"Judenreine Badeorte" und antisemitenfreie Zonen Eine Reise nach Karlsbad um 1900
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„Judenreine Badeorte“ und antisemitenfreie Zonen Eine Reise nach Karlsbad um 1900 Mirjam Triendl „Ankunft. Der Fremde kommt mit der Bahn in Karlsbad an, besteigt einen Wagen oder den Bahnomnibus und gelangt so in einigen Minuten in die Stadt, wo er, falls noch keine Wohnung für ihn in Bereitschaft gehalten wird, in einem Hotel sein Absteigquartier nimmt und sich auf die Suche nach einer, seinen Ansprüchen und Verhältnissen entsprechenden, Wohnung begibt.“ 1 Auch heute, beinahe 100 Jahre nach dem Erscheinen von Franz Zatloukals „praktischem Handbuch für Karlsbader Kurgäste“ nimmt der Reisende, gerade angekommen, ein Taxi oder den Bus der Linie 1 und fährt die kurze Strecke zu einem der zahlreichen Hotels, vom Bahnhof Karlovy Vary, der die durchschnittliche Bezirksstadt im Nordwesten der Tschechischen Republik mit ihrem berühmten Kurbezirk verbindet. In einem engen, langgezogenen Tal an der Tepl, von waldreichen Hügeln umgeben, öffnet sich dem staunenden Ankommenden ein wild-eklektisches Durcheinander von historistischen Promenaden, Wandelhallen und Prunkbauten: mehrstöckig, großstädtisch, bonbonfarben - ein „Stelldichein der Sahnetorten.“, so nannte der Architekt Le Corbusier den Ort anlässlich eines Besuches. 2 Weitab vom Alltag der nahen Bezirksstadt, von Armenhäusern und Fabriken, wurde hier um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Paradies für jene erfunden, die es sich leisten konnten und dessen mythenumwobener Klang noch heute leise an unser Ohr dringt. In Karlsbad, so das „praktische Handbuch“ weiter, erwarteten den müden Reisenden nicht nur Hotels aller Preisklassen und modernst eingerichtete Wohnungen, zahlreiche Restaurants und Kaffeehäuser, in denen der berühmte Karlsbader Kaffee mit zartem Feingebäck serviert wurde, sondern überhaupt alle Annehmlichkeiten, die eine solche Musterstadt moderner Dienstleistungskultur bieten konnte. 3 Zeitgenössische Beschreibungen von Karlsbad als Dieser Text entstand aus dem Forschungsprojekt „Jews in a Multi-Ethnic Network“, das gefördert von der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (GIF) und der Stadt Reinheim im Rahmen der Universität München unter Leitung von Professor Michael Brenner durchgeführt wurde. Ich danke Noam Zadoff für Kritik, Anregung und Unterstützung beim Schreiben dieses Textes. 1 Franz Zatloukal: Karlsbad und seine therapeutische Bedeutung. Ein praktisches Handbuch für Karlsbader Kurgäste, Karlsbad 1908, 5. 2 So soll Le Corbusier die Stadt einem Werbeprospekt zufolge genannt haben. Karlovy Vary – Carlsbad. Infocentrum Města, Karlovy Vary 2002. 3 Zatloukal, Karlsbad, 4. (wie Anm. 1). 1
„‚paradiesische‘ Konstruktion“ 4 versprachen die Illusion eines sorgenfreien Lebens auf Zeit als Ware für die Wohlhabenden und blendeten soziale, psychische und politische Konflikte aus. In einer Stadt im Kleinformat, wo der Schritt des gemächlichen „Schlenderns“ noch das Tempo bestimmte und das Promenieren kein Ziel kannte, als den Selbstzweck, vermittelten die Ordnung der gesund machenden Landschaftsgärten und eines für alle identischen Tagesablaufs Sicherheit und Struktur. Als Treffpunkt der saisonalen Migration einer internationalen Oberschicht, die nicht Geld verdienen, sondern ausgeben wollte, lag Karlsbad in seiner Blütezeit an den Hauptverbindungslinien zwischen West- und Osteuropa: Nicht nur der Orientexpress passierte die Stadt auf seinem Weg von Oostende nach Istanbul - tägliche Direktverbindungen von Karlsbad oder Eger brachten Reisende aller (Bahn)Klassen nach Budapest, Prag, Warschau, Berlin, Wien, Paris, London, München, Zürich, Breslau und Oberschlesien. Seit den 20er Jahren wurden von dem kleinen Flughafen Espenthor auch tägliche Flüge nach Prag und Marienbad angeboten. 