Klimaforschung und -wandel - Pro Physik

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Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
Geschichte

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                               Klimaforschung und -wandel
                               Wie der Klimawandel in Wissenschaft und Politik gelangte
                               Matthias Heymann

                               In der Wissenschaft war der Treibhauseffekt schon am         war. Der englische Ingenieur Guy Callendar versuchte 1938
                               Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, Beobachtungen             durch umfangreiche Berechnungen nachzuweisen, dass der
                               in den 1930er-Jahren deuteten darauf hin, dass die           Treibhauseffekt diesen Anstieg verursacht haben könnte
                               globalen Temperaturen ansteigen. Trotzdem war der            (Abb. 1). Zu seiner Überraschung traf seine Theorie in der
                               Weg von der klassischen Klimatologie zur modernen            Meteorologie und Klimatologie auf große Skepsis. Mög­
                               Klima­w issenschaft lang und von gesellschaftlichen,         lich schienen auch zufällige Verschiebungen der globalen
                               politischen und technischen Entwicklungen entschei-          Windzirkulation als Ursache für den Temperaturanstieg.
                               dend beeinflusst.                                               Es dauerte weitere vier Jahrzehnte, bis weiterhin stei­
                                                                                            gende Kohlendioxidemissionen ernsthafte Befürchtungen

                               B
                                      ereits 1896 sagte der schwedische Physiker Svante     über eine Klimaerwärmung verursachten und zu einem
                                      Arrhenius wegen des rasch wachsenden Kohlever­        Poli­tikum wurden. Paradoxerweise wandelte sich diese
                                      brauchs und der damit verbundenen Kohlendioxid­       Wahrnehmung zu einem Zeitpunkt, als die Entwicklung
                               emissionen steigende globale Temperaturen voraus. Zu         der globalen mittleren Temperaturen seit rund drei Jahr­
                               diesem Zeitpunkt stieß diese Erkenntnis jedoch auf wenig     zehnten wieder stagnierte. Beobachtungen wiesen also kei­
                               Interesse. Etwa vierzig Jahre später beobachteten Meteoro­   neswegs auf einen Klimawandel wie in den 1930er-Jahren
                               logen tatsächlich einen signifikanten Anstieg der Tempe­     hin. Was verursachte also die plötzliche Sorge über einen
                               raturen in Europa, der in der Arktis besonders ausgeprägt    Klima­wandel? Und warum erhielten die Klimawissen­

                               22      Physik Journal 20 (2021) Nr. 7                                                              © 2021 Wiley-VCH GmbH
Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
Geschichte

