Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
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Geschichte koeppen-geiger.vu-wien.ac.at Klimaforschung und -wandel Wie der Klimawandel in Wissenschaft und Politik gelangte Matthias Heymann In der Wissenschaft war der Treibhauseffekt schon am war. Der englische Ingenieur Guy Callendar versuchte 1938 Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, Beobachtungen durch umfangreiche Berechnungen nachzuweisen, dass der in den 1930er-Jahren deuteten darauf hin, dass die Treibhauseffekt diesen Anstieg verursacht haben könnte globalen Temperaturen ansteigen. Trotzdem war der (Abb. 1). Zu seiner Überraschung traf seine Theorie in der Weg von der klassischen Klimatologie zur modernen Meteorologie und Klimatologie auf große Skepsis. Mög Klimaw issenschaft lang und von gesellschaftlichen, lich schienen auch zufällige Verschiebungen der globalen politischen und technischen Entwicklungen entschei- Windzirkulation als Ursache für den Temperaturanstieg. dend beeinflusst. Es dauerte weitere vier Jahrzehnte, bis weiterhin stei gende Kohlendioxidemissionen ernsthafte Befürchtungen B ereits 1896 sagte der schwedische Physiker Svante über eine Klimaerwärmung verursachten und zu einem Arrhenius wegen des rasch wachsenden Kohlever Politikum wurden. Paradoxerweise wandelte sich diese brauchs und der damit verbundenen Kohlendioxid Wahrnehmung zu einem Zeitpunkt, als die Entwicklung emissionen steigende globale Temperaturen voraus. Zu der globalen mittleren Temperaturen seit rund drei Jahr diesem Zeitpunkt stieß diese Erkenntnis jedoch auf wenig zehnten wieder stagnierte. Beobachtungen wiesen also kei Interesse. Etwa vierzig Jahre später beobachteten Meteoro neswegs auf einen Klimawandel wie in den 1930er-Jahren logen tatsächlich einen signifikanten Anstieg der Tempe hin. Was verursachte also die plötzliche Sorge über einen raturen in Europa, der in der Arktis besonders ausgeprägt Klimawandel? Und warum erhielten die Klimawissen 22 Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 © 2021 Wiley-VCH GmbH
Geschichte Die Definition von Klimatypen und die Entwicklung einer heute Anwendung findet (Abb. linke Seite). Dies wurde spä Klimakarte der Erde (hier von 1931) durch Wladimir Köppen prägt ter oft als „klassische Klimatologie“ bezeichnet. Vertreter die Klimaforschung bis heute. dieser an empirischer Sorgfalt, Detail und Vollständigkeit ausgerichteten, klassischen Klimatologie konnten wenig mit den Berechnungen von Arrhenius oder Callendar an fangen. In ihrem Weltbild ergab es keinen Sinn, pauschal schaften in den folgenden Jahrzehnten hohe politische weltweit gemittelte Temperaturveränderungen zu berech Priorität, nicht aber vierzig Jahre zuvor? Dieser Beitrag nen, ohne regionale Wetterphänomene und geographische versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Variationen und Besonderheiten des Klimas zu berück sichtigen. Überdies hatten sie in mathematische Formeln und vereinfachte globale Berechnungen wenig Vertrauen, Die Tradition der „klassischen Klimatologie“ zumindest in Hinsicht auf die komplexen Phänomene der Das Interesse am Klima reicht weit zurück. Griechische Atmosphäre, die bisher noch kein Theoretiker vollständig Philosophen wie Parmenides, Eratosthenes, Aristotle und erfassen und berechnen konnte. Hippokrates verstanden unter dem griechischen Wort κλίμα (klíma) den Winkel der Sonneneinstrahlung. See fahrer und Reisende berichteten in den folgenden Jahr Technischer Wandel und veränderter Klimabegriff hunderten über die Verschiedenheit