Organspendeausweise bei Schockraumpatienten - Originalarbeit - Deutsches ...
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MEDIZIN Originalarbeit Organspendeausweise bei Schockraumpatienten Max Küpers, Marcel Dudda, Max Daniel Kauther, Bernd Schwarz, Saskia Anastasia Hausen, Karl-Heinz Jöckel F ür einige Erkrankungen, welche kurativ nicht Zusammenfassung heilbar sind, ist eine Organtransplantation auf lange Sicht die einzig verfügbare Therapieoption Hintergrund: Die Quote der Organspender in Deutschland ist (1). Obwohl bereits an anderen Lösungsansätzen, wie sehr niedrig; es besteht eine Diskrepanz zwischen Verfügbarkeit beispielsweise Organersatzverfahren, geforscht wird, und Bedarf. Im internationalen Vergleich führt Deutschland ver- sind dennoch viele Patienten auf ein gespendetes Or- gleichsweise wenige Organentnahmen durch. Das zentrale Ele- gan angewiesen (2). ment bei der Vorbereitung einer Organentnahme ist die Zustim- Am 31. Dezember 2018 befanden sich in Deutschland mung des Spenders. Diese kann sowohl mündlich als auch 9 407 Patienten auf der aktiven Warteliste für eine Or- schriftlich (in Form einer Patientenverfügung oder eines Organ- gantransplantation, in der Gesamtheit aller Eurotrans- spendeausweises) vorliegen. Ziel dieser Untersuchung war es, plant-Mitgliedsstaaten waren es 14 135 Wartende. Im herauszufinden, wie viele Patienten im Notfall einen Organspen- Jahr 2018 wurden in Deutschland 1 183 Patienten, die deausweis bei sich führen. auf ein Organ warteten, von der aktiven Warteliste ge- Methode: Die Studienpopulation schließt vom 1. Februar 2017 nommen. Sie verstarben oder waren in einem nicht mehr bis zum 31. März 2019 alle 2 044 unfallchirurgischen Schock- transplantierbaren Zustand. Laut dem Eurotransplantver- raumpatienten des Universitätsklinikums Essen ein. Die Daten bund beläuft sich diese Zahl auf 1 896 Patienten in der wurden Wertsachenprotokollen entnommen. Maßnahmen zur Gesamtheit der Mitgliedsstaaten (3). Im Jahr 2018 gab Verbesserung der Datenqualität waren die Sensibilisierung des es in Deutschland nur 955 Organspender im Vergleich zu dokumentierenden Pflegepersonals sowie die Dokumentation 1 296 Organspendern im Jahr 2010. Dennoch ist eine durch den Erstautor. Es wurde auf der Basis der Literatur von Steigerung im Vergleich zum Vorjahr, welches mit 797 einer 36-%-Trägerrate ausgegangen. postmortalen Organspendern einen absoluten Tiefpunkt darstellte, zu verzeichnen (4). Die geringen Zahlen post- Ergebnisse: Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden 17 mortaler Organspenden sind mit einem Defizit bei der Organspendeausweise (0,8 %; 95-%-Konfidenzintervall: [0,5; Erkennung und Meldung möglicher Organspenden sei- 1,3]) gefunden. Die Zahlen blieben in allen Kollektiven weit hin- tens der Entnahmekrankenhäuser assoziiert. Bei optima- ter den zu erwartenden 36 % zurück. Die geringen Trägerraten von Organspendeausweisen konnten nicht durch eine mangeln- ler Erkennung und Meldung möglicher Spender wäre so de Dokumentationsqualität erklärt werden. im Jahr 2015 eine Verdreifachung der Organspenden möglich gewesen (5). Im internationalen Vergleich be- Schlussfolgerung: Das System des Organspendeausweises, legt Deutschland einen der hinteren Ränge auf der Liste wie es momentan in Deutschland existiert, ist als unzureichend der Organentnahmen pro Million Einwohner. 2017 wur- zu bewerten. In Notfallsituationen, für welche der Organspende- den in Spanien beispielsweise 46,9 postmortale Organ- ausweis explizit entwickelt wurde, wird dieser nicht mitgeführt. spenden pro Million Einwohner durchgeführt, mit 9,7 Organspenden liegt Deutschland weit dahinter (6). Kon- Zitierweise trastiert werden diese Zahlen durch Umfrageergebnisse Küpers M, Dudda M, Kauther MD, Schwarz B, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in Hausen SA, Jöckel KH: Organ donor cards in resuscitation welchen 84 % der Teilnehmer angaben, eine positive room patients. