Kompass oder Windspiel? - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und ...
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NR. 1 JANUAR 2022 Einleitung Kompass oder Windspiel? Eine Analyse des Entwurfs für den »Strategischen Kompass« der EU Markus Kaim / Ronja Kempin Im März 2022 wollen die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) einen »Strategischen Kompass« (SK) verabschieden, der die Union bis zum Jahr 2030 zu einem Anbieter von Sicherheit machen und ihre strategische Souveränität stärken soll. Der erste Entwurf dieses Dokuments liegt seit Mitte November vor – und weist gravierende Defizite auf: Strategische Zerfaserung, Überinstitutionalisierung und Verantwortungsdiffusion bleiben Kennzeichen der Sicherheits- und Verteidigungs- politik. Berlin ist bei der anstehenden Überarbeitung des Kompasses insbesondere gefordert, dessen Stellenwert zu klären und ein klares Ambitionsniveau vorzugeben. Andernfalls dürfte der Strategische Kompass einer EU-Sicherheitspolitik Vorschub leisten, deren Motto lautete: »Alles kann, nichts muss.« Am 15. November 2021 hat der Hohe Ver- naler und globaler Akteur stärker als bis- treter der Europäischen Union für Außen- lang geltend machen? und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, den Außen- und Verteidigungsministern der EU-Mitgliedstaaten den Entwurf des Doku- Genese des Dokuments ments vorgestellt: des »Strategischen Kom- passes für Sicherheit und Verteidigung – Auf Betreiben der Bundesregierung hatten Für eine Europäische Union, die ihre Bürger, die EU-Verteidigungsminister Borrell am Werte und Interessen beschützt und zu 16. Juni 2020 damit beauftragt, eine sicher- internationalem Frieden und Sicherheit bei- heitspolitische Positionsbestimmung vor- trägt«. Ziel dieses neuartigen Grundlagen- zunehmen und die operative Ausrichtung dokuments ist es, die Sicherheits- und Ver- der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi- teidigungspolitik der EU bis 2030 zu stär- gungspolitik (GSVP) im Sinne einer Militär- ken. Mit dem Kompass sollen im Kern drei doktrin darzulegen. Das Dokument soll Fragen beantwortet werden: Mit welchen damit die Globale Strategie für die Außen- Herausforderungen und Bedrohungen ist und Sicherheitspolitik der EU (EUGS) aus die EU heute und in naher Zukunft kon- dem Jahr 2016 konkretisieren. Seine Auf- frontiert? Wie kann sie ihre Ressourcen für gabe ist erstens, einen Konsens herzustellen deren Bewältigung besser bündeln? Und über die gemeinsamen Ziele der EU-Staaten wie kann sie den Einfluss Europas als regio- im Politikfeld »Sicherheit« im weiteren
Sinne, das heißt im Krisenmanagement, bei nur traditioneller militärischer Mittel, son- der Ertüchtigung von Partnern in der inter- dern ebenso neuer Bedrohungsformen, wie nationalen Politik sowie dem Schutz der sie die EU jüngst an ihrer Außengrenze zu Union und ihrer Bürgerinnen und Bürger, Belarus zu spüren bekommen hat. Solche und zweitens, einen gemeinsamen strategi- Bedrohungen machten die klassische Unter- schen Rahmen für die zukünftige Ausrich- scheidung zwischen Krieg und Frieden im- tung dieses Politikfeldes zu bilden. mer schwieriger. Europa, dessen wirtschaft- Die Erarbeitung des SK wurde in drei liche und demographische Bedeutung in Phasen unterteilt: Ab dem Sommer 2020 der Welt sinke, müsse sich in diesem gewan- oblag es dem EU-Außenbeauftragten, eine delten Umfeld behaupten. gemeinsame Bedrohungsanalyse zu