JENSEITS VON RABENMÜTTERN UND BULLERBÜ-IDYLLEN - DAS THEMA DER BEREUTEN MUTTERSCHAFT IM ROMAN - DIVA PORTAL

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JENSEITS VON RABENMÜTTERN UND BULLERBÜ-IDYLLEN - DAS THEMA DER BEREUTEN MUTTERSCHAFT IM ROMAN - DIVA PORTAL
Jenseits von Rabenmüttern
           und Bullerbü-Idyllen
            Das Thema der bereuten Mutterschaft im Roman
                        Lasse von Verena Friederike Hasel

                                           Elin Lissheim

Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska
och tyska
Examensarbete 15 hp
Tyska
Kandidatprogram i språk och översättning (180 hp)
Höstterminen 2021
Handledare: Markus Huss
English title: Beyond raven mothers and Bullerby idylls
Jenseits von Rabenmüttern
             und Bullerbü-Idyllen

                 Das Thema der bereuten Mutterschaft im Roman
                       Lasse von Verena Friederike Hasel

                                          Elin Lissheim

Zusammenfassung
In dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit wird das Thema der bereuten Mutterschaft im Roman Lasse
von Verena Friederike Hasel in einem theoretischen Rahmen aus feministischer Literaturtheorie und
ausgewählten feministischen und soziologischen Theorien analysiert. Die folgenden Fragestellungen
werden behandelt: Wie wird die Protagonistin dargestellt? Wie werden ihre Gefühle und Gedanken über
die Mutterschaft dargestellt, und wie werden sie durch ihre Beziehungen und Lebensbedingungen
beeinflusst? Was sagt der Roman über die Mutterschaft und das Bedauern aus? Ist es deutlich, dass die
Protagonistin es bereut, Mutter geworden zu sein, oder gibt es andere mögliche Interpretations-
möglichkeiten, wie Ambivalenz oder postnatale Depression? Die kritische Rezeption des Romans wird
auch als Ergänzung zur Hauptanalyse des Romans analysiert, und der Inhalt des Romans wird mit den
Ergebnissen der soziologischen Studie Regretting Motherhood: A Study von Orna Donath verglichen,
um herauszufinden, ob der Roman die Erfahrungen und Gedanken der befragten Mütter in der Studie
thematisiert. Das Ziel mit der Arbeit ist es, das Bewusstsein für das Thema der bereuten Mutterschaft
zu schärfen und Vorurteile darüber entgegenzuwirken.

Schlüsselworte
Bedauern; Mutterschaft; Verena Friederike Hasel; Lasse; Muttermythen; Ambivalenz; postnatale
Depression; feministische Literaturkritik; Soziologie; Donath.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................... 1
1.1 Vorgehensweise und Ziel ....................................................................... 2
2. Theoretischer Rahmen ........................................................................ 3
3. Forschungsüberblick – Feministische Literaturkritik und die
Mutterschaft ........................................................................................... 5
4. Begriffserklärungen – Bedauern, Ambivalenz und postnatale
Depression.............................................................................................. 7
5. Zusammenfassung des Romans .......................................................... 8
6. Analyse ............................................................................................. 11
6.1 Nina ................................................................................................. 11
6.2 Lennart ............................................................................................. 13
6.3 Wie aus Lasse Felix wird...................................................................... 14
6.4 Bedauern, Ambivalenz oder postnatale Depression? ................................ 16
6.5 Was sagt der Roman über Mutterschaft und Bedauern aus? ..................... 17
7. Kritische Rezeption des Romans ....................................................... 20
8. Vergleich mit der Studie Orna Donaths ............................................. 22
9. Ergebnis der Analyse ........................................................................ 24
10. Diskussion und Ausblick .................................................................. 26
11. Literaturverzeichnis ........................................................................ 28
1. Einleitung

Es wird immer üblicher, in der Öffentlichkeit über bereute Elternschaft zu sprechen. Große
internationale Medienvertreter wie die BBC haben Eltern eine Plattform geboten, um dieses
Gefühl in Worte zu fassen (Mackenzie 2018). Über dieses Thema in der Öffentlichkeit zu reden,
ruft jedoch Wut hervor und wird manchmal mit Kindesmissbrauch gleichgesetzt (Donath
2017:114, 218). Die israelische Soziologin Orna Donath hat wegen ihrer Forschungen über
Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein, bedrohliche Kommentare bekommen, zum
Beispiel, dass sie gefoltert und lebendig verbrannt werden sollte (ebd.:xvi). In ihrem Buch
Regretting Motherhood: A Study interviewt Donath 23 Frauen unterschiedlichen Alters und
Hintergrunds, die aus verschiedenen Gründen es bereuen, Mutter geworden zu sein. Auf die
Frage: „If you could go back in time with the knowledge and experience you have today, would
you become a mother/have children?“, antworteten sie alle auf unterschiedliche Weise Nein
(ebd.:60).

Die öffentliche Debatte über diese Studie war besonders lang und hitzig in Deutschland, ein
Land, in dem ein idealisiertes und mythologisiertes Bild der Mutterschaft weit verbreitet ist
(Göbel 2016:96; Heffernan & Stone 2021:351). Dieses Bild scheint traditioneller zu sein als in
vielen den europäischen Nachbarländern (SIRC 2012:4). Weiblichkeit wird immer noch eng
mit Mutterschaft verknüpft und Kinder werden weitgehend als ‚Frauensache‘ angesehen (Göbel
2016:99, 122). Dies könnte erklären, warum Mütter oft im Mittelpunkt der Diskussion über
bereute Elternschaft stehen und härter als Väter „geächtet oder kritisiert“ werden (Mundlos
2016:19). Diese Mütter wurden sogar in den deutschen Medien als weinerlich und selbstverliebt
verspottet: „These children are the parasites of well-being. They are disturbing mummy in her
search for herself,’ Die Zeit wrote sarcastically“ (Febvre 2016). Im Deutschen gibt es das Wort
Rabenmutter, das Mütter stigmatisiert, die als vernachlässigend oder egoistisch angesehen
werden, und dieses Wort wird auch gegen bereuende Mütter verwendet (ebd.).

Dieser Aufsatz wird das Thema der bereuten Mutterschaft fokussieren. Die Forschung über
dieses Thema wurde hauptsächlich innerhalb des Gebiets der Soziologie durchgeführt, wie z.
B. die Studie Donaths, aber nach meiner Ansicht eignet sich ein solches Tabuthema optimal für
die Erforschung in der Literaturwissenschaft. Wie Christine Farhan schreibt, hat die Literatur
„einen wesentlichen Stellenwert im gesellschaftlichen Veränderungsprozess“ (2009:186). Sie
bietet eine Möglichkeit, gesellschaftliche Normen zu kritisieren und soziale Konzepte wie

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Mutterschaft neu zu verhandeln. Dazu gehört, das Bewusstsein, die Empathie und das
Verständnis für bedauernde Mütter zu fördern. Die Darstellung von Müttern in den Medien
beeinflusst das Leben von Frauen, unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht. Die
Belletristik ist auch ein sicherer Raum, in dem Mütter ihre eigene Reue erforschen können,
ohne sich Sorgen zu machen, dass sie ihren Kindern schaden könnten. Es kann jedoch schwierig
sein, Romane zu finden, in denen eine klare Verbindung zwischen Mutterschaft und Bedauern
besteht. Ein deutscher Roman, der im Zusammenhang mit diesem Thema erwähnt wurde
(Stokowski 2016), ist Lasse von Verena Friederike Hasel (2015). Dieser Roman ist der
Gegenstand dieses Aufsatzes. Die Protagonistin Nina wird etwa nach einem Viertel des Romans
Mutter und der Leser folgt genau ihre Gedanken und Gefühle bis zum gewaltsamen Ende.