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 183–7. Einstellung gegenüber der Organspende zu haben und DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183 41 % erklärten, sie seien mit einer Organentnahme nach ihrem Ableben einverstanden (7). Die Entscheidung über eine Organspende wurde laut eigenen Angaben von nur Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, 36 % der Befragten in einem Organspendeausweis doku- Universitätsklinikum Essen: Max Küpers, Prof. Dr. rer. nat. Karl Heinz Jöckel mentiert (7). Eine Umfrage unter Beamten der Stadt Es- Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, sen 11 Jahre zuvor ergab mit einer 20 %-Rate von Aus- Universitätsklinikum Essen: Prof. Dr. med. Marcel Dudda, weisträgern sogar einen noch niedrigeren Wert (8). PD Dr. med. Max Daniel Kauther, Max Küpers Die Gründe für die niedrigen Organspenderzahlen in Pflegedienst Unfallchirurgische Notaufnahme, Klinik für Unfall-, Hand-, und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Essen: Deutschland sind vielfältig und nicht vollständig nach- Bernd Schwarz, Saskia Anastasia Hausen vollziehbar. 67 % aller als mögliche Organspender Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020 183
MEDIZIN TABELLE 1 Beschreibung der einzelnen Kollektive mit allen Fällen, die für die Analyse des Organspendeausweises herangezogen wurden N Beschreibung Zeitraum Alter Geschlecht Organspendeaus- (MW/Median/IQA) weis % [95-%-KI] Vorabschätzer* – – – 36 % Gesamtkollektiv 2 044 1. 2 .2017–31. 3 .2019 53,33/54,0/38 M: 1 144 (56,0 %) 17 (0,8 %) (26 Monate) W: 850 (41,6 %) [0,5; 1,3] U: 50 (2,4 %) Patientenkollektive retrospektiv 1 396 rückblickende Auswertung 1. 2. 2017–31. 7. 2018 53,93/55,0/38 M: 753 (53,9 %) 7 (0,5 %) der Wertsachenprotokolle (18 Monate) W: 594 (42,6 %) [0,2; 1,0] U: 49 (3,5 %) prospektiv 621 Kooperation mit dem 1. 8. 2018–31. 3. 2019 52,1/53,0/39 M: 378 (60,9 %) 10 (1,6 %) Pflegepersonal (8 Monate) W:242 (39,0 %) [0,8; 2,9] U: 1 (0,1 %) interventiv 27 Dokumentation durch 1. 3. 2019–31. 3. 2019 51,04/52,0/42 M: 13 (48,1 %) 0 (0 %) den Erstautor werktags von 7–17 Uhr W: 14 (51,9 %) [0,0; 12,8] Insgesamt 194 Stunden Substratifizierung Gruppe 1 740 Brieftasche 46,42/46,0/32 M: 478 (64,6 %) 16 (2,2 %) vorhanden W: 257 (34,7 %) [1,2; 3,5] U: 5 (0,7 %) Gruppe 2 524 Brieftasche 57,85/60,0/35 M: 279 (53,2 %) 1 (0,2 %) möglicherweise vorhanden W: 245 (46,8 %) [0,0; 1,1] Gruppe 3 780 Brieftasche 56,86/59,0/36 M: 387 (49,6 %) 0 (0 %) nicht vorhanden W: 348 (44,6 %) [0,0; 0,5] U: 45 (5,8 %) IQA, Interquartilsabstand, MW, Mittelwert; N, Anzahl; M, männlich; U, unbekannt; W, weiblich; 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; Berechnung mit Clopper-Pearson-Intervall * angelehnt an die Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung identifizierten Personen wurden im Jahr 2018 zu tat- Methode sächlichen Organspendern, in 24 % der Fälle konnte Die für die vorliegende Untersuchung verwendeten aufgrund einer fehlenden Zustimmung der Angehöri- Daten (Alter, Geschlecht, Organspendeausweis) wur- gen keine Organentnahme durchgeführt werden. Medi- den den Wertsachenprotokollen von allen unfallchirur- zinische Gründe (beispielsweise ein Herz-Kreislauf- gischen Schockraumpatienten des Universitätsklini- Stillstand) mit 7 % und sonstige Umstände (zum Bei- kums Essen im Zeitraum vom 1. Februar 2017 bis zum spiel keine Freigabe durch den Staatsanwalt) mit 2 % 31. März 2019 entnommen. Für jede behandelte Person stellen weitere Ursachen einer