erstellen. Ausgangspunkt der Analyse sind zwei Sie diente als Grundlage für den zweiten Dynamiken: Auf der einen Seite dominiere Teil, einen Dialogprozess der EU-Mitglied- die zunehmende Bipolarität zwischen den staaten ab Januar 2021 zu den vier Themen- Vereinigten Staaten und China, die den inter- körben Krisenmanagement, Resilienz, Fähig- nationalen Wettbewerb in praktisch allen keiten und Partnerschaften. Das im Novem- Bereichen strukturiere. Auf der anderen ber 2021 präsentierte 28-seitige Dokument Seite sei eine multipolare Dynamik zu ver- bündelt die Diskussionen in fünf Kapiteln, zeichnen, auf Grund derer eine wachsende die überschrieben sind mit »Die Welt, der Zahl von Akteuren versuche, ihren jeweili- wir gegenüberstehen« (The World We Face), gen politischen Einflussbereich zu erwei- »Handeln« (Act), »Sichern« (Secure), »Inves- tern. Diese beiden Faktoren veränderten tieren« (Invest) und »Partner« (Partner). Die auch die sicherheitspolitischen Koordinaten laufende dritte Phase eröffnet den Mitglied- der EU: Die Mitgliedstaaten erlebten eine staaten bis März 2022 die Möglichkeit, Ände- Zeit des strategischen Wettbewerbs und rungswünsche einzubringen. Der Prozess komplexer Bedrohungen, die die Sicherheit ist insofern auch Ausdruck deutsch-franzö- der Bevölkerung beträfen und geopolitische sischer Kooperation, als Berlin Präsident Verschiebungen sowie Instabilität an den Emmanuel Macron dafür gewonnen hat, Grenzen der Union beförderten. Das Spekt- den Prozess während der französischen EU- rum der Bedrohungen sei dabei vielfältiger Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 und unvorhersehbarer geworden. So bliebe zu Ende zu führen, und das gemeinsame Interdependenz zwar wichtig, sie sei aber Handeln von Berlin und Paris somit die zunehmend konfliktträchtig und werde zur Klammer des SK-Prozesses darstellt. Waffe: Impfstoffe, Daten und technologi- sche Standards seien mittlerweile Instru- mente des politischen Wettbewerbs. Bedrohungsanalyse Diese Rückkehr zur Machtpolitik führe überdies dazu, dass Länder, wie zum Bei- Auch wenn der finale Text erst im Frühjahr spiel China, Russland oder die Türkei, poli- vorliegen wird, dokumentiert bereits der tisch wieder verstärkt mit historischen Entwurf einen deutlichen Wandel der euro- Ansprüchen und Einflusszonen argumen- päischen Sicht auf die Welt. Im Vergleich tierten, anstatt sich an international ver- zur EUGS aus dem Jahr 2016, die ein Bild einbarte Regeln und Grundsätze zu halten der internationalen Politik zeichnete, in der und sich gemeinsam für internationalen die »Soft Power« der EU ein wirksames Inst- Frieden und Sicherheit einzusetzen. In- rument zu sein schien, treten jetzt die struk- zwischen seien nicht nur die Meere, sondern turellen Veränderungen in den Vorder- gleichfalls der Weltraum und die Cyber- grund. Die »Rückkehr der Machtpolitik« ist sphäre zunehmend umkämpfte Gebiete. Die nunmehr dasjenige Phänomen, das Brüssel EU müsse sich auf dieses hochgradig kon- in den Mittelpunkt seiner sicherheitspoliti- frontative System einstellen, da die Gefahr schen Planungen stellt. Diese neue Macht- bestehe, von den geopolitischen Konkurren- politik bediene sich laut dem Entwurf nicht ten überholt zu werden. Ziel sei es, eine SWP-Aktuell 1 Januar 2022 2