5 Im folgenden Text steht Karlsbad nicht nur stellvertretend für das ganze westböhmische Bäderdreieck mit den nahen „Schwesterstädten“ Marienbad und Franzensbad, die, wenn auch anders in spezifischen Charakteristika, doch in ihrer symbolischen Bedeutung sehr ähnlich waren und deshalb nicht immer extra genannt werden. Karlsbad steht darüber hinaus als Synonym für einen exzeptionellen und in dieser Art unvergleichlichen Ort im Grenzland zwischen West- und Osteuropa. Karlsbad repräsentierte während seiner Blütezeit zur Jahrhundertwende nicht nur einen großbürgerlichen-bürgerlichen Sehnsuchtsort und ein Ziel beginnenden Massentourismus’, es verkörperte auch etwas Außergewöhnliches: Auf Grund seiner Lage „zwischen“ West- und Osteuropa entwickelte sich der Ort zu einem saisonalen Anziehungspunkt für jüdische Kurgäste unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds. Im Gegensatz zu dem zunehmend antisemitischen Deutschnationalismus vieler Badeorte an Nord- und Ostsee, wo jüdische Kurgäste körperlich angegriffen und des Ortes verwiesen wurden, oder dem gewalttätigem Antisemitismus in zahlreichen Bädern Polens und Galiziens, 6 versprach das westböhmische Bäderdreieck Jüdinnen und Juden relative Sicherheit. 4 Burkhard Fuhs: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700 – 1900, Hildesheim Zürich New York 1992, 460. 5 Wissenswertes für den Kurgast, hrsg. vom Kur- und Verkehrsverein Karlsbad, Karlsbad [--], 38. u. 56.; Gustav O. Wack-Herget: Karlsbad. Wie es die wenigsten kennen, Karlsbad München 1933, 4. 6 Vgl. zu den deutschen Bädern: Frank Bajohr: “Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2003, 151. 2
Auch, aber nicht nur aus diesem Gegensatz heraus entstand die weitverbreitete Imagination von Karlsbad, Marienbad und Franzensbad als jüdischen Orten – von unterschiedlichen politischen Seiten, positiv wie negativ konnotiert. 7 „Israel ist in aufsteigender Bewegung.“, kommentierte der Publizist und führende Zionist der Bukowina, Mayer Ebner, die Situation in Marienbad. „Wörtlich genommen. Vor Jahren war es ein Volk der Ebene. Mit wachsender Seehöhe verringerte sich die Zahl der jüdischen Kurgäste. [...] Auf Nimrod, Jägerheim, Wolfstein, Pfarrsäuerling, Podhorn usw. konnten die anderen rechnen, mehr [oder] weniger unter sich zu sein. Es war einmal. Es ist anders geworden. Die jüdischen Kurgäste verlassen die Ebene und steigen auf die Berge. Bald da, bald dort sieht man aus dem Waldesschatten treten und den Höhen zustreben Juden in langen Gewändern [...]“[zitat ende] Tatsächlich kam eine außergewöhnlich hohe Zahl von jüdischen Kurgästen, Patienten und Patientinnen jeden Sommer aufs Neue hierher: Nicht nur das assimilierte west- und osteuropäische Bürgertum fuhr ins Bad, auch bei wohlhabenden chassidischen Rebbes und ihren Anhängern waren Karlsbad und Marienbad ungemein beliebt. In ihrem Gefolge kam jährlich eine große Anzahl Bedürftiger aus den östlichen Ländern der Donaumonarchie, die von der Hoffnung auf Unterstützung durch wohlhabende jüdischer Kurgäste angezogen wurden. Einem Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde von Karlsbad zufolge, lag es in ihrer Verantwortung, sich sowohl um diese sogenannten mittellosen Kranken zu kümmern, als auch ihre Präsenz im Kurbezirk zu reglementieren: [zitat]„Die Kunde, dass arme Leute im Sommer in Karlsbad bald mehr, bald weniger Geldunterstützungen erhalten, lockt jährlich eine große Anzahl jüdischer Bettler aus Galizien hierher, die bei der Unmöglichkeit geregelter Kontrolle sehr gut auf ihre Kosten kommen.