 Die Definition von Klimatypen und die Entwicklung einer         heute Anwendung findet (Abb. linke Seite). Dies wurde spä­
Klimakarte der Erde (hier von 1931) durch Wladimir Köppen prägt   ter oft als „klassische Klimatologie“ bezeichnet. Vertreter
die Klimaforschung bis heute.                                     dieser an empirischer Sorgfalt, Detail und Vollständigkeit
                                                                  ausgerichteten, klassischen Klimatologie konnten wenig
                                                                  mit den Berechnungen von Arrhenius oder Callendar an­
                                                                  fangen. In ihrem Weltbild ergab es keinen Sinn, pauschal
schaften in den folgenden Jahrzehnten hohe politische             weltweit gemittelte Temperaturveränderungen zu berech­
Priorität, nicht aber vierzig Jahre zuvor? Dieser Beitrag         nen, ohne regionale Wetterphänomene und geographische
versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben.                    Variationen und Besonderheiten des Klimas zu berück­
                                                                  sichtigen. Überdies hatten sie in mathematische Formeln
                                                                  und vereinfachte globale Berechnungen wenig Vertrauen,
Die Tradition der „klassischen Klimatologie“                      zumindest in Hinsicht auf die komplexen Phänomene der
Das Interesse am Klima reicht weit zurück. Griechische            Atmosphäre, die bisher noch kein Theoretiker vollständig
Philosophen wie Parmenides, Eratosthenes, Aristotle und           erfassen und berechnen konnte.
Hippokrates verstanden unter dem griechischen Wort
κλίμα (klíma) den Winkel der Sonneneinstrahlung. See­
fahrer und Reisende berichteten in den folgenden Jahr­
                                                                  Technischer Wandel und veränderter Klimabegriff
hunderten über die Verschiedenheit von Klimata auf dem            Der lange Weg von der klassischen Klimatologie zur mo­
Globus und zeigten, dass nicht der Sonnenwinkel allein            dernen Klimawissenschaft verlief nicht linear. Bereits von
das Klima bestimmte. Jahreszeiten, Wetter, Windströ­              Hann und Köppen befürworteten und förderten meteo­
mungen und terrestrische Verhältnisse wie Entfernung              rologische Messungen in höheren Luftschichten, denn
von den Ozeanen und die Höhe über dem Meer mach­                  offensichtlich hing der Zustand in Bodennähe auch von
ten das Klima zu einem weitaus komplexeren Phänomen.              Prozessen in größeren Höhen ab. Zunächst standen dafür
Eine wissenschaftliche Klimatologie entstand im Laufe des         nur wenige Bergstationen und Heißluftballone zur Verfü­
19. Jahrhunderts.                                                 gung, am Ende des 19. Jahrhunderts kamen auch Drachen
   Wissenschaftler wie der Naturforscher Alexander von            (Abb. 2) und spezielle, mit Wasserstoff gefüllte Ballons zum
Humboldt, der Direktor der Zentralanstalt für Meteoro­            Einsatz. Diese oft als „Entdeckung der dritten Dimension“
logie in Wien, Julius von Hann, und der Leiter des damals         der Atmosphäre bezeichnete Richtung, die Köppen auf
neu geschaffenen Seewetterdienstes an der Deutschen See­          den Namen „Aerologie“ taufte, hatte handfeste praktische
warte in Hamburg, Wladimir Köppen, trugen maßgeblich              Gründe. Neue Luftschiffe und Flugzeuge, die um die Jahr­
dazu bei, die Klimatologie zu einer wissenschaftlichen Dis­       hundertwende gebaut wurden, waren empfindliche Geräte,
ziplin zu machen. Humboldt verstand unter Klima „alle             deren Steuerung eine gute Kenntnis des Wetters in höheren
Veränderungen in der Atmosphäre, die unsre Organe                 Luftschichten erforderte.
merklich afficiren“, also die Temperatur, die Feuchtigkeit           Der Erste Weltkrieg beschleunigte diese Entwicklung.
oder die Luftbewegungen. Danach bezog sich Klima immer            Seit Ende der 1930er­Jahre standen überdies neue Radio­
auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Region, so           sonden zur Verfügung, die meteorologische Messungen
wie wir noch heute von dem Klima von Hamburg oder                 mithilfe von Radiowellen direkt an die Bodenstation senden
München sprechen. Außerdem bezog es sich lediglich auf            und die Erforschung höherer Schichten der Atmosphäre
die Oberfläche der Erde und nicht auf die gesamte Atmo­           deutlich erleichtern konnten. Führten die Wetterdienste um
sphäre. Von Hann veröffentlichte 1883 das „Handbuch der           1930 weltweit etwa 3000 Aufstiege von Drachen oder Bal­
Klimatologie“, in dem er die methodischen Grundlagen              lons durch, so stieg diese Zahl auf etwa 180 000 um 1950. Das
der Disziplin zusammenfasste. Danach ließ sich das Klima          wachsende Wissen über höhere Luftschichten verdeutlichte
eines Ortes durch die Mittelwertbildung von Messreihen            auch die Bedeutung von Höhenwinden und großräumigen
atmosphärischer Größen bestimmen, darunter die mittlere
monatliche und jährliche Temperatur.
   Eine Hauptaufgabe der Klimatologie bestand darin, die
                                                                                                                                             Wiley Online Library

verschiedenen Klimata der Erde zu beobachten und auf
Basis meteorologischer Messreihen zu beschreiben. Eine
andere Aufgabe war die Untersuchung von Zusammen­
hängen zwischen Klima und Pflanzen­ und Tierwelt und
den Menschen, insbesondere die Bedeutung des Klimas für
die Verbreitung von Krankheiten oder für die Land­ und
Forstwirtschaft. In dieser Konzeption war die Klimatolo­
gie vor allem eine empirische Wissenschaft, die sich für
geographische Unterschiede des Klimas interessierte, das
Klima eines Ortes aber als mehr oder weniger konstant über
lange Zeiträume betrachtete. Ein berühmtes Resultat war
die Definition von Klimatypen und die Entwicklung einer           Abb. 1 Die Berechnungen des Temperaturanstiegs durch den Treibhauseffekt
Klimakarte der Erde durch Wladimir Köppen, die noch               von Guy Callendar stießen in Meteorologie und Klimatologie auf Skepsis.

© 2021 Wiley-VCH GmbH                                                                         Physik Journal 20 (2021) Nr. 7   23
Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
Geschichte

                                                                                                             im Prinzip für jeden Punkt in Zeit und Raum beschrieben.

