Kleines Wirtschaftslexikon - Internationale Politik
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Länderporträt Südkorea Kleines Wirtschaftslexikon von Christoph Neidhart ASIEN-KRISE Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ In Südkorea ist es nur die „IWF-Krise“: Der Wirtschaftseinbruch in Südostasien ab 1997 wird dem Internationalen Währungsfonds angelastet. Dass man die Krise rasch überwand, hat auch mit dem großen Patriotismus der Südkoreaner zu tun. Die Südkoreaner sind Patrioten – ihre Cousins im Norden hören das aus manche Leute sagen: Chauvinisten. In Pjöngjang bis heute. den Jahrzehnten der Diktatur (1961– In seinem Buch „To Build a Na- 1987) waren es nicht nur die Repres- tion“ (1971) brüstete sich Präsident sion und die Aussicht auf ein besseres Park Chung-hee, von 1961 bis 1979 Leben, die sie mehr schuften ließen als Südkoreas Militärdiktator, er habe alle anderen Nationen. Die Propagan- seinen Landsleuten „Vertrauen und da bläute ihnen überdies ein, dass das Mut gegeben, die nationalen Ziele im auch gut so sei, weil sie alle zusammen Geist der Einheit zu erreichen“. Zu im Dienste ihrer Nation arbeiteten – diesen patriotischen Zielen gehör- 28 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon te auch der Wunsch, Nordkorea, das dem Staat stifteten, um die knappen nach dem Korea-Krieg wirtschaft- Goldreserven der Notenbank zu ver- lich stärkere Land, zu überflügeln. In größern. In kurzer Zeit kamen meh- Wirklichkeit hatten die Südkoreaner rere Milliarden Euro zusammen. Und gar keine Wahl – Park zwang sie ein- nicht zum ersten Mal: Schon im Jah- fach zur Arbeit. re 1907 hatten die Koreaner einmal Der Militärdiktator war es auch, privates Gold gesammelt, um ihrem der dem Land eine Art kulinarische Staat dabei zu helfen, seine Schulden „Fünf-Tage-Woche“ verordnete: An zurückzuzahlen. zwei Tagen pro Woche war es den Re- Den Begriff „Asien-Krise“ leh- staurants verboten, Reis zu servieren, nen die Südkoreaner ab. Sie nen- die Grundlage der koreanischen Kü- nen den Wirtschaftseinbruch 1997 che. An den übrigen Tagen sollten die die „IMF-Krise“, nach dem Interna- Restaurants Gerste in den Reis mi- tionalen Währungsfonds. Zu Beginn schen, um Reis zu sparen. Park woll- der neunziger Jahre waren Investiti- te auf keinen Fall Devisen für Reisim- onen in so genannte Schwellenländer porte aus dem Land fließen lassen. Mode geworden; Banker und Investo- Den Lohn für ihren Fleiß erhiel- ren pumpten Milliarden nach Thai- ten die Südkoreaner gewisserma- land, Südkorea, Indonesien, Malaysia ßen indirekt, in Form von Neid aus und die Philippinen. dem Norden. Eine gern kolportierte Es bildeten sich Investitions- Anekdote verdeutlicht das: Als die blasen, die Auslandsschulden die- Rotkreuz-Vertretungen der beiden ser Länder stiegen, ihre Währun- Koreas 1971 zum ersten Mal nach gen wurden überbewertet. Bis die dem Korea-Krieg Gespräche führ- Rückgabe Hongkongs an China und ten, soll der nordkoreanische Delega- der gleichzeitige Kollaps des thailän- tionsleiter seinem südkoreanischen dischen Bahts, gegen den westliche Gegenüber angesichts des schon da- Spekulanten gewettet hatten, eine mals brausenden Verkehrs in Seoul typische Anlegerpanik auslösten. gesagt haben, so leicht sei er nicht Die Gelder aus dem Westen wurden reinzulegen – es sei doch wohl of- abgezogen, Südostasiens Börsen und fensichtlich, dass Südkorea für den Währungen brachen ein. Besuch seiner Delegation alle Autos Dabei wurden auch Staaten an- des Landes nach Seoul beordert habe. gesteckt, deren Wirtschaft eigentlich Lee Bum-suk, der spätere Außenmi- vergleichsweise gesund war: Südko- nister Südkoreas, soll ihm entgeg- rea zum Beispiel. Allerdings brachte net haben: „Da sind Sie uns auf die die Krise die vielen Kreuzbeteiligun- Schliche gekommen. Aber das war gen der Chaebols ans Tageslicht. Ei- der leichte Teil. Viel schwieriger war nige dieser Familienkonzerne waren es, all die neuen Häuser nach Seoul so hoch verschuldet, dass sie nicht transportieren zu lassen.“ mehr ordentlich entflochten wer- Wie patriotisch die Südkorea- den konnten. Südkoreas Banken sa- ner wirklich sein können, demons- ßen auf faulen Krediten. So brachen trierten sie während der so genann- auch der Won und die Börse von Se- ten Asien-Krise 1997/98, als viele ih- oul ein, und der Notenbank gingen ren Goldschmuck und ihre Eheringe die Reserven aus. IP Länderporträt • 3 / 2016 29
Länderporträt Südkorea Der IMF eilte herbei, um zu hel- sich „gesund zu exportieren“. Das ist fen. Aber er kümmerte sich vor al- der Grund, weshalb die Südkoreaner lem darum, dass die Guthaben der von einer „IMF-Krise“ sprechen – sie westlichen Banken und Spekulanten werfen dem Westen und seinen Insti- rasch und vollständig zurückgezahlt tutionen Neokolonialismus vor. Süd- würden. Dazu zwang er die betrof- korea überwand die IMF-Krise bald, fenen Staaten zu brutalen Sparpro- auch dank der Goldspenden. Nur ei- grammen, womit er die Krise noch nige überschuldete Chaebols blieben verschärfte. Dabei wären diese Län- auf der Strecke, sie wurden in Einzel- der durchaus in der Lage gewesen, firmen zerschlagen. CHAEBOL Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Ohne sie wäre das „Wunder am Han“, Südkoreas rascher wirtschaftlicher Auf- schwung ab Mitte der sechziger Jahre, nie möglich gewesen: die Chaebols, die „reichen Sippen“. Doch heute sind die Familienkonzerne ausgesprochen umstritten. Es sind rund zwei Dutzend der Hinzu kommt, dass sich die Macht Chaebol genannten Familienunter- innerhalb dieser Gruppen auf wenige nehmen, die noch heute eine bedeu- Personen konzentriert, die ihre Füh- tende Rolle im südkoreanischen Wirt- rungsrollen nicht dank ihrer Kompe- schaftsleben spielen. Die Firmengrup- tenz und ihres Fleißes errungen ha- pen sind über Kreuzbeteiligungen mit- ben, sondern weil sie die Kinder und einander vernetzt – wie genau, bleibt Enkel der Gründer sind – und sich in der Regel im Dunkeln. Neben der über den Gesetzen stehend wähnen. mangelnden Transparenz ist es die Lee Kun-hee, der inzwischen schwer schlichte Übermacht einiger von ih- kranke Chef von Samsung, und Chung nen, die mittlerweile zu einem ernst- Mong-koo, der CEO von Hyundai Mo- haften Problem geworden ist: Samsung tors, wurden in den 2000er Jahren allein generiert etwa 20 Prozent der wegen Steuerbetrugs, falscher Buch- südkoreanischen