarz,
                        Saskia Anastasia Hausen, Karl-Heinz Jöckel

                                                                                                        F
                                                                                                              ür einige Erkrankungen, welche kurativ nicht
                        Zusammenfassung                                                                       heilbar sind, ist eine Organtransplantation auf
                                                                                                              lange Sicht die einzig verfügbare Therapieoption
                        Hintergrund: Die Quote der Organspender in Deutschland ist                      (1). Obwohl bereits an anderen Lösungsansätzen, wie
                        sehr niedrig; es besteht eine Diskrepanz zwischen Verfügbarkeit
                                                                                                        beispielsweise Organersatzverfahren, geforscht wird,
                        und Bedarf. Im internationalen Vergleich führt Deutschland ver-
                                                                                                        sind dennoch viele Patienten auf ein gespendetes Or-
                        gleichsweise wenige Organentnahmen durch. Das zentrale Ele-
                                                                                                        gan angewiesen (2).
                        ment bei der Vorbereitung einer Organentnahme ist die Zustim-
                                                                                                           Am 31. Dezember 2018 befanden sich in Deutschland
                        mung des Spenders. Diese kann sowohl mündlich als auch
                                                                                                        9 407 Patienten auf der aktiven Warteliste für eine Or-
                        schriftlich (in Form einer Patientenverfügung oder eines Organ-
                                                                                                        gantransplantation, in der Gesamtheit aller Eurotrans-
                        spendeausweises) vorliegen. Ziel dieser Untersuchung war es,
                                                                                                        plant-Mitgliedsstaaten waren es 14 135 Wartende. Im
                        herauszufinden, wie viele Patienten im Notfall einen Organspen-
                                                                                                        Jahr 2018 wurden in Deutschland 1 183 Patienten, die
                        deausweis bei sich führen.
                                                                                                        auf ein Organ warteten, von der aktiven Warteliste ge-
                        Methode: Die Studienpopulation schließt vom 1. Februar 2017                     nommen. Sie verstarben oder waren in einem nicht mehr
                        bis zum 31. März 2019 alle 2 044 unfallchirurgischen Schock-                    transplantierbaren Zustand. Laut dem Eurotransplantver-
                        raumpatienten des Universitätsklinikums Essen ein. Die Daten                    bund beläuft sich diese Zahl auf 1 896 Patienten in der
                        wurden Wertsachenprotokollen entnommen. Maßnahmen zur                           Gesamtheit der Mitgliedsstaaten (3). Im Jahr 2018 gab
                        Verbesserung der Datenqualität waren die Sensibilisierung des                   es in Deutschland nur 955 Organspender im Vergleich zu
                        dokumentierenden Pflegepersonals sowie die Dokumentation                        1 296 Organspendern im Jahr 2010. Dennoch ist eine
                        durch den Erstautor. Es wurde auf der Basis der Literatur von                   Steigerung im Vergleich zum Vorjahr, welches mit 797
                        einer 36-%-Trägerrate ausgegangen.                                              postmortalen Organspendern einen absoluten Tiefpunkt
                                                                                                        darstellte, zu verzeichnen (4). Die geringen Zahlen post-
                        Ergebnisse: Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden 17
                                                                                                        mortaler Organspenden sind mit einem Defizit bei der
                        Organspendeausweise (0,8 %; 95-%-Konfidenzintervall: [0,5;
                                                                                                        Erkennung und Meldung möglicher Organspenden sei-
                        1,3]) gefunden. Die Zahlen blieben in allen Kollektiven weit hin-
                                                                                                        tens der Entnahmekrankenhäuser assoziiert. Bei optima-
                        ter den zu erwartenden 36 % zurück. Die geringen Trägerraten
                        von Organspendeausweisen konnten nicht durch eine mangeln-                      ler Erkennung und Meldung möglicher Spender wäre so
                        de Dokumentationsqualität erklärt werden.                                       im Jahr 2015 eine Verdreifachung der Organspenden
                                                                                                        möglich gewesen (5). Im internationalen Vergleich be-
                        Schlussfolgerung: Das System des Organspendeausweises,                          legt Deutschland einen der hinteren Ränge auf der Liste
                        wie es momentan in Deutschland existiert, ist als unzureichend                  der Organentnahmen pro Million Einwohner. 2017 wur-
                        zu bewerten. In Notfallsituationen, für welche der Organspende-                 den in Spanien beispielsweise 46,9 postmortale Organ-
                        ausweis explizit entwickelt wurde, wird dieser nicht mitgeführt.                spenden pro Million Einwohner durchgeführt, mit 9,7
                                                                                                        Organspenden liegt Deutschland weit dahinter (6). Kon-
                        Zitierweise
                                                                                                        trastiert werden diese Zahlen durch Umfrageergebnisse
                        Küpers M, Dudda M, Kauther MD, Schwarz B,
                                                                                                        der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in
                        Hausen SA, Jöckel KH: Organ donor cards in resuscitation
                                                                                                        welchen 84 % der Teilnehmer angaben, eine positive
                        room patients. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 183–7.
                                                                                                        Einstellung gegenüber der Organspende zu haben und
                        DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183
                                                                                                        41 % erklärten, sie seien mit einer Organentnahme nach
                                                                                                        ihrem Ableben einverstanden (7). Die Entscheidung über
                                                                                                        eine Organspende wurde laut eigenen Angaben von nur
                        Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie,              36 % der Befragten in einem Organspendeausweis doku-
                        Universitätsklinikum Essen: Max Küpers, Prof. Dr. rer. nat. Karl Heinz Jöckel   mentiert (7). Eine Umfrage unter Beamten der Stadt Es-
                        Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie,                      sen 11 Jahre zuvor ergab mit einer 20 %-Rate von Aus-
                        Universitätsklinikum Essen: Prof. Dr. med. Marcel Dudda,                        weisträgern sogar einen noch niedrigeren Wert (8).
                        PD Dr. med. Max Daniel Kauther, Max Küpers
                                                                                                           Die Gründe für die niedrigen Organspenderzahlen in
                        Pflegedienst Unfallchirurgische Notaufnahme, Klinik für Unfall-,
                        Hand-, und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Essen:             Deutschland sind vielfältig und nicht vollständig nach-
                        Bernd Schwarz, Saskia Anastasia Hausen                                          vollziehbar. 67 % aller als mögliche Organspender