“ 8 [zitat ende] Aus diesem Grund erweiterte die Kultusgemeinde das in den 1870er Jahren errichtete „Kaiser Franz Josefs- Regierungs-Jubiläums-Hospiz für arme Israeliten“ zur Jahrhundertwende soweit, um nun monatlich [zitat] „150 der Karlsbader Kur Bedürftigen Unterkunft zu gewähren“, in der Hoffnung, damit „die jüdischen Armenverhältnisse in Karlsbad vollständig zu regeln.“ 9[zitat ende] Die lokalen israelitischen Kultusgemeinden waren selbst während des Winters nicht klein, im Sommer jedoch machte die große Zahl der anwesenden Juden und Jüdinnen eine nahezu großstädtische Infrastruktur notwendig: Es gab nicht nur zahlreiche koschere Restaurants, Betstuben und rituelle Bäder, sondern auch ein breites kulturelles Angebot, das von 7 Vgl. dazu: Michael Brenner: Zwischen Marienbad und Norderney: Der Kurort als „Jewish Space“, in: Jüdischer Almanach, Frankfurt am Main 2001, S. 119-139. 8 Festschrift zur 74.Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte. Karlsbad 1902, S. 482f. 9 Festschrift zur 74.Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte. Karlsbad 1902, S. 482f. 3
unterschiedlichen Vereinen getragen wurde. Auch die Synagogen waren für die „Sommergemeinden“ dimensioniert und fielen nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch ihre zentrale Lage und maurische Architektur auf. In der „Jüdischen Bäder- und Kurortezeitung“, einer Beilage der mährischen „Jüdischen Volksstimme“, amüsiert man sich nicht ohne Stolz darüber: „In den westböhmischen Kurorten ist der folgende Scherz populär: ‚Es gibt im Kurort eine Kirche für Katholiken, eine für die Protestanten, eine für die Russen und einen Tempel für die – Kurgäste.’“ 10 Mit den jeweiligen Stadtverwaltungen verband die Israelitischen Kultusgemeinden eine Zweckgemeinschaft, die während der Sommermonate nach außen hin harmonisch funktionierte. In dem Moment jedoch, in dem der letzte Kurgast die herbstliche Stadt verließ, radikalisierte sich die Situation unmittelbar, und die sommers so tolerante Stadt kanalisierte ihren Deutschnationalismus gegen die ansässigen Jüdinnen und Juden. Die „Oesterreichische Wochenschrift“ sprach im Winter 1910 sogar von einer vollständigen „Trennung der Gesellschaft in Christen und Juden“ – und weiter: „Schon bei der Einfahrt in die Stadt Karlsbad sieht man, dass die schöne Kurstadt auch im Winter sich zu vergnügen weiß, denn große Plakate verkünden, dass alle möglichen Vereine große Unterhaltungen, Bälle, Theater usw. veranstalten, die für jeden zugänglich sind, nur für eine Klasse von Menschen nicht, für die .... Juden. Fast sämtliche Vereine von Karlsbad haben die Juden ausgeschlossen und zu keiner ihrer Unterhaltungen haben dieselben Zutritt.“ 11 Bereits um die Jahrhundertwende war das Phänomen des saisonal begrenzten Antisemitismus in den westböhmischen Badeorten sprichwörtlich geworden: Zeitungen wie die Prager „Selbstwehr“, die „Oesterreichische Wochenschrift“ oder die „Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ berichteten in regelmäßigen Abständen über den sogenannten „Winterantisemitismus.“ Die Ambivalenz dieser saisonalen Erfahrung, die auch in anderen Kur- oder Erholungsorten auftrat 12, erreichte hierorts absurde Ausmaße, wie der Humorist Julius Steppenheim formulierte: „Von besonderer Komik ist der Antisemitismus in Karlsbad. Im Sommer freilich haben sie zu viel mit dem Plündern der Fremden zu tun. Wie die Bauern während der Ernte keine Zeit zum Tanzen haben, so hat der Antisemit keine Zeit zum Hetzen [...] Dann wimmelt Karlsbad von Herren ‚von Cohn’, und namentlich in den Läden wird jeder baronisiert, der im Winter wenigstens in Worten verbrannt oder durchgeprügelt worden ist.