"Kommt, schmeißt raus das Pack!" - Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe ...
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„Kommt, schmeißt raus das Pack!“ Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R 21“ Florian Grahmann / Kathinka Schlieker E s ist der 29. November 2018, rief die Hochschulgruppe bereits in der Ver- in Kürze beginnt die Veran- gangenheit durch ihre Veranstaltung „Warum staltung der Hochschulgruppe man Kinder – auch vor der Geburt – nicht „R 21“ (Reformatio 21 – Göttin- töten darf“ eine Welle des Protests unter den gen) mit dem Titel „Gehört Göttinger Studierenden hervor.2 der Islam zu Deutschland?“ im Auditorium der Universi- Geladen als Vortragender war der evangelika- tät Göttingen. Die christliche, le Online-Prediger Abdul Memra. Auf seinem wertkonservative Hochschulgruppe R 21 wurde YouTube-Kanal „Memra TV“ spricht er über am 8. Juni 2017 im Zuge des 500. Jahrestags seine Konversion vom Islam zum Christentum zum lutherischen Thesenanschlag gegründet, um nach eigenen Angaben zu Diskussionen über die Werte des Grundgesetzes und des 2 Die Veranstaltung fand am 23. Oktober 2018 Christentums anzuregen.1 Mit diesem Anliegen im Gebäude der Heilsarmee in Göttingen statt. Titel: „Warum man Kinder – auch vor der Geburt – nicht töten darf“, siehe Brakemeier, Michael: Demo gegen Abtreibungsgegner: Das müssen Sie 1 Vgl. Zweck der Hochschulgruppe auf wissen, in: Göttinger Tagesblatt, 23.10.2018, URL: Facebook, URL: https://www.facebook. https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/ com/pg/Reformatio21/about/?ref=page_ Goettingen/Demo-gegen-Abtreibungsgegner- internal [eingesehen am 08.08.2019]. in-Goettingen [eingesehen am 01.07.2019]. Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 22
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker | „Kommt, schmeißt raus das Pack!“ und lädt Gäste ein, mit denen er über Glau- Inhaltlich versuchte Abdul Memra, die Frage bensfragen diskutiert. Dabei vertritt er stets nach der Zugehörigkeit des Islam zu Deutsch- radikal evangelikale Ansichten und stellt sich land durch einen Vergleich des deutschen gegen die Katholische Kirche und die „Zeugen Grundgesetzes mit dem religiösen Recht der Jehovas“.3 Muslim*innen – der Scharia – zu verneinen. Seine Argumentationslinie basiert auf der Als wir eintrafen, wurden zunächst unsere Grundannahme, dass sich nur der- oder die- Taschen nach etwaigen Waffen durchsucht. jenige Christ*in oder Muslim*in nennen dürfe, Auf die Nachfrage, warum das nötig sei, hieß welche*r an alles glaube, was in der jeweili- es, man habe schlechte Erfahrungen gemacht. gen heiligen Schrift (also der Bibel oder dem Wir suchten uns einen Platz in der Mitte des Koran) stehe. Da Muslim*innen nach diesem bereits gut besuchten Hörsaals; zunächst war von ihm als fundamentalistisch bezeichneten alles ruhig, doch schon nach kurzer Zeit setzte Religionsverständnis an alle religiösen Gesetze vor der Tür lautes, rhythmisches Trommeln glauben würden und ihnen auch Folge leisten ein. Mehrere Gruppen, darunter die ALL (Hoch- müssten, komme es zwangsläufig zu Konflikten. schulgruppe Alternative Linke Liste), hatten So sei es etwa koranisches Gebot, Dieb*innen sich zu einem Protest außerhalb des Gebäudes mit der Amputation der Hand zu bestrafen.4 versammelt, um ihre Ablehnung gegenüber der Dies nutzte Memra als Beispiel, um die Un- Veranstaltung zum Ausdruck zu bringen. vereinbarkeit des Islam mit der Rechts- und Gesellschaftsordnung Deutschlands hervorzu- Als die Veranstaltung begann, wurde durch heben. In der Tat ist die Inkompatibilität der lautes, unbegründetes Klatschen von verschie- Norm mit dem grundgesetzlich garantierten denen Zuschauer*innengruppen, die sich im Recht auf „körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Raum verteilt hatten, schnell deutlich, dass die Abs. 2) und dem Verbot der körperlichen Protestierenden sich nicht von den Ordner*in- Misshandlung