Wirtschaftsleistung. führung und Unterschlagung zu drei 30 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon Jahren Haft verurteilt. Sie saßen je- ter von Militärdiktator Park Chung- doch keinen einzigen Tag ihrer Stra- hee, schon gar nicht. Kein Wunder, fen ab. Im Falle von Chung hieß es, denn Parks Vater ist quasi der Vater er sei zu wichtig für die Wirtschaft der Chaebols oder zumindest ihr Pate. Südkoreas, als dass man drei Jahre Als der damals 43-jährige Ex-Offi- auf ihn verzichten könnte. zier der japanischen Armee 1961 die Im so genannten „Nuss-Skandal“ Macht an sich riss, war Südkorea ei- erlaubte es sich Cho Hyun-ha, eine nes der ärmsten Länder der Welt. Das Tochter der Familie, die Korean Air würde es auch lange bleiben, meinten und die Reederei Hanjin beherrscht, die Experten der Weltbank und des in der ersten Klasse eines Fluges von IWF unisono. Südkorea hatte keine New York nach Seoul einen Flugbe- Ressourcen, die es hätte exportieren gleiter unflätig zu beschimpfen, weil können, und keine industrielle Basis. er ihr Macadamia-Nüsse falsch ser- Es war verarmt und vom Korea-Krieg viert hatte. Noch in New York ließ die völlig zerstört. Die USA finanzierten damalige Vizepräsidentin von Korean 75 Prozent seines Militär- und die Air die Boeing von der Rollbahn zum Hälfte seines zivilen Staatsbudgets, Gate zurückkehren und den Flugbe- um sich Südkorea als Bollwerk ge- gleiter von Bord werfen. gen den Kommunismus zu erhalten. Viele Beobachter in Südkorea Aber Washingtons Bereitschaft, das fürchten, die Chaebols könnten an korrupte Regime von Rhee Syng-man der Inkompetenz dieser dritten Füh- zu stützen, sank ab Anfang der sech- rungsgeneration zerbrechen. Selbst ziger Jahre rapide. Und Park hatte als wenn nur ein Chaebol unterginge, japanischer Offizier in der Mandschu- könnte er, kraft seiner Größe, das rei gesehen, wie die Japaner ein rück- ganze Land in eine Wirtschaftskrise ständiges Land entwickelten. stürzen. Die sogenannte Asien-Kri- Er wollte die westlichen Experten se 1997/98 bot einen Vorgeschmack – widerlegen. Die Grundidee des japa- etwa mit der Pleite von Daewoo. nischen Modells ist es, möglichst alle Um hier gegenzusteuern, versuch- Importe zu substituieren und eine ten die Staatspräsidenten Kim Dae- Exportindustrie aufzubauen. Dafür jung und Roh Moo-hyun, die Chae- brauchte Park Partner. Die fand er in bols in einzelne Firmen zu zerschla- den Familien der Kriegsgewinnler, gen. Hyundai Motors ist seither ein die während des Korea-Krieges und eigenständiges Unternehmen, zu danach mit der Not ihrer Landsleute dem heute auch Kia gehört. Mit den und als Dienstleister für die US-Ar- Werften von Hyundai, dem Bauun- mee Geschäfte machten: Chung Ju- ternehmen und dem Reiseveranstal- yung etwa, der Gründer von Hyundai ter Hyundai Asan ist der Autobau- (siehe auch „Wer bewegt Südkoreas er nicht mehr vernetzt. Aber Präsi- Wirtschaft“, S. 54). Als die US-Ar- dent Lee Myung-bak (2008–2013), mee gleichsam über Nacht Quartier der selbst als Manager eines Chae- für 100 000 Mann brauchte, emp- bols Karriere gemacht hatte, moch- fahl er den Offizieren seinen älteren te die Demontage der Familienun- Bruder als „Bauunternehmer“, ob- ternehmen nicht weiterführen. Und wohl dessen Firma damals aus nur Präsidentin Park Geung-hye, Toch- fünf Leuten und einem Ochsenkar- IP Länderporträt • 3 / 2016 31
Länderporträt Südkorea ren bestand. Chung versprach, Unter- vergangenen Jahren wenig Gelegen- künfte zu organisieren. Er requirierte heit zur Expansion geboten hat und Schulhäuser, seine Leute desinfizier- Südkoreas Exportkonzerne billigere ten sie und strichen sie neu. Die Sol- Konkurrenten aus China abwehren daten zogen ein, die Offiziere waren müssen. Damit hat derzeit Hanjin zu zufrieden. Weitere Aufträge folgten, kämpfen, der Chaebol des Cho-Clans, bald auch Bauvorhaben. Die Ameri- dem Korean Air und Hanjin Shipping kaner hätten nie nach dem Preis ge- gehört. Die siebtgrößte Reederei der fragt, erinnerte sich Chung später. In Welt musste im September Konkurs seiner Garage baute er Army-Jeeps anmelden; Cho Yang-ho, der Patriarch um, erledigte mit Kleinlastern bald des Chaebols, war schon im Frühjahr auch Transporte für die Amerikaner von den Gläubigern seiner Funktio- – und holte seine fünf Brüder ins Ge- nen enthoben worden. schäft. Nach Ende des Korea-Kriegs Einige andere Chaebols, SK und 1953 erhielt er Aufträge für den Wie- LG etwa, scheinen ordentlich zu deraufbau; die Amerikaner blieben funktionieren, aber auch SK mach- seine besten Kunden. te Negativschlagzeilen. So wurde SK- Solche Leute scharte Park Chung- Boss Choi Tae-won 2013 wegen Un- hee um sich. Männer, die improvisie- terschlagung verurteilt: Er sollte für ren konnten, die wenig Skrupel hatten vier Jahre ins Gefängnis, wurde aber und viel wagten. Zusammen mit ihnen von Staatspräsidentin Park begnadigt. machte er neue Industriezweige aus- Samsung, der größte Chaebol, rei- findig, in deren Aufbau er dann Staats- tet derzeit mit seiner Elektronikspar- gelder investierte. Er garantierte den te auf einer Welle des Erfolgs. Doch Unternehmern den Inlandsabsatz, in- in Seoul zweifeln viele auch an der dem er die Grenzen schloss, und sorg- Führungskompetenz von Samsungs te für billige Produktionsbedingungen. dritter Generation und fürchten, Dazu brachte er alle, die Arbeitneh- eine Samsung-Krise könnte das gan- merrechte einforderten, zum Schwei- ze Land in eine Rezession reißen. gen; Oppositionelle ließ er verfolgen. Hyundai Motor, der viertgrößte Mit den Chaebols wuchs auch die Autobauer der Welt, versucht sich seit südkoreanische Wirtschaft, und die der Aufspaltung des Hyundai-Cha- Familienkonzerne entwickelten sich ebols im Jahr 2000 von anderen zu immer komplizierteren Konglo- Hyundai-Unternehmen und ihren meraten, von denen niemand wuss- Schwierigkeiten abzugrenzen und te, wie wirtschaftlich gesund sie wa- sich als modernes globales Unterneh- ren. Solange Südkorea eine Diktatur men zu positionieren. Der Öffentlich- war, durften die Chaebols praktisch keit gilt jedoch auch Hyundai Motor tun, was sie wollten, wenn es nur dem weiterhin als Chaebol, zumal mit dem Wachstum diente. Und weil Südko- 78-jährigen Chung Mong-koo noch rea rasch wuchs, konnten die Chae- immer der Sohn des Chaebol-Grün- bols immer wieder aus ihren finan- ders an der Spitze steht. ziellen Problemen herauswachsen. In Einst