Kleines Wirtschaftslexikon - Internationale Politik

Die Seite wird erstellt Sam Behrendt
 
WEITER LESEN
Länderporträt Südkorea

                  Kleines
             Wirtschaftslexikon
                                von Christoph Neidhart

                               ASIEN-KRISE

                Bild nur in
         Printausgabe verfügbar
          ➞ In Südkorea ist es nur die „IWF-Krise“: Der Wirtschaftseinbruch in Südostasien
       ab 1997 wird dem Internationalen Währungsfonds angelastet. Dass man die Krise rasch
             überwand, hat auch mit dem großen Patriotismus der Südkoreaner zu tun.

     Die Südkoreaner sind Patrioten –             ihre Cousins im Norden hören das aus
     manche Leute sagen: Chauvinisten. In         Pjöngjang bis heute.
     den Jahrzehnten der Diktatur (1961–             In seinem Buch „To Build a Na-
     1987) waren es nicht nur die Repres-         tion“ (1971) brüstete sich Präsident
     sion und die Aussicht auf ein besseres       Park Chung-hee, von 1961 bis 1979
     Leben, die sie mehr schuften ließen als      Südkoreas Militärdiktator, er habe
     alle anderen Nationen. Die Propagan-         seinen Landsleuten „Vertrauen und
     da bläute ihnen überdies ein, dass das       Mut gegeben, die nationalen Ziele im
     auch gut so sei, weil sie alle zusammen      Geist der Einheit zu erreichen“. Zu
     im Dienste ihrer Nation arbeiteten –         diesen patriotischen Zielen gehör-

28                                                                 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

te auch der Wunsch, Nordkorea, das        dem Staat stifteten, um die knappen
nach dem Korea-Krieg wirtschaft-          Gold­reserven der Notenbank zu ver-
lich stärkere Land, zu überflügeln. In    größern. In kurzer Zeit kamen meh-
Wirklichkeit hatten die Südkoreaner       rere Milliarden Euro zusammen. Und
gar keine Wahl – Park zwang sie ein-      nicht zum ersten Mal: Schon im Jah-
fach zur Arbeit.                          re 1907 hatten die Koreaner einmal
     Der Militärdiktator war es auch,     privates Gold gesammelt, um ihrem
der dem Land eine Art kulinarische        Staat dabei zu helfen, seine Schulden
„Fünf-Tage-Woche“ verordnete: An          zurückzuzahlen.
zwei Tagen pro Woche war es den Re-          Den Begriff „Asien-Krise“ leh-
staurants verboten, Reis zu servieren,    nen die Südkoreaner ab. Sie nen-
die Grundlage der koreanischen Kü-        nen den Wirtschaftseinbruch 1997
che. An den übrigen Tagen sollten die     die „IMF-Krise“, nach dem Interna-
Restaurants Gerste in den Reis mi-        tionalen Währungsfonds. Zu Beginn
schen, um Reis zu sparen. Park woll-      der neunziger Jahre waren Investiti-
te auf keinen Fall Devisen für Reisim-    onen in so genannte Schwellenländer
porte aus dem Land fließen lassen.        Mode geworden; Banker und Investo-
     Den Lohn für ihren Fleiß erhiel-     ren pumpten Milliarden nach Thai-
ten die Südkoreaner gewisserma-           land, Südkorea, Indonesien, Malaysia
ßen indirekt, in Form von Neid aus        und die Philippinen.
dem Norden. Eine gern kolportierte           Es bildeten sich Investitions-
­Anekdote verdeutlicht das: Als die       blasen, die Auslandsschulden die-
 Rotkreuz-Vertretungen der beiden         ser Länder stiegen, ihre Währun-
 Koreas 1971 zum ersten Mal nach          gen wurden überbewertet. Bis die
 dem Korea-Krieg Gespräche führ-          Rückgabe Hongkongs an China und
 ten, soll der nordkoreanische Delega-    der gleichzeitige Kollaps des thailän-
 tionsleiter seinem südkoreanischen       dischen Bahts, gegen den westliche
 Gegenüber angesichts des schon da-       Spekulanten gewettet hatten, eine
 mals brausenden Verkehrs in Seoul        typische Anlegerpanik auslösten.
 gesagt haben, so leicht sei er nicht     Die Gelder aus dem Westen wurden
 reinzulegen – es sei doch wohl of-       abgezogen, Südostasiens Börsen und
 fensichtlich, dass Südkorea für den      Währungen brachen ein.
 Besuch seiner Delegation alle Autos         Dabei wurden auch Staaten an-
 des Landes nach Seoul beordert habe.     gesteckt, deren Wirtschaft eigentlich
 Lee Bum-suk, der spätere Außenmi-        vergleichsweise gesund war: Südko-
 nister Südkoreas, soll ihm entgeg-       rea zum Beispiel. Allerdings brachte
 net haben: „Da sind Sie uns auf die      die Krise die vielen Kreuzbeteiligun-
 Schliche gekommen. Aber das war          gen der Chaebols ans Tageslicht. Ei-
 der leichte Teil. Viel schwieriger war   nige dieser Familienkonzerne waren
 es, all die neuen Häuser nach Seoul      so hoch verschuldet, dass sie nicht
 transportieren zu lassen.“               mehr ordentlich entflochten wer-
     Wie patriotisch die Südkorea-        den konnten. Südkoreas Banken sa-
 ner wirklich sein können, demons-        ßen auf faulen Krediten. So brachen
 trierten sie während der so genann-      auch der Won und die Börse von Se-
 ten Asien-Krise 1997/98, als viele ih-   oul ein, und der Notenbank gingen
 ren Goldschmuck und ihre Eheringe        die Reserven aus.

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                       29
Länderporträt Südkorea

        Der IMF eilte herbei, um zu hel-          sich „gesund zu exportieren“. Das ist
     fen. Aber er kümmerte sich vor al-           der Grund, weshalb die Südkoreaner
     lem darum, dass die Guthaben der             von einer „IMF-Krise“ sprechen – sie
     westlichen Banken und Spekulanten            werfen dem Westen und seinen Insti-
     rasch und vollständig zurückgezahlt          tutionen Neokolonialismus vor. Süd-
     würden. Dazu zwang er die betrof-            korea überwand die IMF-Krise bald,
     fenen Staaten zu brutalen Sparpro-           auch dank der Goldspenden. Nur ei-
     grammen, womit er die Krise noch             nige überschuldete Chaebols blieben
     verschärfte. Dabei wären diese Län-          auf der Strecke, sie wurden in Einzel-
     der durchaus in der Lage gewesen,            firmen zerschlagen.

                                   CHAEBOL

               Bild nur in
        Printausgabe verfügbar
         ➞ Ohne sie wäre das „Wunder am Han“, Südkoreas rascher wirtschaftlicher Auf-
      schwung ab Mitte der sechziger Jahre, nie möglich gewesen: die Chaebols, die „reichen
           Sippen“. Doch heute sind die Familienkonzerne ausgesprochen umstritten.