    DWD / MOL-RAO
                                                                                                             Diese sieben Gleichungen repräsentierten die relevanten
                                                                                                             physikalischen Gesetzmäßigkeiten und beinhalteten Bewe­
                                                                                                             gungsgleichungen für den horizontalen Wind, die hydro­
                                                                                                             statische Grundgleichung, die Massenerhaltungsgleichung,
                                                                                                             die Energieerhaltungsgleichung und das ideale Gasgesetz.
                                                                                                             Paradoxerweise wurden diese komplexen Gleichungen
                                                                                                             später als „primitive Gleichungen“ bezeichnet.
                                                                                                                Bjerknes selbst erkannte, dass dieses Gleichungssystem
                                                                                                             die Grundlage für Vorhersagen von Wetter und Klima bil­
                                                                                                             den könnte. Ein entscheidendes Problem bestand allerdings
                                                                                                             darin, dass es für diese Gleichungen keine analytischen
                                                                                                             Lösungen gab. Der britische Physiker, Mathematiker und
                                                                                                             Meteorologe Lewis Fry Richardson war der erste, der sich
                                                                                                             um eine numerische Näherungslösung dieser Gleichungen
                                                                                                             bemühte. Dafür musste er für Rasterelemente und Zeit­
   Abb. 2 Wetterdrachen ermöglichten es seit Ende des 19. Jahrhun-                                           intervalle angenäherte Werte sehr aufwändig berechnen. Er
   derts, höhere Atmosphärenschichten zu erforschen.                                                         führte diese Arbeit probehalber für eine Wettervorhersage
                                                                                                             für einen Tag und zwei Rasterelemente durch. Für prak­
                                                                                                             tische Zwecke war dies viel zu aufwändig. Richardsons
   Wettersystemen und die Abhängigkeit lokaler Klimata und                                                   Schätzungen nach erforderte eine ausreichend schnell
   Klimaereignisse von Prozessen, die kontinentale Ausmaße                                                   berechnete Wettervorhersage eine „forecast factory“ von
   haben konnten. Ein Beispiel dafür sind Verschiebungen und                                                 64 000 menschlichen Rechnern.
   Veränderungen von Monsunzonen und ­niederschlägen,
   die sich mithilfe dieser Erkenntnisse besser verstehen lie­
   ßen. Der führende deutsche Klimatologe Hermann Flohn
                                                                                                             Die Atmosphäre im Computer
   bezeichnete diese erweiterte Ausrichtung des Faches als                                                   Dramatische politische Konflikte im 20. Jahrhundert, der
   „moderne Klimatologie“.                                                                                   Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg, dienten als Geburts­
      Die langfristig größten Veränderungen in der Klima­                                                    helfer, um die von Bjerknes formulierte Vision der Wet­
   tologie sollten Durchbrüche in der Physik der Atmosphä­                                                   ter­ und Klimavorhersage zu realisieren. Im Zweiten Welt­
   re bringen. Lange trugen Meteorologie und Klimatologie                                                    krieg entstanden digitale Computer, technische Rechner,
   den Makel, lediglich empirische Disziplinen und keine                                                     um ballistische Trajektorien für das amerikanische Militär
   vollwertigen Wissenschaften zu sein, weil es ihnen an leis­                                               zu errechnen. Nach dem Krieg erkannten der Mathemati­
   tungsfähigen physikalischen Theorien mangelte. Diesen                                                     ker John von Neumann und der Meteorologe Carl­Gustav
   Makel suchte der norwegische Physiker Vilhelm Bjerknes                                                    Rossby die sich bietenden Gelegenheiten. Digitale Compu­
   zu überwinden. 1903 gelang es ihm, eine neue Basis für                                                    ter, die bis zu 5000 Rechenoperationen pro Sekunde aus­
   die „dynamische Meteorologie“ zu schaffen. Er entwickelte                                                 führten, könnten auch der Meteorologie nutzen (Abb. 3).
   ein komplexes System aus sieben nichtlinearen partiellen                                                  Außerdem brachte der Kalte Krieg einen warmen Regen
   Differenzialgleichungen, die den Zustand der Atmosphäre                                                   militärischer Forschungsmittel. Von Neumann und Ross­

                                                                                               Der britische Ingenieur Guy                                      Der amerikanische Chemi-
                                                                                               Callendar versucht ab 1938                                       ker Charles David Keeling
                       Dem britischen Naturforscher                                            durch umfangreiche Berech-                                       nimmt Messungen der CO2-
                       John Tyndall gelingt es mittels                                         nungen nachzuweisen, dass ein                                    Konzentration der Atmo-
                       präziser Messungen, einige für                                          auffälliger Temperaturanstieg                                    sphäre auf dem Vulkanberg
                       den Treibhauseffekt verant-                                             in der nördlichen Hemisphäre                                     Mauna Loa auf Hawaii auf.
                       wortliche Gase wie Wasser-                                              zwischen 1925 und 1940 durch                                     Wenige Jahre später weist er
                       dampf und Kohlenstoffdioxid                                             den Treibhauseffekt verursacht                                   nach, dass die CO2-Konzen-
                       zu identifizieren.                                                      worden sein könnte.                                              tration Jahr für Jahr ansteigt.