von Gefangenen (Art. 104 Abs. 1) nen an den Eingängen und den vorgenom- offensichtlich. Allerdings muss erwähnt werden, menen Kontrollen hatten abschrecken lassen dass die in der Scharia verankerten Körper- und ihre Position ungeachtet dessen auch im strafen selbst in den meisten islamisch ge- Saal deutlich machten. Abdul Memra versuchte prägten Ländern heute nicht mehr angewandt der aufgeladenen Stimmung zum Trotz, seinen werden und die Scharia weit mehr Normen als Vortrag zu beginnen – was jedoch zunächst nur die des Strafrechts umfasst. Viele Regelun- wegen des Geräuschpegels kaum möglich war. gen beziehen sich etwa auf rituelle Handlun- Es war aber auch eine kleine Minderheit vor- gen, die weitgehend durch die grundgesetzlich wiegend älterer Personen anwesend, die dem garantierte Religionsfreiheit geschützt sind. Vortrag und der Diskussion, ohne Kritik zu äu- ßern, folgten. Als die Veranstalter*innen nach Die naheliegende Kritik, dass auch Passagen kurzer Zeit ihre Drohung, von ihrem Haus- der Bibel mit dem deutschen Grundgesetz recht Gebrauch zu machen und Personen des konfligieren, ließ derweil nicht lange auf sich Raumes zu verweisen, in die Tat umsetzten, warten: Mit dem Vers: „Ihr Männer ebenso, äußerte ebendiese Minderheit zustimmende wohnt bei ihnen mit Einsicht als bei einem Zurufe wie „Schmeißt raus, das Pack“. schwächeren Gefäß, dem weiblichen […]“5, wur- 4 Siehe Koran, Sure 5, Vers 38, URL: http://islam. de/13827.php?sura=5 [eingesehen am 01.07.2019]. 3 Siehe die Videos auf seinem Kanal „Memra TV“, URL: https://www.youtube.com/ 5 Bibel, 1. Petrus 3,7, URL: https://www. user/MemraTV [eingesehen am 01.07.2019]. bibleserver.com/text/LUT.ELB.HFA.NeÜ/1. Diese haben 5.000 bis 30.000 Aufrufe. Petrus3 [eingesehen am 06.07.2019]. Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 23
Demokratie-Dialog 5-2019 de auf den Widerspruch zu der im Grundge- tenz: Zum einen sei es im Christentum – im setz in Art. 3 Abs. 2 garantierten Gleichheit von vermeintlichen Gegensatz zum Islam – ver- Mann und Frau hingewiesen.6 Abdul Memra ankert, sich dem jeweils geltenden irdischen stellte daraufhin klar, dass er Frauen durchaus Recht zu unterwerfen; tatsächlich ist es auch für das schwächere Gefäß halte, es aber trotz- bei Rechtsgelehrten im Islam eine weitverbrei- dem vor Gott eine Gleichstellung von Mann tete Idee, dass Muslim*innen in einer nicht- und Frau gebe – ein Argument, das auch auf muslimischen Gesellschaft die dort herrschen- muslimischer Seite existiert.7 den Regeln anerkennen sollen.9 Zum anderen bezeichnete er negative Beispiele der christ- Die darauffolgenden Zwischenrufe aus dem lichen Geschichte, wie etwa die Kreuzzüge, Publikum führten zu einer hitzigen Diskussi- wahlweise als „katholisch“ oder „nicht-christ- on über Abdul Memras Stellungnahmen zur lich“. Zudem sei die Bibel eine historische Homosexualität. Diese teilte er in einem seiner Quelle, welche die Christ*innen sinngemäß YouTube-Videos mit, auf das bereits im Vorfeld in die Gegenwart übersetzen müssten – den durch im Eingangsbereich verteilte Flyer auf- Muslim*innen räumt er diesen Interpretations- merksam gemacht worden war. In diesem ap- spielraum aufgrund des vermeintlich binden- pelliert er vor allem an gläubige Christ*innen, den Gesetzescharakters des Islam hingegen die davon ausgehen, Homosexualität sei mit nicht ein. dem christlichen Glauben vereinbar, und führt verschiedene Bibelstellen an, um diese Annah- Sein nächstes Beispiel, Muslim*innen müssten me zu widerlegen. Er warnt darüber hinaus auf dem Koran zufolge im Falle einer Verleugnung abwertende Weise vor der „Ehe für alle“, die Mohammeds zu Gewalt greifen, stieß gerade ein „Türöffner für Pädophile und Menschen, die wegen des erneut hergestellten Zusammen- es gerne mit Tieren treiben“, sei.8 Im Publikum hangs von Islam und Gewalt auf die Kritik, wurde die Forderung laut, er solle den Anwe- seine Argumentation sei rassistisch. Wenn- senden das