"Kommt, schmeißt raus das Pack!" - Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe ...

Die Seite wird erstellt Luca Steffens
 
WEITER LESEN
„Kommt,
                                                                                                                                           schmeißt raus
                                                                                                                                           das Pack!“
                                                                                                                                           Eine Frage der Meinungsfreiheit
                                                                                                                                           und des Protests, gestellt
                                                                                                                                           anlässlich einer Veranstaltung
                                                                                                                                           der Hochschulgruppe „R 21“

                                                                                                                                           Florian Grahmann / Kathinka Schlieker

               E
                                     s ist der 29. November 2018,                                                              rief die Hochschulgruppe bereits in der Ver-
                                     in Kürze beginnt die Veran-                                                               gangenheit durch ihre Veranstaltung „Warum
                                     staltung der Hochschulgruppe                                                              man Kinder – auch vor der Geburt – nicht
                                     „R 21“ (Reformatio 21 – Göttin-                                                           töten darf“ eine Welle des Protests unter den
                                     gen) mit dem Titel „Gehört                                                                Göttinger Studierenden hervor.2
                                     der Islam zu Deutschland?“
                                     im Auditorium der Universi-                                                               Geladen als Vortragender war der evangelika-
                                     tät Göttingen. Die christliche,                                                           le Online-Prediger Abdul Memra. Auf seinem
                   wertkonservative Hochschulgruppe R 21 wurde                                                                 YouTube-Kanal „Memra TV“ spricht er über
                   am 8. Juni 2017 im Zuge des 500. Jahrestags                                                                 seine Konversion vom Islam zum Christentum
                   zum lutherischen Thesenanschlag gegründet,
                   um nach eigenen Angaben zu Diskussionen
                   über die Werte des Grundgesetzes und des                                                                    2       Die Veranstaltung fand am 23. Oktober 2018
                   Christentums anzuregen.1 Mit diesem Anliegen                                                                        im Gebäude der Heilsarmee in Göttingen statt.
                                                                                                                                       Titel: „Warum man Kinder – auch vor der Geburt
                                                                                                                                       – nicht töten darf“, siehe Brakemeier, Michael:
                                                                                                                                       Demo gegen Abtreibungsgegner: Das müssen Sie
                   1       Vgl. Zweck der Hochschulgruppe auf                                                                          wissen, in: Göttinger Tagesblatt, 23.10.2018, URL:
                           Facebook, URL: https://www.facebook.                                                                        https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/
                           com/pg/Reformatio21/about/?ref=page_                                                                        Goettingen/Demo-gegen-Abtreibungsgegner-
                           internal [eingesehen am 08.08.2019].                                                                        in-Goettingen [eingesehen am 01.07.2019].

 Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

22
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker  |  „Kommt, schmeißt raus das Pack!“