von Klimata auf dem Der lange Weg von der klassischen Klimatologie zur mo Globus und zeigten, dass nicht der Sonnenwinkel allein dernen Klimawissenschaft verlief nicht linear. Bereits von das Klima bestimmte. Jahreszeiten, Wetter, Windströ Hann und Köppen befürworteten und förderten meteo mungen und terrestrische Verhältnisse wie Entfernung rologische Messungen in höheren Luftschichten, denn von den Ozeanen und die Höhe über dem Meer mach offensichtlich hing der Zustand in Bodennähe auch von ten das Klima zu einem weitaus komplexeren Phänomen. Prozessen in größeren Höhen ab. Zunächst standen dafür Eine wissenschaftliche Klimatologie entstand im Laufe des nur wenige Bergstationen und Heißluftballone zur Verfü 19. Jahrhunderts. gung, am Ende des 19. Jahrhunderts kamen auch Drachen Wissenschaftler wie der Naturforscher Alexander von (Abb. 2) und spezielle, mit Wasserstoff gefüllte Ballons zum Humboldt, der Direktor der Zentralanstalt für Meteoro Einsatz. Diese oft als „Entdeckung der dritten Dimension“ logie in Wien, Julius von Hann, und der Leiter des damals der Atmosphäre bezeichnete Richtung, die Köppen auf neu geschaffenen Seewetterdienstes an der Deutschen See den Namen „Aerologie“ taufte, hatte handfeste praktische warte in Hamburg, Wladimir Köppen, trugen maßgeblich Gründe. Neue Luftschiffe und Flugzeuge, die um die Jahr dazu bei, die Klimatologie zu einer wissenschaftlichen Dis hundertwende gebaut wurden, waren empfindliche Geräte, ziplin zu machen. Humboldt verstand unter Klima „alle deren Steuerung eine gute Kenntnis des Wetters in höheren Veränderungen in der Atmosphäre, die unsre Organe Luftschichten erforderte. merklich afficiren“, also die Temperatur, die Feuchtigkeit Der Erste Weltkrieg beschleunigte diese Entwicklung. oder die Luftbewegungen. Danach bezog sich Klima immer Seit Ende der 1930erJahre standen überdies neue Radio auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Region, so sonden zur Verfügung, die meteorologische Messungen wie wir noch heute von dem Klima von Hamburg oder mithilfe von Radiowellen direkt an die Bodenstation senden München sprechen. Außerdem bezog es sich lediglich auf und die Erforschung höherer Schichten der Atmosphäre die Oberfläche der Erde und nicht auf die gesamte Atmo deutlich erleichtern konnten. Führten die Wetterdienste um sphäre. Von Hann veröffentlichte 1883 das „Handbuch der 1930 weltweit etwa 3000 Aufstiege von Drachen oder Bal Klimatologie“, in dem er die methodischen Grundlagen lons durch, so stieg diese Zahl auf etwa 180 000 um 1950. Das der Disziplin zusammenfasste. Danach ließ sich das Klima wachsende Wissen über höhere Luftschichten verdeutlichte eines Ortes durch die Mittelwertbildung von Messreihen auch die Bedeutung von Höhenwinden und großräumigen atmosphärischer Größen bestimmen, darunter die mittlere monatliche und jährliche Temperatur. Eine Hauptaufgabe der Klimatologie bestand darin, die Wiley Online Library verschiedenen Klimata der Erde zu beobachten und auf Basis meteorologischer Messreihen zu beschreiben. Eine andere Aufgabe war die Untersuchung von Zusammen hängen zwischen Klima und Pflanzen und Tierwelt und den Menschen, insbesondere die Bedeutung des Klimas für die Verbreitung von Krankheiten oder für die Land und Forstwirtschaft. In dieser Konzeption war die Klimatolo gie vor allem eine empirische Wissenschaft, die sich für geographische Unterschiede des Klimas interessierte, das Klima eines Ortes aber als mehr oder weniger konstant über lange Zeiträume betrachtete. Ein berühmtes Resultat war die Definition von Klimatypen und die Entwicklung einer Abb. 1 Die Berechnungen des Temperaturanstiegs durch den Treibhauseffekt Klimakarte der Erde durch Wladimir Köppen, die noch von Guy Callendar stießen in Meteorologie und Klimatologie auf Skepsis. © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 23