     Es sind rund zwei Dutzend der                   Hinzu kommt, dass sich die Macht
     Chaebol genannten Familienunter-
     ­                                            innerhalb dieser Gruppen auf wenige
     nehmen, die noch heute eine bedeu-           Personen konzentriert, die ihre Füh-
     tende Rolle im südkoreanischen Wirt-         rungsrollen nicht dank ihrer Kompe-
     schaftsleben spielen. Die Firmengrup-        tenz und ihres Fleißes errungen ha-
     pen sind über Kreuzbeteiligungen mit-        ben, sondern weil sie die Kinder und
     einander vernetzt – wie genau, bleibt        Enkel der Gründer sind – und sich
     in der Regel im Dunkeln. Neben der           über den Gesetzen stehend wähnen.
     mangelnden Transparenz ist es die            Lee Kun-hee, der inzwischen schwer
     schlichte Übermacht einiger von ih-          kranke Chef von Samsung, und Chung
     nen, die mittlerweile zu einem ernst-        Mong-koo, der CEO von Hyundai Mo-
     haften Problem geworden ist: Samsung         tors, wurden in den 2000er Jahren
     allein generiert etwa 20 Prozent der         wegen Steuerbetrugs, falscher Buch-
     südkoreanischen Wirtschaftsleistung.         führung und Unterschlagung zu drei

30                                                                  IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

Jahren Haft verurteilt. Sie saßen je-    ter von Militärdiktator Park Chung-
doch keinen einzigen Tag ihrer Stra-     hee, schon gar nicht. Kein Wunder,
fen ab. Im Falle von Chung hieß es,      denn Parks Vater ist quasi der Vater
er sei zu wichtig für die Wirtschaft     der Chaebols oder zumindest ihr Pate.
Südkoreas, als dass man drei Jahre       Als der damals 43-jährige Ex-Offi-
auf ihn verzichten könnte.               zier der japanischen Armee 1961 die
    Im so genannten „Nuss-Skandal“       Macht an sich riss, war Südkorea ei-
erlaubte es sich Cho Hyun-ha, eine       nes der ärmsten Länder der Welt. Das
Tochter der Familie, die Korean Air      würde es auch lange bleiben, meinten
und die Reederei Hanjin beherrscht,      die Experten der Weltbank und des
in der ersten Klasse eines Fluges von    IWF unisono. Südkorea hatte keine
New York nach Seoul einen Flugbe-        Ressourcen, die es hätte exportieren
gleiter unflätig zu beschimpfen, weil    können, und keine industrielle Basis.
er ihr Macadamia-Nüsse falsch ser-       Es war verarmt und vom Korea-Krieg
viert hatte. Noch in New York ließ die   völlig zerstört. Die USA finanzierten
damalige Vizepräsidentin von Korean      75 Prozent seines Militär- und die
Air die Boeing von der Rollbahn zum      Hälfte seines zivilen Staatsbudgets,
Gate zurückkehren und den Flugbe-        um sich Südkorea als Bollwerk ge-
gleiter von Bord werfen.                 gen den Kommunismus zu erhalten.
    Viele Beobachter in Südkorea         Aber Washingtons Bereitschaft, das
fürchten, die Chaebols könnten an        korrupte Regime von Rhee Syng-man
der Inkompetenz dieser dritten Füh-      zu stützen, sank ab Anfang der sech-
rungsgeneration zerbrechen. Selbst       ziger Jahre rapide. Und Park hatte als
wenn nur ein Chaebol unterginge,         japanischer Offizier in der Mandschu-
könnte er, kraft seiner Größe, das       rei gesehen, wie die Japaner ein rück-
ganze Land in eine Wirtschaftskrise      ständiges Land entwickelten.
stürzen. Die sogenannte Asien-Kri-           Er wollte die westlichen Experten
se 1997/98 bot einen Vorgeschmack –      widerlegen. Die Grundidee des japa-
etwa mit der Pleite von Daewoo.          nischen Modells ist es, möglichst alle
    Um hier gegenzusteuern, versuch-     Importe zu substituieren und eine
ten die Staatspräsidenten Kim Dae-       Exportindustrie aufzubauen. Dafür
jung und Roh Moo-hyun, die Chae-         brauchte Park Partner. Die fand er in
bols in einzelne Firmen zu zerschla-     den Familien der Kriegsgewinnler,
gen. Hyundai Motors ist seither ein      die während des Korea-Krieges und
eigenständiges Unternehmen, zu           danach mit der Not ihrer Landsleute
dem heute auch Kia gehört. Mit den       und als Dienstleister für die US-Ar-
Werften von Hyundai, dem Bauun-          mee Geschäfte machten: Chung Ju-
ternehmen und dem Reiseveranstal-        yung etwa, der Gründer von Hyundai
ter Hyundai Asan ist der Autobau-        (siehe auch „Wer bewegt Südkoreas
er nicht mehr vernetzt. Aber Präsi-      Wirtschaft“, S. 54). Als die US-Ar-
dent Lee Myung-bak (2008–2013),          mee gleichsam über Nacht Quartier
der selbst als Manager eines Chae-       für 100 000 Mann brauchte, emp-
bols Karriere gemacht hatte, moch-       fahl er den Offizieren seinen älteren
te die Demontage der Familienun-         Bruder als „Bauunternehmer“, ob-
ternehmen nicht weiterführen. Und        wohl dessen Firma damals aus nur
Präsidentin Park Geung-hye, Toch-        fünf Leuten und einem Ochsenkar-

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                      31
Länderporträt Südkorea

     ren bestand. Chung versprach, Unter-      vergangenen Jahren wenig Gelegen-
     künfte zu organisieren. Er requirierte    heit zur Expansion geboten hat und
     Schulhäuser, seine Leute desinfizier-     Südkoreas Exportkonzerne billigere
     ten sie und strichen sie neu. Die Sol-    Konkurrenten aus China abwehren
     daten zogen ein, die Offiziere waren      müssen. Damit hat derzeit Hanjin zu
     zufrieden. Weitere Aufträge folgten,      kämpfen, der Chaebol des Cho-Clans,
     bald auch Bauvorhaben. Die Ameri-         dem Korean Air und Hanjin Shipping
     kaner hätten nie nach dem Preis ge-       gehört. Die siebtgrößte Reederei der
     fragt, erinnerte sich Chung später. In    Welt musste im September Konkurs
     seiner Garage baute er Army-Jeeps         anmelden; Cho Yang-ho, der Patriarch
     um, erledigte mit Kleinlastern bald       des Chaebols, war schon im Frühjahr
     auch Transporte für die Amerikaner        von den Gläubigern seiner Funktio-
     – und holte seine fünf Brüder ins Ge-     nen enthoben worden.
     schäft. Nach Ende des Korea-Kriegs            Einige andere Chaebols, SK und
     1953 erhielt er Aufträge für den Wie-     LG etwa, scheinen ordentlich zu
     deraufbau; die Amerikaner blieben         funktionieren, aber auch SK mach-
     seine besten Kunden.                      te Negativschlagzeilen. So wurde SK-
         Solche Leute scharte Park Chung-      Boss Choi Tae-won 2013 wegen Un-
     hee um sich. Männer, die improvisie-      terschlagung verurteilt: Er sollte für
     ren konnten, die wenig Skrupel hatten     vier Jahre ins Gefängnis, wurde aber
     und viel wagten. Zusammen mit ihnen       von Staatspräsidentin Park begnadigt.
     machte er neue Industriezweige aus-           Samsung, der größte Chaebol, rei-
     findig, in deren Aufbau er dann Staats-   tet derzeit mit seiner Elektronikspar-
     gelder investierte. Er garantierte den    te auf einer Welle des Erfolgs. Doch
     Unternehmern den Inlands­absatz, in-      in Seoul zweifeln viele auch an der
     dem er die Grenzen schloss, und sorg-     Führungskompetenz von Samsungs
     te für billige Produktionsbedingungen.    dritter Generation und fürchten,
     Dazu brachte er alle, die Arbeitneh-      eine Samsung-Krise könnte das gan-
     merrechte einforderten, zum Schwei-       ze Land in eine Rezession reißen.
     gen; Oppositionelle ließ er verfolgen.        Hyundai Motor, der viertgrößte
         Mit den Chaebols wuchs auch die       Autobauer der Welt, versucht sich seit
     südkoreanische Wirtschaft, und die        der Aufspaltung des Hyundai-Cha-
     Familienkonzerne entwickelten sich        ebols im Jahr 2000 von anderen
     zu immer komplizierteren Konglo-          Hyundai-Unternehmen und ihren
     meraten, von denen niemand wuss-          Schwierigkeiten abzugrenzen und
     te, wie wirtschaftlich gesund sie wa-     sich als modernes globales Unterneh-
     ren. Solange Südkorea eine Diktatur       men zu positionieren. Der Öffentlich-
     war, durften die Chaebols praktisch       keit gilt jedoch auch Hyundai Motor
     tun, was sie wollten, wenn es nur dem     weiterhin als Chaebol, zumal mit dem
     Wachstum diente. Und weil Südko-          78-jährigen Chung Mong-koo noch
     rea rasch wuchs, konnten die Chae-        immer der Sohn des Chaebol-Grün-
     bols immer wieder aus ihren finan-        ders an der Spitze steht.
     ziellen Problemen herauswachsen. In           Einst galten die Familienkonzer-
     einer entwickelten Industriegesell-       ne als geachtete, patriotische Institu-
     schaft ist das heute kaum mehr mög-       tionen. Heute möchten zwar noch im-
     lich. Zumal die Weltwirtschaft in den     mer viele junge Leute bei ihnen arbei-

32                                                             IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

ten, aber vor allem für die dritte Gene-        tung. Die Chaebol-Familien haben bis
ration, die mit einem goldenen Löffel           heute nicht verstanden, dass die Zei-
geboren wurde, wie die Südkoreaner              ten endgültig vorbei sind, in denen die
sagen, haben viele nur noch Verach-             Gesetze für sie nicht galten.