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020                                                                                                     183
MEDIZIN

   TABELLE 1

   Beschreibung der einzelnen Kollektive mit allen Fällen, die für die Analyse des Organspendeausweises herangezogen wurden

                              N           Beschreibung                      Zeitraum                          Alter                      Geschlecht               Organspendeaus-
                                                                                                              (MW/Median/IQA)                                     weis % [95-%-KI]
      Vorabschätzer*          –                                                                               –                          –                        36 %
      Gesamtkollektiv         2 044                                         1. 2 .2017–31. 3 .2019            53,33/54,0/38              M: 1 144 (56,0 %)        17 (0,8 %)
                                                                            (26 Monate)                                                  W: 850 (41,6 %)          [0,5; 1,3]
                                                                                                                                         U: 50 (2,4 %)
      Patientenkollektive
      retrospektiv            1 396       rückblickende Auswertung          1. 2. 2017–31. 7. 2018            53,93/55,0/38              M: 753 (53,9 %)          7 (0,5 %)
                                          der Wertsachenprotokolle          (18 Monate)                                                  W: 594 (42,6 %)          [0,2; 1,0]
                                                                                                                                         U: 49 (3,5 %)
      prospektiv              621         Kooperation mit dem               1. 8. 2018–31. 3. 2019            52,1/53,0/39               M: 378 (60,9 %)          10 (1,6 %)
                                          Pflegepersonal                    (8 Monate)                                                   W:242 (39,0 %)           [0,8; 2,9]
                                                                                                                                         U: 1 (0,1 %)
      interventiv             27          Dokumentation durch               1. 3. 2019–31. 3. 2019            51,04/52,0/42              M: 13 (48,1 %)           0 (0 %)
                                          den Erstautor                     werktags von 7–17 Uhr                                        W: 14 (51,9 %)           [0,0; 12,8]
                                                                            Insgesamt 194 Stunden
      Substratifizierung
      Gruppe 1                740         Brieftasche                                                         46,42/46,0/32              M: 478 (64,6 %)          16 (2,2 %)
                                          vorhanden                                                                                      W: 257 (34,7 %)          [1,2; 3,5]
                                                                                                                                         U: 5 (0,7 %)
      Gruppe 2                524         Brieftasche                                                         57,85/60,0/35              M: 279 (53,2 %)          1 (0,2 %)
                                          möglicherweise vorhanden                                                                       W: 245 (46,8 %)          [0,0; 1,1]
      Gruppe 3                780         Brieftasche                                                         56,86/59,0/36              M: 387 (49,6 %)          0 (0 %)
                                          nicht vorhanden                                                                                W: 348 (44,6 %)          [0,0; 0,5]
                                                                                                                                         U: 45 (5,8 %)