Geschichte im Prinzip für jeden Punkt in Zeit und Raum beschrieben. DWD / MOL-RAO Diese sieben Gleichungen repräsentierten die relevanten physikalischen Gesetzmäßigkeiten und beinhalteten Bewe gungsgleichungen für den horizontalen Wind, die hydro statische Grundgleichung, die Massenerhaltungsgleichung, die Energieerhaltungsgleichung und das ideale Gasgesetz. Paradoxerweise wurden diese komplexen Gleichungen später als „primitive Gleichungen“ bezeichnet. Bjerknes selbst erkannte, dass dieses Gleichungssystem die Grundlage für Vorhersagen von Wetter und Klima bil den könnte. Ein entscheidendes Problem bestand allerdings darin, dass es für diese Gleichungen keine analytischen Lösungen gab. Der britische Physiker, Mathematiker und Meteorologe Lewis Fry Richardson war der erste, der sich um eine numerische Näherungslösung dieser Gleichungen bemühte. Dafür musste er für Rasterelemente und Zeit Abb. 2 Wetterdrachen ermöglichten es seit Ende des 19. Jahrhun- intervalle angenäherte Werte sehr aufwändig berechnen. Er derts, höhere Atmosphärenschichten zu erforschen. führte diese Arbeit probehalber für eine Wettervorhersage für einen Tag und zwei Rasterelemente durch. Für prak tische Zwecke war dies viel zu aufwändig. Richardsons Wettersystemen und die Abhängigkeit lokaler Klimata und Schätzungen nach erforderte eine ausreichend schnell Klimaereignisse von Prozessen, die kontinentale Ausmaße berechnete Wettervorhersage eine „forecast factory“ von haben konnten. Ein Beispiel dafür sind Verschiebungen und 64 000 menschlichen Rechnern. Veränderungen von Monsunzonen und niederschlägen, die sich mithilfe dieser Erkenntnisse besser verstehen lie ßen. Der führende deutsche Klimatologe Hermann Flohn Die Atmosphäre im Computer bezeichnete diese erweiterte Ausrichtung des Faches als Dramatische politische Konflikte im 20. Jahrhundert, der „moderne Klimatologie“. Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg, dienten als Geburts Die langfristig größten Veränderungen in der Klima helfer, um die von Bjerknes formulierte Vision der Wet tologie sollten Durchbrüche in der Physik der Atmosphä ter und Klimavorhersage zu realisieren. Im Zweiten Welt re bringen. Lange trugen Meteorologie und Klimatologie krieg entstanden digitale Computer, technische Rechner, den Makel, lediglich empirische Disziplinen und keine um ballistische Trajektorien für das amerikanische Militär vollwertigen Wissenschaften zu sein, weil es ihnen an leis zu errechnen. Nach dem Krieg erkannten der Mathemati tungsfähigen physikalischen Theorien mangelte. Diesen ker John von Neumann und der Meteorologe CarlGustav Makel suchte der norwegische Physiker Vilhelm Bjerknes Rossby die sich bietenden Gelegenheiten. Digitale Compu zu überwinden. 