                                   E-SUCHT

            Bild nur in
     Printausgabe verfügbar
     ➞ 10 Prozent der südkoreanischen Jugendlichen sind Internet-abhängig, weitere
  20 Prozent sind gefährdet. Die Regierung hat die Epidemie erkannt, doch allzu sehr möchte
          sie die Computerindustrie nicht bremsen – E-Leben ist ein Exportfaktor.

Südkorea ist nicht nur das vernetztes-          leten: Bleiche, oft schmächtige Jüng-
te Land der Welt, es ist auch das Land          linge starren angespannt auf ihre
mit der höchsten Smartphone-Dich-               Bildschirme und zucken nervös mit
te und das Mekka des E-Sports. So               ihrer Computermaus oder tippen ra-
nennt man Computergame-Wett-                    sant auf ihrer Tastatur. Im spärlich
kämpfe, die Spiele wie „Starcraft               besetzten Publikumsraum sitzen vor
II“ oder „Global Offensive“ bieten.             allem junge Mädchen. Die besten
Bereits seit 2003 gibt es hier eine             E-Sportler sind ihre Helden und die
E-Sport-Profiliga, ihre Teams wer-              Sieger spritzen mit Champagner wie
den von großen Konzernen gespon-                die Formel-1-Piloten. Hunderttausen-
sort. Der E-Sport-Verband überwacht             de junge Südkoreaner spielen zuhau-
25 Spielekategorien.                            se am Computer oder im Internet­
    Manche Meisterschaftswettkämp-              café ebenfalls um Punkte eines Ran-
fe finden auf Bühnen in Einkaufs-               kingsystems.
zentren statt. Die so genannten Cy-                 Manche Südkoreaner sind ernst-
berathleten sitzen an großen Desk-              haft der Ansicht, E-Sport sei eine
top-Computern, sie tragen einheit-              Sportart der Zukunft, die dem physi-
liche Trainingsanzüge wie Sportler,             schen Sport gleichgestellt werden sol-
erinnern sonst jedoch kaum an Ath-              le. Der E-Sport-Verband ist mit dem

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                                  33
Länderporträt Südkorea

     Olympischen Komitee verbandelt und             men, heute trägt jeder Jugendliche die
     wird vom Kulturministerium aner-               Versuchung zur Sucht ständig in der
     kannt. Es gibt Fernsehkanäle, die aus-         Tasche: das Smartphone.
     schließlich über E-Sport berichten.                Die Regierung hat die Epidemie
         Die Kritiker des E-Sports werfen           inzwischen erkannt, sie stellt sie der
     der IT-Industrie vor, sie mache das            Alkoholabhängigkeit gleich. Der Grad
     ganze Volk zu Versuchskaninchen,               der Sucht wird mit der so genannten
     zumal nicht nur der Sport virtuell ge-         K-Skala gemessen, die auch inter­
     worden sei, sondern das halbe Leben.           national zur Anwendung kommt –
     Wer nicht alleine essen mag, kann              K steht für Korea. 140 E-Sucht-Bera-
     über eine Videoverbindung einer                tungszentren wurden geschaffen und
     jungen Dame beim Essen zuschauen.              Entzugslager für Jugendliche organi-
     Und natürlich gibt es E-Sex.                   siert, die von der Regierung finanziert
         Die Kehrseite dieses Fortschritts          werden. Smartphone-freie Internate
     ist die Internetsucht. 10 Prozent der          erfreuen sich eines großen Zulaufs, oft
     Jugendlichen sind internetabhängig,            sind sie die letzte Hoffnung der Eltern.
     weitere 20 Prozent gefährdet, so das           Die Computerspiele-Industrie jedoch
     Gesundheitsministerium. Betroffen              möchte die Regierung nicht bremsen,
     sind fast ausschließlich junge Män-            schließlich gilt das E-Leben nicht nur
     ner. Zu Beginn waren es die Compu-             als Fortschritt, sondern ist für Süd­
     terspiele auf den großen Bildschir-            korea auch ein Exportfaktor.

             FLEISS UND ARBEITSWUT

               Bild nur in
        Printausgabe verfügbar
       ➞ Die jungen Leute seien faul geworden, hört man heute in Südkorea häufig. Zuge-
      geben: Sie arbeiten „nur“ noch fünf Tage – aber noch immer rekordverdächtig viel. Gut für
          die Wirtschaft – schlecht für den Inlandstourismus, denn Urlaub fällt meist aus.

     Ein Land, „in dem es keine Kapitalis-          keinen Schwung, keine erkennba-
     ten, keine Protestanten, keine Kauf-           re Geschichte des Handels und kei-
     leute, kein Geld, keine Ressourcen,            ne industrielle Entwicklung“ gebe,

34                                                                     IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

ein solches Land habe keine Chance,       men, wie sie in den USA üblich wa-
sich zu entwickeln. So fasst der His-     ren. Zugleich pumpte Washington
toriker Bruce Cumings die Vorurtei-       Milliarden in das Land, um es dem
le des Westens nach dem Korea-Krieg       eigenen, antikommunistischen Lager
zusammen.                                 zu erhalten – und öffnete Südkorea
    Korrespondenten und Vertreter         den US-Markt.
des IMF schilderten das südliche Ko-           Demokratie oder Menschenrechte
rea als „hoffnungslosen Fall“. Zumal      spielten in Washingtons Überlegun-
die Südkoreaner „faule Tölpel“ seien.     gen keine Rolle. Historiker Cumings
Letzteres Vorurteil hatte der Westen      findet es absurd, Park Chung-hees
von den Japanern übernommen. Zu-          ­R igorismus und Dirigismus mit „asi-
dem stinke es überall nach Kuh- und        atischen Werten“ erklären zu wollen.
menschlichem Dung, berichteten die         Der Konfuzianismus half den „alten
US-Soldaten, die am Korea-Krieg teil-      Patriarchen, deren einzige Legitima-
nahmen. Die Südkoreaner düngten            tion die Tradition war, höchstens,
ihre Reisfelder damit.                     sich an der Macht zu halten“. Wenn
    Nur zwei Jahrzehnte später be-         die Leute in Südkorea härter arbeite-
gannen amerikanische Unterneh-             ten als anderswo, dann war das eine
men, ihre Produktion nach Südkorea         Frage des Überlebens. Und immerhin
auszulagern – wie später nach China.       verbesserte sich ihr Alltag damals je-
Die Arbeiter seien hier fleißiger, dis-    des Jahr spürbar, zumindest wirt-
ziplinierter, schneller und aufmerk-       schaftlich.
samer als in den USA. Zudem arbei-             Heute hört man in Südkorea ge-
teten sie sechs Tage pro Woche, nicht      legentlich, die jungen Leute seien
nur fünf. Die Unternehmer konnten          faul geworden. Sie arbeiten „nur“
die Fließbänder 30 Prozent schneller       noch fünf Tage, allerdings immer
laufen lassen. Damit waren die süd-        noch mehr Stunden als in den ande-
koreanischen Arbeiter 2,5 Mal pro-         ren OECD-Ländern. Sie haben zwar
duktiver als ihre US-Kollegen, den-        Anrecht auf Urlaub, doch viele neh-
noch mussten die Fabrikanten ihnen         men ihn nicht, oder nur wenige Tage.
nur 10 Prozent jenes Lohnes zahlen,        Alte Gewohnheiten ändern sich nur
den ein Amerikaner verlangt hätte.         langsam; der soziale Druck ist nach
    Der Fleiß der Menschen in Ost-         wie vor groß. Man geht beispielswei-
asien wird gerne mit dem Konfuzia-         se noch immer nicht nach Hause, be-
nismus erklärt. Das ist Unsinn. Süd-       vor der Chef das Büro verlässt. Das
korea war in der Zeit seines raschen       hatten die wechselnden Regierungen
Aufschwungs eine finstere Diktatur,        jahrelang gepredigt. Auch der Fleiß
die ihre Wirtschaft zentral plante,        der Schüler und Studenten ist eine
den Plan jedoch einem beschränkten         Folge von Druck, in diesem Fall des
kapitalistischen Wettbewerb unter-         Konkurrenzdrucks und des Drucks
warf und den Menschen an der Ba-           der Eltern.
sis Bedingungen wie im 19. Jahrhun-            Die Regierung versucht inzwi-
dert zumutete. Jede gewerkschaftli-        schen, das zu ändern, nicht zuletzt,
che Regung wurde unterdrückt. Es           um den Inlandstourismus als Wirt-
galten weder Sicherheits- noch Um-         schaftszweig zu fördern. Die Süd­
weltschutz- oder Arbeiterschutznor-        koreaner sollen mehr Geld ausgeben,