Europäische Union zu entwickeln, die als operationen bekannt, die den Realitäten Sicherheitsanbieter auftreten könne. vor Ort nicht gerecht werden und keinen Im Nachgang zu dieser Selbstverpflich- strategischen Fokus haben. Analog dazu tung dekliniert der Strategische Kompass in ließe sich beim SK von einer »Weihnachts- einem ersten Strang alle regionalen Ord- baum-Strategie« sprechen. Die vier markan- nungen des internationalen Systems mit testen Defizite des Entwurfs werden im ihren jeweiligen sicherheitspolitischen Folgenden analysiert. Herausforderungen durch. Damit bleibt er in weiten Teilen dem traditionellen Ver- Der fehlende politische Wille ständnis der GSVP verhaftet. Die politischen Institutionen der EU sowie die angestrebten Ihrer inneren Verfasstheit und ihrem außen- militärischen und technologischen Fähig- politischen Selbstverständnis nach ist die EU keiten sollen vor allem dem Ziel dienen, nicht gut für eine Epoche von Großmacht- Krisen in der Peripherie Europas zu mana- rivalitäten vorbereitet, ist sie doch als Gegen- gen. Der bereits bekannt gewordene Vor- entwurf zur europäischen Großmachtpolitik schlag für eine Rapid Deployment Capacity der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ent- im Umfang von 5.000 Soldaten unter- standen. Sie ist ein Staatenverbund, entschei- streicht dies. det nach wie vor mit Einstimmigkeit über In einem zweiten Strang werden diejeni- ihre Außenpolitik und hat bislang weit- gen sicherheitspolitischen Herausforde- gehend auf Instrumente von »Hard Power« rungen aufgeführt, die häufig und zuweilen verzichtet. unpräzise oder schlicht falsch als »hybrid« Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass bezeichnet werden: Desinformation, Propa- die intergouvernementale Ausrichtung der ganda, Wahleinmischung, Cyberattacken Außenpolitik im SK überhaupt keine Rolle und andere. Hier stellt die EU den Schutz spielt. So hätte man als politischen wie analy- ihrer Bürgerinnen und Bürger in den Mittel- tischen Startpunkt die Leistung der einzel- punkt und erweitert somit stärker als die nen EU-Mitglieder im Bereich Sicherheit EUGS die denkbaren Bedrohungsszenarien. würdigen können, den sicherheitspolitischen Diese bleiben für den argumentativen Gang Mehrwert der Kooperation im Rahmen der des SK und die politischen Schlussfolge- GSVP hervorheben oder die Herausforde- rungen allerdings nachrangig. rung betonen können, immer wieder den Abschließend drängt das Papier darauf, für das gemeinsame Handeln notwendigen dass die EU dringend mehr Verantwortung politischen Willen zu generieren. für ihre eigene Sicherheit übernehmen Indem dergleichen unterbleibt, geht der müsse, indem sie in ihrer Nachbarschaft Strategische Kompass recht salopp über das und darüber hinaus handele. Mit dem Begriff Hauptproblem der Sicherheitspolitik der EU der »strategischen Autonomie« verweist es hinweg: Weder die Vielzahl existierender auf das Leitbild europäischer Debatten der und neu zu schaffender Institutionen auf vergangenen Jahre. Seiten der EU noch ein Mangel an militäri- schen Fähigkeiten auf Seiten der Mitglied- staaten sind dafür verantwortlich (gewesen), Defizite des Entwurfs dass die Bilanz der GSVP bezüglich ihrer Wirksamkeit bescheiden ausfällt. Es ist un- Beim Strategischen Kompass handelt es sich strittig, dass vor allem der mangelnde poli- um das Ergebnis eines auf Einstimmigkeit tische Wille der EU-Staaten, die vorhande- angelegten Prozesses – das heißt auch, die nen Möglichkeiten zu nutzen, zur Folge hat, Mitgliedstaaten konnten in unverbundener dass die Union in den Augen ihrer geopoli- Weise alle Anliegen in den SK hineinverhan- tischen Widersacher in diesem Politikfeld deln, die ihnen besonders wichtig waren. nur wenig satisfaktionsfähig ist. Insgesamt Aus Kontexten der Vereinten Nationen sind betrachtet, wird im SK eine Handlungs- »Weihnachtsbaum-Mandate« für Friedens- fähigkeit der EU im Krisenmanagement SWP-Aktuell 1 Januar 2022 3