IQA, Interquartilsabstand, MW, Mittelwert; N, Anzahl; M, männlich; U, unbekannt; W, weiblich; 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; Berechnung mit Clopper-Pearson-Intervall
* angelehnt an die Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

                           identifizierten Personen wurden im Jahr 2018 zu tat-                                Methode
                           sächlichen Organspendern, in 24 % der Fälle konnte                                  Die für die vorliegende Untersuchung verwendeten
                           aufgrund einer fehlenden Zustimmung der Angehöri-                                   Daten (Alter, Geschlecht, Organspendeausweis) wur-
                           gen keine Organentnahme durchgeführt werden. Medi-                                  den den Wertsachenprotokollen von allen unfallchirur-
                           zinische Gründe (beispielsweise ein Herz-Kreislauf-                                 gischen Schockraumpatienten des Universitätsklini-
                           Stillstand) mit 7 % und sonstige Umstände (zum Bei-                                 kums Essen im Zeitraum vom 1. Februar 2017 bis zum
                           spiel keine Freigabe durch den Staatsanwalt) mit 2 %                                31. März 2019 entnommen. Für jede behandelte Person
                           stellen weitere Ursachen einer nicht realisierten Organ-                            im Schockraum wird standardmäßig ein solches Wert-
                           entnahme dar (4). Mögliche Organspender erfüllen alle                               sachenprotokoll in Papierform angefertigt. Die Doku-
                           notwendigen medizinischen Kriterien zur Organspen-                                  mentation der daraus extrahierten Daten erfolgte elek-
                           de, es fehlt im Wesentlichen die Zustimmung zur Or-                                 tronisch und die statistische Auswertung mit SPSS. Es
                           ganentnahme. Die Ablehnung der Organspende erfolgt                                  liegt ein Votum der Ethikkommission vor, welches die
                           häufig durch Angehörige, wobei 90 % der Angehörigen                                 anonymisierte Erfassung dieser Informationen als un-
                           die Einstellung der Verstorbenen zur Organentnahme                                  bedenklich einstuft.
                           unbekannt ist (9).                                                                     Insgesamt wurden die Wertsachenprotokolle von
                              Es ist daher wichtiger denn je, die Zustimmung mög-                              2 326 Schockraumpatienten über einen Zeitraum von
                           licher Organspender (zum Beispiel Patienten mit pri-                                28 Monaten ausgewertet. Da die Zustimmung zur Or-
                           märer Hirnschädigung) frühzeitig im Behandlungsver-                                 gan- und Gewebeentnahme in einem Organspendeaus-
                           lauf festzustellen. Diese kann unter anderem in einem                               weis jedoch erst ab dem 16. Lebensjahr rechtsgültig ist,
                           Organspendeausweis dokumentiert werden. Zu diesem                                   wurden in allen Analysen Patienten mit einem Alter
                           Zweck wurde in dieser Untersuchung nach Organspen-                                  von weniger als 16 Jahren sowie unbekannter Altersan-
                           deausweisen bei unfallchirurgischen Schockraumpa-                                   gabe ausgeschlossen (10). Damit besteht das Gesamt-
                           tienten im Universitätsklinikum Essen gesucht. Laut                                 kollektiv für die Analysen aus 2 044 eingeschlossenen
                           der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ga-                               Schockraumpatienten.
                           ben im Jahr 2018 36 % der Befragten an, einen Organ-                                   Die initiale Datenerfassung begann im Juli 2018.
                           spendeausweis zu besitzen. Dieser Wert wurde als Re-                                Es wurden Wertsachenprotokolle rückwirkend bis zum
                           ferenz für Vergleiche verwendet.                                                    1. Februar 2017 gesichtet, was einem Zeitraum von