1.1 Vorgehensweise und Ziel

In diesem Aufsatz werde ich das Thema der bereuten Mutterschaft im Roman Lasse
analysieren, indem ich die folgenden Fragestellungen beantworte: wie wird die Protagonistin
Nina dargestellt? Wie werden ihre Gefühle und Gedanken über die Mutterschaft dargestellt,
und wie werden sie durch Ninas Beziehungen und Lebensbedingungen beeinflusst? Was sagt
der Roman über die Mutterschaft und das Bedauern aus? Ist es deutlich, dass Nina es bereut,
Mutter geworden zu sein, oder gibt es andere mögliche Interpretationsmöglichkeiten, wie
Ambivalenz oder postnatale Depression? Diese Begriffe werden auch in einem eigenen Kapitel
erklärt.

Die kritische Rezeption des Romans wird auch kurz als Ergänzung zur Hauptanalyse des
Romans in einem eigenen Kapitel analysiert, und der Inhalt des Romans wird mit den
Ergebnissen der Studie Donaths verglichen, um herauszufinden, ob der Roman die Erfahrungen
und Gedanken der befragten Mütter in der Studie thematisiert. Der theoretische Ausgangspunkt
der Analyse bezieht sich auf feministische Literaturkritik, hauptsächlich wie sie in dem Buch
Litteraturvetenskap II (Fahlgren 2020) beschrieben wird. Ich halte diese theoretische
Perspektive für relevant, weil es in diesem Forschungsbereich eine Geschichte der
Mutterschaftsforschung gibt. Es wird z. B. untersucht, wie sich gesellschaftliche
Einschränkungen des Handlungsspielraums von Frauen in ihrer Rolle als Mutter in der Literatur
widerspiegeln können (ebd.:120). Es ist ein Forschungsgebiet, das das hervorhebt, was Donath
als “systems of power governing maternal feelings” bezeichnet (Heffernan & Stone 2021:343).

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Auf diese Themen werde ich in meiner Analyse eingehen. Andere relevante feministische und
soziologische Theorien werden auch in einem eigenen Kapitel zusammengefasst. Zum Schluss
werde ich, nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse, die Auswirkungen meiner
Erkenntnisse und mögliche zukünftige Forschungswegen diskutieren.

Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, das Bewusstsein für das Thema der bereuten Mutterschaft zu
schärfen und Vorurteile darüber entgegenzuwirken. Es ist meine Hoffnung, dass sowohl
Forschung als auch Belletristik über dieses Thema dazu beitragen könnte, langfristig die
sozialen Bedingungen für Mütter zu verbessern, die Diskussion über die negativen Aspekte der
Kindererziehung gesellschaftsfähiger zu machen und die Ansicht zu normalisieren, dass die
Mutterschaft nicht für alle Frauen geeignet oder erwünscht ist. Der Titel dieses Aufsatzes ist
Ausdruck meiner Überzeugung, dass es jenseits der Vorurteile gegenüber bedauernden Müttern
und jenseits unrealistischer Vorstellungen vom Familienleben ein realistisches Bild der
Mutterschaft gibt, das die Erfahrungen und Gefühle der Frauen berücksichtigt, das ehrlich zu
den negativen Aspekten der Kindererziehung ist und das uns allen als Gesellschaft zugute
kommen kann.

2. Theoretischer Rahmen

Wie in der Untersuchung Frühling für Mütter in der Literatur? Mutterschaftskonzepte in
deutschsprachiger und schwedischer Gegenwartsliteratur von Christine Farhan (2009) ist mein
theoretischer Ausgangspunkt, dass die Mutterschaft ein soziales Konstrukt ist, verwurzelt in
der Kultur und der Geschichte und deshalb veränderbar. Im Vergleich zu Farhan werde ich auch
berücksichtigen, dass die Mutterschaft in der abendländischen Kultur gleichzeitig als „eine der
letzten Bastionen des Essentialismus“ angesehen wird (ebd.:10). Es gibt immer noch
Vorstellungen, dass Frauen von Natur aus sehr eng mit Kindern verbunden sind (Fahlgren
2020:119). Die Dichotomien Natur/Kultur und Essentialismus/Konstruktivismus sind hier nach
wie vor relevant. Ich finde es an dieser Stelle auch sinnvoll auf die Kritik von Simone de
Beauvoir an die Sicht der Mutterschaft als Folge des biologischen Determinismus hinzuweisen.
Beauvoir war eine der ersten feministischen DenkerInnen, die argumentierte, dass nicht alle
Frauen Mütter werden wollen, und die die Idee eines natürlichen und obligatorischen
‚Mutterinstinkts‘ ablehnte (Beauvoir 2002:621).

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In Bezug auf den sozialen Konstruktivismus halte ich es auch für angebracht, auf Judith Butlers
Theorie über Gender hinzuweisen (1999). Butler wurde von ForscherInnen wie Toril Moi für
eine zu abstrakte Sicht des Körpers kritisiert, vielleicht im Zusammenhang mit dem
wachsenden feministischen Forschungsfeld über Körper und Körperlichkeit (Fahlgren
2020:119, 121). Mein theoretischer Ausgangspunkt der Mutterschaft als soziales Konstrukt ist
jedoch im Einklang mit Butlers Auffassung von Geschlecht als etwas, das durch
geschlechtsspezifische Handlungen vollzogen werden und wandelbar ist (1999:43). Es wird z.
B. argumentiert, dass die gegenwärtige Auffassung im abendländischen Kulturraum darüber,
wie Mütter handeln und fühlen ‚sollten‘, nur wenige Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Nach
der Forscherin Elisabeth Badinter ist das Konzept der Mutterliebe selbst „eine moderne
Erfindung“ (Farhan 2009:14). Das Bild der guten, aufopfernden Mutter, die aufgrund ihrer
Natur sich ihren Kindern widmet, wird in der Regel dem Philosoph Jean-Jacques Rousseau
(1712–1778) zugeschrieben und wurde durch den Pädagogen Johan Heinrich Pestalozzi (1746–
1827) im deutschsprachigen Raum verfestigt (ebd.:17–18; Göbel 2016:107; Heffernan & Stone
2021:348). Dieses Mutterbild hat sich dann während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert
verstärkt, genauer gesagt im Zusammenhang mit der Trennung der bürgerlichen Gesellschaft
in männlichen (öffentlichen) und weiblichen (privaten) Arbeitssphären (Donath 2017:30–32;
Mundlos 2016:58–59). Das Ideal der Mittelschicht mit dem Mann als Ernährer und der Frau als
Hausfrau und Mutter wurde hier zum Ideal der gesamten Gesellschaft.

Die Vorstellungen über die Mutterschaft in Deutschland von heute, das den Schauplatz des
Romans Lasse bildet, lassen sich auch auf den Protestantismus des 17. Jahrhunderts
zurückverfolgen (SIRC 2012:4). Wie Farhan schreibt war „das Gebären von Kindern … die
wichtigste   Aufgabe    der   Ehefrau“    (2009:17).    Christliche   Wertvorstellungen    wie
Heteronormativität und Pronatalismus prägen immer noch die Gesellschaft (Wagenknecht
2007:17; Peterson 2010:257). Das heißt, dass die heterosexuelle Beziehung, die auf Liebe
beruht und aus der Kinder hervorgehen, im Allgemeinen als die ‚natürlichste‘ und
‚erstrebenswerteste‘ Lebensform angesehen wird (Thannhäuser 2019; Mundlos 2016:31).
FeministInnen sprechen in diesem Zusammenhang von der „Illusion der Wahlfreiheit“
(„illusion of choice“) und davon, dass die Mutterschaft als die einzig ‚richtige‘ Entscheidung
für Frauen angesehen wird (Donath 2017:7, 10). Sie ist sogar ihre „gesellschaftliche Pflicht“
(Göbel 2016:10). Dies wird z. B. deutlich, wenn Frauen, die ihr Bedauern über ihre
Mutterschaft zum Ausdruck bringen, als egoistisch, gefährlich und verrückt stigmatisiert
werden (Donath 2017:6).