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                        35
Länderporträt Südkorea

     um die Wirtschaft anzukurbeln. So           Geun-hye jedoch blieb die fünf Tage
     sollen sie künftig beispielsweise Ski-      ­Sommerurlaub, die sie sich im Juli
     laufen in Pyeongchang, dem Aus-              nahm, im Blauen Haus, ihrem Amts-
     tragungsort der Olympischen Win-             sitz, um zu arbeiten – wie schon im
     terspiele 2018. Präsidentin Park             vorigen Jahr.

                                    H AG W O N

                Bild nur in
         Printausgabe verfügbar
        ➞ Wer in der Seouler U-Bahn um Mitternacht Schüler über ihren Ranzen einschlafen
        sieht, der weiß, dass Aufnahmeprüfungen anstehen. Der Leistungsdruck macht das
                   Betreiben von Nachhilfeschulen zu einem profitablen Geschäft.

     Jeweils am zweiten Donnerstag im            wissenschaften, Geografie und Ge-
     November kommt Südkorea für ei-             schichte geprüft. Die Punktzahl aus
     nige Stunden fast zum Erliegen. Eine        dem Suneung entscheidet, für wel-
     gute halbe Stunde lang schließen so-        che Universität man sich qualifiziert
     gar die Flughäfen. Viele Firmen fan-        – und damit über die späteren Berufs-
     gen an diesem Morgen später an, um          aussichten. Einige Chaebols rekrutie-
     den Verkehr zu beruhigen. Die Prima-        ren nur Absolventen von Eliteunis,
     ner des ganzen Landes legen an die-         und viele Südkoreaner halten sie noch
     sem Vormittag ihre „Suneung“ ab,            immer für die besten Arbeitgeber.
     die nationale Aufnahmeprüfung für               Die Schüler haben jahrelang auf
     die Universitäten. Taxifahrer bringen       diesen Tag hin gebüffelt, sie sind
     Schüler, die spät dran sind, umsonst        Abend für Abend in die Hagwon ge-
     an den Prüfungsort; zuweilen springt        strömt, wie man die Nachhilfeschulen
     sogar die Polizei mit Blaulicht ein.        nennt. Oft bis spät in die Nacht, man-
         Das Flugverbot gilt für die Zeit, in    che seit der Kindergartenzeit. Dort
     der das Hören englischer Vokabeln ge-       haben Lehrer ihnen endlos Multipli-
     testet wird. Im Multiple-Choice-Ver-        kationsreihen, Vokabeln und später
     fahren werden außerdem Koreanisch           chemische Formeln eingetrichtert. In
     und Literatur, Mathematik, Natur-           der U-Bahn von Seoul sieht man noch

36                                                                 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

kurz vor Mitternacht Kinder über ih-            zu kurz kommt – und dass Südko-
ren Schulranzen einnicken. Der Leis-            rea für seine Wirtschaft zu viele Uni­
tungsdruck in Südkorea ist enorm, die           abgänger und zu wenig Praktiker und
Kosten der Hagwons für Eltern auch.             Handwerker ausbildet.
    Im Land gibt es etwa 80 000 Hag-               Die Wertschätzung der Südkorea-
wons; das Betreiben dieser Schulen              ner für Bildung ist freilich viel älter als
ist ein ausgesprochen profitables Ge-           das Hagwon-System. Sie geht auf Kon-
schäft. Angeblich sollen angesehene             fuzianismus und Buddhismus zurück.
Hagwons die Immobilienpreise in ih-             Gemäß der koreanischen Geschichts-
rer Umgebung anheizen, weil wohlha-             schreibung eröffnete im Jahr 372 n.
bende Familien dort wohnen wollen.              Chr. eine erste öffentliche Schule ihre
Der Erziehungsminister hat vor eini-            Tore – für den Yangban, den landlo-
gen Jahren verfügt, Hagwons müssten             sen Adel. Lehrer waren damals hoch-
spätestens um 22 Uhr schließen. Aber            angesehen, schon in vormoderner Zeit
die Regionalverwaltungen halten sich            gingen auch viele Jungen auf den Dör-
nicht daran, die Sperrstunde ist bei            fern in eine Schule. Der Leistungs-
den ehrgeizigen Eltern unpopulär.               druck und ein strenger Wettbewerb
    Das Leben mancher Mütter dreht              wurden in der zweiten Hälfte des 20.
sich einzig und allein um die schu-             Jahrhunderts über diese Traditionen
lische Leistung ihrer Kinder. Das               gestülpt – nach dem Krieg vor allem,
führt dazu, dass die Sozialerziehung            um die Wirtschaft anzukurbeln.

                               I N N OVAT I O N

            Bild nur in
     Printausgabe verfügbar
       ➞ Neue Erfindungen und Kreativität von „unten“ – das fand in Südkorea lange
   Zeit praktisch nicht statt. Mittlerweile hat man umgedacht und fördert den Pioniergeist
                   auch staatlich. Mit Erfolg: Seouls Start-up-Szene blüht.

Innovation kam in Südkorea tradi­               wurde verordnet – und erschöpfte
tionell von oben, auch noch lange               sich oft in der Nachahmung ausländi-
nach den Zeiten der Diktatur. Sie               scher Vorbilder. Aber S
                                                                      ­ üdkorea lernt

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                                  37
Länderporträt Südkorea