184                                                                                                                            Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020
MEDIZIN

18 Monaten entspricht. Währenddessen wurde schnell            TABELLE 2
ersichtlich, dass die Raten der dokumentierten Organ-
spendeausweise weit hinter den zu erwartenden Zahlen          Untersuchung von Prävalenzunterschieden der Organspendeausweise
                                                              zwischen einzelnen Patientenkollektiven*1
zurückblieben. Aufgrund dieser Erkenntnis wurde der
Entschluss gefasst, zum Ausschluss einer mangelnden             verglichene             Prävalenzunter-       SD für den        Z-Wert für       2-seitiger
Dokumentationsqualität ein weiteres Patientenkollektiv          Kollektive              schied                Unterschied       den Unter-       p-Wert für
                                                                                        [95-%-KI]             der Präva-        schied der       den Unter-
zu bilden. Für einen Zeitraum von 8 Monaten, begin-                                                           lenzen (%)        Prävalenzen      schied
nend am 1. August 2018, wurde das Pflegepersonal der
                                                                Gesamtkollektiv –       −35,2 %               –                 –                < 0,001*3
Unfallchirurgischen Notaufnahme gebeten, explizit auf           Vorabschätzer           [−35,5; −34,7]*2
Organspendeausweise zu achten und diese im Wert-
                                                                Patientenkollektive
sachenprotokoll zu dokumentieren. Dies erfolgte in
Kooperation mit der Pflegedirektion der unfallchirurgi-         prospektiv –            1,1 %                 0,4 %             2,51             0,012*4
                                                                retrospektiv            [0,2; 2,0]*4
schen Notaufnahme auf drei Wegen:
   ● Rundmail an alle Mitarbeiter der unfallchirurgi-           interventiv –           −1,6 %                2,4 %             −0,66            0,506*4
                                                                prospektiv              [−6,4; 3,1]*4
      schen Notaufnahme,
   ● Aushang im Schockraum über dem Pflegearbeits-              interventiv –           −0,5 %                1,4 %             −0,37            0,712*4
                                                                retrospektiv            [−3,2; 2,2]*4
      platz
   ● mündliche Ansprache in einer Teamleitersitzung.            interventiv –           −36,0 %            –                    –                < 0,001*3
                                                                Vorabschätzer           [−36,0; −23,2 %]*2
    Das prospektive Kollektiv umfasst einen Zeitraum
von 8 Monaten. Bei der Erfassung des zweiten pro-          *1 Untersuchung mittels Z-Test, Bestimmung des 95-%-Konfidenzintervalls des Unterschieds sowie des
spektiven Kollektivs war eine leichte, jedoch nicht die       p-Werts für den Unterschied. Für Vergleiche mit dem Vorabschätzer wurde mit dem Clopper-Pearson-
zu erwartende Steigerung der Raten an erfassten Or-           Intervall und dem Test auf Binomial-Verteilung gearbeitet.
                                                           *2
                                                              Clopper-Pearson-Intervall
ganspendeausweisträgern zu verzeichnen. Zum weite-         *3
                                                              Test auf Binomialverteilung: einseitige exakte Signifikanz
                                                           *4
ren Ausschluss eines Dokumentationsdefizits durch das         Berechnung mit Z-Test