Video vorspielen, was er jedoch gleich die Frage nach der Vereinbarkeit schari- mit der Begründung, dass die Zuhörer*innen atischer Vorgaben mit dem Grundgesetz nicht nicht wegen des Themas Homosexualität ge- per se rassistisch ist, förderte Memras Ein- kommen seien, ablehnte. wand, er habe doch muslimische Freunde und gehe immer noch gerne beim „Dönermann“ Weiteren die Bibel in einem kritischen Licht essen, doch sein stereotypisches Denken zu- betrachtenden Zwischenrufen entgegnete er tage. Darüber hinaus betonte er, der Letzte zu mit einer gewissen argumentativen Inkonsis- sein, der die „Muslime aus Deutschland verja- gen“ wolle – obwohl er davon überzeugt sei, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Denn er selbst betreibe vor allem „theologi- 6 Siehe Grundgesetz Art. 3 Abs. 2, Bundesamt für Justiz und Verbraucherschutz, URL: https://www. sche Islamkritik“ und würde stets zwischen gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949. dem Islam und den Muslim*innen differenzie- html [eingesehen am 06.07.2019]. ren: Alle Muslim*innen, die dem Grundgesetz ausnahmslos folgten, seien durchaus willkom- 7 Siehe Koran Sure 4, Vers 34, URL: http://islam. de/1411.php [eingesehen am 30.07.2019]; für die men. Ebendiese Differenzierung erkannte ein Proklamation der Gleichwertigkeit von Mann und weiterer Zuhörer an, kritisierte aber anschlie- Frau siehe Sure 33:35 URL: http://islam.de/13827. php?sura=33 [eingesehen am 30.07.2019]. 8 Memra, Abdul: ABDUL – EHE FÜR ALLE? 9 Vgl. Albrecht, Sarah: Dāral-Islām and dār al- Aufruf an Christen/ Homosexualität und ḥarb, in: Encyclopaedia of Islam, 3. Aufl., 2016, Hurerei!!!!, URL: https://www.youtube.com/ URL: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_ watch?v=ZI81mpATsy0 [eingesehen am 01.07.2019]. COM_25867 [eingesehen am 01.03.2019] . Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 24
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker | „Kommt, schmeißt raus das Pack!“ ßend scharf, dass Memra nicht beachte, in erneut höchst kontroverse, mit der Selbst- welch politisch polarisiertem Kontext er die bestimmtheit der Frau in Konflikt stehende Suggestivfrage „Gehört der Islam zu Deutsch- Fragestellungen. land?“ äußere und damit gerade einem sich im Aufwind befindlichen rechten Milieu eine Unabhängig von der Legitimität von Protest argumentative Grundlage zum Ausschluss von jeglicher Art gegenüber der Hochschulgruppe Muslim*innen biete. R 21 und ihren Veranstaltungen12 muss festge- halten werden, dass dieser nicht nur aufgrund Der gesamte Vortrag war von permanenten der kontroversen Themen erzeugt wurde, son- Unterbrechungen durchzogen – sei es durch dern auch wegen der Vortragenden und ihrer Zwischenrufe, lautes Klatschen oder Verwick- individuellen Hintergründe.13 lungen in Diskussionen über Themen fernab des eigentlichen Vortrags –, bei gleichzeitigem Protestgetrommel von außerhalb des Gebäu- Veranstalter kurz nach Beginn abgesagt; sie- des. Insgesamt glich die Veranstaltung durch he: Zwangsprostitution. Sklavenhandel in die ständigen, vom Publikum gesteuerten, Deutschland?, URL: https://www.facebook.com/ sprunghaften Themenwechsel sowie durch den events/195541151044271 [eingesehen am 01.07.2019]. Rauswurf besonders lauter Gruppierungen eher 12 Wir haben im Zuge dieses Artikels versucht, so- einem Improvisationstheaterstück – wobei die wohl mit den Organisator*innen von R 21 als auch kritisch auf Inkonsistenzen hinweisenden Kom- mit den diversen Protestgruppierungen zu spre- mentare durchaus vermochten, die Argumenta- chen, um Genaueres über die jeweiligen Moti- tion Abdul Memras ins Wanken zu bringen. vationen zu erfahren; allerdings haben wir von keiner der Gruppen eine Rückmeldung erhalten. Diese Form der Boykottierung mündete al- 13 Zur Person Abdul Memra siehe Fußnote 1. lerdings bei anderen Veranstaltungen der Gerhard Steier ist Abtreibungsgegner, ehemaliger R 21 in völligen Blockaden: Die eingeladenen Geschäftsführer von KALEB (Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren) und Redner*innen waren hier aufgrund des Lärm- ehrenamtliches Vorstandsmitglied des pegels nicht in der Lage, ihre Vorträge auch Bundesverbandes Lebensrecht (BVL); siehe nur zu beginnen. Denn mit den Vorträgen „Ein hierzu Weise, Jörg: Lebensrechtsvereinigung Baby im Bauch – ein Recht auf Leben?