1903 gelang es ihm, eine neue Basis für ter, die bis zu 5000 Rechenoperationen pro Sekunde aus die „dynamische Meteorologie“ zu schaffen. Er entwickelte führten, könnten auch der Meteorologie nutzen (Abb. 3). ein komplexes System aus sieben nichtlinearen partiellen Außerdem brachte der Kalte Krieg einen warmen Regen Differenzialgleichungen, die den Zustand der Atmosphäre militärischer Forschungsmittel. Von Neumann und Ross Der britische Ingenieur Guy Der amerikanische Chemi- Callendar versucht ab 1938 ker Charles David Keeling Dem britischen Naturforscher durch umfangreiche Berech- nimmt Messungen der CO2- John Tyndall gelingt es mittels nungen nachzuweisen, dass ein Konzentration der Atmo- präziser Messungen, einige für auffälliger Temperaturanstieg sphäre auf dem Vulkanberg den Treibhauseffekt verant- in der nördlichen Hemisphäre Mauna Loa auf Hawaii auf. wortliche Gase wie Wasser- zwischen 1925 und 1940 durch Wenige Jahre später weist er dampf und Kohlenstoffdioxid den Treibhauseffekt verursacht nach, dass die CO2-Konzen- zu identifizieren. worden sein könnte. tration Jahr für Jahr ansteigt. 1824 1862 1896 1938 1956 1957 Der französische Mathematiker Der schwedische Physiker und Dem amerikanischen Meteoro- und Physiker Joseph Fourier Chemiker Svante Arrhenius logen Norman Phillips gelingt entdeckt den Treibhauseffekt, berechnet erstmals die Erwär- es erstmals erfolgreich, die bei dem Gase in der Atmosphäre mung der Erde durch den Treib- globale Zirkulation mit einem einfallende Wärmestrahlung hauseffekt. Eine Verdopplung Computermodell zu simulieren. der Sonne daran hindern, in den der CO2-Konzentrationen würde Sein Modell ist der Ausgangs- Weltraum reflektiert zu werden. demnach eine Erwärmung von punkt für die Entwicklung von 5 bis 6 °C verursachen. Klimamodellen. University of East Anglia (Callendar); MIT Museum (Phillips); Scripps Institution of Oceanography Photographic Laboratory Collection (Keeling) 24 Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 © 2021 Wiley-VCH GmbH
Geschichte by versprachen kühn nicht nur, Wetter und Klima vorher U.S. Army Photo zusagen, sondern auch gezielt zu manipulieren. Diese Versprechen stießen auf großes politisches In teresse, die Forschungsrealität sah aber sehr viel beschei dener aus. Rossby und sein Mitarbeiter Jule Charney, der schließlich ein junges Entwicklungsteam in Princeton leite te, mussten drastische und kontroverse Vereinfachungen an den primitiven Gleichungen vornehmen, um den Aufwand der numerischen Lösungsverfahren der begrenzten Kapa zität erster digitaler Computer anzupassen. Charneys Team entwickelte ein Modell der Atmosphäre für den Computer, eine virtuelle Atmosphäre, mit der Experimente in Form von Simulationen durchführbar waren. 1950 gelang tatsäch lich die erste experimentelle Wettervorhersage, trotz aller Vereinfachungen mit sehr ermutigenden Ergebnissen. Die sogenannte numerische Wettervorhersage wurde ab Mitte Abb. 3 Die zunächst für militärische Anwendungen gedachten der 1950erJahre operationell von ersten Wetterdiensten in frühen Computer fanden nach dem Zweiten Weltkrieg rasch Einsatz Schweden und den USA eingesetzt und in den folgenden in der Meteorologie. Jahren und Jahrzehnten weltweit zum Standard. Das Experimentieren auf dem Computer entwickelte sich zu einem leistungsfähigen Instrument, zumal mit der entwickelten, um Klimaprozesse besser zu erfassen und realen Atmosphäre keine Experimente möglich waren. Ein zu simulieren. Diese neue Klimawissenschaft veränderte junger Mitarbeiter aus Charneys Team, Norman Phillips, die Forschung radikal. Sie erforderte Fachleute aus Physik, wagte 1955 die Simulation der Windströmungen in der At Mathematik, theoretischer Meteorologie und Computer mosphäre über einen deutlich längeren Zeitraum als die ein technik, die zunehmend den Typus des Klimaforschers re bis zwei Tage, für welche die Wettervorhersage zu simulie präsentierten, während traditionell orientierte empirische ren war. Mit weiteren drastischen Vereinfachungen, etwa Klimatologen rasch an Bedeutung verloren. der Annahme einer ruhenden