galten die Familienkonzer- einer entwickelten Industriegesell- ne als geachtete, patriotische Institu- schaft ist das heute kaum mehr mög- tionen. Heute möchten zwar noch im- lich. Zumal die Weltwirtschaft in den mer viele junge Leute bei ihnen arbei- 32 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon ten, aber vor allem für die dritte Gene- tung. Die Chaebol-Familien haben bis ration, die mit einem goldenen Löffel heute nicht verstanden, dass die Zei- geboren wurde, wie die Südkoreaner ten endgültig vorbei sind, in denen die sagen, haben viele nur noch Verach- Gesetze für sie nicht galten. E-SUCHT Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ 10 Prozent der südkoreanischen Jugendlichen sind Internet-abhängig, weitere 20 Prozent sind gefährdet. Die Regierung hat die Epidemie erkannt, doch allzu sehr möchte sie die Computerindustrie nicht bremsen – E-Leben ist ein Exportfaktor. Südkorea ist nicht nur das vernetztes- leten: Bleiche, oft schmächtige Jüng- te Land der Welt, es ist auch das Land linge starren angespannt auf ihre mit der höchsten Smartphone-Dich- Bildschirme und zucken nervös mit te und das Mekka des E-Sports. So ihrer Computermaus oder tippen ra- nennt man Computergame-Wett- sant auf ihrer Tastatur. Im spärlich kämpfe, die Spiele wie „Starcraft besetzten Publikumsraum sitzen vor II“ oder „Global Offensive“ bieten. allem junge Mädchen. Die besten Bereits seit 2003 gibt es hier eine E-Sportler sind ihre Helden und die E-Sport-Profiliga, ihre Teams wer- Sieger spritzen mit Champagner wie den von großen Konzernen gespon- die Formel-1-Piloten. Hunderttausen- sort. Der E-Sport-Verband überwacht de junge Südkoreaner spielen zuhau- 25 Spielekategorien. se am Computer oder im Internet Manche Meisterschaftswettkämp- café ebenfalls um Punkte eines Ran- fe finden auf Bühnen in Einkaufs- kingsystems. zentren statt. Die so genannten Cy- Manche Südkoreaner sind ernst- berathleten sitzen an großen Desk- haft der Ansicht, E-Sport sei eine top-Computern, sie tragen einheit- Sportart der Zukunft, die dem physi- liche Trainingsanzüge wie Sportler, schen Sport gleichgestellt werden sol- erinnern sonst jedoch kaum an Ath- le. Der E-Sport-Verband ist mit dem IP Länderporträt • 3 / 2016 33
Länderporträt Südkorea Olympischen Komitee verbandelt und men, heute trägt jeder Jugendliche die wird vom Kulturministerium aner- Versuchung zur Sucht ständig in der kannt. Es gibt Fernsehkanäle, die aus- Tasche: das Smartphone. schließlich über E-Sport berichten. Die Regierung hat die Epidemie Die Kritiker des E-Sports werfen inzwischen erkannt, sie stellt sie der der IT-Industrie vor, sie mache das Alkoholabhängigkeit gleich. Der Grad ganze Volk zu Versuchskaninchen, der Sucht wird mit der so genannten zumal nicht nur der Sport virtuell ge- K-Skala gemessen, die auch inter worden sei, sondern das halbe Leben. national zur Anwendung kommt – Wer nicht alleine essen mag, kann K steht für Korea. 140 E-Sucht-Bera- über eine Videoverbindung einer tungszentren wurden geschaffen und jungen Dame beim Essen zuschauen. Entzugslager für Jugendliche organi- Und natürlich gibt es E-Sex. siert, die von der Regierung finanziert Die Kehrseite dieses Fortschritts werden. Smartphone-freie Internate ist die Internetsucht. 10 Prozent der erfreuen sich eines großen Zulaufs, oft Jugendlichen sind internetabhängig, sind sie die letzte Hoffnung der Eltern. weitere 20 Prozent gefährdet, so das Die Computerspiele-Industrie jedoch Gesundheitsministerium. Betroffen möchte die Regierung nicht bremsen, sind fast ausschließlich junge Män- schließlich gilt das E-Leben nicht nur ner. Zu Beginn waren es die Compu- als Fortschritt, sondern ist für Süd terspiele auf den großen Bildschir- korea auch ein Exportfaktor. FLEISS UND ARBEITSWUT Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Die jungen Leute seien faul geworden, hört man heute in Südkorea häufig. Zuge- geben: Sie arbeiten „nur“ noch fünf Tage – aber noch immer rekordverdächtig viel. Gut für die Wirtschaft – schlecht für den Inlandstourismus, denn Urlaub fällt meist aus. Ein Land, „in dem es keine Kapitalis- keinen Schwung, keine erkennba- ten, keine Protestanten, keine Kauf- re Geschichte des Handels und kei- leute, kein Geld, keine Ressourcen, ne industrielle Entwicklung“ gebe, 34 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon ein solches Land habe keine Chance, men, wie sie in den USA üblich wa- sich zu entwickeln. So fasst der His- ren. Zugleich pumpte Washington toriker Bruce Cumings die Vorurtei- Milliarden in das Land, um es dem le des Westens nach dem Korea-Krieg eigenen, antikommunistischen Lager zusammen. zu erhalten – und öffnete Südkorea Korrespondenten und Vertreter den US-Markt. des IMF schilderten das südliche Ko- Demokratie oder Menschenrechte rea als „hoffnungslosen Fall“. Zumal spielten in Washingtons Überlegun- die Südkoreaner „faule Tölpel“ seien. gen keine Rolle. Historiker Cumings Letzteres Vorurteil hatte der Westen findet es absurd, Park Chung-hees von den Japanern übernommen. Zu- R igorismus und Dirigismus mit „asi- dem stinke es überall nach Kuh- und atischen Werten“ erklären zu wollen. menschlichem Dung, berichteten die Der Konfuzianismus half den „alten US-Soldaten, die am Korea-Krieg teil- Patriarchen, deren einzige Legitima- nahmen. Die Südkoreaner düngten tion die Tradition war, höchstens, ihre Reisfelder damit. sich an der Macht zu halten“. Wenn Nur zwei Jahrzehnte später be- die Leute in Südkorea härter arbeite- gannen amerikanische Unterneh- ten als anderswo, dann war das eine men, ihre Produktion nach Südkorea Frage des Überlebens. Und immerhin auszulagern – wie später nach China. verbesserte sich ihr Alltag damals je- Die Arbeiter seien hier fleißiger, dis- des Jahr spürbar, zumindest wirt- ziplinierter, schneller und aufmerk- schaftlich. samer als in den USA. Zudem arbei- Heute hört man in Südkorea ge- teten sie sechs Tage pro Woche, nicht legentlich, die jungen Leute seien nur fünf. Die Unternehmer konnten faul geworden. Sie arbeiten „nur“ die Fließbänder 30 Prozent schneller noch fünf Tage, allerdings immer laufen lassen. Damit waren die süd- noch mehr Stunden als in den ande- koreanischen Arbeiter 2,5 Mal pro- ren OECD-Ländern. Sie haben zwar duktiver als ihre US-Kollegen, den- Anrecht auf Urlaub, doch viele neh- noch mussten die Fabrikanten ihnen men ihn nicht, oder nur wenige