          und lädt Gäste ein, mit denen er über Glau-                                                                 Inhaltlich versuchte Abdul Memra, die Frage
          bensfragen diskutiert. Dabei vertritt er stets                                                              nach der Zugehörigkeit des Islam zu Deutsch-
          radikal evangelikale Ansichten und stellt sich                                                              land durch einen Vergleich des deutschen
          gegen die Katholische Kirche und die „Zeugen                                                                Grundgesetzes mit dem religiösen Recht der
          Jehovas“.3                                                                                                  Muslim*innen – der Scharia – zu verneinen.
                                                                                                                      Seine Argumentationslinie basiert auf der
          Als wir eintrafen, wurden zunächst unsere                                                                   Grundannahme, dass sich nur der- oder die-
          Taschen nach etwaigen Waffen durchsucht.                                                                    jenige Christ*in oder Muslim*in nennen dürfe,
          Auf die Nachfrage, warum das nötig sei, hieß                                                                welche*r an alles glaube, was in der jeweili-
          es, man habe schlechte Erfahrungen gemacht.                                                                 gen heiligen Schrift (also der Bibel oder dem
          Wir suchten uns einen Platz in der Mitte des                                                                Koran) stehe. Da Muslim*innen nach diesem
          bereits gut besuchten Hörsaals; zunächst war                                                                von ihm als fundamentalistisch bezeichneten
          alles ruhig, doch schon nach kurzer Zeit setzte                                                             Religionsverständnis an alle religiösen Gesetze
          vor der Tür lautes, rhythmisches Trommeln                                                                   glauben würden und ihnen auch Folge leisten
          ein. Mehrere Gruppen, darunter die ALL (Hoch-                                                               müssten, komme es zwangsläufig zu Konflikten.
          schulgruppe Alternative Linke Liste), hatten                                                                So sei es etwa koranisches Gebot, Dieb*innen
          sich zu einem Protest außerhalb des Gebäudes                                                                mit der Amputation der Hand zu bestrafen.4
          versammelt, um ihre Ablehnung gegenüber der                                                                 Dies nutzte Memra als Beispiel, um die Un-
          Veranstaltung zum Ausdruck zu bringen.                                                                      vereinbarkeit des Islam mit der Rechts- und
                                                                                                                      Gesellschaftsordnung Deutschlands hervorzu-
          Als die Veranstaltung begann, wurde durch                                                                   heben. In der Tat ist die Inkompatibilität der
          lautes, unbegründetes Klatschen von verschie-                                                               Norm mit dem grundgesetzlich garantierten
          denen Zuschauer*innengruppen, die sich im                                                                   Recht auf „körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2
          Raum verteilt hatten, schnell deutlich, dass die                                                            Abs. 2) und dem Verbot der körperlichen
          Protestierenden sich nicht von den Ordner*in-                                                               Misshandlung von Gefangenen (Art. 104 Abs. 1)
          nen an den Eingängen und den vorgenom-                                                                      offensichtlich. Allerdings muss erwähnt werden,
          menen Kontrollen hatten abschrecken lassen                                                                  dass die in der Scharia verankerten Körper-
          und ihre Position ungeachtet dessen auch im                                                                 strafen selbst in den meisten islamisch ge-
          Saal deutlich machten. Abdul Memra versuchte                                                                prägten Ländern heute nicht mehr angewandt
          der aufgeladenen Stimmung zum Trotz, seinen                                                                 werden und die Scharia weit mehr Normen als
          Vortrag zu beginnen – was jedoch zunächst                                                                   nur die des Strafrechts umfasst. Viele Regelun-
          wegen des Geräuschpegels kaum möglich war.                                                                  gen beziehen sich etwa auf rituelle Handlun-
          Es war aber auch eine kleine Minderheit vor-                                                                gen, die weitgehend durch die grundgesetzlich
          wiegend älterer Personen anwesend, die dem                                                                  garantierte Religionsfreiheit geschützt sind.
          Vortrag und der Diskussion, ohne Kritik zu äu-
          ßern, folgten. Als die Veranstalter*innen nach                                                              Die naheliegende Kritik, dass auch Passagen
          kurzer Zeit ihre Drohung, von ihrem Haus-                                                                   der Bibel mit dem deutschen Grundgesetz
          recht Gebrauch zu machen und Personen des                                                                   konfligieren, ließ derweil nicht lange auf sich
          Raumes zu verweisen, in die Tat umsetzten,                                                                  warten: Mit dem Vers: „Ihr Männer ebenso,
          äußerte ebendiese Minderheit zustimmende                                                                    wohnt bei ihnen mit Einsicht als bei einem
          Zurufe wie „Schmeißt raus, das Pack“.                                                                       schwächeren Gefäß, dem weiblichen […]“5, wur-

                                                                                                                      4       Siehe Koran, Sure 5, Vers 38, URL: http://islam.
                                                                                                                              de/13827.php?sura=5 [eingesehen am 01.07.2019].
          3       Siehe die Videos auf seinem Kanal
                  „Memra TV“, URL: https://www.youtube.com/                                                           5       Bibel, 1. Petrus 3,7, URL: https://www.
                  user/MemraTV [eingesehen am 01.07.2019].                                                                    bibleserver.com/text/LUT.ELB.HFA.NeÜ/1.
                  Diese haben 5.000 bis 30.000 Aufrufe.                                                                       Petrus3 [eingesehen am 06.07.2019].

Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

                                                                                                                                                                                                                                             23
Demokratie-Dialog 5-2019

                   de auf den Widerspruch zu der im Grundge-                                                                   tenz: Zum einen sei es im Christentum – im
                   setz in Art. 3 Abs. 2 garantierten Gleichheit von                                                           vermeintlichen Gegensatz zum Islam – ver-
                   Mann und Frau hingewiesen.6 Abdul Memra                                                                     ankert, sich dem jeweils geltenden irdischen
                   stellte daraufhin klar, dass er Frauen durchaus                                                             Recht zu unterwerfen; tatsächlich ist es auch
                   für das schwächere Gefäß halte, es aber trotz-                                                              bei Rechtsgelehrten im Islam eine weitverbrei-
                   dem vor Gott eine Gleichstellung von Mann                                                                   tete Idee, dass Muslim*innen in einer nicht-
                   und Frau gebe – ein Argument, das auch auf                                                                  muslimischen Gesellschaft die dort herrschen-
                   muslimischer Seite existiert.7                                                                              den Regeln anerkennen sollen.9 Zum anderen
                                                                                                                               bezeichnete er negative Beispiele der christ-
                   Die darauffolgenden Zwischenrufe aus dem                                                                    lichen Geschichte, wie etwa die Kreuzzüge,
                   Publikum führten zu einer hitzigen Diskussi-                                                                wahlweise als „katholisch“ oder „nicht-christ-
                   on über Abdul Memras Stellungnahmen zur                                                                     lich“. Zudem sei die Bibel eine historische
                   Homosexualität. Diese teilte er in einem seiner                                                             Quelle, welche die Christ*innen sinngemäß
                   YouTube-Videos mit, auf das bereits im Vorfeld                                                              in die Gegenwart übersetzen müssten – den
                   durch im Eingangsbereich verteilte Flyer auf-                                                               Muslim*innen räumt er diesen Interpretations-
                   merksam gemacht worden war. In diesem ap-                                                                   spielraum aufgrund des vermeintlich binden-
                   pelliert er vor allem an gläubige Christ*innen,                                                             den Gesetzescharakters des Islam hingegen
                   die davon ausgehen, Homosexualität sei mit                                                                  nicht ein.
                   dem christlichen Glauben vereinbar, und führt
                   verschiedene Bibelstellen an, um diese Annah-                                                               Sein nächstes Beispiel, Muslim*innen müssten
                   me zu widerlegen. Er warnt darüber hinaus auf                                                               dem Koran zufolge im Falle einer Verleugnung
                   abwertende Weise vor der „Ehe für alle“, die                                                                Mohammeds zu Gewalt greifen, stieß gerade
                   ein „Türöffner für Pädophile und Menschen, die                                                              wegen des erneut hergestellten Zusammen-
                   es gerne mit Tieren treiben“, sei.8 Im Publikum                                                             hangs von Islam und Gewalt auf die Kritik,
                   wurde die Forderung laut, er solle den Anwe-                                                                seine Argumentation sei rassistisch. Wenn-
                   senden das Video vorspielen, was er jedoch                                                                  gleich die Frage nach der Vereinbarkeit schari-
                   mit der Begründung, dass die Zuhörer*innen                                                                  atischer Vorgaben mit dem Grundgesetz nicht
                   nicht wegen des Themas Homosexualität ge-                                                                   per se rassistisch ist, förderte Memras Ein-
                   kommen seien, ablehnte.                                                                                     wand, er habe doch muslimische Freunde und
                                                                                                                               gehe immer noch gerne beim „Dönermann“
                   Weiteren die Bibel in einem kritischen Licht                                                                essen, doch sein stereotypisches Denken zu-
                   betrachtenden Zwischenrufen entgegnete er                                                                   tage. Darüber hinaus betonte er, der Letzte zu
                   mit einer gewissen argumentativen Inkonsis-                                                                 sein, der die „Muslime aus Deutschland verja-
                                                                                                                               gen“ wolle – obwohl er davon überzeugt sei,
                                                                                                                               dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre.
                                                                                                                               Denn er selbst betreibe vor allem „theologi-
                   6       Siehe Grundgesetz Art. 3 Abs. 2, Bundesamt für
                           Justiz und Verbraucherschutz, URL: https://www.
                                                                                                                               sche Islamkritik“ und würde stets zwischen
                           gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.                                                            dem Islam und den Muslim*innen differenzie-
                           html [eingesehen am 06.07.2019].                                                                    ren: Alle Muslim*innen, die dem Grundgesetz
                                                                                                                               ausnahmslos folgten, seien durchaus willkom-
                   7       Siehe Koran Sure 4, Vers 34, URL: http://islam.
                           de/1411.php [eingesehen am 30.07.2019]; für die
                                                                                                                               men. Ebendiese Differenzierung erkannte ein
                           Proklamation der Gleichwertigkeit von Mann und                                                      weiterer Zuhörer an, kritisierte aber anschlie-
                           Frau siehe Sure 33:35 URL: http://islam.de/13827.
                           php?sura=33 [eingesehen am 30.07.2019].