Atmosphäre zu Beginn der Mit dieser neuen, nicht mehr geographischen, sondern Simulation, ließ Phillips den Computer über 30 virtuelle rein physikalischen Klimawissenschaft veränderte sich auch Tage laufen. Das Ergebnis übertraf die kühnsten Träume. das Verständnis von Klima selbst auf radikale Weise. Das Phillips konnte damit die Strömungsmuster der irdischen Klima eines Ortes der alten Klimatologie war nunmehr we Atmosphäre erstaunlich gut reproduzieren. Dieses Ergebnis nig sinnvoll, denn die Klimamodelle – wie sie bald genannt verursachte beträchtlichen Enthusiasmus, denn es legte na wurden – kannten nur großräumige Rasterelemente von he, dass die komplexe Physik der Atmosphäre mithilfe von zunächst mehreren tausend Kilometern Seitenlänge, auf Computermodellen und Simulationen zu bewältigen ist. denen sich näherungsweise gemittelte Ergebnisse simulie Das Modell von Phillips lässt sich als erstes „ Global Cir ren ließen. Das Klima selbst wurde damit zu einem sehr culation Model“ (GCM) ansehen, ein Modelltyp, den in großräumigen, globalen Phänomen, während kleinräu den 1950er und 1960erJahren zunächst vier Forschungs mige Daten und Phänomene sozusagen durch das Raster gruppen in den USA und eine in Großbritannien weiter der Modelle fielen. Auch die Prioritäten veränderten sich. Auf der Study Conference on Critical Environmental Problems (SCEP) wird erstmals die Klimaerwärmung Der amerikanische Klimaforscher von Atmosphärenwissenschaftlern James E. Hansen veröffentlicht erst- als ernsthaftes Zukunftsproblem mals mit einem einfachen Klima- beschrieben. Der amerikanische modell simulierte Projektionen, Meteorologe William Welch Kellogg nach denen bis zum Jahr 2100 die fordert den Einsatz von Klima- globale Erwärmung zwischen 1 und modellen für die Klimavorhersage. 4 °C liegen wird. 1965 1970 1979 1981 1988 Der japanische Meteorologe und Ein Bericht der amerikanischen Das Intergovernmental Panel on Klimamodellierer Syukuro Manabe National Academy of Science Climate Change (IPCC) wird als führt erstmals ein Experiment zur schließt auf Basis von Experi- zwischenstaatliche Beratungs- Erderwärmung mit einem Klima- menten mit zwei Klimamodellen, organisation gegründet und ver- modell durch. Bei Verdopplung der dass es „keinen Grund gibt, Klima- öffentlicht Zukunftsprojektionen CO2-Konzentration der Atmosphäre veränderungen zu bezweifeln mit Klimamodellen, welche die ergeben die Simulationen eine glo- und zu glauben, dass diese Klima- Klimaerwärmung und die Gefahren bale Erwärmung von etwa 2 °C. veränderungen vernachlässigbar des Klimawandels bestätigen. sein werden“. Princeton University (Manabe); Aarhus University (Kellog); AGU (Hansen); IPCC © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 25
Geschichte Während die klassische Klimatologie an möglichst differen dendes Problem. Dabei gab es zunächst sowohl warnende zierten räumlichen Bestimmungen geographischer Klimata Stimmen, die das Risiko einer Abkühlung und zukünftiger interessiert war, stand nun eher die zeitliche Dynamik von Eiszeiten betonten, zumindest bis Mitte der 1970erJahre, Prozessen und Veränderungen des Klimas im Vordergrund. als auch Stimmen, die das Risiko einer zukünftigen Klima erwärmung betonten. Letztere sollten rasch die Oberhand erlangen. Globale Erwärmung und neue Perspektiven Die aufkeimende Sorge vor einem Klimawandel wäh Bis zum Ende der 1960erJahre hatte sich die Klimamodel rend einer Zeit, in der die globalen Temperaturen stag lierung, nicht zuletzt mithilfe dramatisch steigender Leis nierten, also empirische