Tage. nur 10 Prozent jenes Lohnes zahlen, Alte Gewohnheiten ändern sich nur den ein Amerikaner verlangt hätte. langsam; der soziale Druck ist nach Der Fleiß der Menschen in Ost- wie vor groß. Man geht beispielswei- asien wird gerne mit dem Konfuzia- se noch immer nicht nach Hause, be- nismus erklärt. Das ist Unsinn. Süd- vor der Chef das Büro verlässt. Das korea war in der Zeit seines raschen hatten die wechselnden Regierungen Aufschwungs eine finstere Diktatur, jahrelang gepredigt. Auch der Fleiß die ihre Wirtschaft zentral plante, der Schüler und Studenten ist eine den Plan jedoch einem beschränkten Folge von Druck, in diesem Fall des kapitalistischen Wettbewerb unter- Konkurrenzdrucks und des Drucks warf und den Menschen an der Ba- der Eltern. sis Bedingungen wie im 19. Jahrhun- Die Regierung versucht inzwi- dert zumutete. Jede gewerkschaftli- schen, das zu ändern, nicht zuletzt, che Regung wurde unterdrückt. Es um den Inlandstourismus als Wirt- galten weder Sicherheits- noch Um- schaftszweig zu fördern. Die Süd weltschutz- oder Arbeiterschutznor- koreaner sollen mehr Geld ausgeben, IP Länderporträt • 3 / 2016 35
Länderporträt Südkorea um die Wirtschaft anzukurbeln. So Geun-hye jedoch blieb die fünf Tage sollen sie künftig beispielsweise Ski- Sommerurlaub, die sie sich im Juli laufen in Pyeongchang, dem Aus- nahm, im Blauen Haus, ihrem Amts- tragungsort der Olympischen Win- sitz, um zu arbeiten – wie schon im terspiele 2018. Präsidentin Park vorigen Jahr. H AG W O N Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Wer in der Seouler U-Bahn um Mitternacht Schüler über ihren Ranzen einschlafen sieht, der weiß, dass Aufnahmeprüfungen anstehen. Der Leistungsdruck macht das Betreiben von Nachhilfeschulen zu einem profitablen Geschäft. Jeweils am zweiten Donnerstag im wissenschaften, Geografie und Ge- November kommt Südkorea für ei- schichte geprüft. Die Punktzahl aus nige Stunden fast zum Erliegen. Eine dem Suneung entscheidet, für wel- gute halbe Stunde lang schließen so- che Universität man sich qualifiziert gar die Flughäfen. Viele Firmen fan- – und damit über die späteren Berufs- gen an diesem Morgen später an, um aussichten. Einige Chaebols rekrutie- den Verkehr zu beruhigen. Die Prima- ren nur Absolventen von Eliteunis, ner des ganzen Landes legen an die- und viele Südkoreaner halten sie noch sem Vormittag ihre „Suneung“ ab, immer für die besten Arbeitgeber. die nationale Aufnahmeprüfung für Die Schüler haben jahrelang auf die Universitäten. Taxifahrer bringen diesen Tag hin gebüffelt, sie sind Schüler, die spät dran sind, umsonst Abend für Abend in die Hagwon ge- an den Prüfungsort; zuweilen springt strömt, wie man die Nachhilfeschulen sogar die Polizei mit Blaulicht ein. nennt. Oft bis spät in die Nacht, man- Das Flugverbot gilt für die Zeit, in che seit der Kindergartenzeit. Dort der das Hören englischer Vokabeln ge- haben Lehrer ihnen endlos Multipli- testet wird. Im Multiple-Choice-Ver- kationsreihen, Vokabeln und später fahren werden außerdem Koreanisch chemische Formeln eingetrichtert. In und Literatur, Mathematik, Natur- der U-Bahn von Seoul sieht man noch 36 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon kurz vor Mitternacht Kinder über ih- zu kurz kommt – und dass Südko- ren Schulranzen einnicken. Der Leis- rea für seine Wirtschaft zu viele Uni tungsdruck in Südkorea ist enorm, die abgänger und zu wenig Praktiker und Kosten der Hagwons für Eltern auch. Handwerker ausbildet. Im Land gibt es etwa 80 000 Hag- Die Wertschätzung der Südkorea- wons; das Betreiben dieser Schulen ner für Bildung ist freilich viel älter als ist ein ausgesprochen profitables Ge- das Hagwon-System. Sie geht auf Kon- schäft. Angeblich sollen angesehene fuzianismus und Buddhismus zurück. Hagwons die Immobilienpreise in ih- Gemäß der koreanischen Geschichts- rer Umgebung anheizen, weil wohlha- schreibung eröffnete im Jahr 372 n. bende Familien dort wohnen wollen. Chr. eine erste öffentliche Schule ihre Der Erziehungsminister hat vor eini- Tore – für den Yangban, den landlo- gen Jahren verfügt, Hagwons müssten sen Adel. Lehrer waren damals hoch- spätestens um 22 Uhr schließen. Aber angesehen, schon in vormoderner Zeit die Regionalverwaltungen halten sich gingen auch viele Jungen auf den Dör- nicht daran, die Sperrstunde ist bei fern in eine Schule. Der Leistungs- den ehrgeizigen Eltern unpopulär. druck und ein strenger Wettbewerb Das Leben mancher Mütter dreht wurden in der zweiten Hälfte des 20. sich einzig und allein um die schu- Jahrhunderts über diese Traditionen lische Leistung ihrer Kinder. Das gestülpt – nach dem Krieg vor allem, führt dazu, dass die Sozialerziehung um die Wirtschaft anzukurbeln. I N N OVAT I O N Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Neue Erfindungen und Kreativität von „unten“ – das fand in Südkorea lange Zeit praktisch nicht statt. Mittlerweile hat man umgedacht und fördert den Pioniergeist auch staatlich. Mit Erfolg: Seouls Start-up-Szene blüht. Innovation kam in Südkorea tradi wurde verordnet – und erschöpfte tionell von oben, auch noch lange sich oft in der Nachahmung ausländi- nach den Zeiten der Diktatur. Sie scher Vorbilder. Aber S üdkorea lernt IP Länderporträt • 3 / 2016 37
Länderporträt Südkorea schnell. Seit einigen Jahren führt die Kapitalisten. Deshalb warfen sich vie- halbstaatliche Exportförderung Besu- le bei erster Gelegenheit in die schüt- chern gerne Start-ups vor. Zu Beginn zenden Arme eines Chaebols. waren das meist neu geschaffene Un- Inzwischen hat nicht nur der Staat terabteilungen großer Elektronikkon- erkannt, dass die Kreativität und die zerne oder ausgegliederte Bereiche. Risikobereitschaft nachlassen, je grö- Die ersten Internet-Start-ups entstan- ßer ein Unternehmen ist – auch, wenn den nach der sogenannten Asien-Kri- ein kleines Start-up in einem Konzern se 1997/98, als viele Chaebols Abtei- aufgeht. Seit einigen Jahren bietet der lungen schließen mussten. Staat deshalb Starthilfen und -kapital Die Ingenieure hatten gar keine an, und Venture-Kapitalisten aus Ka- andere Wahl, als selber anzufangen. lifornien haben Vertretungen in Se- Da zugleich das Breitbandnetz rasch oul aufgebaut. ausgebaut wurde und überall Inter- Zudem sind so genannte Inkuba- netcafés entstanden – 1997 gab es toren entstanden, Institutionen, die im ganzen Land etwa 100, fünf Jah- Räume und Infrastruktur für Firmen- re später bereits 25 000 –, wuchs der gründer bereitstellen und Schulungen Markt für koreanischsprachige On- anbieten. Unter anderem stehen Semi- line-Games explosionsartig. 