                   8       Memra, Abdul: ABDUL – EHE FÜR ALLE?                                                                 9       Vgl. Albrecht, Sarah: Dāral-Islām and dār al-
                           Aufruf an Christen/ Homosexualität und                                                                      ḥarb, in: Encyclopaedia of Islam, 3. Aufl., 2016,
                           Hurerei!!!!, URL: https://www.youtube.com/                                                                  URL: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_
                           watch?v=ZI81mpATsy0 [eingesehen am 01.07.2019].                                                             COM_25867 [eingesehen am 01.03.2019] .

 Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

24
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker  |  „Kommt, schmeißt raus das Pack!“

          ßend scharf, dass Memra nicht beachte, in                                                                   erneut höchst kontroverse, mit der Selbst-
          welch politisch polarisiertem Kontext er die                                                                bestimmtheit der Frau in Konflikt stehende
          Suggestivfrage „Gehört der Islam zu Deutsch-                                                                Fragestellungen.
          land?“ äußere und damit gerade einem sich
          im Aufwind befindlichen rechten Milieu eine                                                                 Unabhängig von der Legitimität von Protest
          argumentative Grundlage zum Ausschluss von                                                                  jeglicher Art gegenüber der Hochschulgruppe
          Muslim*innen biete.                                                                                         R 21 und ihren Veranstaltungen12 muss festge-
                                                                                                                      halten werden, dass dieser nicht nur aufgrund
          Der gesamte Vortrag war von permanenten                                                                     der kontroversen Themen erzeugt wurde, son-
          Unterbrechungen durchzogen – sei es durch                                                                   dern auch wegen der Vortragenden und ihrer
          Zwischenrufe, lautes Klatschen oder Verwick-                                                                individuellen Hintergründe.13
          lungen in Diskussionen über Themen fernab
          des eigentlichen Vortrags –, bei gleichzeitigem
          Protestgetrommel von außerhalb des Gebäu-                                                                           Veranstalter kurz nach Beginn abgesagt; sie-
          des. Insgesamt glich die Veranstaltung durch                                                                        he: Zwangsprostitution. Sklavenhandel in
          die ständigen, vom Publikum gesteuerten,                                                                            Deutschland?, URL: https://www.facebook.com/
          sprunghaften Themenwechsel sowie durch den                                                                          events/195541151044271 [eingesehen am 01.07.2019].
          Rauswurf besonders lauter Gruppierungen eher                                                                12      Wir haben im Zuge dieses Artikels versucht, so-
          einem Improvisationstheaterstück – wobei die                                                                        wohl mit den Organisator*innen von R 21 als auch
          kritisch auf Inkonsistenzen hinweisenden Kom-                                                                       mit den diversen Protestgruppierungen zu spre-
          mentare durchaus vermochten, die Argumenta-                                                                         chen, um Genaueres über die jeweiligen Moti-
          tion Abdul Memras ins Wanken zu bringen.                                                                            vationen zu erfahren; allerdings haben wir von
                                                                                                                              keiner der Gruppen eine Rückmeldung erhalten.