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In meiner Analyse werde ich mich auch darauf beziehen, was FeministInnen als die
‚Muttermythen‘ nennen. Zu diesen Mythen gehören eine idealistische Sicht der guten,
aufopferungsvollen Mutter; unrealistische, perfektionistische Erwartungen an Mütter, und die
Vorstellung, dass die Mutterschaft alle Frauen glücklich macht (Brembeck 1998:48). Es ist ein
Oberbegriff, den ich in meiner Analyse oft verwenden werde. Christine M. Lacy hat diese
Mythen in ihrer Masterarbeit über mütterliche Ambivalenz zusammengefasst (2015). Wie sie
schreibt, könnten sie dazu führen, dass Mütter weniger bereit sind, Hilfe zu suchen, oder über
die negativen Aspekte des Mutterseins zu sprechen (ebd.:7). In Deutschland waren diese
Mythen während der Zeit des Nationalsozialismus mit seiner Verherrlichung der Mutterschaft
besonders stark (Heffernan & Stone 2021:348).

Ich finde es sinnvoll, diese Muttermythen mit der Unterscheidung der Feministin Adrienne Rich
zwischen der Mutterschaft als Institution/Ideologie und der Mutterschaft, wie sie tatsächlich
von Frauen erlebt werden, in Verbindung zu bringen (1976). Laut Rich setzt die Institution der
Mutterschaft Standards, denen Mütter nicht gerecht werden können (ebd.:225). Donath stellt
außerdem das Perfektionsstreben der Mütter im Zusammenhang mit neoliberalen und
kapitalistischen Werten des Fortschritts, die die abendländischen Gesellschaften im
Allgemeinen kennzeichnen („a neoliberal, capitalist society that is founded on an ethos of
progress“) (2017:54).

Mein letzter theoretischer Ausgangspunkt ist die soziologische Theorie von Arlie Russell
Hochschild über „feeling rules“, die sich mit sozialen Normen in Verbindung mit Gefühlen
befasst (1990:122). Nach dieser Theorie gibt es ungeschriebene soziale Regeln, die
vorschreiben, welche Gefühle in einer bestimmten Situation angemessen sind, aber auch, wie
stark und wie lange es angemessen ist, sie zu fühlen. Laut Donath wird das Bedauern
weitgehend als „a blatant violation of maternal feeling rules“ angesehen, was nach einiger zum
Schutz der Kinder unterdrückt werden sollten (2017:111).

3. Forschungsüberblick – Feministische
Literaturkritik und die Mutterschaft

Die feministische Literaturkritik bewegt sich als Bereich in die Richtung einer anti-
essentialistischen Auffassung der Mutterschaft hin, die nicht in der Biologie, sondern im
sozialen Konstruktivismus verwurzelt ist (Lindén 2008:220). Wie ich im Kapitel über den

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theoretischen Rahmen erwähnt habe, gibt es Tendenzen, die Mutterschaft immer noch als ein
essentialistisches Konzept zu betrachten, aber sie wird auch immer mehr dekonstruiert und neu
bewertet (Farhan 2009:191–192). Nach der Historikerin Elisabeth Badinter wird in letzter Zeit
die Mutterrolle in der Belletristik wieder in dem Mittelpunkt gerückt (Fahlgren 2020:120). Es
scheint eine Entwicklung stattgefunden zu haben, seit Christine Farhan ihre Untersuchung
Frühling für Mütter in der Literatur? Mutterschaftskonzepte in deutschsprachiger und
schwedischer Gegenwartsliteratur geschrieben hat, in der sie berichtet: „Man müsse sich
anstrengen, um in der Belletristik eine Darstellung aus der Perspektive einer Mutter zu finden“
(2009:57). Dies bezieht sich laut Farhan auf die schwedische, amerikanische und deutsche
Literatur. In dieser Zeit gab es außerdem keine bekannten Beispiele für deutsche Romane, „in
denen die Mutter und ihre Empfindungen und Reflexionen Hauptthema sind“ (ebd.:57).
Seitdem wurde der Roman, den ich in diesem Aufsatz analysieren werde, veröffentlicht, und
ich finde, dass er dieser Beschreibung entspricht.

Ein wiederkehrendes Thema in der Belletristik ist Frauen, die der Mutterrolle nicht gerecht
werden können, besonders Frauen aus der Mittelschicht (Fahlgren 2020:120). In diesem
Zusammenhang wird die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf („the compatibility of
motherhood and professional life“) häufig thematisiert (Farhan 2009:190). Verschiedene
Versionen und Erfahrungen der Mutterschaft werden auch gleichzeitig immer mehr
hervorgehoben, um der historischen Fokussierung auf die weißen, heterosexuellen Frauen der
Mittelschicht entgegenzuwirken (Johansson 2014:51). Feministen wie die Autorin bell hooks
haben ethnische und postkoloniale Perspektiven eingeführt, wodurch Unterschiede zwischen
Frauen aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Klasse und sexueller Orientierung
deutlicher werden (Fahlgren 2020:114).

Das Thema der ambivalenten Mutterschaft wird in der Regel von feministischen
LiteraturkritikerInnen im Hinblick auf Mutter-Tochter-Beziehungen analysiert, in denen die
Mutter eher als Objekt und Nebenfigur denn als Subjekt und Hauptfigur interpretiert wird (Rye
2006:14). Die Mutterfigur kann z. B. als Teil der Suche der Tochterfigur nach ihrer eigenen
Identität fungieren, oder als jemand, auf die die Tochterfigur ihre Gefühle projiziert (ebd.:8;
Farhan 2009:57). Im Roman Lasse ist die Mutter und Protagonistin eindeutig ein Subjekt, und
sie kann in der Beziehung zu ihrem Sohn nicht auf ein Objekt reduziert werden, weil er im Alter
von nur sechs Monaten stirbt. Es ist schwierig zu bestimmen, wann die mütterliche Ambivalenz
in Bedauern umschlägt, und ich habe noch keine literaturwissenschaftlichen Untersuchungen
gefunden, die die Mutterschaft und das Bedauern deutlich verbinden.
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In der englischen Literaturgeschichte gibt es keinen Mangel an Mutterfiguren, die ihren
Kindern gegenüber ambivalent sind, aber sie sind überwiegend unsympathisch (Adams 2021).
Die Journalistin Cathy Adams nennt Beispiele wie die unmoralische Hedonistin „bolter“
(Ausreißerin) in den Romanen von Nancy Mitford, und Harriet in Doris Lessings The Fifth
Child, die ihren Sohn als einen „hostile little troll“ bezeichnet (ebd.). Farhan hat auch analysiert,
wie einige deutsche Autorinnen ihre eigene Ambivalenz und Entfremdung gegenüber der
traditionellen Mutterschaft durch ‚böse Mütter‘ ausdrücken (2009:191). Die Mütter in diesen
Geschichten sind nicht immer die Protagonistinnen, aber in diesen Fällen sind sie zumindest
eigenständige Subjekte (ebd.:125). Es gibt hier Möglichkeiten, ein neues und realistischeres
Bild der Mutterschaft zu gestalten. Die Ambivalenz wird aber wieder mit dem
‚Unsympathischen‘ oder dem ‚Bösen‘ in Verbindung gebracht, und es scheint sehr selten der
Fall zu sein, dass Ambivalenz als Teil einer alltäglichen mütterlichen Erfahrung dargestellt
wird. Es scheint jedoch gute Voraussetzungen für sympathische Protagonistinnen zu geben, die
den Leser einladen, mit ihrer Ambivalenz oder ihrem Bedauern über die Mutterschaft
mitzufühlen.