                                                           95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; SD, Standardabweichung
Pflegepersonal wurde daraufhin beschlossen, ein drittes
Kollektiv zu bilden, bei welchem die Wertsachenproto-
kolle durch den Erstautor ausgefüllt werden sollten.
Zweck dieser Maßnahme war es, eine fehlerhafte Do-         (Gruppe 1). Das Vorliegen von nur einem der Gegen-
kumentation von Seiten der Pflege in den vorangegan-       stände wurde in eine Mittelkategorie eingeordnet
genen Kollektiven auszuschließen und somit die Doku-       (Gruppe 2), und das Fehlen jeglicher dieser Items wur-
mentationsqualität zu verbessern. Hierzu wurde der         de mit dem Fehlen einer Brieftasche gleichgesetzt
Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 31. März 2019            (Gruppe 3). Bei Gruppe 1 ist davon auszugehen, dass
werktags von 07:00 bis 17:00 Uhr ausgewählt. Fälle         bei Personen, die einen Organspendeausweis regulär in
außerhalb dieser Zeiten wurden dem prospektiven Kol-       der Brieftasche bei sich tragen, dieser auch entdeckt
lektiv zugeordnet. Tabelle 1 zeigt die Einteilung der      worden wäre. Für Gruppe 2 und 3 kann diese Aussage
Kollektive.                                                nicht getroffen werden. Es besteht die Möglichkeit,
    Es ist davon auszugehen, dass Organspendeausweise      dass sich ein Organspendeausweis in der Brieftasche
in einer Brieftasche, einem Portemonnaie oder Ähnli-       befindet, die den Angehörigen oder der Polizei überge-
chem getragen werden, oder zumindest an dem selben         ben wurde.
Ort wie beispielsweise Führerschein, Personalausweis
und weitere Chipkarten zu finden sind. Für die Untersu-    Ergebnisse
chung ist von Interesse, ob Patienten ihre Brieftasche     Von 2 044 Schockraumpatienten trugen 17 einen Or-
oder ein anderes Aufbewahrungsverhältnis, im Folgen-       ganspendeausweis bei sich, das entspricht 0,8 % des
den kurz als „Brieftasche“ bezeichnet, eventuell zu        Gesamtkollektivs (Tabelle 1). Die detektierte Präva-
Hause gelassen haben, ob sie möglicherweise von der        lenz von 0,8 % Organspendeausweisen im Gesamtkol-
Polizei beschlagnahmt, oder ob sie in die Obhut von        lektiv (95-%-Konfidenzintervall: [0,5 %; 1,3 %]) un-
Angehörigen übergeben wurde. Wer keine Brieftasche         terscheidet sich sehr deutlich von den erwarteten 36 %
bei sich führt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch     (Tabelle 1). Laut verschiedenen Umfragen wären in
keinen der gesuchten Ausweise bei sich tragen, selbst      dem Kollektiv von 2 044 Patienten bei einer 20-%-Trä-
wenn die Person Besitzer eines Organspendeausweises        gerrate mit 409, bei einer 36-%-Trägerrate sogar mit
ist. Es ist daher sinnvoll, im Gesamtkollektiv eine Sub-   bis zu 736 statt 17 Organspendeausweisen zu rechnen
stratifizierung nach dem Vorliegen einer Brieftasche       gewesen. Der Prävalenzunterschied zwischen Vorab-
vorzunehmen. Wegen der Heterogenität der Bezeich-          schätzer und den erhobenen Daten beträgt −35,2 %
nungen wurde das Vorliegen von Geldbeutel, Führer-         ([−35,5 %; −34,7 %] p < 0,001) (Tabelle 2). Die Wahr-
schein, Personalausweis, EC-Karte, Kreditkarte und         scheinlichkeit, unter Annahme einer 36-%-Trägerquote
Krankenkassenkarte als Surrogatmarker für das Vorlie-      bei 2 044 Schockraumpatienten die beobachtete Fall-
gen einer Brieftasche mit typischem Inhalt verwendet.      zahl von 17 Ausweisen oder weniger zu erheben, ist
Bei Patienten, die zwei oder mehr dieser Gegenstände       numerisch null und liegt selbst bei einer angenomme-
bei sich führten, wird davon ausgegangen, dass es sich     nen Prävalenz von 1,5 % noch im Promillebereich
um eine Brieftasche mit typischem Inhalt handelte          (eTabelle).