vorausgesetzt und ein politischer Hand- Zum einen werden die sicherheitspoli- lungswille suggeriert, die nicht zwingend tischen Aufgaben in dem Papier nicht ein- gegeben sind. deutig priorisiert. Zwar nennt es mit der Wichtig wäre, mittelfristig den institutio- amerikanisch-chinesischen Rivalität und nellen Rahmen der EU so umzugestalten, der Multipolarität der internationalen Ord- dass eine Mehrheit von Staaten Entschei- nung zwei Entwicklungen als größte Heraus- dungen im Namen aller Mitglieder treffen forderungen. In den sich anschließenden kann, ohne dass Legitimität und Gefolg- sicherheitspolitischen Ableitungen wird schaft in Mitleidenschaft gezogen werden. diese Analyse aber nicht mehr berücksich- In den letzten Jahren dazu entwickelte Ideen tigt – unbeantwortet bleiben Fragen wie: zielen darauf ab, die Entscheidungsverfahren Welche Folgen hat diese veränderte sicher- zu beschleunigen. Ein Vorschlag lautete, heitspolitische Prioritätensetzung Washing- Mehrheitsabstimmungen in der Außen- und tons? Was wären die Folgen einer militäri- Sicherheitspolitik einzuführen, ein anderer, schen Eskalation des sino-amerikanischen einen Europäischen Sicherheitsrat einzu- Konfliktes? Was bedeutete es für die EU, richten – beides Ansätze, die unter den wenn die USA angesichts dieser Priorität in EU-27 bisher nicht mehrheitsfähig sind. großem Umfang Truppen aus Europa Dass sich auch die Autoren des SK dieses abzögen? Defizits bewusst sind, deuten die Überlegun- Zum anderen verweist das Dokument gen zur Flexibilisierung der GSVP und einer ausführlich auf die existierenden und noch Nutzung von Artikel 44 des EU-Vertrags zu schaffenden Krisenmanagementfähig- (EUV) an. Ihm gemäß kann der Rat einstim- keiten der EU, blendet jedoch die Frage des mig »die Durchführung einer Mission einer Ambitionsniveaus der möglichen militäri- Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die schen Operationen aus: Für welche Art von dies wünschen und über die für eine der- Einsätzen sind die oben angesprochenen artige Mission erforderlichen Fähigkeiten 5.000 Soldaten der Rapid Deployment Capac- verfügen«. Zunächst müssten die Mitglied- ity gedacht? Der SK gibt keinen Hinweis staaten sich darüber einigen, für welche darauf, ob sie für eine kurzzeitige Evakuie- Szenarien sie diese vertragsimmanente Flexi- rungsoperation wie in Kabul im August bilisierung der GSVP zulassen wollen. Seit 2021 eingesetzt werden sollen, für eine lang- 2015 liegen hierzu Vorschläge vor. Würde fristige Stabilisierungsoperation im Sahel, Artikel 44 EUV erfolgreich angewandt, zur Durchsetzung einer Schutzzone für können davon mittelfristig starke Impulse Zivilisten in einem Bürgerkriegsland oder für die Streitkräfteintegration, die rüstungs- für traditionelles Peacekeeping im Sinne industrielle Zusammenarbeit der EU-Staa- der Vereinten Nationen, um nur vier denk- ten und für Entscheidungsverfahren in der bare Einsatzszenarien zu nennen. GSVP ausgehen. Indes wird weiterhin un- Noch augenfälliger wird dieses Problem, sicher sein, ob sich der EU damit ein Weg wenn sich der Blick vom Krisenmanage- eröffnet, eine eigenständige