80 Pro- nare mit erfolgreichen Start-up-Unter- zent der Kunden nutzten die Internet- nehmern auf dem Stundenplan. Viele cafés für Unterhaltung, im Wesentli- von ihnen residieren in der zuweilen chen für Spiele. schon als „Start-up-Straße“ bezeichne- Südkoreanische Unternehmen ten Teheran-Ro im Nobelbezirk Gang- entwickelten Anwendungen, die spä- nam von Seoul. Der spektakulärs- ter – von Firmen in anderen Ländern te Inkubator in Seoul ist freilich der erarbeitet – weltweit den Durchbruch „Google-Campus“. Der globale Bran- schafften: ein Programm für Inter- chenführer versucht durch diese Hin- nettelefonie, Jahre bevor es Skype tertür auch Südkorea zu gewinnen. gab, einen Kurznachrichtendienst Dass manche Neugründungen à la Whatsapp oder Spracherken- dennoch Mühe haben, qualifizierte nungs-Software. Mit „Naver“ und Mitarbeiter zu finden, hat damit zu „Daum“ hat Südkorea auch seine ei- tun, dass Eltern nicht verstehen wol- genen Suchmaschinen, die älter sind len, warum ihre Kinder die Chance als Google und den Markt bis heute auf einen Job bei Samsung oder LG beherrschen. In Südkorea „googelt“ gegen das Risiko eintauschen wollen, man nicht, der Gigant aus Kaliforni- selbst ein Unternehmen zu gründen. en rangiert hier unter ferner liefen. In Südkorea adaptiert man In- Doch außer den Spieleentwick- novationen nach anfänglicher Skep- lern gelang es kaum einem Start-up, sis meist schneller als anderswo. Ein sich über die Grenzen Südkoreas hi- Beispiel: Bis vor wenigen Jahren zahl- naus durchzusetzen. Das mag an te man nur in bar, inzwischen ran- mangelnden Sprachkenntnissen gele- geln zahlreiche Start-ups darum, Zah- gen haben, vor allem aber am Geld. lungen übers Smartphone abzuwi- Bis vor Kurzem hatten südkoreani- ckeln. Zur Beschleunigung des Über- sche Start-ups große Mühe, Startka- gangs hat die Regierung beschlossen, pital zu finden; es gibt keine Venture- bis 2020 alle Münzen abzuschaffen. 38 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon Allerdings klagen „echte“ Start-ups, schen auch jene zwei Suchgiganten, kleine neue Firmen, die eine App die vor 15 Jahren als Kleine began- entwickelt haben, die Großen wür- nen, Daum und Naver. Naver wurde den ihre Ideen stehlen und kopie- 1998 von ehemaligen Samsung-Inge- ren. Zu den Großen gehören inzwi- nieuren gegründet. N AC H B A R I M N O R D E N Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Bis Ende der sechziger Jahre war es das wirtschaftlich stärkere Korea, doch heute wäre Nordkoreas Situation mit „prekär“ noch freundlich umschrieben. Der unberechen- bare Nachbar bleibt ein enormes Risiko für Seoul – auch ökonomisch. Nordkorea beunruhigt die ganze Welt, Pflichtübung. Sie haben kaum mehr nur die Südkoreaner beschäftigen sich Gefühle für das Bruderland, von dem kaum mehr mit dem isolierten und sie auch gar nicht viel wissen. oft unberechenbaren Regime an ih- Südkoreas Gesetze verbieten jeden rer nördlichen Grenze. Seit in Seoul unautorisierten Kontakt nach Nord- 2008 die Konservativen an die Macht korea unter Strafandrohung, Besu- zurückgekehrt sind und die Diktatur che sowieso. Der Norden würde freie in Pjöngjang mit dem 32-jährigen Kim Kontakte erst recht nicht zulassen. Es Jong-un in der dritten Generation an- gibt keine Post und keine Telefonver- gekommen ist, finden kaum noch Fa- bindungen zwischen den beiden Ko- milienzusammenführungen statt. reas. Nach dem Waffenstillstand 1953 Und wenn es doch noch geschieht, wussten viele Menschen Jahrzehnte dann bricht das den über 80-jährigen lang nichts von ihren Angehörigen Koreanern, die ihre Verwandten, zu- auf der anderen Seite der Demilitari- weilen Geschwister, zum ersten Mal sierten Zone (DMZ), wie die Waffen- seit 65 Jahren wiedersehen, beinahe stillstandslinie entlang des 38. Brei- das Herz. Für viele Jüngere dagegen, tengrads genannt wird. die ihre Großmütter und Onkel be- Bis Ende der sechziger Jahre war gleiten, sind die Familientreffen bloße Nordkorea das wirtschaftlich stär- IP Länderporträt • 3 / 2016 39
Länderporträt Südkorea kere Land. Zwei Drittel der kore- che Verteilung, die alle Nordkorea- anischen Industrie lagen nach der ner gegen Bezugsmarken mit Lebens- Grenzziehung im Norden, sie wurde mitteln versorgte, brach zusammen. mit Hilfe der Sowjets nach dem Ko- Die Infrastruktur, die auch heute rea-Krieg wieder aufgebaut. Mit mi- noch aus der japanischen Kolonial- litärischer Strenge mobilisierte das zeit stammt, wurde immer maroder. Regime Arbeitskräfte. Dazu unter- 1995 bis 1997 kam es zu einer Hun- stützten der sowjetische Machtblock gersnot, der nach Schätzungen ein bis und China die Demokratische Volks- zwei Millionen Menschen zum Opfer republik Korea, wie das Land offiziell fielen. Aus humanitären Gründen un- heißt. Es war ein Frontstaat im Kal- terstützten Südkorea, die USA, Chi- ten Krieg. na, Japan und andere Länder den Nor- Südkorea, durch die Teilung abge- den ab 1995 mit Lebensmitteln, Dün- schnitten von seiner früheren indus- ger und Energie. triellen Basis, versank in Korrupti- War der Süden in den ersten an- on, Repression, Stagnation und Cha- derthalb Jahrzehnten nach dem Ko- os. Das wirtschaftliche Ungleichge- rea-Krieg das arme Korea, ist heu- wicht wuchs in den fünfziger Jahren te die südkoreanische Wirtschaft sogar noch. Südkorea war eines der 40 Mal größer als jene des Nordens, ärmsten Drittweltländer. Die wach- das Pro-Kopf-Einkommen beträgt sende Diskrepanz trug zur Dringlich- etwa das 18-Fache. keit bei, mit der Diktator Park Chung- Die Präsidenten Kim Dae-jung hee, nachdem er sich im Mai 1961 an (1998–2003) und Roh Moo-hyun die Macht geputscht hatte, die Moder- (2003–2008), beide ehemalige Men- nisierung der Wirtschaft vorantrieb. schenrechtler, leiteten mit der so ge- Wenn Nordkorea dem Süden davon- nannten „Sonnenscheinpolitik“ ein eilte, drohte sich das auch auf das Tauwetter zwischen den beiden Ko- militärische Potenzial auszuwirken. reas ein. 2002 eröffnete Hyundai Denn 1961 hatte die Sowjetunion den Asan, eine Nachfolgefirma des de- ersten Menschen ins All geschickt so- montierten Hyundai-Chaebols, jen- wie die Berlin- und die Kuba-Krise seits der DMZ auf dem Gebiet der verursacht. Der Westen musste nun nordkoreanischen Stadt Keasong ei- wieder auf Südkorea schauen. nen Industriepark. 