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020                                                                                                     185
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Kernaussagen                                                                               ● Gruppe 1: Von 2 044 Patienten führten 740 mit
                                                                                             hoher Wahrscheinlichkeit eine Brieftasche mit
● In Notfallsituationen tragen 0,8 % (95-%-Konfidenzintervall: [0,5; 1,3]) der Patienten     typischem Inhalt bei sich. In dieser Gruppe konnten
  einen Organspendeausweis bei sich.                                                         16 Organspendeausweise gefunden werden; das ent-
● Diese Zahlen unterscheiden sich deutlich von den auf Grundlage von Umfragen der            spricht 2,2 % [1,2; 3,5].
  Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu erwartenden 36 % Organspende-           ● Gruppe 2: 524 Patienten hatten mit mäßiger Wahr-
  ausweisbesitzern.                                                                          scheinlichkeit eine Brieftasche bei sich, hier wurde
                                                                                             1 Organspendeausweis gefunden (0,2 %; [0,0; 1,1])
● Viele Organspendeausweisbesitzer führen das Dokument in Notfallsituationen nicht
  mit sich, sind demnach also keine Organspendeausweisträger.
                                                                                           ● Gruppe 3: In 780 Fällen lag mit hoher Wahrscheinlich-
                                                                                             keit keine Brieftasche vor. In diesen Fällen wurde kein
● Die geringen Trägerraten von Organspendeausweisen sind nicht durch eine man-               Organspendeausweis gefunden (0 %; [0,0; 0,5]).
  gelnde Dokumentationsqualität zu erklären.
● Das aktuelle System des Organspendeausweises in Deutschland ist bei Trauma-              Diskussion
  patienten wenig zielführend.                                                             Die Trägerraten an Organspendeausweisen sind extrem
                                                                                           gering und liegen deutlich unter den zu erwartenden
                                                                                           Zahlen. Obwohl die Schulung der Pflegekräfte eine
                                                                                           Wirkung und signifikante Unterschiede zum vorausge-
                          Anhand von Tabelle 1 ist erkennbar, dass die Detek-              henden Kollektiv zeigte, wurden auch auf diesem Weg
                       tion von Organspendeausweisen seit Beginn des pro-                  keine zufriedenstellenden Trägerraten erreicht. Die Do-
                       spektiven Studienteils Anfang Oktober 2018 anstieg.                 kumentation durch den Erstautor im interventiven Kol-
                       Dieses Ergebnis spricht dafür, dass eine gesteigerte                lektiv konnte zeigen, dass ein Dokumentationsdefizit
                       Aufmerksamkeit des Pflegepersonals in Bezug auf Or-                 durch die Pflege unwahrscheinlich ist.
                       ganspendeausweise zu einer vermehrten Detektion und                    Es konnte weiterhin belegt werden, dass das Tragen
                       Dokumentation des Ausweises führt.                                  eines Organspendeausweises mit dem Tragen einer
                                                                                           Brieftasche assoziiert ist. Allerdings werden viele
                       Retrospektiv                                                        Schockraumpatienten ohne Brieftasche aufgenommen.
                       In der retrospektiven Untersuchung konnten bei 7 von                Doch selbst in der Gruppe der Patienten, die mit hoher
                       1 396 Patienten Organspendeausweise dokumentiert                    Wahrscheinlichkeit eine Brieftasche oder Ähnliches bei
                       werden. Dies entspricht einer Quote von 0,5 % [0,2;                 sich führten, blieb die Prävalenz des Ausweises mit ei-
                       1,0] Organspendeausweisträgern (Tabelle 1).                         ner oberen Grenze des 95-%-Konfidenzintervalls von
                                                                                           3,5 % extrem niedrig.
                       Prospektiv                                                             Zwar war die vorliegende Untersuchung nicht multi-
                       Im prospektiven Kollektiv konnten bei 10 von 621 Per-               zentrisch angelegt und die Trefferzahlen gering, jedoch
                       sonen Organspendeausweise dokumentiert werden. Die                  ist das Patientenkollektiv sehr heterogen. Obwohl ein
                       Trägerrate verdreifacht sich somit von 0,5 % im retro-              Confounding somit unwahrscheinlich ist, könnte es
                       spektiven Teil auf 1,6 % [0,8; 2,9] im prospektiven                 sinnvoll sein, diese Untersuchung an weiteren Standor-
                       Teil. Der Prävalenzunterschied zwischen den beiden                  ten zu wiederholen. Bei der Dokumentation durch den
                       Kollektiven beträgt 1,1 % ([0,2; 2,0]; p = 0,012). Diese            Erstautor handelte es sich zwar um eine sehr kurze Be-
                       Steigerung der Detektionsrate kann der Sensibilisie-                obachtungszeit, diese reichte aber aus, um ein Doku-
                       rung des Pflegepersonals zugeschrieben werden (Tabel-               mentationsdefizit von Seiten der Pflege auszuschließen.
                       len 1 und 2).                                                          Das System der Organspendeausweise bei traumato-
                                                                                           logischen Notfallpatienten kann in der aktuellen Form
                       Interventiv                                                         als ausbaufähig und wenig effektiv bezeichnet werden.
                       Es wurden keine Organspendeausweise im interventi-                  Schockraumpatienten stellen im Wesentlichen genau
                       ven Teil gefunden (Tabelle 1). Auf Basis einer                      das Kollektiv dar, für das ein Organspendeausweis ge-
                       36-%-Trägerrate wäre mit mindestens neun Ausweisen                  dacht ist: eine verunfallte Person, die eine erhöhte
                       zu rechnen gewesen.                                                 Wahrscheinlichkeit hat, an einer Hirnschädigung zu ver-
                           Der Vergleich des interventiven Kollektivs mit den              sterben und die ihren Willen möglicherweise nicht mehr
                       retrospektiven und prospektiven Kollektiven zeigt ei-               zu äußern vermag. Die vorliegende Untersuchung zeigt
                       nen Prävalenzunterschied von −0,5 % ([−3,2; 2,2];                   jedoch, dass in genau diesen Fällen die Prävalenz des
                       p = 0,712) beziehungsweise −1,6 % ([−6,4; 3,1];                     Tragens eines Organspendeausweises verschwindend
                       p = 0,506). Im Kontrast zu den vorab erwarteten 36 %                gering ist.
                       ist dieser kleine Unterschied jedoch nicht von Relevanz                Es war nicht das Ziel der Untersuchung, die Konse-
                       (Tabelle 2).                                                        quenzen eines fehlenden Organspendeausweises im
                           Ein Vergleich mit den von der Bundeszentrale für                Schockraum darzustellen. Es ist jedoch denkbar, dass
                       gesundheitliche Aufklärung in einer Umfrage erhobe-                 im weiteren klinischen Verlauf aus dem Fehlen des Do-
                       nen 36 % Ausweisträgern zeigt eine extreme Präva-                   kumentes geringere Zustimmungsraten bei möglichen
                       lenzdifferenz von −36,0 % ([−36,0; −23,2]; p < 0,001)               Organspendern resultieren. Dies könnte in weiterer
                       (Tabelle 2).                                                        Konsequenz zu weniger Organentnahmen führen.