Anzeichen für einen solchen tungsfähigkeit der Computer, zu einem führenden Instru Klimawandel fehlten, ist ein deutliches Beispiel dafür, wie ment der Forschung entwickelt. Die bereits seit langem stark gesellschaftliche Aufmerksamkeiten wissenschaftliche bekannte Frage des Treibhauseffekts spielte in den frühen Interessen beeinflussen. Denn die physikalischen Ursachen Modellierungen aber praktisch keine Rolle. Zwar hatten für eine mögliche Erwärmung waren ebenso wie die astro einige wenige Forscher wie der Physiker Gilbert Plass oder nomischen und geologischen Gründe für eine mögliche der Ozeanograph Roger Revelle diese Frage seit den 1950er Abkühlung und zukünftige Eiszeit seit Langem bekannt. Jahren in den Blick genommen, aber ohne damit größere Klimamodelle erhielten nun eine zentrale Rolle und be Aufmerksamkeit zu erzeugen. Revelle veranlasste Ende der stärkten die Sorgen einer Klimaerwärmung nachhaltig. 1950erJahre sogar erstmals kontinuierliche Messungen Erste Simulationsexperimente mit erhöhten Kohlendioxid atmosphärischen Kohlendioxids durch den Chemiker konzentrationen der virtuellen ModellAtmosphäre sagten Charles Keeling auf Hawaii, um steigende Konzentrationen eine deutliche Erwärmung voraus, wenn diese auch erst des Gases in der Atmosphäre nachzuweisen, was in der Tat nach mehreren Jahrzehnten deutlich spürbar werden sollte. innerhalb weniger Jahre gelang (Abb. 4). Einige Vertreter einer neuen Generation von Klima 1965 behandelte erstmals eine Konferenz in den USA das modellierern forderten lautstark, Klimamodelle trotz der Thema der Klimaerwärmung durch den Treibhauseffekt. eingeräumten Unsicherheiten systematisch als Prognose Auch ein Bericht des Scientific Advisory Committee des instrumente zu verwenden, um eine Basis für rasche USPräsidenten wies in diesem Jahr auf den Treibhaus politische Entscheidungen über Maßnahmen gegen den effekt hin, der weiter zu beobachten sei. Dabei handelte es befürchteten Klimawandel zu schaffen. Dazu zählte der sich nicht um sorgenvolle Darstellungen, die auf dringende junge Klimawissenschaftler und Umweltaktivist Stephen Maßnahmen drängten. Im Vordergrund stand nach wie H. Schneider, der in Büchern und Talkshows eindringlich vor das politische Interesse an der Entwicklung gezielter vor möglichen „Klimakatastrophen“ warnte und maßgeb Wetter und Klimaveränderungen mit technischen Mitteln. lich zur Politisierung der Klimawissenschaft beitrug. Erst das in dieser Zeit wachsende Umweltbewusstsein Ein anderer Klimamodellierer derselben Generation, und die Entstehung einer lautstarken Umweltbewegung James E. Hansen, entwickelte in den 1970erJahren gezielt veränderten die Perspektive grundlegend. Ein Verständnis ein einfaches Modell für die Anwendung zur Simulation so der Natur als eine für den Menschen beliebig verfügbare genannter Klimaprojektionen, die Berechnung zukünftiger Ressource wurde zunehmend durch das Verständnis einer Temperaturen in Abhängigkeit unterschiedlicher Emissi von den Menschen verschmutzten, gefährdeten und zu onsszenarien. 