“10 KALEB: Neuer Geschäftsführer ins Amt eingeführt, sowie „Zwangsprostitution – Sklavenhandel in in: Idea, 28.03.2018, URL: https://www.idea.de/ Deutschland?“11 wählte die Hochschulgruppe menschenrechte/detail/lebensrechtsvereinigung- kaleb-neuer-geschaeftsfuehrer-ins-amt- eingefuehrt-104766.html [eingesehen am 06.07.2019]. Dr. Michael Kiworr ist christlich 10 Die Veranstaltung ist auf Facebook nicht mehr geprägter Gynäkologe seit 2002 und einsehbar, fand aber am 8. Mai 2019 im Göttin- Vorstandsmitglied beim Weißen Kreuz (Fachverband ger Lokal „Hemingway“ statt, wurde dann jedoch für Sexualethik und Seelsorge innerhalb der nach anhaltendem Protest durch den Eigen- Evangelischen Diakonie), der über Abtreibung tümer abgesagt; siehe o. V.: Aktivisten verhin- aufklärt und Veröffentlichungen zu den weltweiten dern Veranstaltung von Christen in Göttingen, Entwicklungen zu diesem Thema herausgebracht in: Idea, 09.05.2019, URL: https://www.idea.de/ hat. Siehe Lebenslauf, URL: https://bes-therapie. menschenrechte/detail/aktivisten-verhindern-ver- de/ueber-uns/ [eingesehen am 23.07.2019] sowie anstaltung-von-christen-in-goettingen-109141. Interview mit Dr. Kiworr, in: Bonner Querschnitt, html?fbclid=IwAR2MoBRzmohpPAvF4E08o- URL: https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/ 2q0BWUFN9Sz2woTYqh5uF1RWU75VnYkE_gtb- tx_org/BQ0184_01.pdf [eingesehen am qk#comments [eingesehen am 01.07.2019]. 30.07.2019]. Gaby Wentland ist Predigerin in 11 Die Veranstaltung fand am 5. Juni 2019 im der Freikirchlichen Gemeinde Entschiedener AUDI 11 (in Göttingen) statt, wurde dann je- Christen und Gründerin von Mission Freedom, doch nach anhaltendem Protest durch die einer Organisation, die sich den Einsatz gegen Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 25
Demokratie-Dialog 5-2019 Am Beispiel der Veranstaltungen der R 21 stellt nicht das allgegenwärtige Narrativ der radika- sich also grundsätzlich die Frage der Mei- len Rechten, sie würden einem „Meinungsdik- nungsfreiheit und der Legitimität von Protest, tat“ der linksliberalen Mehrheit unterliegen und der darauf abzielt, andere an der Äußerung an der freien, ihnen rechtmäßig zustehenden ihrer Ansichten und Überzeugungen aktiv zu Äußerung ihrer Meinungen gehindert werden, hindern. Denn die Meinungsfreiheit gehört plump zu wiederholen, sei an dieser Stelle ebenfalls zu den im Grundgesetz verankerten ausdrücklich auf die Grenzen der Meinungs- Grundrechten; sie ist ein wesentlicher Grund- freiheit hingewiesen. Denn Äußerungen, die pfeiler der liberalen Demokratie – konstituiert darauf abzielen, die allgemeine Freiheit und sie doch den Widerstreit verschiedener Mei- Gleichheit anderer einzuschränken, untergra- nungen um Deutungshoheit im politischen ben die Voraussetzungen ihres Rechtes auf Diskurs. In diesem Sinne ist es ebenso offen- freie Meinungsäußerung – sie verstricken sich sichtlich, dass das Aushalten von Meinungen mitunter in einem performativen Widerspruch: anderer, die der eigenen widersprechen oder Die intendierte praktische Umsetzung ihrer ihr gar entgegenstehen, zwingend erforderlich Überzeugungen und das Einfordern des Rechts ist, sofern man an einer demokratischen, vom auf freie Meinungsäußerung eines*r jeden Pluralismus lebenden Gesellschaftsordnung schließen einander in letzter Konsequenz aus.15 festhalten möchte. Ebendiese Überlegung sowie die deutsche Geschichte berücksichtigend, ist es weitestge- In der jüngeren Vergangenheit haben aufge- hend Konsens, dass es Grenzen im demokra- worfene Fragen rund um die Reichweite der tischen Diskurs