123 kleine und Während also Südkoreas Wirt- mittlere südkoreanische Unterneh- schaft in den folgenden Jahren mit men produzierten hier mit 53 000 dem „Wunder am Han“ im Schnitt (billigen) Arbeitskräften aus dem um 9 Prozent jährlich wuchs, geriet Norden Güter der Leichtindustrie: die Wirtschaft des Nordens mehr Schuhe, Kleider und Uhren. und mehr ins Stocken. 1979 konn- Für Nordkorea wurde der Indus- te Pjöngjang seine internationalen triepark Kaesong zur wichtigen Ein- Schulden nicht mehr begleichen, von nahmequelle, der innerkoreanische der Effizienz seiner Planwirtschaft Handel wuchs auf etwa 2,4 Milliar- war nichts mehr übrig. Mit dem Kol- den Euro jährlich. Seoul hatte viel laps der Sowjetunion verlor man auch größere Pläne: Wenn Nordkorea sich noch die Einbindung in den sowjeti- dereinst öffne, so die Überlegung, schen Wirtschaftsraum. Die staatli- dann würde es für die Dauer einer 40 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon Generation zum billigen Produkti- verstoßen hatte. Auch der Süden hat- onsstandort – wie es Südkorea einst te von Kaesong profitiert, vor allem war, dann China und heute Vietnam. der Mittelstand. Die Schließung trug Mit Kaesong hatte Seoul bereits einen zur derzeit schlechten Stimmung in Fuß in der Tür. der südkoreanischen Wirtschaft bei. Kaesong funktionierte mit einer Noch bedrohlicher ist, dass mit Kae- Unterbrechung von April bis August song das letzte gemeinsame Projekt 2013 ziemlich reibungslos. Für Nord- der Bruderstaaten gescheitert ist. Zu- korea war Kaesong nicht nur wirt- mindest vorerst. Das macht Nordko- schaftlich wichtig, die Anlage bot den rea unberechenbarer, was wiederum Arbeitern auch ein Fenster zum Sü- die Wirtschaft des Südens belastet. den. Im Februar 2016 schloss Seoul Der Wechselkurs und die Börse re- den Park als Sanktionsmaßnahme, agieren empfindlich auf jede der Pro- weil Nordkorea mit Atom- und Ra- vokationen, mit denen Pjöngjang die ketentests gegen UN-Resolutionen Welt immer wieder überrascht. O LY M P I A Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Anders als noch im Sommer 1988 in Seoul muss sich Südkorea bei den Winter- spielen in Pyeongchang 2018 nicht mehr als innovative Industrienation beweisen. Doch werden es wirklich die versprochenen „vernünftigen, wirtschaftlichen Spiele“? Mit den Olympischen Sommerspielen trächtigste Sportereignis der Welt aus- 1988 versuchte Seoul ein erstes Mal, richtete – und zur Selbstdarstellung in der industrialisierten Welt „anzu- eines Regimes nutzte. kommen“. Außer Japan, das sich nach Militärdiktator Park Chung-hee der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war im Oktober 1979 persönlich an mit den Sommerspielen 1964 in Tokio der Entscheidung für eine Bewerbung gleichsam zurückmeldete, war Mexi- Seouls beteiligt. Drei Wochen später co City 1968 die einzige Stadt eines war er tot – ermordet vom Komman- Entwicklungslands, die das prestige- danten seiner Leibwache. Die gewähl- IP Länderporträt • 3 / 2016 41
Länderporträt Südkorea te Nachfolgeregierung meinte, Süd- Yuna stellten sie einige Jahr lang die korea könne sich die Spiele nicht leis- beste Eiskunstläuferin der Welt. Aber ten und wollte verzichten. Doch Chun dabei handelt es sich um einige we- Doo-hwan, der nächste Diktator, der nige Berufsathleten. Selber Winter- sich im Dezember 1980 an die Macht sport zu treiben, ist vielen Südkore- geputscht hatte, setzte die Kandidatur anern nach wie vor fremd, viele alpi- durch. Kaum hatte Seoul den Zuschlag ne Skianlagen mussten für die Spiele erhalten, verhängte er das Kriegsrecht. 2018 erst gebaut werden. Zum Chef des Bewerbungsko- „Alpensia“, wo die nordischen mitees ernannte er Chung Ju-yung, Wettbewerbe ausgetragen werden, ist den Gründer des Hyundai-Chae- ein Retortendorf, das, wie der Name bols. Dessen Sohn Chung Mong-joon, verrät, eine Skistation in den Alpen nach Hyundais Zerlegung CEO der nachahmt. In den Wohnhäusern von Hyundai-Werften, holte einige Jah- Yongpyong, der alpinen Wettkampf- re danach die Fußball-WM 2002 stätte, hat KBS, der öffentlich-recht- ins Land. Und der Chef des Hanjin- liche Fernsehsender, eine Seifenoper Chaebols leitete die Bewerbung und namens „Winter Sonata“ gedreht, die das Organisationskomitee für die in ganz Ostasien populär wurde. Wie Olympischen Winterspiele in Pyeong in Alpensia gibt es auch in Yongpyong chang 2018, bis er diskreditiert und keine permanenten Einwohner, nur zum Rücktritt gezwungen wurde. Die Tourismuspersonal und Gäste. Chaebols lieben den Sport, und sie ge- Slalomwettkämpfe gibt es hier winnen dabei – fast immer. schon seit den Asian Games 1999, die Seoul baute drei U-Bahnlinien, Biathlon-WM 2009 fand hier im Grü- richtete 47 neue Buslinien ein und nen statt: auf schmalen Kunstschnee- plante eine „Olympia-Brücke“ über bändern. Nach ersten Tests der Olym- den Han-Fluss. Die wurde allerdings piaabfahrt im vorigen Winter be- erst zwei Jahre nach den Spielen fer- schwerten sich Skiläufer aus Alpen- tig. Dem Ökonomen Pyun Do-young ländern, die Hänge seien zu sanft. zufolge hat die Vorbereitung der Spie- Ein Vertreter des US-Skiverbands da- le von 1982 bis 1988 0,4 Prozent zum gegen lobte Pyeongchang und erklär- Bruttosozialprodukt Südkoreas beige- te, er sei überzeugt, die ganze Region tragen und 336 000 Jobs geschaffen. werde von den Spielen profitieren. Sie Andere Autoren halten seine Zahlen sollen den Markt für Wintersport öff- für übertrieben. Geprägt waren die nen – für Südkorea und auch gleich achtziger Jahre nicht vom wirtschaft- für das benachbarte China, das die lichen Erfolg, sondern vom Protest ge- Winterspiele 2022 durchführen wird. gen die Diktatur, von Unruhen und In Pyeongchang übrigens, der Polizeibrutalität – auch und gerade Kleinstadt, die den Spielen 2018 den bei der Vorbereitung auf Olympia. Namen gab, werden keine Wettkämp- In Pyeongchang 2018 muss Süd fe stattfinden. Sie ist nur die regiona- korea sich nicht mehr als moder- le Bezirkshauptstadt für die Skiwett- ne Industrienation beweisen, noch kämpfe. Das Organisationskomitee nicht einmal als Wintersportnati- arbeitet zu guten Teilen von Seoul aus on. Im Eisschnelllaufen gehören die – wie das für Großereignisse in der Südkoreaner zur Weltspitze. Mit Kim südkoreanischen Provinz üblich ist. 42 