4. Begriffserklärungen – Bedauern, Ambivalenz
und postnatale Depression

Eine postnatale Depression wird von der schwedischen SBU (Statens beredning för medicinsk
och social utvärdering) als eine leichte bis mittelschwere Depression definiert, die sich
innerhalb von drei Monaten nach der Geburt entwickelt (2014). Die Hauptsymptome sind ein
vermindertes Energieniveau, ein gedrückter Gemütszustand und ein vermindertes Interesse am
täglichen Leben, die die Mehrheit der Tage innerhalb eines Zeitraums von zwei Wochen
andauert. Eine Person, die an einer Depression leidet, zeigt mindestens eines dieser Symptome
sowie mehrere charakteristische Symptome wie Schuldgefühle oder Selbstmordgedanken
(ebd.). Der Unterschied zu Ambivalenz und Bedauern besteht darin, dass die Depression ein
klinischer Zustand ist und nicht ein Gefühl, das zu einem normalen Gefühlsspektrum gehört.

Mütterliche Ambivalenz kann wiederum folgendermaßen definiert werden: „that mixture of
loving and hating feelings that all mothers experience towards their children, and the anxiety,
shame and guilt that the negative feelings engender in them” (Almond 2010:2). Es ist ein
Gefühl, das weniger definiert und schwieriger zu bestimmen ist als Bedauern, da es zwischen

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dem Positiven und dem Negativen pendelt. Laut Donath sind sie eindeutig nicht dasselbe:
„regret and ambivalence are not the same: whereas regret may involve ambivalent feelings
about motherhood, ambivalence towards motherhood does not necessarily imply regret for it”
(2017:xviii). Eine ambivalente Mutter kann, wie bedauernde Mütter, gleichzeitig ihre Kinder
lieben und das Muttersein selbst hassen (Lacy 2015:61). Ein gewisses Maß an mütterlicher
Ambivalenz wird als gesund angesehen, aber unkontrollierte Ambivalenz kann zu Depression,
Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung führen (ebd.:2).

Mit anderen Worten können sowohl Ambivalenz als auch Depression mit der Mutterschaft in
Verbindung gebracht werden. Nach Donath wird jedoch die Mutterschaft in der Regel als
jenseits des Bereichs des Bedauerns angesehen („beyond the human realms of regret“)
(2015:347). Es gibt immer noch die Vorstellung, dass es für Frauen unmöglich ist, die
Mutterschaft zu bereuen (Donath 2017:204). Die Autorin und Forschungspsychologin Janet
Landman beschreibt das Bedauern als „felt-reason or reasoned-emotion“: eine Person kommt
z. B. zu dem Schluss, dass eine vergangene Handlung oder Nicht-Handlung einen Fehler
darstellt, und infolgedessen empfindet sie Trauer oder Kummer (1993:36). Laut die Autorin
Carolyn Morell wird es als Instrument der sozialen Kontrolle eingesetzt, um sicherzustellen,
dass Frauen innerhalb der Norm leben und Kinder bekommen (1994). Nach Donath werden
deswegen in der Regel Frauen, die erwägen, keine Kinder zu bekommen, mit Bedauern bedroht,
und nicht die Frauen, die Kinder haben wollen. Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu
sein, werden auch oft verleugnet (2015:347).

5. Zusammenfassung des Romans

Da dieser Roman der breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich unbekannt ist, werde ich ihn hier
zusammenfassen. Die Handlung wird ausschließlich aus der Perspektive der Protagonistin und
Ich-Erzählerin Nina erzählt. Wir erfahren über Nina, dass sie eine junge, hübsche und nicht sehr
motivierte Studentin ist, die in einer Hausgemeinschaft in einer Großstadt lebt. Ihre soziale
Klasse, ethnische Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung sind nicht ganz deutlich. Es wird
nur erwähnt, dass sie sexuelle Kontakte mit Männern hat. Sie ist einsam, hat keine Familie,
keine Freunde und fast keinen Kontakt zu ihren Mitbewohnern. Sie neigt auch zu Fantasie und
lügt auch andere Leute leicht an.

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Der Roman beginnt damit, dass Nina dem Arzt Lennart im Krankenhaus begegnet, als er ihr
den Blinddarm entfernt. Sie beginnen eine sexuelle Beziehung, in der Lennart eine emotionale
Distanz wahrt und Nina von einer romantischen Zukunft mit ihm träumt. Als Nina Lennarts
Wohnung besucht, als er nicht da ist, und seine privaten Sachen durchsucht, findet sie heraus,
dass er sich immer noch mit seiner Ex-Freundin Puck trifft. Es wird auch später angedeutet,
dass er versucht, Kinder mit ihr zu bekommen.

Eines Abends wartet Nina stundenlang vor Lennarts Wohnung, was Lennart beunruhigt, aber
sie scheint nicht zu verstehen, warum. Während eines Wutausbruchs sagt Nina, dass es
stinklangweilig ist, mit Lennart zu reden und Sex mit ihm zu haben. Sie hofft, dass dieses
Ereignis sie einander näher bringen wird, aber Lennart distanziert sich weiter. Als Nina
plötzlich schwanger wird, geht Lennart davon aus, dass sie abtreiben wird. Nina nimmt aber
an, dass er seine Meinung ändern wird. Als sie zu einer Abtreibungsklinik fahren, tut Nina so,
als ob sie nur einen romantischen Ausflug zu zweit machen würden. Vor der Klinik haben sie
einen Streit, bei dem Lennart sagt, dass Nina verrückt ist, dass das Kind ein Fehler ist und dass
sie von nun an allein sein wird.

Nina beginnt, sich mit Lesen, Pränatal-Yoga und Babykursen auf die Geburt vorzubereiten. Sie
genießt ihre Schwangerschaft und beschließt, ihr Kind Lasse zu nennen. Die Geburt verläuft
aber nicht so, wie Nina es gelesen hat, dass sie verlaufen ‚soll‘; sie ist eine schmerzhafte und
ekelerregende Erfahrung. Nina denkt, dass sie das falsche Kind bekommen hat, da sie nichts
für es empfindet. Es ist nicht der niedliche Lasse, sondern der dicke, plumpe und hässliche
Felix-Otto: Otto nach Lennarts Vater und Felix, weil er glücklich sein soll.

Nina wohnt weiterhin in der Hausgemeinschaft, obwohl das Haus renoviert werden soll und
alle anderen ausgezogen sind. In ihrer Wohnung stapelt sich die Post, die sie nicht öffnet, und
sie ignoriert die Rufe des Vermieters draußen. Eine ihrer Mitbewohnerinnen, Sanne, versucht,
mit ihr Kontakt aufzunehmen, aber Nina antwortet nicht. Felix schreit und weint, und Nina
beginnt, Kopfhörer zu tragen. Sie geht zu Babykursen und zu einem Mutter-Café aber fühlt sich
nur von glücklichen Müttern und ihren Männern umgeben.

Eines Tages kommt Nina mit Felix zu einer von Lennarts Vorlesungen und er bittet sie, dies
nicht mehr zu tun. Er kommt jedoch zu ihrer Wohnung und versucht, eine Beziehung mit Felix
zu haben. Er gibt auch vor, eine Beziehung mit Nina zu haben, aber nur als eine
Jugendamtsmitarbeiterin zu Besuch vorbeikommt. Nina versucht, Lennart in ihrer Wohnung zu

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behalten, indem sie vorgibt, dass Felix krank sei. Sie schlafen einmal miteinander und Nina
redet sich ein, dass sie damit ihre Familie mit Lennart und Felix rettet. Sie ist davon überzeugt,
dass sie bei Lennart einziehen wird. Nina findet jedoch heraus, dass Lennart wieder mit seiner
Ex-Freundin Puck zusammen ist. Sie schickt ein Foto von Felix und Lennart an Puck und
Lennart bricht jeglichen Kontakt zu Nina ab. Nina folgt dann Lennart zu seinem Haus und Puck
sagt ihr, dass sie die Polizei rufen wird, wenn sie nicht geht.