sicherheits- ment löst und betont wird, die EU sei ent- und verteidigungspolitische Rolle zwischen schlossen, auf Aggressionen und böswillige den Großmächten einzunehmen. Handlungen gegen einen ihrer Mitgliedstaa- ten im Einklang mit Artikel 42 Absatz 7 EUV Mangelnde Priorisierung und zu reagieren. Mit dieser Bezugnahme öffnet unklares Ambitionsniveau der SK den Aufgabenkatalog der GSVP noch weiter, indem er ihn ergänzt um eine mili- Zwei eng miteinander verwobene Probleme tärische Reaktion auf bewaffnete Angriffe verhindern bislang, dass der SK seine wich- auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats tigste Funktion erfüllen kann, nämlich sowie eine bis dato nicht spezifizierte mili- nach innen wie nach außen strategische tärische Beistandspflicht. Orientierung für das sicherheitspolitische Erst recht verwirrend wird es, wenn die Handeln der EU zu geben. vielfältigen möglichen Versuche aufgezählt SWP-Aktuell 1 Januar 2022 4
werden, von außen mit nichtmilitärischen Weg bislang als wenig erfolgversprechend Mitteln auf die politische Souveränität der erwiesen hat: Schleppend gestaltet sich Union und die ihrer Mitglieder Einfluss etwa die Umsetzung der Ständigen Struktu- zu nehmen. Man kann sicherlich darüber rierten Zusammenarbeit (SSZ, engl. PESCO). streiten, ob die Abwehr solcher Bedrohun- Seit ihrem Start im Dezember 2017 haben gen die Priorität der GSVP sein soll und die EU-Staaten in vier Phasen insgesamt warum die EU besser als ihre Mitgliedstaa- 60 Projekte angemeldet, mit denen sie in ten oder andere internationale Organisatio- unterschiedlicher Zusammensetzung die nen geeignet scheint, diesen zu begegnen. Fähigkeitslücken der GSVP schließen wollen. Aber ohne eine klare Priorisierung droht Im September 2020 wurden diejenigen Pro- eine Sicherheitspolitik der EU unter dem jekte einer strategischen Überprüfung unter- Motto »Alles kann, nichts muss.« zogen, die in den Jahren 2017 bis 2020 an- gemeldet wurden. Das Ergebnis war ernüch- Überinstitutionalisierung und ternd: Bestenfalls ein Drittel der Projekte Verantwortungsdiffusion dürfte tatsächlich umgesetzt werden. Zudem lassen die Mitgliedstaaten bis heute wenig Verstärkt wird der Eindruck einer weiteren Bemühen erkennen, die auf dem Papier Zerfaserung der GSVP durch die Vielzahl vorgesehene Kohärenz zwischen der Koor- an neuen Projekten, die der Strategische dinierten Jährlichen Überprüfung der Ver- Kompass benennt. Bis 2030 sollen die EU teidigung (CARD), PESCO und dem Europäi- und ihre Mitgliedstaaten über 40 Ziele in schen Verteidigungsfonds (EVF, engl. EDF) den Bereichen Handeln, Sichern, Investie- in die Praxis zu überführen und somit Syn- ren und Partner (siehe hierzu vier Grafiken ergien entstehen zu lassen. unter https://bit.ly/SWP22StratKompass) Ein unklares militärisches Ambitions- umgesetzt haben. Gemäß diesem ambitio- niveau und die weiterhin fehlende politi- nierten Fahrplan sollen in den Jahren 2022 sche Rahmensetzung lassen befürchten, bis 2025 die Rapid Deployment Capacity dass auch die Umsetzung der neuen Vor- aufgebaut, die Kommandostrukturen ge- haben hinter den Erwartungen der inter- stärkt sowie die Entscheidungsverfahren nationalen Partner der EU zurückbleiben zur Entsendung von GSVP-Missionen wird: Wer zeichnet für die Umsetzung bzw. -Operationen so ausgestaltet werden, dieser neuen Maßnahmen verantwortlich? dass Entscheidungen schneller und flexibler Wer legt fest, in welchem Format, zu wel- getroffen