nicht realisierten Organ- im Schockraum wird standardmäßig ein solches Wert- entnahme dar (4). Mögliche Organspender erfüllen alle sachenprotokoll in Papierform angefertigt. Die Doku- notwendigen medizinischen Kriterien zur Organspen- mentation der daraus extrahierten Daten erfolgte elek- de, es fehlt im Wesentlichen die Zustimmung zur Or- tronisch und die statistische Auswertung mit SPSS. Es ganentnahme. Die Ablehnung der Organspende erfolgt liegt ein Votum der Ethikkommission vor, welches die häufig durch Angehörige, wobei 90 % der Angehörigen anonymisierte Erfassung dieser Informationen als un- die Einstellung der Verstorbenen zur Organentnahme bedenklich einstuft. unbekannt ist (9). Insgesamt wurden die Wertsachenprotokolle von Es ist daher wichtiger denn je, die Zustimmung mög- 2 326 Schockraumpatienten über einen Zeitraum von licher Organspender (zum Beispiel Patienten mit pri- 28 Monaten ausgewertet. Da die Zustimmung zur Or- märer Hirnschädigung) frühzeitig im Behandlungsver- gan- und Gewebeentnahme in einem Organspendeaus- lauf festzustellen. Diese kann unter anderem in einem weis jedoch erst ab dem 16. Lebensjahr rechtsgültig ist, Organspendeausweis dokumentiert werden. Zu diesem wurden in allen Analysen Patienten mit einem Alter Zweck wurde in dieser Untersuchung nach Organspen- von weniger als 16 Jahren sowie unbekannter Altersan- deausweisen bei unfallchirurgischen Schockraumpa- gabe ausgeschlossen (10). Damit besteht das Gesamt- tienten im Universitätsklinikum Essen gesucht. Laut kollektiv für die Analysen aus 2 044 eingeschlossenen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ga- Schockraumpatienten. ben im Jahr 2018 36 % der Befragten an, einen Organ- Die initiale Datenerfassung begann im Juli 2018. spendeausweis zu besitzen. Dieser Wert wurde als Re- Es wurden Wertsachenprotokolle rückwirkend bis zum ferenz für Vergleiche verwendet. 1. Februar 2017 gesichtet, was einem Zeitraum von 184 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020
MEDIZIN 18 Monaten entspricht. Währenddessen wurde schnell TABELLE 2 ersichtlich, dass die Raten der dokumentierten Organ- spendeausweise weit hinter den zu erwartenden Zahlen Untersuchung von Prävalenzunterschieden der Organspendeausweise zwischen einzelnen Patientenkollektiven*1 zurückblieben. Aufgrund dieser Erkenntnis wurde der Entschluss gefasst, zum Ausschluss einer mangelnden verglichene Prävalenzunter- SD für den Z-Wert für 2-seitiger Dokumentationsqualität ein weiteres Patientenkollektiv Kollektive schied Unterschied den Unter- p-Wert für [95-%-KI] der Präva- schied der den Unter- zu bilden. Für einen Zeitraum von 8 Monaten, begin- lenzen (%) Prävalenzen schied nend am 1. August 2018, wurde das Pflegepersonal der Gesamtkollektiv – −35,2 % – – < 0,001*3 Unfallchirurgischen Notaufnahme gebeten, explizit auf Vorabschätzer [−35,5; −34,7]*2 Organspendeausweise zu achten und diese im Wert- Patientenkollektive sachenprotokoll zu dokumentieren. Dies erfolgte in Kooperation mit der Pflegedirektion der unfallchirurgi- prospektiv – 1,1 % 0,4 % 2,51 0,012*4 retrospektiv [0,2; 2,0]*4 schen Notaufnahme auf drei Wegen: ● Rundmail an alle Mitarbeiter der unfallchirurgi- interventiv – −1,6 % 2,4 % −0,66 0,506*4 prospektiv [−6,4; 3,1]*4 schen Notaufnahme, ● Aushang im Schockraum über dem Pflegearbeits- interventiv – −0,5 % 1,4 % −0,37 0,712*4 retrospektiv [−3,2; 2,2]*4 platz ● mündliche Ansprache in einer Teamleitersitzung. interventiv – −36,0 % – – < 0,001*3 Vorabschätzer [−36,0; −23,2 %]*2 Das prospektive Kollektiv umfasst einen Zeitraum von 8 Monaten. Bei der Erfassung des zweiten pro- *1 Untersuchung mittels Z-Test, Bestimmung des 95-%-Konfidenzintervalls des Unterschieds sowie des spektiven Kollektivs war