     schnell. Seit einigen Jahren führt die     Kapitalisten. Deshalb warfen sich vie-
     halbstaatliche Exportförderung Besu-       le bei erster Gelegenheit in die schüt-
     chern gerne Start-ups vor. Zu Beginn       zenden Arme eines Chaebols.
     waren das meist neu geschaffene Un-            Inzwischen hat nicht nur der Staat
     terabteilungen großer Elektronikkon-       erkannt, dass die Kreativität und die
     zerne oder ausgegliederte Bereiche.        Risikobereitschaft nachlassen, je grö-
     Die ersten Internet-Start-ups entstan-     ßer ein Unternehmen ist – auch, wenn
     den nach der sogenannten Asien-Kri-        ein kleines Start-up in einem Konzern
     se 1997/98, als viele Chaebols Abtei-      aufgeht. Seit einigen Jahren bietet der
     lungen schließen mussten.                  Staat deshalb Starthilfen und -kapital
         Die Ingenieure hatten gar keine        an, und Venture-­Kapitalisten aus Ka-
     andere Wahl, als selber anzufangen.        lifornien haben Vertretungen in Se-
     Da zugleich das Breitbandnetz rasch        oul aufgebaut.
     ausgebaut wurde und überall Inter-             Zudem sind so genannte Inkuba-
     netcafés entstanden – 1997 gab es          toren entstanden, Institutionen, die
     im ganzen Land etwa 100, fünf Jah-         Räume und Infrastruktur für Firmen-
     re später bereits 25 000 –, wuchs der      gründer bereitstellen und Schulungen
     Markt für koreanischsprachige On-          anbieten. Unter anderem stehen Semi-
     line-Games explosionsartig. 80 Pro-        nare mit erfolgreichen Start-up-Unter-
     zent der Kunden nutzten die Internet-      nehmern auf dem Stundenplan. Viele
     cafés für Unterhaltung, im Wesentli-       von ihnen residieren in der zuweilen
     chen für Spiele.                           schon als „Start-up-Straße“ bezeichne-
         Südkoreanische Unternehmen             ten Teheran-Ro im Nobelbezirk Gang-
     entwickelten Anwendungen, die spä-         nam von Seoul. Der spektakulärs-
     ter – von Firmen in anderen Ländern        te Inkubator in Seoul ist freilich der
     erarbeitet – weltweit den Durchbruch       „Google-Campus“. Der globale Bran-
     schafften: ein Programm für Inter-         chenführer versucht durch diese Hin-
     nettelefonie, Jahre bevor es Skype         tertür auch Südkorea zu gewinnen.
     gab, einen Kurznachrichtendienst               Dass manche Neugründungen
     à la Whatsapp oder Spracherken-            dennoch Mühe haben, qualifizierte
     nungs-Software. Mit „Naver“ und            Mitarbeiter zu finden, hat damit zu
     „Daum“ hat Südkorea auch seine ei-         tun, dass Eltern nicht verstehen wol-
     genen Suchmaschinen, die älter sind        len, warum ihre Kinder die Chance
     als Google und den Markt bis heute         auf einen Job bei Samsung oder LG
     beherrschen. In Südkorea „googelt“         gegen das Risiko eintauschen wollen,
     man nicht, der Gigant aus Kaliforni-       selbst ein Unternehmen zu gründen.
     en rangiert hier unter ferner liefen.          In Südkorea adaptiert man In-
         Doch außer den Spieleentwick-          novationen nach anfänglicher Skep-
     lern gelang es kaum einem Start-up,        sis meist schneller als anderswo. Ein
     sich über die Grenzen Südkoreas hi-        Beispiel: Bis vor wenigen Jahren zahl-
     naus durchzusetzen. Das mag an             te man nur in bar, inzwischen ran-
     mangelnden Sprachkenntnissen gele-         geln zahlreiche Start-ups darum, Zah-
     gen haben, vor allem aber am Geld.         lungen übers Smartphone abzuwi-
     Bis vor Kurzem hatten südkoreani-          ckeln. Zur Beschleunigung des Über-
     sche Start-ups große Mühe, Startka-        gangs hat die Regierung beschlossen,
     pital zu finden; es gibt keine Venture-­   bis 2020 alle Münzen abzuschaffen.

38                                                              IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

Allerdings klagen „echte“ Start-ups,         schen auch jene zwei Suchgiganten,
kleine neue Firmen, die eine App             die vor 15 Jahren als Kleine began-
entwickelt haben, die Großen wür-            nen, Daum und Naver. Naver wurde
den ihre Ideen stehlen und kopie-            1998 von ehemaligen Samsung-Inge-
ren. Zu den Großen gehören inzwi-            nieuren gegründet.

                N AC H B A R I M N O R D E N

            Bild nur in
     Printausgabe verfügbar
   ➞ Bis Ende der sechziger Jahre war es das wirtschaftlich stärkere Korea, doch heute
  wäre Nordkoreas Situation mit „prekär“ noch freundlich umschrieben. Der unberechen-
         bare Nachbar bleibt ein enormes Risiko für Seoul – auch ökonomisch.

Nordkorea beunruhigt die ganze Welt,         Pflichtübung. Sie haben kaum mehr
nur die Südkoreaner beschäftigen sich        Gefühle für das Bruderland, von dem
kaum mehr mit dem isolierten und             sie auch gar nicht viel wissen.
oft unberechenbaren Regime an ih-                Südkoreas Gesetze verbieten jeden
rer nördlichen Grenze. Seit in Seoul         unautorisierten Kontakt nach Nord-
2008 die Konservativen an die Macht          korea unter Strafandrohung, Besu-
zurückgekehrt sind und die Diktatur          che sowieso. Der Norden würde freie
in Pjöngjang mit dem 32-jährigen Kim         Kontakte erst recht nicht zulassen. Es
Jong-un in der dritten Generation an-        gibt keine Post und keine Telefonver-
gekommen ist, finden kaum noch Fa-           bindungen zwischen den beiden Ko-
milienzusammenführungen statt.               reas. Nach dem Waffenstillstand 1953
Und wenn es doch noch geschieht,             wussten viele Menschen Jahrzehnte
dann bricht das den über 80-jährigen         lang nichts von ihren Angehörigen
Koreanern, die ihre Verwandten, zu-          auf der anderen Seite der Demilitari-
weilen Geschwister, zum ersten Mal           sierten Zone (DMZ), wie die Waffen-
seit 65 Jahren wiedersehen, beinahe          stillstandslinie entlang des 38. Brei-
das Herz. Für viele Jüngere dagegen,         tengrads genannt wird.
die ihre Großmütter und Onkel be-                Bis Ende der sechziger Jahre war
gleiten, sind die Familientreffen bloße      Nordkorea das wirtschaftlich stär-

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                             39
Länderporträt Südkorea

     kere Land. Zwei Drittel der kore-        che Verteilung, die alle Nordkorea-
     anischen Industrie lagen nach der        ner gegen Bezugsmarken mit Lebens-
     Grenzziehung im Norden, sie wurde        mitteln versorgte, brach zusammen.
     mit Hilfe der Sowjets nach dem Ko-       Die Infrastruktur, die auch heute
     rea-Krieg wieder aufgebaut. Mit mi-      noch aus der japanischen Kolonial-
     litärischer Strenge mobilisierte das     zeit stammt, wurde immer maroder.
     Regime Arbeitskräfte. Dazu unter-        1995 bis 1997 kam es zu einer Hun-
     stützten der sowjetische Machtblock      gersnot, der nach Schätzungen ein bis
     und China die Demokratische Volks-       zwei Millionen Menschen zum Opfer
     republik Korea, wie das Land offiziell   fielen. Aus humanitären Gründen un-
     heißt. Es war ein Frontstaat im Kal-     terstützten Südkorea, die USA, Chi-
     ten Krieg.                               na, Japan und andere Länder den Nor-
         Südkorea, durch die Teilung abge-    den ab 1995 mit Lebensmitteln, Dün-
     schnitten von seiner früheren indus-     ger und Energie.
     triellen Basis, versank in Korrupti-         War der Süden in den ersten an-
     on, Repression, Stagnation und Cha-      derthalb Jahrzehnten nach dem Ko-
     os. Das wirtschaftliche Ungleichge-      rea-Krieg das arme Korea, ist heu-
     wicht wuchs in den fünfziger Jahren      te die südkoreanische Wirtschaft
     sogar noch. Südkorea war eines der       40 Mal größer als jene des Nordens,
     ärmsten Drittweltländer. Die wach-       das Pro-Kopf-Einkommen beträgt
     sende Diskrepanz trug zur Dringlich-     etwa das 18-Fache.
     keit bei, mit der Diktator Park Chung-       Die Präsidenten Kim Dae-jung
     hee, nachdem er sich im Mai 1961 an      (1998–2003) und Roh Moo-hyun
     die Macht geputscht hatte, die Moder-    (2003–2008), beide ehemalige Men-
     nisierung der Wirtschaft vorantrieb.     schenrechtler, leiteten mit der so ge-
     Wenn Nordkorea dem Süden davon-          nannten „Sonnenscheinpolitik“ ein
     eilte, drohte sich das auch auf das      Tauwetter zwischen den beiden Ko-
     militärische Potenzial auszuwirken.      reas ein. 2002 eröffnete Hyundai
     Denn 1961 hatte die Sowjetunion den      Asan, eine Nachfolgefirma des de-
     ersten Menschen ins All geschickt so-    montierten Hyundai-Chaebols, jen-
     wie die Berlin- und die Kuba-Krise       seits der DMZ auf dem Gebiet der
     verursacht. Der Westen musste nun        nordkoreanischen Stadt Keasong ei-
     wieder auf Südkorea schauen.             nen Industriepark. 123 kleine und
         Während also Südkoreas Wirt-         mittlere südkoreanische Unterneh-
     schaft in den folgenden Jahren mit       men produzierten hier mit 53 000
     dem „Wunder am Han“ im Schnitt           (billigen) Arbeitskräften aus dem
     um 9 Prozent jährlich wuchs, geriet      Norden Güter der Leichtindustrie:
     die Wirtschaft des Nordens mehr          Schuhe, Kleider und Uhren.
     und mehr ins Stocken. 1979 konn-             Für Nordkorea wurde der Indus-
     te Pjöngjang seine internationalen       triepark Kaesong zur wichtigen Ein-
     Schulden nicht mehr begleichen, von      nahmequelle, der innerkoreanische
     der Effizienz seiner Planwirtschaft      Handel wuchs auf etwa 2,4 Milliar-
     war nichts mehr übrig. Mit dem Kol-      den Euro jährlich. Seoul hatte viel
     laps der Sowjetunion verlor man auch     größere Pläne: Wenn Nordkorea sich
     noch die Einbindung in den sowjeti-      dereinst öffne, so die Überlegung,
     schen Wirtschaftsraum. Die staatli-      dann würde es für die Dauer einer