1981 legte sein Team eine erste Veröffentli schützenden Umwelt ersetzt. Dieser Perspektivwechsel chung solcher Projektionen in der Zeitschrift Science vor, sollte auch die Klimawissenschaft nachhaltig verändern. die auch in öffentlichen Medien Aufmerksamkeit erhielt. Klimaveränderungen gerieten immer mehr in den Blick Das Modell sagte bis zum Jahr 2100 eine durchschnittliche als ein ernsthaftes, die menschliche Gesellschaft gefähr Erwärmung zwischen ein und vier Grad Celsius voraus. Die New York Times berichtete auf der Titelseite, dass nach dieser Studie die Welt wärmer würde und der Meeresspiegel zukünftig steigen könnte. Ch. D. Keeling, Proc. Am. Philos. Soc. 114, 10 (1970) Wegen der großen Unsicherheiten brachte diese Arbeit Hansen erhebliche Kritik ein. Die meisten Wissenschaftler sahen in seinen Projektionen eher eine Wette auf die Zu kunft als seriöse Wissenschaft. Doch Hansen hatte den Weg gewiesen, wie der Klimawandel mittels Modellen zu untersuchen war. Nach Gründung des Intergovernmen tal Panel on Climate Change (IPCC), im Deutschen auch als Weltklimarat bezeichnet, wurde genau dieser Weg mit verfeinerten und komplexeren Modellen beschritten, die seit den 1980erJahren zu Erdsystemmodellen wurden und Rückkopplungen der Atmosphäre mit den Ozeanen, der Abb. 4 Die Keeling-Kurve aus dem Jahr 1970 zeigt die Variation der CO2-Konzen- Biosphäre und anderen geologischen Prozessen berücksich tration in der Atmosphäre seit Ende der 1950er-Jahre. Das auffällige Sägezahnmuster tigten, die für die Entwicklung des Klimas eine wichtige resultiert aus den jahreszeitlichen Unterschieden des Wachstums von Pflanzen und Rolle spielen. Bäumen. 26 Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 © 2021 Wiley-VCH GmbH
Geschichte der Klimawissenschaft besteht darin, dass sie eine stark poli IPCC 0,4 tisierte, in der Öffentlichkeit aufmerksam wahrgenommene Disziplin geworden ist. Sie hat durch die enorme Aufmerk 0,2 samkeit immens profitiert und ist durch eine Vervielfachung 0 von Mitteln, Instituten, Forschungsstellen, Großcomputern und technischer Infrastruktur zu einer „Big Science“ ge - 0,2 worden. Gleichzeitig hat sie allerdings beträchtlich an Au C° Köppen 1881 - 0,4 Callendar 1938 tonomie verloren. Der wissenschaftliche Fokus liegt auf der Willett1950 Callendar 1961 Berechnung von neuen Klimaprojektionen, unter anderem Mitchell 1963 - 0,6 Budyko 1969 für den IPCC und nationale Regierungen. Viel Zeit geht Jones et al. 1986 Hansen and Lebedeff 1987 damit in die Anwendung der Modelle, während weniger - 0,8 Brohan et al. 2006 Zeit für Grundlagenforschung zur Verfügung steht. 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 In den letzten Jahren hat sich das unerwartete Resultat Jahr gezeigt, dass Bemühungen zur Optimierung der Model Abb. 5 Historische wie aktuelle Messreihen belegen einen An- le, etwa die detailliertere Berücksichtigung und bessere stieg der globalen Temperatur. Beschreibung von Prozessen und Daten höherer Quali tät, die Zuverlässigkeit der Simulationsergebnisse nicht mehr wesentlich verbessert hat. Außerdem war bereits Eine neue wissenschaftliche Kultur seit den 1990erJahren erkennbar, dass Wissenschaftle Klimamodelle und simulationen sind heute die zentralen rinnen und Wissenschaftler zwar das Klima immer besser Bausteine der Klimawissenschaften. Sie repräsentieren eine verstehen, aber die Erdsystemmodelle und Simulationen Synthese des aktuellen Wissens über Klimaprozesse und lei sich als immer undurchschaubarer erwiesen. Manche ten gleichzeitig die weitere Forschung. Diese erhielten ihren Klimawissenschaftler*innen wie der Direktor des Max Status trotz der weiterhin schwer einschätzbaren Unsicher PlanckInstituts für Meteorologie in Hamburg, Bjorn heiten, die vor allem in den 1990erJahren erhebliche, oft Stevens, oder die Forschungsdirektorin des französischen politisch motivierte Kritik verursachte und von Leugnern CNRS, Sandrine Bony, stellen deshalb den eingeschlagenen des Klimawandels und Vertretern industrieller Interessen Weg der zunehmenden Weiterentwicklung und Anwen politisch