1824                1862                                             1896              1938                                                     1956       1957
   Der französische Mathematiker                                            Der schwedische Physiker und                                            Dem amerikanischen Meteoro-
   und Physiker Joseph Fourier                                              Chemiker Svante Arrhenius                                               logen Norman Phillips gelingt
   entdeckt den Treibhauseffekt,                                            berechnet erstmals die Erwär-                                           es erstmals erfolgreich, die
   bei dem Gase in der Atmosphäre                                           mung der Erde durch den Treib-                                          globale Zirkulation mit einem
   einfallende Wärmestrahlung                                               hauseffekt. Eine Verdopplung                                            Computermodell zu simulieren.
   der Sonne daran hindern, in den                                          der CO2-Konzentrationen würde                                           Sein Modell ist der Ausgangs-
   Weltraum reflektiert zu werden.                                          demnach eine Erwärmung von                                              punkt für die Entwicklung von
                                                                            5 bis 6 °C verursachen.                                                 Klimamodellen.

   University of East Anglia (Callendar); MIT Museum (Phillips); Scripps Institution of Oceanography Photographic Laboratory Collection (Keeling)

   24                Physik Journal 20 (2021) Nr. 7                                                                                                                   © 2021 Wiley-VCH GmbH
Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
Geschichte

by versprachen kühn nicht nur, Wetter und Klima vorher­

                                                                                                                                                                    U.S. Army Photo
zusagen, sondern auch gezielt zu manipulieren.
    Diese Versprechen stießen auf großes politisches In­
teresse, die Forschungsrealität sah aber sehr viel beschei­
dener aus. Rossby und sein Mitarbeiter Jule Charney, der
schließlich ein junges Entwicklungsteam in Princeton leite­
te, mussten drastische und kontroverse Vereinfachungen an
den primitiven Gleichungen vornehmen, um den Aufwand
der numerischen Lösungsverfahren der begrenzten Kapa­
zität erster digitaler Computer anzupassen. Charneys Team
entwickelte ein Modell der Atmosphäre für den Computer,
eine virtuelle Atmosphäre, mit der Experimente in Form
von Simulationen durchführbar waren. 1950 gelang tatsäch­
lich die erste experimentelle Wettervorhersage, trotz aller
Vereinfachungen mit sehr ermutigenden Ergebnissen. Die
sogenannte numerische Wettervorhersage wurde ab Mitte                                             Abb. 3 Die zunächst für militärische Anwendungen gedachten
der 1950er­Jahre operationell von ersten Wetterdiensten in                                        frühen Computer fanden nach dem Zweiten Weltkrieg rasch Einsatz
Schweden und den USA eingesetzt und in den folgenden                                              in der Meteorologie.
Jahren und Jahrzehnten weltweit zum Standard.
    Das Experimentieren auf dem Computer entwickelte
sich zu einem leistungsfähigen Instrument, zumal mit der                                          entwickelten, um Klimaprozesse besser zu erfassen und
realen Atmosphäre keine Experimente möglich waren. Ein                                            zu simulieren. Diese neue Klimawissenschaft veränderte
junger Mitarbeiter aus Charneys Team, Norman Phillips,                                            die Forschung radikal. Sie erforderte Fachleute aus Physik,
wagte 1955 die Simulation der Windströmungen in der At­                                           Mathematik, theoretischer Meteorologie und Computer­
mosphäre über einen deutlich längeren Zeitraum als die ein                                        technik, die zunehmend den Typus des Klimaforschers re­
bis zwei Tage, für welche die Wettervorhersage zu simulie­                                        präsentierten, während traditionell orientierte empirische
ren war. Mit weiteren drastischen Vereinfachungen, etwa                                           Klimatologen rasch an Bedeutung verloren.
der Annahme einer ruhenden Atmosphäre zu Beginn der                                                  Mit dieser neuen, nicht mehr geographischen, sondern
Simulation, ließ Phillips den Computer über 30 virtuelle                                          rein physikalischen Klimawissenschaft veränderte sich auch
Tage laufen. Das Ergebnis übertraf die kühnsten Träume.                                           das Verständnis von Klima selbst auf radikale Weise. Das
Phillips konnte damit die Strömungsmuster der irdischen                                           Klima eines Ortes der alten Klimatologie war nunmehr we­
Atmosphäre erstaunlich gut reproduzieren. Dieses Ergebnis                                         nig sinnvoll, denn die Klimamodelle – wie sie bald genannt
verursachte beträchtlichen Enthusiasmus, denn es legte na­                                        wurden – kannten nur großräumige Rasterelemente von
he, dass die komplexe Physik der Atmosphäre mithilfe von                                          zunächst mehreren tausend Kilometern Seitenlänge, auf
Computermodellen und Simulationen zu bewältigen ist.                                              denen sich näherungsweise gemittelte Ergebnisse simulie­
    Das Modell von Phillips lässt sich als erstes „ Global Cir­                                   ren ließen. Das Klima selbst wurde damit zu einem sehr
culation Model“ (GCM) ansehen, ein Modelltyp, den in                                              großräumigen, globalen Phänomen, während kleinräu­
den 1950er­ und 1960er­Jahren zunächst vier Forschungs­                                           mige Daten und Phänomene sozusagen durch das Raster
gruppen in den USA und eine in Großbritannien weiter­                                             der Modelle fielen. Auch die Prioritäten veränderten sich.