40                                                           IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

Generation zum billigen Produkti-            verstoßen hatte. Auch der Süden hat-
onsstandort – wie es Südkorea einst          te von Kaesong profitiert, vor allem
war, dann China und heute Vietnam.           der Mittelstand. Die Schließung trug
Mit Kaesong hatte Seoul bereits einen        zur derzeit schlechten Stimmung in
Fuß in der Tür.                              der südkoreanischen Wirtschaft bei.
   Kaesong funktionierte mit einer           Noch bedrohlicher ist, dass mit Kae-
Unterbrechung von April bis August           song das letzte gemeinsame Projekt
2013 ziemlich reibungslos. Für Nord-         der Bruderstaaten gescheitert ist. Zu-
korea war Kaesong nicht nur wirt-            mindest vorerst. Das macht Nordko-
schaftlich wichtig, die Anlage bot den       rea unberechenbarer, was wiederum
Arbeitern auch ein Fenster zum Sü-           die Wirtschaft des Südens belastet.
den. Im Februar 2016 schloss Seoul           Der Wechselkurs und die Börse re-
den Park als Sanktionsmaßnahme,              agieren empfindlich auf jede der Pro-
weil Nordkorea mit Atom- und Ra-             vokationen, mit denen Pjöngjang die
ketentests gegen UN-Resolutionen             Welt immer wieder überrascht.

                                O LY M P I A

            Bild nur in
     Printausgabe verfügbar
    ➞ Anders als noch im Sommer 1988 in Seoul muss sich Südkorea bei den Winter-
  spielen in Pyeongchang 2018 nicht mehr als innovative Industrienation beweisen. Doch
       werden es wirklich die versprochenen „vernünftigen, wirtschaftlichen Spiele“?

Mit den Olympischen Sommerspielen            trächtigste Sportereignis der Welt aus-
1988 versuchte Seoul ein erstes Mal,         richtete – und zur Selbstdarstellung
in der industrialisierten Welt „anzu-        eines Regimes nutzte.
kommen“. Außer Japan, das sich nach             Militärdiktator Park Chung-hee
der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg          war im Oktober 1979 persönlich an
mit den Sommerspielen 1964 in Tokio          der Entscheidung für eine Bewerbung
gleichsam zurückmeldete, war Mexi-           Seouls beteiligt. Drei Wochen später
co City 1968 die einzige Stadt eines         war er tot – ermordet vom Komman-
Entwicklungslands, die das prestige-         danten seiner Leibwache. Die gewähl-

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                             41
Länderporträt Südkorea

     te Nachfolgeregierung meinte, Süd-        Yuna stellten sie einige Jahr lang die
     korea könne sich die Spiele nicht leis-   beste Eiskunstläuferin der Welt. Aber
     ten und wollte verzichten. Doch Chun      dabei handelt es sich um einige we-
     Doo-hwan, der nächste Diktator, der       nige Berufsathleten. Selber Winter-
     sich im Dezember 1980 an die Macht        sport zu treiben, ist vielen Südkore-
     geputscht hatte, setzte die Kandidatur    anern nach wie vor fremd, viele alpi-
     durch. Kaum hatte Seoul den Zuschlag      ne Skianlagen mussten für die Spiele
     erhalten, verhängte er das Kriegsrecht.   2018 erst gebaut werden.
         Zum Chef des Bewerbungsko-                „Alpensia“, wo die nordischen
     mitees ernannte er Chung Ju-yung,         Wettbewerbe ausgetragen werden, ist
     den Gründer des Hyundai-Chae-             ein Retortendorf, das, wie der Name
     bols. Dessen Sohn Chung Mong-joon,        verrät, eine Skistation in den Alpen
     nach Hyundais Zerlegung CEO der           nachahmt. In den Wohnhäusern von
     Hyundai-Werften, holte einige Jah-        Yong­pyong, der alpinen Wettkampf-
     re danach die Fußball-WM 2002             stätte, hat KBS, der öffentlich-recht-
     ins Land. Und der Chef des Hanjin-­       liche Fernsehsender, eine Seifenoper
     Chaebols leitete die Bewerbung und        namens „Winter Sonata“ gedreht, die
     das Organisationskomitee für die          in ganz Ostasien populär wurde. Wie
     Olympischen Winterspiele in Pyeong­       in Alpensia gibt es auch in Yongpyong
     chang 2018, bis er diskreditiert und      keine permanenten Einwohner, nur
     zum Rücktritt gezwungen wurde. Die        Tourismuspersonal und Gäste.
     Chaebols lieben den Sport, und sie ge-        Slalomwettkämpfe gibt es hier
     winnen dabei – fast immer.                schon seit den Asian Games 1999, die
         Seoul baute drei U-Bahnlinien,        Biathlon-WM 2009 fand hier im Grü-
     richtete 47 neue Buslinien ein und        nen statt: auf schmalen Kunstschnee-
     plante eine „Olympia-Brücke“ über         bändern. Nach ersten Tests der Olym-
     den Han-Fluss. Die wurde allerdings       piaabfahrt im vorigen Winter be-
     erst zwei Jahre nach den Spielen fer-     schwerten sich Skiläufer aus Alpen-
     tig. Dem Ökonomen Pyun Do-young           ländern, die Hänge seien zu sanft.
     zufolge hat die Vorbereitung der Spie-    Ein Vertreter des US-Skiverbands da-
     le von 1982 bis 1988 0,4 Prozent zum      gegen lobte Pyeongchang und erklär-
     Bruttosozialprodukt Südkoreas beige-      te, er sei überzeugt, die ganze Region
     tragen und 336 000 Jobs geschaffen.       werde von den Spielen profitieren. Sie
     Andere Autoren halten seine Zahlen        sollen den Markt für Wintersport öff-
     für übertrieben. Geprägt waren die        nen – für Südkorea und auch gleich
     achtziger Jahre nicht vom wirtschaft-     für das benachbarte China, das die
     lichen Erfolg, sondern vom Protest ge-    Winterspiele 2022 durchführen wird.
     gen die Diktatur, von Unruhen und             In Pyeongchang übrigens, der
     Polizeibrutalität – auch und gerade       Kleinstadt, die den Spielen 2018 den
     bei der Vorbereitung auf Olympia.         Namen gab, werden keine Wettkämp-
         In Pyeongchang 2018 muss Süd­         fe stattfinden. Sie ist nur die regiona-
     korea sich nicht mehr als moder-          le Bezirkshaupt­stadt für die Skiwett-
     ne Industrienation beweisen, noch         kämpfe. Das Organisationskomitee
     nicht einmal als Wintersportnati-         arbeitet zu guten Teilen von Seoul aus
     on. Im Eisschnelllaufen gehören die       – wie das für Großereignisse in der
     Süd­koreaner zur Weltspitze. Mit Kim      südkoreanischen Provinz üblich ist.