Nina gerät immer mehr in die Isolation und die Einsamkeit. Sie wird Stammkundin in einem
Muttercafé aber wird beim Stehlen erwischt. Die Besitzerin bittet sie, nicht wiederzukommen.
Nina zahlt für einen Babykurs, obwohl sie weder Arbeit noch Geld für Lebensmittel hat. Sie
trifft einige feiernde Männer vor ihrem Gebäude, die ihr Drogen geben, und Nina empfindet
zum ersten Mal Liebe für ihr Kind. Sie nennt es wieder Lasse, aber wenn die Droge nachlässt,
ist es wieder Felix. Sie schickt Sanne ein süßes Bild eines Kleinkindes von Google und gibt
vor, dass es Felix sei. Eines Tages geht sie in eine Klinik und bittet um Hilfe, weil Felix viel
weint. Das Personal erklärt ihr, dass es normal ist, Felix sei nur quengelig. Nina fragt andere
Mütter online, ob sie sich manchmal wünschen, weit weg von ihrem Kind zu sein, wenn es
schreit. Die Antworten beurteilen sie als schlechte Mutter und sie haben Mitleid mit ihrem Kind.

Nina ruft Lennarts Mutter an, die sie bittet, nicht mehr anzurufen. Sie enthüllt, dass Lennart und
seine Freundin ein Kind adoptieren werden. Nina hat einen Wutausbruch, bei dem sie Felix
sagt, dass sein Vater ihn nicht wolle und sie auch nicht, und dass er ein Fehler sei. Sie schüttelt
ihn so stark, dass er stirbt, aber das wird erst später angedeutet, als Nina bemerkt, dass Felix
nicht mehr weint und schlecht riecht. Nina denkt, dass sie neu anfangen können, und sie
kümmert sich weiter um Felix, als ob er noch am Leben wäre. Sie geht mit ihm in ihrem
Kinderwagen spazieren und sagt den Leuten, die sie trifft, dass ihr kleiner Engel tief schläft.

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6. Analyse

Alle Seitangaben beziehen sich auf den Roman Lasse von Verena Friederike Hasel (2015),
sofern nicht anders angegeben ist. Die Analyse beginnt mit einem Überblick, besonders auf die
Darstellung von Nina, und wird sich dann grob an der chronologischen Reihenfolge der
Handlung orientieren. Danach folgt eine Analyse der Frage, ob Ninas Gefühle eher als
Ambivalenz oder als postnatale Depression wie auch als Bedauern interpretiert werden könnten.
Abschließend werde ich analysieren, was der Roman über Mutterschaft und Bedauern zu sagen
scheint.

6.1 Nina

Nina ist die Protagonistin und das Subjekt der Geschichte; alle anderen sind Objekte, deren
Gefühle und Gedanken durch Ninas Perspektive nur angedeutet werden. Alles ist aus Ninas
Ich-Perspektive und mit ihrer unzuverlässigen Erzählung geschrieben, was dem Leser das
Gefühl geben kann, im Kopf einer Person gefangen zu sein, die langsam außer Kontrolle gerät;
eine Person, die am Ende nicht einmal zu begreifen scheint, dass sie ihr Kind getötet hat. Durch
diese Erzähltechnik wirkt der Roman wie eine Fallstudie einer Verbrecherin. Die Autorin hat
forensische Psychologie studiert und bevor sie diesen Roman schrieb, recherchierte sie Mütter,
die ihre Kinder getötet haben (Massek 2015). Lasse wird jedoch nicht als Kriminalroman
vermarktet und eine spezifische Genrezugehörigkeit lässt sich kaum feststellen.

Der Dialog ist weiterhin nicht vom Rest des Textes getrennt und die Absätze werden nur
manchmal in einzelne Sätze aufgeteilt. Dies könnte das Gefühl verstärken, dass Ninas
Gedanken und die Realität ineinander übergehen und schwer zu trennen sind. Die Sätze sind
oft lang, ungebrochen und in einem informellen, direkten und realistischen Stil geschrieben.
Der Akzent einer Figur wird z. B. so geschrieben, wie er ausgesprochen wird („«Nix für unjut,
abba ick muss«“ (81)). Alliterationen und Wiederholungen werden mehrfach verwendet, um
Gefühle zu unterstreichen („so als müsse die Welt schweigen angesichts dieser
Kinderschönheiten, die allesamt in Zartrosa, Zartblau, Zartgelb gekleidet sind“ (80); „unter
keinen Umständen, nie, nie, nie“ (89)).

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Nach meiner Interpretation wird Nina schon lange vor der Geburt ihr Kind als eine zunehmend
emotionale und physisch instabile Person dargestellt. Dies wird einen erheblichen Einfluss
darauf haben, wie man als Leser die Aussagen des Romans über Mutterschaft und Bedauern
interpretiert, worauf ich später eingehen werde. In einer der ersten Szenen des Romans denkt
Nina unter anderem darüber nach, dass sie aufhören muss zu lügen, mit ihren Professoren zu
schlafen, die Pakete ihrer MitbewohnerInnen zu öffnen und das Tagebuch Sannes zu lesen
(„Und ich bin noch gar nicht zu den wirklich wichtigen, wirklich schlimmen Sachen
gekommen“ (14)). Schon an dieser Stelle erhält der Leser wichtiger Informationen über Nina,
die sich im Laufe des Romans bestätigen werden: sie belügt mit Leichtigkeit alle, auch sich
selbst, sie zieht die Fantasie der Realität vor, und sie ist von anderen Menschen isoliert. Anstatt
mit den Menschen in ihrer Umgebung zu sprechen, dringt sie in deren Privatsphäre ein, um sie
kennenzulernen. Sie durchsucht Lennarts persönliche Sachen, wenn er nicht zu Hause ist, um
mehr über seine Familie zu erfahren (21). Wenn sie die Sachen anderer Leute nicht durchsuchen
kann, wendet sie sich an das Internet, z. B. als Lennart zu seinen Eltern reist und Nina ihm
online so genau wie möglich verfolgt (32–33).

Es gibt außerdem keinen Hinweis auf eine enge, liebevolle romantische oder nicht-romantische
Beziehung in Ninas Vergangenheit oder im Verlauf des Romans. Ihr Sexleben vor Lennart
scheint hauptsächlich aus zufälligen Begegnungen mit namenlosen älteren Männern zu
bestehen, z. B. der verheiratete Vertrauenslehrer, der ihre Affäre beendet hat, als Nina bei ihm
zu Hause anruft: „getroffen haben wir uns danach nie wieder, obwohl ich etliche Nachmittage
in dem kleinen Hotel gewartet habe, das er einmal nach der Schule für uns ausgesucht hatte“
(41). Im Laufe des Romans wird auch allmählich deutlich, während sich die dramatische
Spannung zum gewaltsamen Ende hin steigert, dass Nina keine Familie hat und keine gute
Erziehung hatte. Ihre Mutter wird so beschrieben, dass sie „gute“ und „schlechte“ Phasen
hatten, was auf Depressionen schließen lässt, und sich kaum um Nina kümmern konnte: „denn
da war die gute Phase meine Mutter vorbei und es fing wieder eine schlechte an, in der sie
tagsüber nicht mal mehr schimpfte, sondern gar nichts sagte, abends verschwand und nachts,
wenn ich aufwachte, an meinem Bett saß, mich ansah und dabei rauchte“ (145). Gegen Ende
des Romans wird es bestätigt, dass sie sich umgebracht hat (154). Wir als Leser erfahren, dass
Nina erst nach dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater erfuhr, dass er sich mit ihr verabredete,
aber beschloss zu gehen, ohne mit ihr zu sprechen: „es sei schön, mich mal zu sehen, aber mehr
sei ihm leider nicht möglich, ich würde das bestimmt verstehen“ (155). All dies zeichnet Nina

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als eine Person, die lange vor der Schwangerschaft rief für einen emotionalen oder mentalen
Zusammenbruch ist.