                                                  Auf der Study Conference on Critical
                                                  Environmental Problems (SCEP)
                                                  wird erstmals die Klimaerwärmung                                           Der amerikanische Klimaforscher
                                                  von Atmosphärenwissenschaftlern                                            James E. Hansen veröffentlicht erst-
                                                  als ernsthaftes Zukunftsproblem                                            mals mit einem einfachen Klima-
                                                  beschrieben. Der amerikanische                                             modell simulierte Projektionen,
                                                  Meteorologe William Welch Kellogg                                          nach denen bis zum Jahr 2100 die
                                                  fordert den Einsatz von Klima-                                             globale Erwärmung zwischen 1 und
                                                  modellen für die Klimavorhersage.                                          4 °C liegen wird.

             1965                          1970                           1979                                           1981                   1988
                    Der japanische Meteorologe und                              Ein Bericht der amerikanischen                                       Das Intergovernmental Panel on
                    Klimamodellierer Syukuro Manabe                             National Academy of Science                                          Climate Change (IPCC) wird als
                    führt erstmals ein Experiment zur                           schließt auf Basis von Experi-                                       zwischenstaatliche Beratungs-
                    Erderwärmung mit einem Klima-                               menten mit zwei Klimamodellen,                                       organisation gegründet und ver-
                    modell durch. Bei Verdopplung der                           dass es „keinen Grund gibt, Klima-                                   öffentlicht Zukunftsprojektionen
                    CO2-Konzentration der Atmosphäre                            veränderungen zu bezweifeln                                          mit Klimamodellen, welche die
                    ergeben die Simulationen eine glo-                          und zu glauben, dass diese Klima-                                    Klimaerwärmung und die Gefahren
                    bale Erwärmung von etwa 2 °C.                               veränderungen vernachlässigbar                                       des Klimawandels bestätigen.
                                                                                sein werden“.

Princeton University (Manabe); Aarhus University (Kellog); AGU (Hansen); IPCC

© 2021 Wiley-VCH GmbH                                                                                                           Physik Journal 20 (2021) Nr. 7      25
Klimaforschung und -wandel - Pro Physik
Geschichte