“ 13 10 Jüdische Bäder- und Kurortezeitung, Nr. 26, 27.6.1929, S. 3. 11 Zitiert nach: Die Selbstwehr 18. 2. 1910, 6. 12 So zum Beispiel in Österreich – vgl. dazu: Robert Kriechbaumer (Hrsg.): Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg, Wien 2002. 13 [1901] Im deutschen Reich, 22 (1916) 266, zitiert nach: Bajohr, Bäderantisemitismus, 150 (wie Anm. 6). 4
Den „Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ zu Folge, lag der Hintergrund für dieses „Zweiseelentum“ in der „alldeutschen Agitation“, welche die Stadtpolitik der Orte dominierte. 14 Im Zentrum des tschechisch-deutschen Nationalitätenkonflikts gelegen, kam es in Karlsbad seit der Jahrhundertwende zu einem Feldzug gegen alles „Tschechische“, Tschechen und Tschechinnen wurden vehement aus Schulen und Arbeitsstellen, von Haus- oder Hotelbesitz hinausgedrängt. Den ansässigen Israelitischen Kultusgemeinden kam in dieser Auseinandersetzung die Rolle des Dritten und des Fremden zu, der selbst außerhalb des nationalen Konflikts stand und ihn mit seiner Anwesenheit in Frage stellte: „In Prag warf man ihnen [den Juden] vor, dass sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, dass sie keine Deutschen seien. [...] Woran sollten sie sich denn halten? [...] Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch.“ 15, beschrieb Theodor Herzl kurz vor der Jahrhundertwende die Situation in Böhmen. Obwohl die Karlsbader Israelitische Kultusgemeinde bereits 1897 mit massivem Antisemitismus konfrontiert worden war - als man zuerst den jüdischen Stadtrat Fleischner aus seiner Position drängte und daraufhin Jüdinnen und Juden aus dem Karlsbader Turnverein ausschloss - erwartete die Stadtverwaltung von ihr regelmäßige nationale Positionierung und Bekenntnisse zum Deutschtum. 16 Als allerdings einmal während der Saison ein Karlsbader Restaurantpächter seiner politischen Meinung Ausdruck verschaffte, reagierte die Bezirkshauptmannschaft Karlsbad sofort: Dem Wirt, der an seinem Lokal Tafeln mit der Aufschrift „Juden haben keinen Zutritt“ angebracht hatte, und für den Fall, dass jüdische Kurgäste trotzdem eintreten sollten, Gläser mit der Aufschrift „Nur für Juden“ bereit hielt, drohte die Behörde mit Konsequenzen. „Der Inhaber eines Gast- und Schankgewerbes“, so hieß es in dem Schreiben, sei „vermöge seiner Konzession gehalten, Speisen und Getränke an Gäste ohne Unterschied der Nationalität und Konfession zu verabreichen [...]“ 17 Wie die „Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ erfreut erklärten, wäre „die Behörde in Karlsbad [...] mit gutem Beispiel vorangegangen.“ 18 Worüber die „Mittheilungen“ allerdings nicht mehr berichteten: Der Wirt ließ daraufhin ein neues Schild an seinem Lokal anbringen: „Nur infolge behördlichen Zwangs werden hier Juden geduldet.“ 19 14 Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 19 (1909) 6, 46. 15 Theodor Herzl: Die entschwundenen Zeiten, Wien 1897, zitiert nach: Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend, Bern 1958, 69. 16 Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift 14 (1897) 47, 1 und 14 (1897) 48, 1 (wie Anm. 10) 17 Mittheilungen 14 (1904) 24, 190, (wie Anm. 15). 18 Mittheilungen 14 (1904) 28, 220, (wie Anm. 15). 19 Deutsch-soziale Blätter (1904), 653, 765, zitiert nach: Bajohr, Bäderantisemitismus, 47 (wie Anm. 6). 5