eine leichte, jedoch nicht die p-Werts für den Unterschied. Für Vergleiche mit dem Vorabschätzer wurde mit dem Clopper-Pearson- zu erwartende Steigerung der Raten an erfassten Or- Intervall und dem Test auf Binomial-Verteilung gearbeitet. *2 Clopper-Pearson-Intervall ganspendeausweisträgern zu verzeichnen. Zum weite- *3 Test auf Binomialverteilung: einseitige exakte Signifikanz *4 ren Ausschluss eines Dokumentationsdefizits durch das Berechnung mit Z-Test 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; SD, Standardabweichung Pflegepersonal wurde daraufhin beschlossen, ein drittes Kollektiv zu bilden, bei welchem die Wertsachenproto- kolle durch den Erstautor ausgefüllt werden sollten. Zweck dieser Maßnahme war es, eine fehlerhafte Do- (Gruppe 1). Das Vorliegen von nur einem der Gegen- kumentation von Seiten der Pflege in den vorangegan- stände wurde in eine Mittelkategorie eingeordnet genen Kollektiven auszuschließen und somit die Doku- (Gruppe 2), und das Fehlen jeglicher dieser Items wur- mentationsqualität zu verbessern. Hierzu wurde der de mit dem Fehlen einer Brieftasche gleichgesetzt Zeitraum vom 1. März 2019 bis zum 31. März 2019 (Gruppe 3). Bei Gruppe 1 ist davon auszugehen, dass werktags von 07:00 bis 17:00 Uhr ausgewählt. Fälle bei Personen, die einen Organspendeausweis regulär in außerhalb dieser Zeiten wurden dem prospektiven Kol- der Brieftasche bei sich tragen, dieser auch entdeckt lektiv zugeordnet. Tabelle 1 zeigt die Einteilung der worden wäre. Für Gruppe 2 und 3 kann diese Aussage Kollektive. nicht getroffen werden. Es besteht die Möglichkeit, Es ist davon auszugehen, dass Organspendeausweise dass sich ein Organspendeausweis in der Brieftasche in einer Brieftasche, einem Portemonnaie oder Ähnli- befindet, die den Angehörigen oder der Polizei überge- chem getragen werden, oder zumindest an dem selben ben wurde. Ort wie beispielsweise Führerschein, Personalausweis und weitere Chipkarten zu finden sind. Für die Untersu- Ergebnisse chung ist von Interesse, ob Patienten ihre Brieftasche Von 2 044 Schockraumpatienten trugen 17 einen Or- oder ein anderes Aufbewahrungsverhältnis, im Folgen- ganspendeausweis bei sich, das entspricht 0,8 % des den kurz als „Brieftasche“ bezeichnet, eventuell zu Gesamtkollektivs (Tabelle 1). Die detektierte Präva- Hause gelassen haben, ob sie möglicherweise von der lenz von 0,8 % Organspendeausweisen im Gesamtkol- Polizei beschlagnahmt, oder ob sie in die Obhut von lektiv (95-%-Konfidenzintervall: [0,5 %; 1,3 %]) un- Angehörigen übergeben wurde. Wer keine Brieftasche terscheidet sich sehr deutlich von den erwarteten 36 % bei sich führt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch (Tabelle 1). Laut verschiedenen Umfragen wären in keinen der gesuchten Ausweise bei sich tragen, selbst dem Kollektiv von 2 044 Patienten bei einer 20-%-Trä- wenn die Person Besitzer eines Organspendeausweises gerrate mit 409, bei einer 36-%-Trägerrate sogar mit ist. Es ist daher sinnvoll, im Gesamtkollektiv eine Sub- bis zu 736 statt 17 Organspendeausweisen zu rechnen stratifizierung nach dem Vorliegen einer Brieftasche gewesen. Der Prävalenzunterschied zwischen Vorab- vorzunehmen. Wegen der Heterogenität der Bezeich- schätzer und den erhobenen Daten beträgt −35,2 % nungen wurde das Vorliegen von Geldbeutel, Führer- ([−35,5 %; −34,7 %] p < 0,001) (Tabelle 2). Die Wahr- schein, Personalausweis, EC-Karte, Kreditkarte und scheinlichkeit, unter Annahme einer 36-%-Trägerquote Krankenkassenkarte als Surrogatmarker für das Vorlie- bei 2 044 Schockraumpatienten die beobachtete Fall- gen einer Brieftasche mit typischem Inhalt verwendet. zahl von 17 Ausweisen oder weniger zu erheben, ist Bei Patienten, die zwei oder mehr dieser Gegenstände numerisch null und liegt selbst bei einer angenomme- bei sich führten, wird davon ausgegangen, dass es sich nen Prävalenz von 1,5 % noch im Promillebereich um eine Brieftasche mit typischem Inhalt handelte (eTabelle). 