braucht. Dass diese Grenzen Meinungsfreiheit sowie um die Grenzziehung wiederum stets kontextabhängige, fließende zwischen Konservativen und Rechtsradikalen und dabei selbst vom Diskurs bestimmte sind, zahlreiche Diskussionen mit ausgeprägtem liegt in der Logik des demokratischen Diskur- medialen Wiederhall hervorgerufen.14 Um hier ses begründet. Allerdings muss die Frage aufgeworfen wer- Zwangsprostitution zur Aufgabe gemacht haben den, ob Grenzziehung nicht auch als politische soll; siehe MISSION FREEDOM: Unsere Arbeit, URL: Waffe eingesetzt werden kann, indem man https://www.mission-freedom.de/unsere-arbeit/ unliebsame Positionen schlicht als unzuläs- [eingesehen am 23.07.2019]. Sie stand allerdings sig deklariert und somit ihren Ausschluss aus in der Kritik des LKA in Hamburg, nicht seriös dem Diskurs legitimiert. Bedienen sich Formen zu arbeiten; siehe Fuchs, Mareike / Rudolph, Maike / Witte, Jenny: Bürgerpreis für dubiosen des Protests, deren vorrangiges Ziel es ist, die Verein, in: Ndr Hamburg, 10.12.2013, URL: https:// gegenüberstehende Meinung zum Verstum- www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Buergerpreis- men zu bringen, nicht ebenfalls eines auto- fuer-dubiosen-Verein,missionfreedom103. ritären Mittels? Immerhin handelt es sich bei html [eingesehen am 23.07.2019]. 14 Unter anderem etwa die Diskussion rund um die Veranstaltung „Denken und denken lassen. Zur 29.07.2019] oder auch Knödler, Janne: Feindschaft Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit” an und das Politische, in: Süddeutsche Zeitung, der Universität Siegen oder um die geplante und 13.03.2019, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/ nicht durchgeführte Veranstaltung „Feindschaft meinungsfreiheit-thilo-sarrazin-goetz-kubitschek- und das Politische” der Studienstiftung des universitaet-1.4364395 [eingesehen am 29.07.2019]. deutschen Volkes; siehe z. B. Breuer, Ingeborg: Wo die Grenzen des Sagbaren liegen, in: 15 Vgl. Breul, Martin: InDebate: Hat Meinungsfreiheit Deutschlandfunk, 21.02.2019, URL: https:// Grenzen?, in: Philosophie InDebate, 02.11.2015, www.deutschlandfunk.de/meinungsfreiheit- URL: https://philosophie-indebate.de/2391/ wo-die-grenzen-des-sagbaren-liegen.1148. philosophie-indebate-hat-meinungsfreiheit- de.html?dram:article_id=441626 [eingesehen am grenzen/ [eingesehen am 29.07.2019]. Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 26
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker | „Kommt, schmeißt raus das Pack!“ dem Recht auf freie Meinungsäußerung um ein Menschenrecht und als solches sollte es anderen nicht leichtfertig aberkannt werden. Überhaupt: Eignet man sich in einem derar- tigen Fall nicht eine womöglich anmaßende Deutungshoheit über die Legitimität der Posi- tionen und Überzeugungen anderer an? Letztlich scheint es, dass – ebenso wie die Berufung auf das Recht der Meinungsfreiheit von Akteur*innen, welche die liberale Demo- kratie als Staatsform ablehnen, zu einem Miss- brauch und der vielbeschworenen Verschie- bung der Grenzen des Sagbaren führen kann – diese Gefahr auch andersherum besteht. Vor Florian Grahmann, B. A., diesem Hintergrund sollten Protestformen, die geb. 1995, studiert Politik- darauf abzielen, die Meinungsäußerung an- wissenschaft im Master derer zu unterbinden, stets kritisch reflektiert an der Universität Göt- tingen und ist seit 2018 werden. studentische Hilfskraft der Forschungs- und Dokumen- tationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersach- sen am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Kathinka Schlieker, geb. 1997, studiert Po- litikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre im Zwei-Fach-Bachelor an der Universität Göttingen und ist seit 2018 studentische Hilfskraft der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremis- men in Niedersachsen am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27. 27
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