                                                                       Während die klassische Klimatologie an möglichst differen­             dendes Problem. Dabei gab es zunächst sowohl warnende
                                                                       zierten räumlichen Bestimmungen geographischer Klimata                 Stimmen, die das Risiko einer Abkühlung und zukünftiger
                                                                       interessiert war, stand nun eher die zeitliche Dynamik von             Eiszeiten betonten, zumindest bis Mitte der 1970er­Jahre,
                                                                       Prozessen und Veränderungen des Klimas im Vordergrund.                 als auch Stimmen, die das Risiko einer zukünftigen Klima­
                                                                                                                                              erwärmung betonten. Letztere sollten rasch die Oberhand
                                                                                                                                              erlangen.
                                                                       Globale Erwärmung und neue Perspektiven                                   Die aufkeimende Sorge vor einem Klimawandel wäh­
                                                                       Bis zum Ende der 1960er­Jahre hatte sich die Klimamodel­               rend einer Zeit, in der die globalen Temperaturen stag­
                                                                       lierung, nicht zuletzt mithilfe dramatisch steigender Leis­            nierten, also empirische Anzeichen für einen solchen
                                                                       tungsfähigkeit der Computer, zu einem führenden Instru­                Klimawandel fehlten, ist ein deutliches Beispiel dafür, wie
                                                                       ment der Forschung entwickelt. Die bereits seit langem                 stark gesellschaftliche Aufmerksamkeiten wissenschaftliche
                                                                       bekannte Frage des Treibhauseffekts spielte in den frühen              Interessen beeinflussen. Denn die physikalischen Ursachen
                                                                       Modellierungen aber praktisch keine Rolle. Zwar hatten                 für eine mögliche Erwärmung waren ebenso wie die astro­
                                                                       einige wenige Forscher wie der Physiker Gilbert Plass oder             nomischen und geologischen Gründe für eine mögliche
                                                                       der Ozeanograph Roger Revelle diese Frage seit den 1950er­             Abkühlung und zukünftige Eiszeit seit Langem bekannt.
                                                                       Jahren in den Blick genommen, aber ohne damit größere                  Klimamodelle erhielten nun eine zentrale Rolle und be­
                                                                       Aufmerksamkeit zu erzeugen. Revelle veranlasste Ende der               stärkten die Sorgen einer Klimaerwärmung nachhaltig.
                                                                       1950er­Jahre sogar erstmals kontinuierliche Messungen                  Erste Simulationsexperimente mit erhöhten Kohlendioxid­
                                                                       atmosphärischen Kohlendioxids durch den Chemiker                       konzentrationen der virtuellen Modell­Atmosphäre sagten
                                                                       Charles Keeling auf Hawaii, um steigende Konzentrationen               eine deutliche Erwärmung voraus, wenn diese auch erst
                                                                       des Gases in der Atmosphäre nachzuweisen, was in der Tat               nach mehreren Jahrzehnten deutlich spürbar werden sollte.
                                                                       innerhalb weniger Jahre gelang (Abb. 4).                                  Einige Vertreter einer neuen Generation von Klima­
                                                                          1965 behandelte erstmals eine Konferenz in den USA das              modellierern forderten lautstark, Klimamodelle trotz der
                                                                       Thema der Klimaerwärmung durch den Treibhauseffekt.                    eingeräumten Unsicherheiten systematisch als Prognose­
                                                                       Auch ein Bericht des Scientific Advisory Committee des                 instrumente zu verwenden, um eine Basis für rasche
                                                                       US­Präsidenten wies in diesem Jahr auf den Treibhaus­                  politische Entscheidungen über Maßnahmen gegen den
                                                                       effekt hin, der weiter zu beobachten sei. Dabei handelte es            befürchteten Klimawandel zu schaffen. Dazu zählte der
                                                                       sich nicht um sorgenvolle Darstellungen, die auf dringende             junge Klimawissenschaftler und Umweltaktivist Stephen
                                                                       Maßnahmen drängten. Im Vordergrund stand nach wie                      H. Schneider, der in Büchern und Talkshows eindringlich
                                                                       vor das politische Interesse an der Entwicklung gezielter              vor möglichen „Klimakatastrophen“ warnte und maßgeb­
                                                                       Wetter­ und Klimaveränderungen mit technischen Mitteln.                lich zur Politisierung der Klimawissenschaft beitrug.
                                                                          Erst das in dieser Zeit wachsende Umweltbewusstsein                    Ein anderer Klimamodellierer derselben Generation,
                                                                       und die Entstehung einer lautstarken Umweltbewegung                    James E. Hansen, entwickelte in den 1970er­Jahren gezielt
                                                                       veränderten die Perspektive grundlegend. Ein Verständnis               ein einfaches Modell für die Anwendung zur Simulation so­
                                                                       der Natur als eine für den Menschen beliebig verfügbare                genannter Klimaprojektionen, die Berechnung zukünftiger
                                                                       Ressource wurde zunehmend durch das Verständnis einer                  Temperaturen in Abhängigkeit unterschiedlicher Emissi­
                                                                       von den Menschen verschmutzten, gefährdeten und zu                     onsszenarien. 1981 legte sein Team eine erste Veröffentli­
                                                                       schützenden Umwelt ersetzt. Dieser Perspektivwechsel                   chung solcher Projektionen in der Zeitschrift Science vor,
                                                                       sollte auch die Klimawissenschaft nachhaltig verändern.                die auch in öffentlichen Medien Aufmerksamkeit erhielt.
                                                                       Klimaveränderungen gerieten immer mehr in den Blick                    Das Modell sagte bis zum Jahr 2100 eine durchschnittliche
                                                                       als ein ernsthaftes, die menschliche Gesellschaft gefähr­              Erwärmung zwischen ein und vier Grad Celsius voraus.
                                                                                                                                              Die New York Times berichtete auf der Titelseite, dass nach
                                                                                                                                              dieser Studie die Welt wärmer würde und der Meeresspiegel
                                                                                                                                              zukünftig steigen könnte.
Ch. D. Keeling, Proc. Am. Philos. Soc. 114, 10 (1970)