6.2 Lennart

Der allererste Satz des Romans lautet: „Das erste Mal begegne ich Lennart im Krankenhaus“
(5). Es ist, als würde Nina erst durch die Begegnung mit diesem Mann als Person entstehen.
Dies deutet darauf hin, dass Nina glaubt, dass Lennart sie zu einem neuen Menschen machen
wird: „dann kann es sogar sein, dass ich bald nicht mehr die ewige alte Nina bin, sondern eine
neue – die, die Lennart «meine Freundin» nennt“ (41). Es ist nicht klar, warum Nina sich gerade
an Lennart binden will, aber seine Stellung als Arzt wird im ersten Satz deutlich betont. Er ist
vielleicht das Klischee eines stabilen, zuverlässigen Mannes mit einer hochrangingen Arbeit;
jemand, mit dem es für eine Frau in einer heteronormativen Gesellschaft als ideal angesehen
würde, eine Familie zu haben. Wie ich im Kapitel über den theoretischen Rahmen erwähnt
habe, wird diese Familienkonstellation in einer Gesellschaft, in der Heterosexualität die Norm
ist, in Allgemeinen als die ideale Lebensform angesehen (Thannhäuser 2019; Mundlos
2016:31). Im ersten Absatz denkt Nina, als Lennart sich darauf vorbereitet, ihren Blinddarm zu
entfernen, dass sich kein Mann, mit dem sie bisher geschlafen hat, für das interessiert hat, was
in ihrem Inneren weh tut (5). Wie der Leser jedoch sehen wird, hat Lennart nicht die Absicht,
Ninas Probleme zu lösen, abgesehen von ihrem schmerzenden Blinddarm.

Nina denkt nicht von Anfang an an Kinder, aber scheint auf eine romantische Zukunft mit
Lennart fixiert zu sein, obwohl Lennarts indirekt geschilderte Handlungen auf eine entfernte,
lockere sexuelle Beziehung hindeuten. Lennart antwortet nur langsam auf ihre Kurznachrichten
(26); er deutet an, dass sie gleich nach dem Sex gehen sollte (19), und hält in der Öffentlichkeit
nicht um ihre Hand an (20). Nina versteht, dass Lennart nur daran interessiert ist, Sex mit ihr
zu haben, und dass er seiner Ex-Freundin Puck viel näher steht als ihr: „von mir weiß er nur,
dass ich ein Loch zwischen den Beinen und immer Zeit für ihn habe“ (22). Sie versucht jedoch
weiterhin, ihn durch Sex an sich zu binden, obwohl es ihr nicht gefällt. Während eines
Wutausbruchs gesteht sie, dass sie sowohl den Sex mit Lennart als auch Gespräche mit ihm
„stinklangweilig“ findet (31). Anstatt dies als den Anfang vom Ende zu sehen, denkt Nina
darüber nach, dass „wir jetzt endlich anfangen können, glücklich miteinander zu sein“ (31), was
darauf hindeutet, wie distanziert sie von der Realität ist. Lennart ist für Nina eher eine

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romantische Vorstellung als eine reale Person: „Von Anfang an habe ich mir Lennart in meinem
Leben gedacht, habe mehr Zeit mit ihm in meinem Kopf als in echt verbracht“ (153).

Donath argumentiert, dass es für Väter gesellschaftlich akzeptabel ist, abwesend zu sein
(2017:128). Es ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum Väter seltener als Mütter ihr
Bedauern über ihre Kinder äußern und für ihre Abwesenheit „geächtet oder kritisiert“ werden
(Mundlos 2016:19). Ninas Vater schließt Nina einfach aus seinem Leben aus und Lennart bricht
alle Verbindungen zu Nina und seinem Sohn ab. Vor der Geburt hat Lennart jedoch seine
Haltung sehr deutlich gemacht und Ninas Entscheidung, das Kind zu behalten, wird nach
meiner Interpretation nicht als vernünftig oder realitätsnah dargestellt. Lennarts Versuch, etwas
Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen, wird auch von Nina mit noch
unangemessenerem und beunruhigendem Verhalten beantwortet, z. B. als sie ihn zu seinem
Haus verfolgt und sich in die Beziehung zu seiner Freundin einmischt.

6.3 Wie aus Lasse Felix wird

Ninas Schwangerschaft wird abrupt enthüllt, und wir als Leser erfahren nichts über die
Umstände, die zu ihrer Schwangerschaft geführt haben. Die erste Person, die Nina von ihrer
Schwangerschaft erzählt, ist eine Verkäuferin in einem Laden, eine Fremde, was zeigt, wie
einsam Nina ist. Als Lennart sie anruft, lügt sie, dass er ihr Ehemann sei: „ungefähr so, denke
ich, verhalten sich Ehefrauen, wenn ihre Männer anrufen“ (37). Hier hält sie das
heteronormative Ideal aufrecht: sie möchte, dass anderen denken, dass sie ihr Kind in einer
festen, langfristigen Liebesbeziehung mit einem Mann bekommen wird.

Nina zieht einen Schwangerschaftsabbruch nicht in Erwägung, obwohl Lennart davon ausgeht,
einen Termin für sie bucht und schließlich wütend darauf besteht, dass sie es durchzieht. In
dieser letzten Szene summt Nina ein Lied für ihren schwangeren Bauch, anstatt Lennart
zuzuhören (50). Sie scheint zu versuchen, Lennart mit einem Kind an sich zu binden, wie sie
versucht hat, ihn mit Sex an sich zu binden. Sie sieht auch das Kind als jemanden, das sie
endlich nicht verlassen kann: „denn es gibt doch nichts Schöneres als jemanden, von dem du
weißt, dass er zu dir gehört und du zu ihm und nichts und niemand auf der Welt euch trennen
kann“ (85). Ninas Kinderwunsch ist deshalb wahrscheinlich ein „Ersatzbedürfnis“ für ihr
Wunsch nach Liebe, die ihr in ihrem Leben gefehlt hat (Mundlos 2016:204). Sie liest eine von
ihrer Mutter unterstrichene Buchpassage, in der das Kinderkriegen als „Schlacht“ bezeichnet

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wird, und sie denkt, dass sie sich an dieser Schlacht beteiligen möchte (43). Sie denkt nicht
darüber nach, warum ihre vernachlässigende, wahrscheinlich depressive Mutter das
Kinderkriegen als ‚Schlacht‘ ansah. Es wird vielleicht hier angedeutet, dass Ninas Mutter es
bereute, Mutter geworden zu sein, aber es wurde so wenig über sie geschrieben, dass es
schwierig ist, dies zu bestätigen (145, 154).