186                                                                                                   Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020
MEDIZIN

   Da das Dokument so selten mitgeführt wird, ist                              4. Waage P, Bloome B: Jahresbericht Organspende und Transplantation
                                                                                  in Deutschland 2018. Frankfurt a.M.. Deutsche Stiftung Organtrans-
der Organspendeausweis in seiner aktuellen Version                                plantation 2019; 63.
bei Traumapatienten in Deutschland wenig zielfüh-
                                                                               5. Schulte K, Borzikowsky C, Rahmel A, et al.: Decline in organ donation
rend. Öffentlichkeitsarbeit könnte helfen, die Not-                               in Germany. A nationwide secondary analysis of all inpatient cases.
wendigkeit zu verdeutlichen, als Besitzer eines Or-                               Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 463–8.
ganspendeausweises diesen auch immer bei sich zu                               6. IRODaT: Final numbers 2017. IRODaT International Registry in Organ
tragen. Eine mögliche Alternative zur Dokumentati-                                Donation and Transplantation 2018; 3:
on der persönlichen Einstellung bezüglich der Or-                              7. Caille-Brillet A-L, Zimmering R, Thaiss HM: Bericht zur Repräsenta-
                                                                                  tivstudie 2018 „Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemein-
ganspende könnte eine Online-Datenbank sein. Alle                                 bevölkerung zur Organ-und Gewebespende“. BZgA-Forschungs-
spendebereiten Bürgern könnten ihre Zustimmung                                    bericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung(BZgA).
(oder gegebenenfalls auch Ablehnung) dort doku-                                   2019; 22.
mentieren, müssten keinen Ausweis mehr mit sich                                8. Radünz S, Heuer M, Hertel S, et al.: Organspendebereitschaft an
                                                                                  einer Universitätsklinik. Intensivmedizin und Notfallmedizin 2009; 46:
führen und die behandelnden Ärzte könnten einfach                                 437–40.
und jederzeit auf diese Information zugreifen. Auch                            9. Wesslau C, Grosse K, Kruger R, et al.: How large is the organ donor
eine Widerspruchslösung kann in diesem Rahmen                                     potential in Germany? Results of an analysis of data collected on de-
diskutiert werden.                                                                ceased with primary and secondary brain damage in intensive care
                                                                                  unit from 2002 to 2005. Transpl Int 2007; 20: 147–55.
Interessenkonflikt                                                            10. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Ja oder
Prof. Jöckel ist Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Universitäts-           Nein zur Organspende? Ihre Entscheidung zählt!
medizin Essen, die die Initiative Stiftung Über Leben betreibt.                   www.organspende-info.de/organspendeausweis-ja-oder-nein.html
                                                                                  (last accessed on 23 April 2019).
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten                                                               Anschrift für die Verfasser
eingereicht: 30. 8. 2019, revidierte Fassung angenommen: 20. 12. 2019         Max Küpers
                                                                              Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie
Literatur                                                                     Klinik für Unfall-, Hand und Wiederherstellungschirurgie
                                                                              Universitätsklinikum Essen
 1. Elliott PM, Anastasakis A, Borger MA, et al.: 2014 ESC guidelines on      Hufelandstraße 55, 45147 Essen
    diagnosis and management of hypertrophic cardiomyopathy: the Task         imibe@uk-essen.de
    Force for the Diagnosis and Management of Hypertrophic Cardiomyo-
    pathy of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2014;
    35: 2733–79.                                                              Zitierweise
                                                                              Küpers M, Dudda M, Kauther MD, Schwarz B, Hausen SA, Jöckel KH:
 2. Dickstein K, Vardas PE, Auricchio A, et al.: 2010 Focused update of       Organ donor cards in resuscitation room patients. Dtsch Arztebl Int 2020;
    ESC guidelines on device therapy in heart failure: an update of the       117: 183–7. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183
    2008 ESC guidelines for the diagnosis and treatment of acute and
    chronic heart failure and the 2007 ESC guidelines for cardiac and re-
    synchronization therapy. Developed with the special contribution of the   ►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
    Heart Failure Association and the European Heart Rhythm Associa-           www.aerzteblatt-international.de
    tion. Europace 2010; 12: 1526–36.                                           Zusatzmaterial
 3. Eurotransplant: Annual report 2018. www.eurotransplant.org/cms/in           eTabelle:
    dex.php?page=annual_reports (last accessed on 17 January 2020).             www.aerzteblatt.de/20m0183 oder über QR-Code