                                                                                                                                                 Wegen der großen Unsicherheiten brachte diese Arbeit
                                                                                                                                              Hansen erhebliche Kritik ein. Die meisten Wissenschaftler
                                                                                                                                              sahen in seinen Projektionen eher eine Wette auf die Zu­
                                                                                                                                              kunft als seriöse Wissenschaft. Doch Hansen hatte den
                                                                                                                                              Weg gewiesen, wie der Klimawandel mittels Modellen zu
                                                                                                                                              untersuchen war. Nach Gründung des Intergovernmen­
                                                                                                                                              tal Panel on Climate Change (IPCC), im Deutschen auch
                                                                                                                                              als Weltklimarat bezeichnet, wurde genau dieser Weg mit
                                                                                                                                              verfeinerten und komplexeren Modellen beschritten, die
                                                                                                                                              seit den 1980er­Jahren zu Erdsystemmodellen wurden und
                                                                                                                                              Rückkopplungen der Atmosphäre mit den Ozeanen, der
                                                        Abb. 4 Die Keeling-Kurve aus dem Jahr 1970 zeigt die Variation der CO2-Konzen-
                                                                                                                                              Biosphäre und anderen geologischen Prozessen berücksich­
                                                        tration in der Atmosphäre seit Ende der 1950er-Jahre. Das auffällige Sägezahnmuster   tigten, die für die Entwicklung des Klimas eine wichtige
                                                        resultiert aus den jahreszeitlichen Unterschieden des Wachstums von Pflanzen und      Rolle spielen.
                                                        Bäumen.

                                                                       26        Physik Journal 20 (2021) Nr. 7                                                                       © 2021 Wiley-VCH GmbH
Geschichte

                                                                                         der Klimawissenschaft besteht darin, dass sie eine stark poli­
IPCC

            0,4                                                                          tisierte, in der Öffentlichkeit aufmerksam wahrgenommene
                                                                                         Disziplin geworden ist. Sie hat durch die enorme Aufmerk­
            0,2
                                                                                         samkeit immens profitiert und ist durch eine Vervielfachung
             0                                                                           von Mitteln, Instituten, Forschungsstellen, Großcomputern
                                                                                         und technischer Infrastruktur zu einer „Big Science“ ge­
          - 0,2                                                                          worden. Gleichzeitig hat sie allerdings beträchtlich an Au­
       C°