In diesem Teil des Romans ist Nina in romantische Gedanken über ihr zukünftiges Leben als
Mutter versunken. Sie nennt ihr Kind Lasse in Anspielung auf die gemütliche Bullerbü-
Familienidylle in den Kinderbüchern von Astrid Lindgren (Massek 2015). Diese Anspielung
auf Kindermärchen unterstreicht, wie unrealistisch die Muttermythen sind, die Nina
verinnerlicht hat. Sie genießt gleichzeitig den Status, den ihr schwangerer Bauch ihr in einer
heteronormativen, pronatalistischen Gesellschaft verleiht, da zufällige Leute netter und
entgegenkommender zu ihr sind (43). Sie hat zum ersten Mal das Gefühl, von anderen Frauen
akzeptiert zu sein, und dass es eine Verbindung zwischen ihnen gibt: „als sei ich kraft meines
Bauches    aufgenommen      in   ihre   Welt“ (43).   Dies   scheint mit der      Vorstellung
zusammenzuhängen, dass die Mutterschaft eine Frau ‚normal‘ und auch ‚weiblich‘ macht,
obwohl nicht alle Frauen Mütter werden können (Donath 2017:103–104). Es ist ein Beispiel
für Judith Butlers Theorie über das Geschlecht als etwas, das durch bestimmte Handlungen
vollzogen wird (1999:43).

Frauen auf der Straße schauen „zum ersten Mal … mit Wohlwollen“ auf Nina (43), und es wird
damit angedeutet, dass Frauen Nina wegen ihrer Schönheit davor als Bedrohung und als
Konkurrenz betrachtet haben. Nach der Geburt bemerkt auch Nina, wie Frauen sie ansehen,
wenn ihr Kind schreit, und wie Männer sie ansehen, wenn ihr Kind nicht schreit (149). Nina
erwähnt, dass ihre enge Kleidung über ihrem schwangeren Bauch den Männern zeigt, dass ihr
„Körper nicht bloß zum Sex was taugt, sondern auch Leben schenken kann“ (43). Später
‚bezahlt‘ sie jedoch einen Mann für seine Freundlichkeit, indem sie ihm einen guten Blick auf
ihren Körper gibt (106). Es gibt hier eine Diskrepanz zwischen der Frau als Sexualobjekt und
der Frau als Mutter. Die Männer im Roman schätzen Nina hauptsächlich aufgrund ihrer
Schönheit, während die Frauen sie als Mutter schätzen. Es ist ein Beispiel dafür, dass Kinder
als ‚Frauensache‘ angesehen wird (Göbel 2016:99, 122), die Männer vielleicht ausschließt oder
für die sich Männer nicht so sehr interessieren. Es könnte auch die Kluft zwischen der
männlichen öffentlichen Sphäre der ‚verfügbaren‘ Frauen und der weiblichen privaten Sphäre
der Mütter symbolisieren (Donath 2017:30–32; Mundlos 2016:58–59).

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Die Geburt ist der Moment, in dem Ninas falsche romantische Vorstellungen von der
Mutterschaft zerbrechen werden. Die ‚Schlacht‘, von dem sie phantasiert hat, wird fast genau
wie eine Schlacht, wie eine körperliche Verwüstung dargestellt. Ninas Körper scheint nicht zu
wissen, dass „eine Schwangerschaft keine Krankheit sei“ (165). Sie denkt darüber nach, als ein
männlicher Arzt sie sieht, wie ihr attraktiver Körper durch die Schwangerschaft geschädigt
wurde (71). Die Geburt wird auch mit einem Toilettengang verglichen (71). Von nun an ist
Ninas Körper ein Fremder, wenn sie plötzlich auf dem Boden blutet (105), oder durch ihre
Pullover laktiert (97). Nina empfindet keine Liebe für ihr Kind und glaubt sogar, dass es mit
jemand anderem verwechselt wurde (74). Er ist nicht der niedliche Lasse ihrer Fantasien, es ist
stattdessen Felix, ein Name, den sie ihm gibt, „weil er glücklich sein soll“ (77), obwohl er „nicht
süß, eher hässlich, plump und schwer“ ist (74). Von nun an kann sie schwangere Frauen mit
ihrem „glücklichen Bauch“ nicht mehr in die Augen sehen, weil sie „nichts mehr gemein“
haben (93).

Nina scheint völlig unvorbereitet auf die negativen Aspekte der Mutterschaft zu sein, obwohl
sie so viel über Mutterschaft gelesen hat. Dies könnte dafür sprechen, dass negative Aspekte in
Allgemeinen als alltäglicher Teil der Mutterschaft nicht angesprochen werden. Hochschilds
feeling rules, die vorschreiben, welche Gefühle angemessen sind, scheinen auf diese Weise die
Muttermythen zu schützen und halten Mütter davon ab, ehrlich zu sein, wenn sie Probleme
haben (1990:122). Wie Adrienne Rich schreibt, gibt es auch einen Unterschied zwischen den
tatsächlichen Erfahrungen der Mütter und der Ideologie/Institution der Mutterschaft mit ihren
hohen Standards (1976:225). Ninas relativ kindliche Reaktion auf das Aussehen ihres Kindes
könnte auch für ihre Naivität und ihr mangelnder Bezug zur Realität sprechen.

6.4 Bedauern, Ambivalenz oder postnatale Depression?

Ninas Gefühle zur Mutterschaft sind nach meiner Interpretation hauptsächlich eine Folge ihres
allgemeinen psychischen Zustands vor der Geburt. Die Geburt bringt die Probleme hervor, die
bereits vorhanden waren, z. B. dass sie ihre Unsicherheiten auf andere Leute projiziert. Sie redet
sich ein, dass ein neugeborenes Kleinkind sie auf eine bestimmte Weise ansieht, was dem Leser
andeutet, dass etwas nicht stimmt: „er sieht mich an wie zuvor, prüfend und hart und ohne
Entgegenkommen“ (84). Sie zeigt Anzeichnen von Desinteresse an ihrem täglichen Leben und
mangelnder Energie, aber es scheint andere Erklärungen als die Symptome einer postnatalen

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Depression zu geben. Sie geht nicht mehr zu den Kursen oder in das Café, weil sie es nicht
leisten kann oder weil sie verbannt wurde. Ihr mangelnder Ehrgeiz in Bezug auf ihr Studium
hängt auch nicht mit der Geburt zusammen, sondern ist von Anbeginn des Romans dargestellt.
Wenn sie ambivalent gegenüber ihrem Kind wäre, würden ihre negativen Gefühle sich mit
positiven Gefühlen abwechseln, wie Almond schreibt (2010:2). Nina fühlt jedoch nur Liebe
gegenüber Felix, wenn sie unter Drogeneinfluss steht (174). Es gibt Szenen, die so interpretiert
werden könnten, dass Nina eine Ambivalenz gegenüber der Mutterschaft an sich zeigt: sie
glaubt, dass ihre Probleme gelöst werden, wenn sie mit Lennart zusammenzieht (127), und an
einer Stelle wünscht sie sich das Leben einer anderen Mutter (166). Donath schreibt jedoch,
dass mütterliches Bedauern „may involve ambivalent feelings about motherhood“ (2017:xviii).

Wir sehen als Leser nicht, wie Nina bewusst die Vor- und Nachteile der Mutterschaft abwägt
und zu dem Schluss kommt, dass die Nachteile überwiegen. Ninas negative Gefühle gegenüber
ihrer Mutterschaft verstärken sich jedoch, was für ein zunehmendes Bedauern spricht. Es gibt
drei Szenen, die nah beieinander liegen und darauf hindeuten, dass Nina sich wünscht, sie
könnte der Zeit zurückdrehen: sie beginnt, über ihr altes Leben zu erzählen und vermisst es:
„Und je mehr ich erzähle, desto stärker wird meine Sehnsucht nach diesem Leben, das sich
jetzt, wo es vorbei ist und ich nur noch davon rede, so gut anhört, wie es sich niemals angefühlt
hat“ (172). Sie fragt andere Mütter online, ob sie sich wünschen, weit weg von ihren Kindern
zu sein: „»hallo, liebe netzmamas. kennt ihr das«, schreibe ich, »euer kind schreit und ihr
wünscht euch ganz weit weg?«“ [kleine Buchstaben im Original] (179). Sie fängt an, sich zu
fürchten, wenn Felix wach ist: „und ich mir, wenn er wach ist, immer nur wünsche, dass er
schläft, und mich, wenn er dann schläft, ständig vor dem Moment fürchte, in dem er wieder
wach wird“ (185). Schließlich hat Nina einen Wutausbruch, in dem sie sagt, dass Felix ein
Fehler sei (190). In dieser letzten Szene tötet sie Felix, was das Vorurteil für den Leser bestätigt
könnte, dass Bedauern mit Gefahr und psychischen Erkrankungen zusammenhängt (Donath
2017:6), weil Nina den toten Felix sofort so behandelt, als wäre er noch am Leben.