Obwohl der Nationalitätenkonflikt in Karlsbad sich mit dem Ersten Weltkrieg und der Errichtung der Tschechischen Republik nachhaltig radikalisierte, hielt die Stadt am Erfolg des politikfreien Sommers fest. Karlsbad wurde – im Sinne der Erhaltung der Internationalität des Kurbezirks - zur deutschen Stadt erklärt. Es kam kurzfristig und außerhalb der Saison zu öffentlichen Ausschreitungen, Ausgehsperren und Demonstrationen deutschnationaler Gesinnung. Der Kurbezirk jedoch blieb, selbst unter großem Aufwand und Einsatz, während der Saison politikfreie Zone. 20 In der alltäglichen Inszenierung der Karlsbader Kuridylle reichte diese Entpolitisierungsstrategie auch weit in die Repräsentationsebenen der Bezirksstadt Karlsbad hinein: Selbst die Karlsbader Tagespresse, die sich mehr an einheimische und nicht an kurende Leser richtete, behandelte politische Ereignisse peripher oder unkommentiert – bis zum Ende der Saison. Denn während der Saison wurde das Image des Kurbezirks als neutraler Raum propagiert. Waren die westböhmischen Badeorte von keinem Krieg ernsthaft betroffen gewesen, wurde sie jetzt als Völker verbindender Raum beworben. Mit Bezug auf die historische Mystifikation des Badeortes als heiliger Ort des Heilens und Sehnsuchtsort hoffnungsvoller Pilgerreisen, wurde der Boden des Kurortes als sakrosankt deklariert - zu einem Zufluchtsort im sich nationalisierenden Europa - wie die “Jüdische Bäder- und Kurortezeitung” enthusiastisch betonte: „Nicht will ich davon künden, dass in den westböhmischen Kurorten jene Epoche herangebrochen ist, von der der Prophet Jesajas weissagt, dass die Waffen zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, das heißt, dass der Antisemitismus zur Gänze erloschen und erstorben ist – beileibe nicht! [...] Allein der Kurgast, mag er wer immer sein, ist in jenen Bädern heiliggesprochen. [...] Dieser Burgfrieden während der Kursaison hat es bewirkt, dass Juden aus allen Weltteilen nach den westböhmischen Kurorten gerne kommen.“ Entgegen der Tatsache, dass der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ auch in Karlsbad eine Reihe von antisemitischen Hotels und Pensionen benannte und antisemitische Postkarten in großer Zahl und Vielfalt von dort in alle Welt verschickt wurden, hatten die westböhmischen Badeorte bei Juden und Nicht-Juden das Image jüdischer Orte. Im Sommer 1922 verweigerte Stefan Zweig vehement eine Einladung auf die Nordsee-Insel Langeoog mit folgenden, recht ambivalenten, Worten: Ich lasse mich nicht pardonnieren und ‘dulden’, besonders dort wo ich bezahle. Lieber in ein Bad mit 700.000 galizischen Juden! Das habe ich nicht nötig – da lieber nach Marienbad [...], falls ich nichts Rechtes finde.“ So wurden Karlsbad, Marienbad und Franzensbad, im Gegensatz zu den zunehmend antisemitischen deutschen Badeorten entlang der Nord- und Ostseeküste, als 20 Am KV A-I-18-1, 1907-1928, Statni okresni archiv Karlovy Vary. 6
Begegnungsräume europäisch-jüdischer Kulturen berühmt und von Antisemiten gemieden. In einer multiethnischen Szenerie gelegen, entstanden zeitlich begrenzte Begegnungsräume für Juden und Jüdinnen aus West- und Osteuropa, und selbst aus Erez Israel, den jüdischen Siedlungen in Palästina. Einer von ihnen, der hebräische Dichter Chaim Nahman Bialik schrieb während einem seiner Aufenthalte in den frühen 30er Jahren an seine Frau, dass man nur aus seinem Hotel treten oder in ein Kaffeehaus gehen müsse, um Juden zu begegnen, bekannt oder nicht, mit denen man die Langeweile der Kur gemeinsam ertragen konnte: „Ein Glück“, schreibt Bialik auf Jiddisch, „dass Gott mir ein paar frische Juden geschickt hat.