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MEDIZIN Brieftasche Kernaussagen ● Gruppe 1: Von 2 044 Patienten führten 740 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Brieftasche mit ● In Notfallsituationen tragen 0,8 % (95-%-Konfidenzintervall: [0,5; 1,3]) der Patienten typischem Inhalt bei sich. In dieser Gruppe konnten einen Organspendeausweis bei sich. 16 Organspendeausweise gefunden werden; das ent- ● Diese Zahlen unterscheiden sich deutlich von den auf Grundlage von Umfragen der spricht 2,2 % [1,2; 3,5]. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu erwartenden 36 % Organspende- ● Gruppe 2: 524 Patienten hatten mit mäßiger Wahr- ausweisbesitzern. scheinlichkeit eine Brieftasche bei sich, hier wurde 1 Organspendeausweis gefunden (0,2 %; [0,0; 1,1]) ● Viele Organspendeausweisbesitzer führen das Dokument in Notfallsituationen nicht mit sich, sind demnach also keine Organspendeausweisträger. ● Gruppe 3: In 780 Fällen lag mit hoher Wahrscheinlich- keit keine Brieftasche vor. In diesen Fällen wurde kein ● Die geringen Trägerraten von Organspendeausweisen sind nicht durch eine man- Organspendeausweis gefunden (0 %; [0,0; 0,5]). gelnde Dokumentationsqualität zu erklären. ● Das aktuelle System des Organspendeausweises in Deutschland ist bei Trauma- Diskussion patienten wenig zielführend. Die Trägerraten an Organspendeausweisen sind extrem gering und liegen deutlich unter den zu erwartenden Zahlen. Obwohl die Schulung der Pflegekräfte eine Wirkung und signifikante Unterschiede zum vorausge- Anhand von Tabelle 1 ist erkennbar, dass die Detek- henden Kollektiv zeigte, wurden auch auf diesem Weg tion von Organspendeausweisen seit Beginn des pro- keine zufriedenstellenden Trägerraten erreicht. Die Do- spektiven Studienteils Anfang Oktober 2018 anstieg. kumentation durch den Erstautor im interventiven Kol- Dieses Ergebnis spricht dafür, dass eine gesteigerte lektiv konnte zeigen, dass ein Dokumentationsdefizit Aufmerksamkeit des Pflegepersonals in Bezug auf Or- durch die Pflege unwahrscheinlich ist. ganspendeausweise zu einer vermehrten Detektion und Es konnte weiterhin belegt werden, dass das Tragen Dokumentation des Ausweises führt. eines Organspendeausweises mit dem Tragen einer Brieftasche assoziiert ist. Allerdings werden viele Retrospektiv Schockraumpatienten ohne Brieftasche aufgenommen. In der retrospektiven Untersuchung konnten bei 7 von Doch selbst in der Gruppe der Patienten, die mit hoher 1 396 Patienten Organspendeausweise dokumentiert Wahrscheinlichkeit eine Brieftasche oder Ähnliches bei werden. Dies entspricht einer Quote von 0,5 % [0,2; sich führten, blieb die Prävalenz des Ausweises mit ei- 1,0] Organspendeausweisträgern (Tabelle 1). ner oberen Grenze des 95-%-Konfidenzintervalls von 3,5 % extrem niedrig. Prospektiv Zwar war die vorliegende Untersuchung nicht multi- Im prospektiven Kollektiv konnten bei 10 von 621 Per- zentrisch angelegt und die Trefferzahlen gering, jedoch sonen Organspendeausweise dokumentiert werden. Die ist das Patientenkollektiv sehr heterogen. Obwohl ein Trägerrate verdreifacht sich somit von 0,5 % im retro- Confounding somit unwahrscheinlich ist, könnte es spektiven Teil auf 1,6 % [0,8; 2,9] im prospektiven sinnvoll sein, diese Untersuchung an weiteren Standor- Teil. Der Prävalenzunterschied zwischen den beiden ten zu wiederholen. Bei der Dokumentation durch den Kollektiven beträgt 1,1 % ([0,2; 2,0]; p = 0,012). Diese Erstautor handelte es sich zwar um eine sehr kurze Be- Steigerung der