          Diese Form der Boykottierung mündete al-                                                                    13      Zur Person Abdul Memra siehe Fußnote 1.
          lerdings bei anderen Veranstaltungen der                                                                            Gerhard Steier ist Abtreibungsgegner, ehemaliger
          R 21 in völligen Blockaden: Die eingeladenen                                                                        Geschäftsführer von KALEB (Kooperative
                                                                                                                              Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren) und
          Redner*innen waren hier aufgrund des Lärm-
                                                                                                                              ehrenamtliches Vorstandsmitglied des
          pegels nicht in der Lage, ihre Vorträge auch
                                                                                                                              Bundesverbandes Lebensrecht (BVL); siehe
          nur zu beginnen. Denn mit den Vorträgen „Ein                                                                        hierzu Weise, Jörg: Lebensrechtsvereinigung
          Baby im Bauch – ein Recht auf Leben?“10                                                                             KALEB: Neuer Geschäftsführer ins Amt eingeführt,
          sowie „Zwangsprostitution – Sklavenhandel in                                                                        in: Idea, 28.03.2018, URL: https://www.idea.de/
          Deutschland?“11 wählte die Hochschulgruppe                                                                          menschenrechte/detail/lebensrechtsvereinigung-
                                                                                                                              kaleb-neuer-geschaeftsfuehrer-ins-amt-
                                                                                                                              eingefuehrt-104766.html [eingesehen am
                                                                                                                              06.07.2019]. Dr. Michael Kiworr ist christlich
          10      Die Veranstaltung ist auf Facebook nicht mehr
                                                                                                                              geprägter Gynäkologe seit 2002 und
                  einsehbar, fand aber am 8. Mai 2019 im Göttin-
                                                                                                                              Vorstandsmitglied beim Weißen Kreuz (Fachverband
                  ger Lokal „Hemingway“ statt, wurde dann jedoch
                                                                                                                              für Sexualethik und Seelsorge innerhalb der
                  nach anhaltendem Protest durch den Eigen-
                                                                                                                              Evangelischen Diakonie), der über Abtreibung
                  tümer abgesagt; siehe o. V.: Aktivisten verhin-
                                                                                                                              aufklärt und Veröffentlichungen zu den weltweiten
                  dern Veranstaltung von Christen in Göttingen,
                                                                                                                              Entwicklungen zu diesem Thema herausgebracht
                  in: Idea, 09.05.2019, URL: https://www.idea.de/
                                                                                                                              hat. Siehe Lebenslauf, URL: https://bes-therapie.
                  menschenrechte/detail/aktivisten-verhindern-ver-
                                                                                                                              de/ueber-uns/ [eingesehen am 23.07.2019] sowie
                  anstaltung-von-christen-in-goettingen-109141.
                                                                                                                              Interview mit Dr. Kiworr, in: Bonner Querschnitt,
                  html?fbclid=IwAR2MoBRzmohpPAvF4E08o-
                                                                                                                              URL: https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/
                  2q0BWUFN9Sz2woTYqh5uF1RWU75VnYkE_gtb-
                                                                                                                              tx_org/BQ0184_01.pdf [eingesehen am
                  qk#comments [eingesehen am 01.07.2019].
                                                                                                                              30.07.2019]. Gaby Wentland ist Predigerin in
          11      Die Veranstaltung fand am 5. Juni 2019 im                                                                   der Freikirchlichen Gemeinde Entschiedener
                  AUDI 11 (in Göttingen) statt, wurde dann je-                                                                Christen und Gründerin von Mission Freedom,
                  doch nach anhaltendem Protest durch die                                                                     einer Organisation, die sich den Einsatz gegen

Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

                                                                                                                                                                                                                                             25
Demokratie-Dialog 5-2019

                   Am Beispiel der Veranstaltungen der R 21 stellt                                                             nicht das allgegenwärtige Narrativ der radika-
                   sich also grundsätzlich die Frage der Mei-                                                                  len Rechten, sie würden einem „Meinungsdik-
                   nungsfreiheit und der Legitimität von Protest,                                                              tat“ der linksliberalen Mehrheit unterliegen und
                   der darauf abzielt, andere an der Äußerung                                                                  an der freien, ihnen rechtmäßig zustehenden
                   ihrer Ansichten und Überzeugungen aktiv zu                                                                  Äußerung ihrer Meinungen gehindert werden,
                   hindern. Denn die Meinungsfreiheit gehört                                                                   plump zu wiederholen, sei an dieser Stelle
                   ebenfalls zu den im Grundgesetz verankerten                                                                 ausdrücklich auf die Grenzen der Meinungs-
                   Grundrechten; sie ist ein wesentlicher Grund-                                                               freiheit hingewiesen. Denn Äußerungen, die
                   pfeiler der liberalen Demokratie – konstituiert                                                             darauf abzielen, die allgemeine Freiheit und
                   sie doch den Widerstreit verschiedener Mei-                                                                 Gleichheit anderer einzuschränken, untergra-
                   nungen um Deutungshoheit im politischen                                                                     ben die Voraussetzungen ihres Rechtes auf
                   Diskurs. In diesem Sinne ist es ebenso offen-                                                               freie Meinungsäußerung – sie verstricken sich
                   sichtlich, dass das Aushalten von Meinungen                                                                 mitunter in einem performativen Widerspruch:
                   anderer, die der eigenen widersprechen oder                                                                 Die intendierte praktische Umsetzung ihrer
                   ihr gar entgegenstehen, zwingend erforderlich                                                               Überzeugungen und das Einfordern des Rechts
                   ist, sofern man an einer demokratischen, vom                                                                auf freie Meinungsäußerung eines*r jeden
                   Pluralismus lebenden Gesellschaftsordnung                                                                   schließen einander in letzter Konsequenz aus.15
                   festhalten möchte.                                                                                          Ebendiese Überlegung sowie die deutsche
                                                                                                                               Geschichte berücksichtigend, ist es weitestge-
                   In der jüngeren Vergangenheit haben aufge-                                                                  hend Konsens, dass es Grenzen im demokra-
                   worfene Fragen rund um die Reichweite der                                                                   tischen Diskurs braucht. Dass diese Grenzen
                   Meinungsfreiheit sowie um die Grenzziehung                                                                  wiederum stets kontextabhängige, fließende
                   zwischen Konservativen und Rechtsradikalen                                                                  und dabei selbst vom Diskurs bestimmte sind,
                   zahlreiche Diskussionen mit ausgeprägtem                                                                    liegt in der Logik des demokratischen Diskur-
                   medialen Wiederhall hervorgerufen.14 Um hier                                                                ses begründet.

                                                                                                                               Allerdings muss die Frage aufgeworfen wer-
                           Zwangsprostitution zur Aufgabe gemacht haben                                                        den, ob Grenzziehung nicht auch als politische
                           soll; siehe MISSION FREEDOM: Unsere Arbeit, URL:                                                    Waffe eingesetzt werden kann, indem man
                           https://www.mission-freedom.de/unsere-arbeit/                                                       unliebsame Positionen schlicht als unzuläs-
                           [eingesehen am 23.07.2019]. Sie stand allerdings
                                                                                                                               sig deklariert und somit ihren Ausschluss aus
                           in der Kritik des LKA in Hamburg, nicht seriös
                                                                                                                               dem Diskurs legitimiert. Bedienen sich Formen
                           zu arbeiten; siehe Fuchs, Mareike / Rudolph,
                           Maike / Witte, Jenny: Bürgerpreis für dubiosen
                                                                                                                               des Protests, deren vorrangiges Ziel es ist, die
                           Verein, in: Ndr Hamburg, 10.12.2013, URL: https://                                                  gegenüberstehende Meinung zum Verstum-
                           www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Buergerpreis-                                                        men zu bringen, nicht ebenfalls eines auto-
                           fuer-dubiosen-Verein,missionfreedom103.                                                             ritären Mittels? Immerhin handelt es sich bei
                           html [eingesehen am 23.07.2019].