“ Geplante und zufällige Begegnungen fanden nicht nur zwischen Intellektuellen unterschiedlichen Hintergrunds statt, wie etwa Karl Marx und dem Historiker Heinrich Grätz, sondern auch über soziale und religiöse Grenzen hinweg. Als temporäre Jiddisch sprechende Enklaven verkörperten die drei Kurbäder Räume westeuropäisch Jüdischer Sehnsucht nach einer authentischen ostjüdischen Volkskultur. Was anfangs als Erfahrung von Fremdheit beschrieben wurde, wie Memoiren dokumentieren, wurde in eine familiale Relation zwischen allen jüdischen Kulturen integriert. So erinnert sich etwa der Sohn einer reichen Berliner Bankiersfamilie, die im berühmten Karlsbader Grand Hotel abgestiegen waren, an die Abendessen mit seinem Vater in einem einfachen chassidischen Lokal. Häufig formulierten assimilierte, bürgerliche Juden und Jüdinnen, nachdem sie ein anfängliches Unbehagen geäußert hatten, ihre Faszination für die anwesende osteuropäisch- jüdische Oligarchie. Denn die berühmten chassidischen Rebbes fuhren meist nicht in osteuropäische Badeorte, sondern reisten in die dekadenten böhmischen Weltbäder und zogen auf dieser Reise Hunderte von Anhängern an. Begleitet von ihren ganzen Höfen, mit einem “shoched (Schächter) und zahlreichem Küchenpersonal”, kamen der Rebbe aus Belz, Munkacz, Aleksandrov, Vishnitz und Ger, und viele andere, um den Karlsbader Sprudel zu trinken, Kohlensäurebäder zu nehmen zu baden und in den ausgedehnten Laubwäldern spazieren zu gehen. Enthusiastisch beschrieb Franz Kafka Marienbad als [zitat] „eine Art Mittelpunkt der jüdischen Welt [...], denn der Belzer Rabbi ist hier. [...]²21 Unter den zahlreichen Anhängern des chassidischen Führers nahm Kafka an den Abendspaziergängen von Reb Issachar Dov Rokeach teil und er beschrieb ihn als „den höchsten Kurgast von Marienbad, d.h. denjenigen, auf den das größte menschliche Vertrauen gerichtet ist [...]“ 22 Im Spätsommer 1921 schließlich fand ein besonders wichtiges Ereignis innerhalb der jüdischen Welt in Karlsbad statt, als der Zwölfte Zionistenkongress dort tagte. Es war der Franz Kafka to Felix Weltsch, July 1916. In: Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. Ed. Max Brod. New York 1958, 146. 21 Franz Kafka to Felice Bauer, July 1916. In Kafka, Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der 22 Verlobungszeit. 665f. 7
erste Kongress nach der schmerzlichen Erfahrung des Weltkrieges, aber auch der erste Kongress nach der Balfourdeklaration. Die Erwartungen an dieses Ereignis waren hoch und die Aufregung unter den Organisatoren ebenso wie unter den 540 Delegierten und tausenden Gästen groß. Über zwei Wochen lang tagte der Kongress im großen Saal des Hotels „Schützenhaus“ unter großem Andrang, häufig bis spät nachts. 23 Bereits einige Tage vor Beginn der eigentlichen Veranstaltung versammelten sich zahlreiche zionistische Vereine in der Stadt: Neben den Konferenzen der Hitachdut Hapoel Hazair veZeirei Zion, 24 der Internationalen Zionistischen Studenten und des Keren Kajemet LeIsrael, 25 fanden Tagung des Makkabi-Weltverbandes 26, der WIZO, 27 der Misrachi, 28 des HeChaluz 29, der Hebräischen Schriftsteller 30 und der zionistischen Ärzte statt. 31 Das Kongressbüro hatte sich von der Karlsbader Stadtverwaltung alle verfügbaren blau- weißen Fahnen geliehen, um die Stadt für die Dauer des Ereignisses damit zu schmücken. Ein Kongresspostamt wurde eingerichtet, ein Blumentag abgehalten, Sportfeste, Schwimmveranstaltungen und Staffelläufe quer durch die Stadt, mit sechshundert jüdischen Turnern und Turnerinnen, organisiert. Abends hielten Max Brod und Martin Buber Vorträge im Kursaal und es wurden Lieder- und Konzertabende angeboten. 