Detektionsrate kann der Sensibilisie- obachtungszeit, diese reichte aber aus, um ein Doku- rung des Pflegepersonals zugeschrieben werden (Tabel- mentationsdefizit von Seiten der Pflege auszuschließen. len 1 und 2). Das System der Organspendeausweise bei traumato- logischen Notfallpatienten kann in der aktuellen Form Interventiv als ausbaufähig und wenig effektiv bezeichnet werden. Es wurden keine Organspendeausweise im interventi- Schockraumpatienten stellen im Wesentlichen genau ven Teil gefunden (Tabelle 1). Auf Basis einer das Kollektiv dar, für das ein Organspendeausweis ge- 36-%-Trägerrate wäre mit mindestens neun Ausweisen dacht ist: eine verunfallte Person, die eine erhöhte zu rechnen gewesen. Wahrscheinlichkeit hat, an einer Hirnschädigung zu ver- Der Vergleich des interventiven Kollektivs mit den sterben und die ihren Willen möglicherweise nicht mehr retrospektiven und prospektiven Kollektiven zeigt ei- zu äußern vermag. Die vorliegende Untersuchung zeigt nen Prävalenzunterschied von −0,5 % ([−3,2; 2,2]; jedoch, dass in genau diesen Fällen die Prävalenz des p = 0,712) beziehungsweise −1,6 % ([−6,4; 3,1]; Tragens eines Organspendeausweises verschwindend p = 0,506). Im Kontrast zu den vorab erwarteten 36 % gering ist. ist dieser kleine Unterschied jedoch nicht von Relevanz Es war nicht das Ziel der Untersuchung, die Konse- (Tabelle 2). quenzen eines fehlenden Organspendeausweises im Ein Vergleich mit den von der Bundeszentrale für Schockraum darzustellen. Es ist jedoch denkbar, dass gesundheitliche Aufklärung in einer Umfrage erhobe- im weiteren klinischen Verlauf aus dem Fehlen des Do- nen 36 % Ausweisträgern zeigt eine extreme Präva- kumentes geringere Zustimmungsraten bei möglichen lenzdifferenz von −36,0 % ([−36,0; −23,2]; p < 0,001) Organspendern resultieren. Dies könnte in weiterer (Tabelle 2). Konsequenz zu weniger Organentnahmen führen. 186 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020
MEDIZIN Da das Dokument so selten mitgeführt wird, ist 4. Waage P, Bloome B: Jahresbericht Organspende und Transplantation in Deutschland 2018. Frankfurt a.M.. Deutsche Stiftung Organtrans- der Organspendeausweis in seiner aktuellen Version plantation 2019; 63. bei Traumapatienten in Deutschland wenig zielfüh- 5. Schulte K, Borzikowsky C, Rahmel A, et al.: Decline in organ donation rend. Öffentlichkeitsarbeit könnte helfen, die Not- in Germany. A nationwide secondary analysis of all inpatient cases. wendigkeit zu verdeutlichen, als Besitzer eines Or- Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 463–8. ganspendeausweises diesen auch immer bei sich zu 6. IRODaT: Final numbers 2017. IRODaT International Registry in Organ tragen. Eine mögliche Alternative zur Dokumentati- Donation and Transplantation 2018; 3: on der persönlichen Einstellung bezüglich der Or- 7. Caille-Brillet A-L, Zimmering R, Thaiss HM: Bericht zur Repräsenta- tivstudie 2018 „Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemein- ganspende könnte eine Online-Datenbank sein. Alle bevölkerung zur Organ-und Gewebespende“. BZgA-Forschungs- spendebereiten Bürgern könnten ihre Zustimmung bericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung(BZgA). (oder gegebenenfalls auch Ablehnung) dort doku- 2019; 22. mentieren, müssten keinen Ausweis mehr mit sich 8. Radünz S, Heuer M, Hertel S, et al.: Organspendebereitschaft an einer Universitätsklinik. Intensivmedizin und Notfallmedizin 2009; 46: führen und die behandelnden Ärzte könnten einfach 437–40. und jederzeit auf diese Information zugreifen. Auch 9. Wesslau C, Grosse K, Kruger R, et al.: How large is the organ donor eine Widerspruchslösung kann in diesem Rahmen potential in Germany? Results of an analysis of data collected on de- diskutiert werden. ceased with primary and secondary brain damage in intensive care unit from 2002 to 2005. Transpl Int 2007; 20: 147–55. Interessenkonflikt 10. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Ja oder Prof. Jöckel ist Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Universitäts- Nein zur Organspende? Ihre Entscheidung zählt! medizin Essen, die die Initiative Stiftung Über Leben betreibt. www.organspende-info.de/organspendeausweis-ja-oder-nein.html (last accessed on 23 April 2019). Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. Manuskriptdaten Anschrift für die Verfasser eingereicht: 30. 8. 2019, revidierte Fassung angenommen: 20. 12. 2019 Max Küpers Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie Literatur Klinik für Unfall-, Hand und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Essen 1. Elliott PM, Anastasakis A, Borger MA, et al.: 2014 ESC guidelines on Hufelandstraße 55, 45147 Essen diagnosis and management of hypertrophic cardiomyopathy: the Task imibe@uk-essen.de Force for the Diagnosis and Management of Hypertrophic Cardiomyo- pathy of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2014; 35: 2733–79. Zitierweise Küpers M, Dudda M, Kauther MD, Schwarz B, Hausen SA, Jöckel KH: 2. Dickstein K, Vardas PE, Auricchio A, et al.: 2010 Focused update of Organ donor cards in resuscitation room patients. Dtsch Arztebl Int 2020; ESC guidelines on device therapy in heart failure: an update of the 117: 183–7. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183 2008 ESC guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure and the 2007 ESC guidelines for cardiac and re- synchronization therapy. Developed with the special contribution of the ►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter: Heart Failure Association and the European Heart Rhythm Associa- www.aerzteblatt-international.de tion. Europace 2010; 12: 1526–36. Zusatzmaterial 3. Eurotransplant: Annual report 2018. www.eurotransplant.org/cms/in eTabelle: dex.php?page=annual_reports (last accessed on 17 January 2020). www.aerzteblatt.de/20m0183 oder über QR-Code Hinweise für Autoren von Diskussionsbeiträgen im Deutschen Ärzteblatt ● Reichen Sie uns bitte Ihren Diskussionsbeitrag bis spätestens vier Wochen nach Erscheinen des Primärartikels ein. ● Argumentieren Sie wissenschaftlich, sachlich und konstruktiv. Briefe mit persönlichen Angriffen können wir nicht abdrucken. ● Schreiben Sie klar und deutlich, fokussieren Sie sich inhaltlich. Vermeiden Sie es, Nebenaspekte zu berühren. ● Sichern Sie die wichtigsten Behauptungen durch Referenzen ab. 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MEDIZIN Zusatzmaterial zu: Organspendeausweise bei Schockraumpatienten Max Küpers, Marcel Dudda, Max Daniel Kauther, Bernd Schwarz, Saskia Anastasia Hausen, Karl-Heinz Jöckel Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 183–7. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0183 eTABELLE Wahrscheinlichkeit, weniger oder gleich „z“ Ausweise zu finden, unter der Voraussetzung, dass „p“ dem wahren Anteil der Organspendeausweisträger entspricht z p n kum. Binomial (n, p, ≤ z) 17 0,36* 2 044 0,0000000000E+00 17 0,32 2 044 0,0000000000E+00 17 0,3 2 044 0,00000E+00 17 0,25 2 044 1,67239E-222 17 0,2 2 044 2,47643E-167 17 0,15 2 044 4,41487E-116 17 0,1 2 044 9,58508E-69 17 0,05 2 044 3,16821E-26 17 0,02 2 044 0,00002 17 0,015 2 044 0,00507 17 0,01 2 044 0,26351 kum. Binomial, kumulierte Binomialverteilung; n, Zahl der Patienten; p, „wahrer“ Anteil der Ausweisträger; z, Anzahl der gefundenen Ausweise; * gemäß BZgA-Umfrageergebnis von 2018 I Deutsches Ärzteblatt | Jg. 117 | Heft 11 | 13. März 2020 | Zusatzmaterial
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