42                                                             IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

    Die Regierung hat versprochen, Py-       gibt auch dieses Mal Geschichten der
eongchang biete „vernünftige, wirt-          Zerstörung: Ein 500 Jahre alter, für
schaftliche Spiele“ ohne Verschwen-          die Anwohner heiliger Wald wurde
dung von Steuergeldern. Der arme, we-        für Skipisten abgeholzt. Und was soll
nig entwickelte N
                ­ ordosten des Landes,       Gangneung, eine verschlafene Klein-
in dem Pyeongchang liegt, erhält eine        stadt an der Küste ohne Eislaufclub,
Anbindung an das Superschnellzug-            mit vier Eisstadien? Das größte Wirt-
netz. Darauf hätte die Provinz Gang-         schaftsproblem der Region, die Land-
won an der innerkoreanischen Gren-           flucht, hat auch das Versprechen Olym-
ze sonst lange warten müssen. Doch es        pia nicht aufhalten können.

             SCHÖNHEITSINDUSTRIE

            Bild nur in
     Printausgabe verfügbar
     ➞ Wenn Väter ihren Töchtern zum Abitur eine Lidkorrektur schenken und Touristen
   ein Pauschalpaket aus Schönheits-OP, Shopping und Sightseeing buchen, dann sind
          wir in Südkorea. Das Geschäft mit dem Aussehen boomt nach wie vor.

Schminke, Salben, plastische Chirur-         deren Touristinnen aus China, Hong-
gie: Südkorea ist in den vergangenen         kong, Taiwan, Indonesien, Vietnam
anderthalb Jahrzehnten zum Mekka             und Singapur. Viele fliegen per Pau-
der Schönheit geworden. Ein Viertel          schalpaket nach Jeju, Schönheits-OP,
aller weltweiten Schönheits-OPs fin-         Shopping und ­Sightseeing inbegriffen.
den hier statt. Allein in Seoul gibt es      Die Mehrwertsteuer für die Nasen-OP
500 Kliniken, ein zweites Zentrum            erlässt ihnen die südkoreanische Re-
ist die Ferieninsel Jeju. Jährlich wer-      gierung.
den in Südkorea 650 000 Operatio-                Der häufigste Eingriff ist die Lid-
nen durchgeführt, die Kliniken set-          korrektur, weit mehr als die Hälfte
zen damit vier Milliarden Euro um.           der jungen Südkoreanerinnen lässt
Die Hälfte der Patientinnen und Pati-        sich eine zweite Lidfalte modellieren,
enten – etwa 15 Prozent sind Männer          damit das Auge größer erscheint. Das
– sind Südkoreaner, die meisten an-          gilt überall in Asien als schön. Bis vor

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                            43
Länderporträt Südkorea

     einigen Jahren verschwiegen junge            einen Mitarbeiter auswählen. Nach ih-
     Frauen die Eingriffe, dann begannen          ren Kriterien gefragt, sagten die Südko-
     sie, darüber zu reden. Heute sei eine        reaner, sie hätten die Leute aufgrund
     Schönheits-OP so normal, dass nie-           ihrer Fotos ausgewählt, die Amerika-
     mand mehr darüber spreche, erzählt           ner aufgrund des Anschreibens.
     eine junge Frau in Seoul. „Harmloser             Dabei gehe es den Südkoreanern
     als ein Zahnarztbesuch.“ Die Lidkor-         gar nicht um Schönheit an sich, glaubt
     rektur gilt als typisches Geschenk des       der Psychologe Suh, „sondern um Kon-
     Vaters zum Abitur. Viele Südkoreane-         kurrenz; in dieser, fast würde ich sa-
     rinnen glauben, ein verbessertes – vor       gen, eifersüchtigten Gesellschaft“ wol-
     allem: normiertes – Aussehen wirke           le jeder haben, was der Nachbar hat
     sich positiv auf die Berufschancen aus.      – „und auf keinen Fall zu kurz kom-
         Dem Aussehen eines Menschen              men.“ Doppelte Augenlider sind so-
     wird in den Gesellschaften Ostasi-           mit ein Statussymbol – wie ein gro-
     ens generell mehr Bedeutung zuge-            ßes Auto oder das neueste Smartpho-
     messen als in Europa. Der Psychologe         ne. Im Westen kämen die Klienten
     Suh Eun-kook, Professor an der Yon-          zum Schönheitschirurgen mit dem
     sei-Universität in Seoul, hat Proban-        Wunsch, eine kleinere Nase zu bekom-
     den in den USA und Südkorea Bewer-           men, in Südkorea mit dem Foto eines
     bungsunterlagen vorgelegt, sie sollten       Filmstars: So wollen sie aussehen.

               WERF TEN IN DER KRISE

                Bild nur in
         Printausgabe verfügbar
          ➞ Mit über 40 Prozent Marktanteil ist die südkoreanische Schiffbauindustrie die
       größte der Welt. Doch heute gehen die Geschäfte nicht mehr ganz so gut. Einst Motor
                des Aufschwungs, sind die Werften zum Klotz am Bein geworden.

     Der Zeitpunkt war mit Bedacht ge-            Präsidentin, ein Programm zum Auf-
     wählt: Am Neujahrstag 1973 kün-              bau einer Schwer- und Chemieindus-
     digte Südkoreas Militärdiktator Park         trie an. Mit Schwerindustrie mein-
     Chung-hee, der Vater der heutigen            te Park vor allem Schiffswerften. In-

44                                                                  IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

ternationale Experten reagierten mit       suchten Kredite für den Aufbau ei-
Spott. Doch das Fundament für die          ner Werft – und Aufträge. Zunächst
erste Werft war bereits gelegt. Heute      ohne Glück: Weder in den USA noch
ist die südkoreanische Werftindustrie      in Europa schien etwas zu holen zu
mit mehr als 40 Prozent Marktanteil        sein, Banker in Frankreich und der
die größte der Welt. Allerdings muss       Schweiz hätten sie gar ausgelacht, so
sie sich inzwischen gegen die aufstre-     Chung. In der Barclays Bank in Lon-
bende, billigere Konkurrenz wehren,        don hätte man ihnen immerhin zu-
vor allem aus China.                       gehört, machte einen Kredit aber von
    Wenn Park den Vorstoß in eine          einem Auftrag abhängig. Ein griechi-
neue Branche anging, hatte er das zu-      scher Reeder war schließlich bereit,
vor stets mit den Chefs der großen         das Risiko einzugehen und bestellte
Chaebols abgestimmt. Dafür genos-          zwei Öltanker.
sen die Chaebol-Chefs alle möglichen           Zehn Jahre später verlangte die
Privilegien, sie durften die Institutio-   Vereinigung amerikanischer Werften
nen der staatlichen Bürokratie nutzen      Sanktionen gegen Südkoreas Werft­
– oder nach Bedarf umgehen – und           industrie, weil sie den Amerikanern
hatten direkten Zugang zum Blauen          alle Aufträge vor der Nase wegschnap-
Haus, dem Amtssitz der Staatspräsi-        pe. Heute ist Hyundais Werft in Ul-
denten. Schon 1964 hatten Park und         san die größte der Welt und Hyundai
seine Junta zusammen mit den Indus-        der größte Schiffbauer. Auch auf Platz
triellen festgelegt, auf welche Export­    zwei und drei finden sich Südkorea-
industrien Südkorea setzen sollte          ner: Daewoo und Samsung. Doch alle
    1971, also bereits zwei Jahre vor      südkoreanischen Schiffbauer, ein-
Parks Ankündigung, erinnerte sich          schließlich der „Großen Drei“, sind
Hyundai-Gründer Chung Ju-yung              hoch verschuldet oder bereits Plei-
später, sei er – bereits ein erfolgrei-    te gegangen. Im Schiffbau herrscht
cher Bauunternehmer und Autobau-           weltweit Überkapazität, die Fracht-
er – von Park nach Europa geschickt        preise für Container sind eingebro-
worden. Er wusste ja, wie man in           chen. Hanjin, die größte südkoreani-
neue Branchen expandiert: Als er           sche Reederei, musste im September
Zement für seine großen Bauprojek-         Bank­rott anmelden. Auch die Nach-
te brauchte, baute er eine Zementfa-       frage nach Ölplattformen, ein wichti-
brik, für Röhren eine Röhrenfabrik.        ger Geschäftsbereich für große Werf-
Und weil er keine vernünftige Un-          ten, hat wegen des niedrigen Ölpreises
terbringungsmöglichkeit für die Ge-        massiv nachgelassen.
schäftsleute hatte, die seine Werke            Damit sind Südkoreas Werften,
in Ulsan im Südosten der Koreani-          einst Motoren des Aufschwungs, zum
schen Halbinsel besuchten, baute er        Klotz am Bein geworden. Sie müssen
kurzentschlossen ein Hotel – aus dem       restrukturiert werden und Kapazitä-
ein kleines Tourismusunternehmen           ten abbauen. Aber vor allem die drei
wurde. Vom Schiffbau dagegen hatte         Mega-Werften zögern. Damit gefähr-
er keine Ahnung.                           den sie sich nicht nur selber, sondern
    Mit einem Bruder reiste Chung          auch ihre Gläubiger, vor allem südko-
nun in die Schweiz, nach Paris, nach       reanische Banken. Nach Schätzun-
London, in die USA. Die beiden             gen schulden sie ihnen 70 Billionen