instrumentalisiert wurden. Klimamodelle galten dung bestehender Modelle infrage und drängen auf die jedoch als zu wichtig, um auf ihre Anwendung verzichten Rückkehr zu einer detaillierteren Untersuchung grund zu können. Die Kritik an ihnen ist in den letzten Jahren legender Klimaprozesse, um diese besser zu verstehen. überdies deutlich zurückgegangen, wenngleich nicht ihre Unsicherheiten. Klimamodelle gelten als deutlich besser, Weiterführende Literatur differenzierter und zuverlässiger als ihre einfachen Vorgän P. N. Edwards, A Vast Machine: Computer Models, Climate Data, ger und werden heute von Tausenden von Wissenschaftlern and the Politics of Global Warming, MIT Press, Cambridge, MA (2010) S. R. Weart, The Discovery of Global Warming, überarb. und erw. getestet, verglichen, überprüft und verbessert. Aufl, Harvard University Press, Cambridge (2008), Web-Version: Außerdem bestätigen zwei weitere Säulen der Klima www.aip.org/history/climate/index.htm wissenschaft die aus Modellen nahegelegte Erkenntnis M. Heymann, Wiley Interdiscip. Rev. Clim. Change 1, 581 (2010), eines anthropogenen Klimawandels. Messungen globaler http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/wcc.61/full Temperaturen zeigen eindeutig einen signifikanten Anstieg M. Heymann und A. Dahan, J. Adv. Model. Earth Syst. 11, 1139 seit Ende der 1970erJahre. Im Vergleich zu vorindustriel (2019), https://doi.org/10.1029/2018MS001526 len Zeiten ist die globale Durchschnittstemperatur bereits um 1,1 °C angewachsen (Abb. 5). Schließlich hat die Paläo klimatologie, die Untersuchung von Klimaveränderungen Der Autor in der Erdgeschichte, eindeutig bewiesen, dass steigende Treibhausgaskonzentrationen in der Vergangenheit mit Matthias Heymann ist Professor für Wissenschafts- steigenden Temperaturen und anderen Klimaverände und Technikgeschichte an der Universität Aarhus in Dänemark. Nach dem Studium der Physik und Philo- rungen verknüpft waren. Paläoklimatologen haben sogar sophie wollte er nicht nur Details der Natur verstehen, gefährliche Umkehrpunkte entdeckt, mit denen eine dras sondern vor allem die Menschen, die die Wissenschaft tische Beschleunigung von Klimaveränderungen einher betreiben, Erkenntnisse technisch nutzen und Pro- ging, ein Warnzeichen für die Zukunft, welches die Sorgen bleme schaffen und mithilfe der Wissenschaft lösen der Klimawissenschaft deutlich vergrößerte. wollen. Umweltprobleme und die Frage, wie und Anthropogene Klimaveränderungen sind heute so gut warum es zu diesen kommen konnte und wie Wis- senschaftler und Ingenieure darauf reagierten, fanden sein Hauptinteresse. Den nachgewiesen, dass zufällige Fluktuationen als Ursache der Anfang machte er mit einer Doktorarbeit am Deutschen Museum über die Ge- Erwärmung auszuschließen sind. James Hansen hat seine schichte der Windenergienutzung im 20. Jahrhundert, bevor er über Stationen in kühne Wette von 1981 sozusagen gewonnen. Die neuesten Stuttgart, Istanbul, München und zuletzt Aarhus sich zunehmend der Geschichte Klimaprojektionen zeigen nahezu exakt den gleichen Ver der Luftverschmutzung und des Klimawandels und ihrer Erforschung zuwandte. lauf der globalen Temperatur, den bereits Hansen vorher Prof. Dr. Matthias Heymann, Centre Science Studies, Arhus University, Ny Munkegade gesagt hatte, nämlich eine Erwärmung von bis zu vier Grad 120, 8000 Aarhus C, Dänemark Celsius bis 2100. Eine nicht minder drastische Veränderung © 2021 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 20 (2021) Nr. 7 27
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