                   14      Unter anderem etwa die Diskussion rund um die
                           Veranstaltung „Denken und denken lassen. Zur
                                                                                                                                       29.07.2019] oder auch Knödler, Janne: Feindschaft
                           Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit” an
                                                                                                                                       und das Politische, in: Süddeutsche Zeitung,
                           der Universität Siegen oder um die geplante und
                                                                                                                                       13.03.2019, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/
                           nicht durchgeführte Veranstaltung „Feindschaft
                                                                                                                                       meinungsfreiheit-thilo-sarrazin-goetz-kubitschek-
                           und das Politische” der Studienstiftung des
                                                                                                                                       universitaet-1.4364395 [eingesehen am 29.07.2019].
                           deutschen Volkes; siehe z. B. Breuer, Ingeborg:
                           Wo die Grenzen des Sagbaren liegen, in:                                                             15      Vgl. Breul, Martin: InDebate: Hat Meinungsfreiheit
                           Deutschlandfunk, 21.02.2019, URL: https://                                                                  Grenzen?, in: Philosophie InDebate, 02.11.2015,
                           www.deutschlandfunk.de/meinungsfreiheit-                                                                    URL: https://philosophie-indebate.de/2391/
                           wo-die-grenzen-des-sagbaren-liegen.1148.                                                                    philosophie-indebate-hat-meinungsfreiheit-
                           de.html?dram:article_id=441626 [eingesehen am                                                               grenzen/ [eingesehen am 29.07.2019].

 Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

26
Florian Grahmann / Kathinka Schlieker  |  „Kommt, schmeißt raus das Pack!“

          dem Recht auf freie Meinungsäußerung um
          ein Menschenrecht und als solches sollte es
          anderen nicht leichtfertig aberkannt werden.
          Überhaupt: Eignet man sich in einem derar-
          tigen Fall nicht eine womöglich anmaßende
          Deutungshoheit über die Legitimität der Posi-
          tionen und Überzeugungen anderer an?

          Letztlich scheint es, dass – ebenso wie die
          Berufung auf das Recht der Meinungsfreiheit
          von Akteur*innen, welche die liberale Demo-
          kratie als Staatsform ablehnen, zu einem Miss-
          brauch und der vielbeschworenen Verschie-
          bung der Grenzen des Sagbaren führen kann
          – diese Gefahr auch andersherum besteht. Vor                                                                                                                         Florian Grahmann, B. A.,
          diesem Hintergrund sollten Protestformen, die                                                                                                                    geb. 1995, studiert Politik-
          darauf abzielen, die Meinungsäußerung an-                                                                                                                            wissenschaft im Master
          derer zu unterbinden, stets kritisch reflektiert                                                                                                                     an der Universität Göt-
                                                                                                                                                                               tingen und ist seit 2018
          werden.
                                                                                                                                                                           studentische Hilfskraft der
                                                                                                                                                                         Forschungs- und Dokumen-
                                                                                                                                                                              tationsstelle zur Analyse
                                                                                                                                                                             politischer und religiöser
                                                                                                                                                                         Extremismen in Niedersach-
                                                                                                                                                                            sen am Göttinger Institut
                                                                                                                                                                             für Demokratieforschung.

                                                                                                                                                                                      Kathinka Schlieker,
                                                                                                                                                                                  geb. 1997, studiert Po-
                                                                                                                                                                                   litikwissenschaft und
                                                                                                                                                                               Volkswirtschaftslehre im
                                                                                                                                                                            Zwei-Fach-Bachelor an der
                                                                                                                                                                             Universität Göttingen und
                                                                                                                                                                             ist seit 2018 studentische
                                                                                                                                                                             Hilfskraft der Forschungs-
                                                                                                                                                                             und Dokumentationsstelle
                                                                                                                                                                                 zur Analyse politischer
                                                                                                                                                                               und religiöser Extremis-
                                                                                                                                                                                 men in Niedersachsen
                                                                                                                                                                               am Göttinger Institut für
                                                                                                                                                                                   Demokratieforschung.

Grahmann, Florian; Schlieker, Kathinka (2019): „Kommt, schmeißt raus das Pack!“. Eine Frage der Meinungsfreiheit und des Protests, gestellt anlässlich einer Veranstaltung der Hochschulgruppe „R21“. In: Demokratie Dialog 5 (2019), S. 22-27.

                                                                                                                                                                                                                                             27
Sie können auch lesen