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                        45
Länderporträt Südkorea

     Won, etwa 50 Milliarden Euro. Auch         bols mehr hat, an, ihr Finanzminis-
     deshalb kündigte die Regierung von         terium wolle die drei großen Werften
     Präsidentin Park Geun-hye, die aller-      zwingen, bis 2018 ihre Kapazitäten
     dings ganz anders als ihr Vater keine      um 20 Prozent und ihre Belegschaf-
     effektiven Druckmittel auf die Chae-       ten um 30 Prozent zu verringern.

             ZEITBOMBE DEMOGRAFIE

               Bild nur in
        Printausgabe verfügbar
              ➞ Die Südkoreaner verlassen ihre Dörfer und ziehen in die Stadt; ganze
        Provinzen werden entvölkert. Zusammen mit der dramatisch gesunkenen Geburten-
                 rate ergibt das ein Bild, das nur wenig Anlass zur Hoffnung bietet.

     Von den 50 Millionen Einwohnern            sie tut es eher halbherzig. Der Ver-
     Südkoreas lebt fast die Hälfte im          such, eine neue Hauptstadt in Sejong
     Großraum Seoul. Damit ist das Land         zu bauen, das mit dem Superschnell-
     eines der zentralisiertesten der Welt      zug etwa eine Stunde entfernt von Se-
     – und noch ziehen immer mehr Men-          oul liegt, ist gescheitert. Die hypermo-
     schen in die Hauptstadtregion. Junge       derne Stadt wurde zwar gebaut, aber
     Leute hoffen, in Seoul bessere Stel-       die Ministerien drückten sich vor ei-
     len zu finden, Eltern behaupten, die       nem Umzug.
     Schulen seien hier besser und es sei           Im Dorf Jungmaeub im schon im-
     leichter für ihre Kinder, Freunde zu       mer dünn besiedelten Hinterland der
     finden. Außerdem fehlt es auf dem          Ostküste ist die Landflucht so weit
     Land an Hagwons, den Nachhilfe-            fortgeschritten, dass im März die
     schulen, welche die Schüler auf die        Grundschule dichtmachen musste.
     Aufnahmeprüfungen an Universitä-           Am Ende wurden hier nur noch zwei
     ten vorbereiten sollen.                    Schüler unterrichtet, ein Fünft- und
         In allen Teilen Südkoreas wird         ein Sechstklässler. Vor 40 Jahren be-
     die Provinz nach und nach entvöl-          suchten 250 Kinder die Grundschu-
     kert. Zwar versucht die Regierung,         le von Jungmaeub, 1995 noch 100, im
     diese Entwicklung zu bremsen. Aber         Jahr 2005 noch 50. Der Hausmeister

46                                                               IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon

Jeon Won-kyo hielt bis zum letzten         gen Jahren werden auf den Dörfern
Tag alle Klassenzimmer bereit, ob-         70-Jährige die 90-Jährigen pflegen
wohl er wusste, dass sie nie mehr ge-      müssen – und überfordert sein.
braucht würden. Dieses Dorf ist kei-           In Wirtschaftszahlen gemessen
ne Ausnahme. In den vergangenen            sind die aussterbenden Dörfer fast
15 Jahren haben bereits 3600 Land-         zu vernachlässigen. Aber ihr Beitrag
schulen dichtgemacht. Nach der Schu-       zum Sozialgefüge der Gesellschaft
le schlossen dann der Dorfladen, die       und auch zur Wirtschaft können die
Bankfiliale, Post und Polizeiposten.       Parameter der Ökonomie allein nicht
Ohne Schule gibt es keine Zukunft.         beziffern. Und damit kann auch nicht
    In Geundok, einem größeren Dorf        ermessen werden, wie groß der Scha-
an der Küste, gibt es Sandstrände für      den ist, den die Landflucht anrichtet.
Touristen, Fischerei und sogar etwas           Die Südkoreaner sind sich ihrer
Industrie. Doch auch hier verliert die     demografischen Zeitbombe durch-
Schule Schüler. In den siebziger Jah-      aus bewusst, sie ist Thema von Fil-
ren führte sie vier Klassen pro Jahr-      men und Romanen. Vor einigen Jah-
gang, vor 20 Jahren zum letzten Mal        ren brach der Dokumentarfilm „Wo-
zwei. Jetzt sitzen in der sechsten Klas-   nang Sori“ („Klang der Kuhglocken“,
se noch 16 Kinder, in der ersten noch      im internationalen Verleih „Old Part-
sieben. Die Lehrer versuchen, den El-      ner“) alle Rekorde. Mit viel Einfüh-
tern den Wegzug in die Stadt auszu-        lungsvermögen zeigt der Regisseur
reden: Aber auf dem Dorf glauben           Lee Chung-ryol die Fürsorge eines
die Leute, in der Kreisstadt sei alles     80-jährigen Bauern für seinen 40 Jah-
besser. Aus der Kreisstadt wollen die      re alten Ochsen. Derweil vernachläs-
Menschen dann in die Provinzhaupt-         sigt der Bauer seine Frau.
stadt. Und von dort nach Seoul. Das            In den Großstädten sahen die Süd-
ist auch eine Frage des Prestiges.         koreaner den Film als Hymne auf die
    Schuld an der Misere ist freilich      verlorene Vergangenheit auf dem Lan-
nicht nur die Landflucht. 1965 hatte       de – und erkannten sich in den Kin-
eine Südkoreanerin im Durchschnitt         dern das alten Paares wieder, die zu
6,3 Kinder, heute noch 1,25. Dafür         Chuseok, dem südkoreanischen Ern-
gibt es Gründe: Es ist teuer gewor-        tefest, aus der Stadt kommen, aber es
den, Kinder zu haben. Und viele jun-       kaum abwarten können, wieder ge-
ge Südkoreanerinnen mögen in die-          hen zu dürfen. Erst recht ein schlech-
ser noch immer patriarchalisch ge-         tes Gewissen machte den jungen Städ-
prägten Gesellschaft gar nicht heira-      tern der Roman „Als Mutter ver-
ten. Einen Mann auf dem Land schon         schwand“ von Sin Kyong-suk, in dem
gar nicht. Viele Bauern holen sich ihre    eine alte Bäuerin im U-Bahn-Laby­
Ehefrauen deshalb aus Vietnam, In-         rinth der Hauptstadt verloren geht,
donesien oder von den Philippinen.         als sie ihre erwachsenen Kinder in
    Zurück bleiben die Alten. Im Dorf      Seoul besucht. In Südkorea hat man
Jungmaeub versorgen sich viele noch        erkannt, dass das Land in eine De-
selbst, das Problem der Überalterung       mografiefalle gerät. Manche warnen,
ist für Südkorea noch neu. Aber die        aber keiner kennt einen Ausweg. Die
Alten werden immer älter. In weni-         Regierung schon gar nicht.

IP Länderporträt • 3 / 2016                                                        47
Sie können auch lesen