32 Während der sich über mehrere Wochen hinziehenden zionistischen Präsenz, veränderte sich die Atmosphäre der Kurstadt mehr und mehr, wie enthusiastische zionistische Reportagen dokumentierten. Im Gegensatz zu Basel, Wien oder anderen Großstädten, in denen Zionistenkongresse stattgefunden hatten, bevölkerten zionistische Funktionäre, Intellektuelle, Sportler und junge Pioniere hier einen intimen und überschaubaren Raum. Ihre Andersheit, besonders die Erscheinung der jungen Pioniere aus Palästina – [zitat]„ein ganz neuer, noch nie geschauter Typus: der Freiluft-Jude, der aus dem Galuth nach dem Land Israel heimgekehrte Chaluz [...]“33[zitat] - wurde mit Erstaunen wahrgenommen. Die Bühne des Kurbezirkes, ansonsten in den immer gleichen Abläufen des Kuralltags bespielt, wurde jetzt mit den Ritualen der zionistischen Bewegung besetzt. Und plötzlich gab es für kurze Zeit eine 23 Holitscher (1921), S. 144. 24 = Arbeiterpartei Eretz Israels. Statni okresni archiv Karlovy Vary, OkÚ KV, Sig. 18/11, Kart. 553; Karlsbader Tagblatt 1.9.1921, Nr. 199, S. 3;, S. 4-5; 606; Augustin (2002), S. 168. 25 = Jüdischer Nationalfonds. Statni okresni archiv Karlovy Vary, OkÚ KV, Sig. 18/11, Kart. 553; Karlsbader Tagblatt 1.9.1921, Nr. 199, S. 3;, S. 4-5; 606; Augustin (2002), S. 168. 26 = Zionistische Sportorganisation. Makkabi Weltverband [1921] 27 = Women’s International Zionist Organisation. The WIZO Conferences. Zionist Archives Jerusalem, F49/3062. 28 = Orthodox-zionistische Organisation. Shapiro: HaVe’idot (1921) S. 6-8. 29 = Pionierbewegung. Shapiro: HaVe’idot (1921) S. 6-8. 30 Shapiro: Misaviv (1921), S. 4-5. 31 Asefat haRof’im beKarlsbad (1921), 606. 32 Statni okresni archiv Karlovy Vary, Am KV C-VI-91, 1907-1928. 33 Holitscher (1921), S. 1161. 8
Stadt in Europa, in der man auf der Strasse, in all ihren Einrichtungen, Lokalen und Geschäften Menschen Hebräisch sprechen hörte. 34 Vor dem Hintergrund des Übergangs von der multiethnischen Donaumonarchie zum tschechischen Nationalstaat, hatte sich ein Bedeutungswandel dieses imaginierten „jüdischen Ortes“ vollzogen. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, als in den böhmischen Badeorten zahlreiche jüdische Kriegsflüchtlinge aus Galizien untergebracht worden waren, funktionierten die Schutzräume der Diaspora nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor. Ein „jüdischer Ort“ konnte jetzt nur mehr die nationale Utopie sein. Doch war es kein Zufall, dass die Zionistische Bewegung auf den „jüdischen Ort“ von gestern zurückkam: Nicht nur das Image, auch die gut ausgebaute jüdische Infrastruktur und die ausgezeichnete Lage „zwischen“ West- und Osteuropa eigneten ihn für ihre Zwecke. Und so verging während der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre kein Jahr, indem keine große zionistische Veranstaltung in den westböhmischen Bädern stattfand. 35 Noch in den Dreißiger Jahren, so ein weitverbreitetes Gerücht, war “Karlsbad” innerhalb der jüdischen Bevölkerung Osteuropas das Synonym für ein Kurbad. “Fahrt Ihr auf Karlsbad?“, lautete üblicherweise die Frage und die Antwort war „ja“, auch wenn das Ziel der Reise ein anderes gewesen wäre. 34 Lifnei haKongres (1921), S. 2. [aus dem Hebr. in meiner Übersetzung] 35 u.a. die Jüdischen Welthilfskonferenzen, 1920 und 1924, die Jahreskonferenz der Zionistischen Weltorganisation, 1922, und der 13. Zionistenkongress, 1923. Zionist Archives Jerusalem, S 81/13; Statni okresni archiv Karlovy Vary, Am KV C-VI-91, 1907-1928; Die Tätigkeit der zionistischen Organisation im Jahre 1921/1922, (1922). 9
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