6.5 Was sagt der Roman über Mutterschaft und
Bedauern aus?

Im Roman wird eine indirekte Gesellschaftskritik darüber formuliert, wie die Muttermythen
falsche Erwartungen wecken. Nina stellt sich vor, dass sie von verkörperten Muttermythen

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umgeben ist: Eltern spielen fröhlich mit ihren Kindern auf der Straße (169), glückliche Mütter
posten online über ihre süßen Kinder (91), und sogar ein zufälliger Taxifahrer kann mit Felix
und anderen Kindern besser umgehen als sie (81). Nina sieht aber nur Fassaden und kurze
Einblicke in die Elternschaft anderer Menschen. Sie weiß nicht, was hinter den Kulissen vor
sich geht. Diese Eltern halten wahrscheinlich in der Öffentlichkeit ein Bild aufrecht, das dem
Ideal entspricht. Lennart schützt auch dieses Ideal, wenn er der Jugendamtsmitarbeiterin
vorspielt, dass er eine Liebesbeziehung mit Nina hat (110–111). Donath schreibt, dass obwohl
das Ideal für die meisten Eltern unerreichbar ist, wird es von ihnen erwartet, dass sie danach
streben sollen: “the average has paradoxically become an attainable ideal; the ideal is the norm”
(2017:200).

Die Mütter im Roman fördern die Muttermythen und ihr Ideal, indem sie sich gegenseitig
urteilen, kritisieren und in Konkurrenz zueinander bleiben. Der Roman thematisiert den Mangel
an Solidarität zwischen Müttern, der in den Interviews von Christina Mundlos mit bereuenden
Müttern deutlich zutage tritt (2016:137–138). Diese Konkurrenz bezieht sich auch auf Donaths
Vergleich zwischen Mutterschaft und dem neoliberalen, kapitalistischen Fortschrittsstreben
(2017:218). Nina fühlt sich beurteilt, als sie erwähnt, dass Lennart eine Abtreibung wollte: „an
einem Tisch mit dem Unglück will keiner sitzen“ (164). Dann beurteilt sie selbst eine einsame
Mutter, die versucht, sich mit ihr anzufreunden (194–195). Sogar als Nina Orangensaft trinkt,
wird sie von anderen Müttern beurteilt (93). Sie verstößt auch gegen die feeling rules als sie
online erzählt, dass sie sich wünscht, weit weg von Felix zu sein: „das ist doch total gegen die
Natur!“ (184). Es ist ein Beispiel für die Regulierung der mütterlichen Gefühle, die Donath in
ihrer Studie beschreibt (2017:35). Laut Donath ist es schwierig, Mütter zu finden, die immer so
denken, fühlen oder handeln, wie es eine ‚gute‘ Mutter tun sollte: „Thus, numerous women are
trapped between a self-representation that matches their experience and one that is socially
acceptable“ (ebd.:184–185).

Dies kann mit der Diskrepanz im Roman zwischen der essentialistisch verankerten Mutterschaft
und die Mutterschaft als sozialen Konstrukt in Verbindung gebracht werden (Farhan 2009:10).
Nina glaubt, dass ein biologisches Kind mit Lennart ihn an sie binden wird, aber es ist Lennart
wichtiger, ein Kind mit Puck, die er liebt, zu adoptieren, als seine Gene zu verbreiten. Nina
denkt auch, dass ihr Körper „weiß, was zu tun ist“ (44), und dass in ihr „eine geheime Macht
wirksam“ ist (51), was die Mutterschaft als natürliche Kraft und Mutterinstinkt mystifiziert.
Gleichzeitig informiert sich Nina jedoch ständig über die Mutterschaft. Als erste Reaktion auf
ihre Schwangerschaft kauft sie ein Buch mit dem Titel Das glücklichste Kind der Welt (35).
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Alles, was sie für ihr Kind kauft, soll außerdem ökologisch und plastikfrei sein, um mit den
aktuellen Trends Schritt zu halten (59).

Hier sehen wir wieder den Druck, den die Muttermythen auf Frauen ausübt: man muss sich
informiert zu bleiben, sich über aktuelle Trends auf dem Laufenden zu halten und immer danach
zu streben, eine bessere Mutter zu sein. Das Leben mit Kindern wird fast als ein Minenfeld
dargestellt: „eine ganze Welt voller Gefahren, von denen ich bisher nichts ahnte“ (96). Als
Mutter soll man deshalb ständig wachsam sein, sonst könnte das Kind z. B. in 20 Jahren
depressiv werden: „dass sich Stress in der Schwangerschaft noch zwanzig Jahre später bei den
Kindern zeige, es gebe da beispielweise Zusammenhänge mit einer erhöhten Neigung zu
Depressionen“ (58). Wenn Nina das Gefühl hat, bei der Mutterschaft zu versagen, denkt sie:
„Aber ich hatte doch Übung, neun Monate lang, zählt das denn gar nichts?“ (79). Wie Simone
de Beauvoir schreibt, scheint es keinen natürlichen und obligatorischen Mutterinstinkt zu geben
(2002:621), der einer Mutter vorschreibt, was sie richtig machen sollte. Die Mutterschaft
scheint stattdessen ständig geübt und ausgeführt werden zu müssen, was eher der Theorie von
Judith Butler über die Performativität der Geschlechterrollen entspricht (1999:43). Die Idee der
Mutterschaft und des Mutterinstinkts als soziales Konstrukt untergräbt die Vorstellung, dass es
in der Natur aller Frauen liegt, Mutter zu werden, und dass Frauen ihre Mutterschaft nicht
bereuen können (Mundlos 2016:50–51).

Nach der Geburt ändert sich Ninas Einstellung zur Mutterschaft erheblich, was dadurch
symbolisiert wird, dass sie den Namen ihres Kindes ändert. Ich argumentiere jedoch dafür, dass
sich Nina als Person nicht ändert. Ninas Kämpfe mit der Mutterschaft scheinen daher
hauptsächlich in ihrem individuellen Fall und der Psychologie verankert zu sein, nicht wie in
der Studie Donaths in der Gesellschaft und in der Soziologie (Göbel 2016:24). Ihre
Lebensumstände verschlechtern sich nicht hauptsächlich, weil die Gesellschaft ihr nicht hilft,
sondern weil sie in einer Fantasiewelt lebt. Sie lässt die Post sich stapeln und antwortet nicht
auf den Brief ihrer Mitbewohnerin, weil sie dadurch gezwungen wäre, sich der Realität ins
Auge zu sehen (100–101). Sie gibt das wenige Geld, das sie hat, für z. B. Babymassage aus und
versucht, vor anderen Müttern die Muttermythen aufrechtzuhalten, anstatt das Geld für
Lebensmittel auszugeben (161). Als sie in einer Klinik Hilfe sucht, sagt sie nur, dass Felix viel
weint (182). Sie macht keine Versuche, sich eine Arbeit zu suchen oder eine neue Wohnung zu
finden, weil sie sich ganz darauf verlässt, dass Lennart seine Meinung ändern wird, obwohl
nichts dafür spricht: „ich werde bald zu Lennart ziehen“ (127).

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