                                                       Köppen 1881
          - 0,4
                                                       Callendar 1938                    tonomie verloren. Der wissenschaftliche Fokus liegt auf der
                                                       Willett1950
                                                       Callendar 1961                    Berechnung von neuen Klimaprojektionen, unter anderem
                                                       Mitchell 1963
          - 0,6                                        Budyko 1969                       für den IPCC und nationale Regierungen. Viel Zeit geht
                                                       Jones et al. 1986
                                                       Hansen and Lebedeff 1987          damit in die Anwendung der Modelle, während weniger
          - 0,8                                        Brohan et al. 2006
                                                                                         Zeit für Grundlagenforschung zur Verfügung steht.
             1840   1860   1880   1900   1920   1940      1960       1980         2000       In den letzten Jahren hat sich das unerwartete Resultat
                                         Jahr
                                                                                         gezeigt, dass Bemühungen zur Optimierung der Model­
       Abb. 5 Historische wie aktuelle Messreihen belegen einen An-                      le, etwa die detailliertere Berücksichtigung und bessere
       stieg der globalen Temperatur.                                                    Beschreibung von Prozessen und Daten höherer Quali­
                                                                                         tät, die Zuverlässigkeit der Simulationsergebnisse nicht
                                                                                         mehr wesentlich verbessert hat. Außerdem war bereits
       Eine neue wissenschaftliche Kultur                                                seit den 1990er­Jahren erkennbar, dass Wissenschaftle­
       Klimamodelle und ­simulationen sind heute die zentralen                           rinnen und Wissenschaftler zwar das Klima immer besser
       Bausteine der Klimawissenschaften. Sie repräsentieren eine                        verstehen, aber die Erdsystemmodelle und Simulationen
       Synthese des aktuellen Wissens über Klimaprozesse und lei­                        sich als immer undurchschaubarer erwiesen. Manche
       ten gleichzeitig die weitere Forschung. Diese erhielten ihren                     Klimawissenschaftler*innen wie der Direktor des Max­
       Status trotz der weiterhin schwer einschätzbaren Unsicher­                        Planck­Instituts für Meteorologie in Hamburg, Bjorn
       heiten, die vor allem in den 1990er­Jahren erhebliche, oft                        Stevens, oder die Forschungsdirektorin des französischen
       politisch motivierte Kritik verursachte und von Leugnern                          CNRS, Sandrine Bony, stellen deshalb den eingeschlagenen
       des Klimawandels und Vertretern industrieller Interessen                          Weg der zunehmenden Weiterentwicklung und Anwen­
       politisch instrumentalisiert wurden. Klimamodelle galten                          dung bestehender Modelle infrage und drängen auf die
       jedoch als zu wichtig, um auf ihre Anwendung verzichten                           Rückkehr zu einer detaillierteren Untersuchung grund­
       zu können. Die Kritik an ihnen ist in den letzten Jahren                          legender Klimaprozesse, um diese besser zu verstehen.
       überdies deutlich zurückgegangen, wenngleich nicht ihre
       Unsicherheiten. Klimamodelle gelten als deutlich besser,                          Weiterführende Literatur
       differenzierter und zuverlässiger als ihre einfachen Vorgän­                         P. N. Edwards, A Vast Machine: Computer Models, Climate Data,
       ger und werden heute von Tausenden von Wissenschaftlern                               and the Politics of Global Warming, MIT Press, Cambridge, MA (2010)
                                                                                            S. R. Weart, The Discovery of Global Warming, überarb. und erw.
       getestet, verglichen, überprüft und verbessert.
                                                                                             Aufl, Harvard University Press, Cambridge (2008), Web-Version:
          Außerdem bestätigen zwei weitere Säulen der Klima­                                 www.aip.org/history/climate/index.htm
       wissenschaft die aus Modellen nahegelegte Erkenntnis                                 M. Heymann, Wiley Interdiscip. Rev. Clim. Change 1, 581 (2010),
       eines anthropogenen Klimawandels. Messungen globaler                                  http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/wcc.61/full
       Temperaturen zeigen eindeutig einen signifikanten Anstieg                            M. Heymann und A. Dahan, J. Adv. Model. Earth Syst. 11, 1139
       seit Ende der 1970er­Jahre. Im Vergleich zu vorindustriel­                            (2019), https://doi.org/10.1029/2018MS001526
       len Zeiten ist die globale Durchschnittstemperatur bereits
       um 1,1 °C angewachsen (Abb. 5). Schließlich hat die Paläo­
       klimatologie, die Untersuchung von Klimaveränderungen                             Der Autor
       in der Erdgeschichte, eindeutig bewiesen, dass steigende
       Treibhausgaskonzentrationen in der Vergangenheit mit                                                             Matthias Heymann ist Professor für Wissenschafts-
       steigenden Temperaturen und anderen Klimaverände­                                                                und Technikgeschichte an der Universität Aarhus in
                                                                                                                        Dänemark. Nach dem Studium der Physik und Philo-
       rungen verknüpft waren. Paläoklimatologen haben sogar
                                                                                                                        sophie wollte er nicht nur Details der Natur verstehen,
       gefährliche Umkehrpunkte entdeckt, mit denen eine dras­                                                          sondern vor allem die Menschen, die die Wissenschaft
       tische Beschleunigung von Klimaveränderungen einher­                                                             betreiben, Erkenntnisse technisch nutzen und Pro-
       ging, ein Warnzeichen für die Zukunft, welches die Sorgen                                                        bleme schaffen und mithilfe der Wissenschaft lösen
       der Klimawissenschaft deutlich vergrößerte.                                                                      wollen. Umweltprobleme und die Frage, wie und
          Anthropogene Klimaveränderungen sind heute so gut                                                             warum es zu diesen kommen konnte und wie Wis-
                                                                                             senschaftler und Ingenieure darauf reagierten, fanden sein Hauptinteresse. Den
       nachgewiesen, dass zufällige Fluktuationen als Ursache der
                                                                                             Anfang machte er mit einer Doktorarbeit am Deutschen Museum über die Ge-
       Erwärmung auszuschließen sind. James Hansen hat seine                                 schichte der Windenergienutzung im 20. Jahrhundert, bevor er über Stationen in
       kühne Wette von 1981 sozusagen gewonnen. Die neuesten                                 Stuttgart, Istanbul, München und zuletzt Aarhus sich zunehmend der Geschichte
       Klimaprojektionen zeigen nahezu exakt den gleichen Ver­                               der Luftverschmutzung und des Klimawandels und ihrer Erforschung zuwandte.
       lauf der globalen Temperatur, den bereits Hansen vorher­                              Prof. Dr. Matthias Heymann, Centre Science Studies, Arhus University, Ny Munkegade
       gesagt hatte, nämlich eine Erwärmung von bis zu vier Grad                             120, 8000 Aarhus C, Dänemark
       Celsius bis 2100. Eine nicht minder drastische Veränderung

       © 2021 Wiley-VCH GmbH                                                                                                 Physik Journal 20 (2021) Nr. 7         27
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