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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020                                                                                                       187
MEDIZIN

Zusatzmaterial zu:

Organspendeausweise bei
Schockraumpatienten
Max Küpers, Marcel Dudda, Max Daniel Kauther, Bernd Schwarz,
Saskia Anastasia Hausen, Karl-Heinz Jöckel

Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 183–7. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183

    eTABELLE

    Wahrscheinlichkeit, weniger oder gleich „z“ Ausweise
    zu finden, unter der Voraussetzung, dass „p“ dem
    wahren Anteil der Organspendeausweisträger entspricht

     z          p             n            kum. Binomial (n, p, ≤ z)
     17         0,36*         2 044        0,0000000000E+00
     17         0,32          2 044        0,0000000000E+00
     17         0,3           2 044        0,00000E+00
     17         0,25          2 044        1,67239E-222
     17         0,2           2 044        2,47643E-167
     17         0,15          2 044        4,41487E-116
     17         0,1           2 044        9,58508E-69
     17         0,05          2 044        3,16821E-26
     17         0,02          2 044        0,00002
     17         0,015         2 044        0,00507
     17         0,01          2 044        0,26351

kum. Binomial, kumulierte Binomialverteilung; n, Zahl der Patienten;
p, „wahrer“ Anteil der Ausweisträger; z, Anzahl der gefundenen Ausweise;
* gemäß BZgA-Umfrageergebnis von 2018

I                                                                          Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020 | Zusatzmaterial
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