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon Die Regierung hat versprochen, Py- gibt auch dieses Mal Geschichten der eongchang biete „vernünftige, wirt- Zerstörung: Ein 500 Jahre alter, für schaftliche Spiele“ ohne Verschwen- die Anwohner heiliger Wald wurde dung von Steuergeldern. Der arme, we- für Skipisten abgeholzt. Und was soll nig entwickelte N ordosten des Landes, Gangneung, eine verschlafene Klein- in dem Pyeongchang liegt, erhält eine stadt an der Küste ohne Eislaufclub, Anbindung an das Superschnellzug- mit vier Eisstadien? Das größte Wirt- netz. Darauf hätte die Provinz Gang- schaftsproblem der Region, die Land- won an der innerkoreanischen Gren- flucht, hat auch das Versprechen Olym- ze sonst lange warten müssen. Doch es pia nicht aufhalten können. SCHÖNHEITSINDUSTRIE Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Wenn Väter ihren Töchtern zum Abitur eine Lidkorrektur schenken und Touristen ein Pauschalpaket aus Schönheits-OP, Shopping und Sightseeing buchen, dann sind wir in Südkorea. Das Geschäft mit dem Aussehen boomt nach wie vor. Schminke, Salben, plastische Chirur- deren Touristinnen aus China, Hong- gie: Südkorea ist in den vergangenen kong, Taiwan, Indonesien, Vietnam anderthalb Jahrzehnten zum Mekka und Singapur. Viele fliegen per Pau- der Schönheit geworden. Ein Viertel schalpaket nach Jeju, Schönheits-OP, aller weltweiten Schönheits-OPs fin- Shopping und Sightseeing inbegriffen. den hier statt. Allein in Seoul gibt es Die Mehrwertsteuer für die Nasen-OP 500 Kliniken, ein zweites Zentrum erlässt ihnen die südkoreanische Re- ist die Ferieninsel Jeju. Jährlich wer- gierung. den in Südkorea 650 000 Operatio- Der häufigste Eingriff ist die Lid- nen durchgeführt, die Kliniken set- korrektur, weit mehr als die Hälfte zen damit vier Milliarden Euro um. der jungen Südkoreanerinnen lässt Die Hälfte der Patientinnen und Pati- sich eine zweite Lidfalte modellieren, enten – etwa 15 Prozent sind Männer damit das Auge größer erscheint. Das – sind Südkoreaner, die meisten an- gilt überall in Asien als schön. Bis vor IP Länderporträt • 3 / 2016 43
Länderporträt Südkorea einigen Jahren verschwiegen junge einen Mitarbeiter auswählen. Nach ih- Frauen die Eingriffe, dann begannen ren Kriterien gefragt, sagten die Südko- sie, darüber zu reden. Heute sei eine reaner, sie hätten die Leute aufgrund Schönheits-OP so normal, dass nie- ihrer Fotos ausgewählt, die Amerika- mand mehr darüber spreche, erzählt ner aufgrund des Anschreibens. eine junge Frau in Seoul. „Harmloser Dabei gehe es den Südkoreanern als ein Zahnarztbesuch.“ Die Lidkor- gar nicht um Schönheit an sich, glaubt rektur gilt als typisches Geschenk des der Psychologe Suh, „sondern um Kon- Vaters zum Abitur. Viele Südkoreane- kurrenz; in dieser, fast würde ich sa- rinnen glauben, ein verbessertes – vor gen, eifersüchtigten Gesellschaft“ wol- allem: normiertes – Aussehen wirke le jeder haben, was der Nachbar hat sich positiv auf die Berufschancen aus. – „und auf keinen Fall zu kurz kom- Dem Aussehen eines Menschen men.“ Doppelte Augenlider sind so- wird in den Gesellschaften Ostasi- mit ein Statussymbol – wie ein gro- ens generell mehr Bedeutung zuge- ßes Auto oder das neueste Smartpho- messen als in Europa. Der Psychologe ne. Im Westen kämen die Klienten Suh Eun-kook, Professor an der Yon- zum Schönheitschirurgen mit dem sei-Universität in Seoul, hat Proban- Wunsch, eine kleinere Nase zu bekom- den in den USA und Südkorea Bewer- men, in Südkorea mit dem Foto eines bungsunterlagen vorgelegt, sie sollten Filmstars: So wollen sie aussehen. WERF TEN IN DER KRISE Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Mit über 40 Prozent Marktanteil ist die südkoreanische Schiffbauindustrie die größte der Welt. Doch heute gehen die Geschäfte nicht mehr ganz so gut. Einst Motor des Aufschwungs, sind die Werften zum Klotz am Bein geworden. Der Zeitpunkt war mit Bedacht ge- Präsidentin, ein Programm zum Auf- wählt: Am Neujahrstag 1973 kün- bau einer Schwer- und Chemieindus- digte Südkoreas Militärdiktator Park trie an. Mit Schwerindustrie mein- Chung-hee, der Vater der heutigen te Park vor allem Schiffswerften. In- 44 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon ternationale Experten reagierten mit suchten Kredite für den Aufbau ei- Spott. Doch das Fundament für die ner Werft – und Aufträge. Zunächst erste Werft war bereits gelegt. Heute ohne Glück: Weder in den USA noch ist die südkoreanische Werftindustrie in Europa schien etwas zu holen zu mit mehr als 40 Prozent Marktanteil sein, Banker in Frankreich und der die größte der Welt. Allerdings muss Schweiz hätten sie gar ausgelacht, so sie sich inzwischen gegen die aufstre- Chung. In der Barclays Bank in Lon- bende, billigere Konkurrenz wehren, don hätte man ihnen immerhin zu- vor allem aus China. gehört, machte einen Kredit aber von Wenn Park den Vorstoß in eine einem Auftrag abhängig. Ein griechi- neue Branche anging, hatte er das zu- scher Reeder war schließlich bereit, vor stets mit den Chefs der großen das Risiko einzugehen und bestellte Chaebols abgestimmt. Dafür genos- zwei Öltanker. sen die Chaebol-Chefs alle möglichen Zehn Jahre später verlangte die Privilegien, sie durften die Institutio- Vereinigung amerikanischer Werften nen der staatlichen Bürokratie nutzen Sanktionen gegen Südkoreas Werft – oder nach Bedarf umgehen – und industrie, weil sie den Amerikanern hatten direkten Zugang zum Blauen alle Aufträge vor der Nase wegschnap- Haus, dem Amtssitz der Staatspräsi- pe. Heute ist Hyundais Werft in Ul- denten. Schon 1964 hatten Park und san die größte der Welt und Hyundai seine Junta zusammen mit den Indus- der größte Schiffbauer. Auch auf Platz triellen festgelegt, auf welche Export zwei und drei finden sich Südkorea- industrien Südkorea setzen sollte ner: Daewoo und Samsung. Doch alle 1971, also bereits zwei Jahre vor südkoreanischen Schiffbauer, ein- Parks Ankündigung, erinnerte sich schließlich der „Großen Drei“, sind Hyundai-Gründer Chung Ju-yung hoch verschuldet oder bereits Plei- später, sei er – bereits ein erfolgrei- te gegangen. Im Schiffbau herrscht cher Bauunternehmer und Autobau- weltweit Überkapazität, die Fracht- er – von Park nach Europa geschickt preise für Container sind eingebro- worden. Er wusste ja, wie man in chen. Hanjin, die größte südkoreani- neue Branchen expandiert: Als er sche Reederei, musste im September Zement für seine großen Bauprojek- Bankrott anmelden. Auch die Nach- te brauchte, baute er eine Zementfa- frage nach Ölplattformen, ein wichti- brik, für Röhren eine Röhrenfabrik. ger Geschäftsbereich für große Werf- Und weil er keine vernünftige Un- ten, hat wegen des niedrigen Ölpreises terbringungsmöglichkeit für die Ge- massiv nachgelassen. schäftsleute hatte, die seine Werke Damit sind Südkoreas Werften, in Ulsan im Südosten der Koreani- einst Motoren des Aufschwungs, zum schen Halbinsel besuchten, baute er Klotz am Bein geworden. Sie müssen kurzentschlossen ein Hotel – aus dem restrukturiert werden und Kapazitä- ein kleines Tourismusunternehmen ten abbauen. Aber vor allem die drei wurde. Vom Schiffbau dagegen hatte Mega-Werften zögern. Damit gefähr- er keine Ahnung. den sie sich nicht nur selber, sondern Mit einem Bruder reiste Chung auch ihre Gläubiger, vor allem südko- nun in die Schweiz, nach Paris, nach reanische Banken. Nach Schätzun- London, in die USA. Die beiden gen schulden sie ihnen 70 Billionen IP Länderporträt • 3 / 2016 45
Länderporträt Südkorea Won, etwa 50 Milliarden Euro. Auch bols mehr hat, an, ihr Finanzminis- deshalb kündigte die Regierung von terium wolle die drei großen Werften Präsidentin Park Geun-hye, die aller- zwingen, bis 2018 ihre Kapazitäten dings ganz anders als ihr Vater keine um 20 Prozent und ihre Belegschaf- effektiven Druckmittel auf die Chae- ten um 30 Prozent zu verringern. ZEITBOMBE DEMOGRAFIE Bild nur in Printausgabe verfügbar ➞ Die Südkoreaner verlassen ihre Dörfer und ziehen in die Stadt; ganze Provinzen werden entvölkert. Zusammen mit der dramatisch gesunkenen Geburten- rate ergibt das ein Bild, das nur wenig Anlass zur Hoffnung bietet. Von den 50 Millionen Einwohnern sie tut es eher halbherzig. Der Ver- Südkoreas lebt fast die Hälfte im such, eine neue Hauptstadt in Sejong Großraum Seoul. Damit ist das Land zu bauen, das mit dem Superschnell- eines der zentralisiertesten der Welt zug etwa eine Stunde entfernt von Se- – und noch ziehen immer mehr Men- oul liegt, ist gescheitert. Die hypermo- schen in die Hauptstadtregion. Junge derne Stadt wurde zwar gebaut, aber Leute hoffen, in Seoul bessere Stel- die Ministerien drückten sich vor ei- len zu finden, Eltern behaupten, die nem Umzug. Schulen seien hier besser und es sei Im Dorf Jungmaeub im schon im- leichter für ihre Kinder, Freunde zu mer dünn besiedelten Hinterland der finden. Außerdem fehlt es auf dem Ostküste ist die Landflucht so weit Land an Hagwons, den Nachhilfe- fortgeschritten, dass im März die schulen, welche die Schüler auf die Grundschule dichtmachen musste. Aufnahmeprüfungen an Universitä- Am Ende wurden hier nur noch zwei ten vorbereiten sollen. Schüler unterrichtet, ein Fünft- und In allen Teilen Südkoreas wird ein Sechstklässler. Vor 40 Jahren be- die Provinz nach und nach entvöl- suchten 250 Kinder die Grundschu- kert. Zwar versucht die Regierung, le von Jungmaeub, 1995 noch 100, im diese Entwicklung zu bremsen. Aber Jahr 2005 noch 50. Der Hausmeister 46 IP Länderporträt • 3 / 2016
Kleines Wirtschaftslexikon Jeon Won-kyo hielt bis zum letzten gen Jahren werden auf den Dörfern Tag alle Klassenzimmer bereit, ob- 70-Jährige die 90-Jährigen pflegen wohl er wusste, dass sie nie mehr ge- müssen – und überfordert sein. braucht würden. Dieses Dorf ist kei- In Wirtschaftszahlen gemessen ne Ausnahme. In den vergangenen sind die aussterbenden Dörfer fast 15 Jahren haben bereits 3600 Land- zu vernachlässigen. Aber ihr Beitrag schulen dichtgemacht. Nach der Schu- zum Sozialgefüge der Gesellschaft le schlossen dann der Dorfladen, die und auch zur Wirtschaft können die Bankfiliale, Post und Polizeiposten. Parameter der Ökonomie allein nicht Ohne Schule gibt es keine Zukunft. beziffern. Und damit kann auch nicht In Geundok, einem größeren Dorf ermessen werden, wie groß der Scha- an der Küste, gibt es Sandstrände für den ist, den die Landflucht anrichtet. Touristen, Fischerei und sogar etwas Die Südkoreaner sind sich ihrer Industrie. Doch auch hier verliert die demografischen Zeitbombe durch- Schule Schüler. In den siebziger Jah- aus bewusst, sie ist Thema von Fil- ren führte sie vier Klassen pro Jahr- men und Romanen. Vor einigen Jah- gang, vor 20 Jahren zum letzten Mal ren brach der Dokumentarfilm „Wo- zwei. Jetzt sitzen in der sechsten Klas- nang Sori“ („Klang der Kuhglocken“, se noch 16 Kinder, in der ersten noch im internationalen Verleih „Old Part- sieben. Die Lehrer versuchen, den El- ner“) alle Rekorde. Mit viel Einfüh- tern den Wegzug in die Stadt auszu- lungsvermögen zeigt der Regisseur reden: Aber auf dem Dorf glauben Lee Chung-ryol die Fürsorge eines die Leute, in der Kreisstadt sei alles 80-jährigen Bauern für seinen 40 Jah- besser. Aus der Kreisstadt wollen die re alten Ochsen. Derweil vernachläs- Menschen dann in die Provinzhaupt- sigt der Bauer seine Frau. stadt. Und von dort nach Seoul. Das In den Großstädten sahen die Süd- ist auch eine Frage des Prestiges. koreaner den Film als Hymne auf die Schuld an der Misere ist freilich verlorene Vergangenheit auf dem Lan- nicht nur die Landflucht. 1965 hatte de – und erkannten sich in den Kin- eine Südkoreanerin im Durchschnitt dern das alten Paares wieder, die zu 6,3 Kinder, heute noch 1,25. Dafür Chuseok, dem südkoreanischen Ern- gibt es Gründe: Es ist teuer gewor- tefest, aus der Stadt kommen, aber es den, Kinder zu haben. Und viele jun- kaum abwarten können, wieder ge- ge Südkoreanerinnen mögen in die- hen zu dürfen. Erst recht ein schlech- ser noch immer patriarchalisch ge- tes Gewissen machte den jungen Städ- prägten Gesellschaft gar nicht heira- tern der Roman „Als Mutter ver- ten. Einen Mann auf dem Land schon schwand“ von Sin Kyong-suk, in dem gar nicht. Viele Bauern holen sich ihre eine alte Bäuerin im U-Bahn-Laby Ehefrauen deshalb aus Vietnam, In- rinth der Hauptstadt verloren geht, donesien oder von den Philippinen. als sie ihre erwachsenen Kinder in Zurück bleiben die Alten. Im Dorf Seoul besucht. In Südkorea hat man Jungmaeub versorgen sich viele noch erkannt, dass das Land in eine De- selbst, das Problem der Überalterung mografiefalle gerät. Manche warnen, ist für Südkorea noch neu. Aber die aber keiner kennt einen Ausweg. Die Alten werden immer älter. In weni- Regierung schon gar nicht. IP Länderporträt • 3 / 2016 47
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