werden können. Finanziell soll chem Zeitpunkt die EU-Mitgliedstaaten mehr Solidarität hergestellt werden zwi- militärische Manöver abhalten? Werden schen denjenigen Mitgliedstaaten, die Streit- sich alle Mitglieder an der Planung und kräfte in Auslandseinsätze entsenden – Durchführung der Übungen beteiligen? unabhängig davon, ob diese im Rahmen der Wo werden die vielen neuen »Toolboxen« EU oder einer europäisch geführten Ad-hoc- angesiedelt? Koalition stattfinden –, und jenen, die Der Strategische Kompass setzt alle Hoff- dazu nicht bereit sind. nung auf jährliche Treffen des Hohen Ver- Dieses Eingeständnis, die Handlungs- treters mit den Verteidigungsministern der fähigkeit der Union in der GSVP nicht aus- EU-Staaten, auf denen der Stand der Umset- reichend unterstützt und untereinander zu zung der seit 2016 beschlossenen Verteidi- wenig Solidarität gezeigt zu haben, gehört gungsinitiativen bewertet werden soll. Bleibt zweifelsfrei zu den Stärken des Entwurfs. dieses Vorgehen erfolglos, dürfte der SK Zu lange haben die Mitgliedstaaten diese lediglich einer weiteren Bürokratisierung Ehrlichkeit vermissen lassen. Gleichzeitig der GSVP Vorschub leisten sowie einer Dif- verbleibt der SK jedoch auf dem Pfad der fusion der Verantwortung für ihre Weiter- inkrementellen Weiterentwicklung der entwicklung und Umsetzung. Mehr noch: GSVP. Zahllose Beispiele belegen, dass sich Er ließe die GSVP ins Hintertreffen geraten dieser von den Mitgliedstaaten beschrittene zu der steigenden Zahl an Maßnahmen SWP-Aktuell 1 Januar 2022 5
und Initiativen, für die die EU-Kommission starken EU profitieren werden. Andererseits die Verantwortung übernommen hat. Bereits könnten die Partner ihrerseits der EU nützen, im November 2016 hatte diese einen Ver- den regelbasierten Multilateralismus auf- teidigungsaktionsplan vorgelegt, der darauf rechtzuerhalten, internationale Normen und abzielt, die europäische Sicherheits- und Ver- Standards durchzusetzen und weltweit zu teidigungspolitik auf- und auszubauen durch Frieden und Sicherheit beizutragen. Ähnlich eine Integration der rüstungsbezogenen wie in der Bedrohungsanalyse am Anfang Industrie-, Beschaffungs- und Forschungs- beleuchtet das Dokument unter diesem politik der Mitgliedstaaten. Diesen Kurs set- Gesichtspunkt die Welt in einer 360-Grad- zen die »Generaldirektion Verteidigungs- Rundschau und verspricht vielen vieles, industrie und Weltraum« (DG DEFIS) und ohne strategische Prioritäten erkennen zu die »Generaldirektion Kommunikationsnetze, lassen. Inhalte und Technologien« (DG CONNECT) Die Grundlage all dieser Bemühungen fort, die 2020 eingerichtet worden sind. soll ein geteiltes Verständnis für einen integ- Während die DG DEFIS die Wettbewerbs- rierten Ansatz sein, wenn es darum gehe, und Innovationsfähigkeit der europäischen Krisen zu lösen sowie sicherheits- und vertei- Rüstungsindustrie und die Durchführung digungspolitische Fähigkeiten aufzubauen. des EU-Weltraumprogramms gewährleisten Jenseits dieser Vorbedingung verbleiben soll, treibt die DG CONNECT die EU-Politik die Ziele dieser Kooperationsbeziehungen in den Bereichen digitaler Binnenmarkt, indessen weitgehend im Allgemeinen. Vor Internetsicherheit, digitale Wissenschaft allem bleibt unersichtlich, warum diese und Innovation erfolgreich voran. Ausgestaltung von Partnerschaften der EU Auf diese Weise versucht die Kommission dabei helfen soll, mit den zwei eingangs zum einen, die Begrenzungen der europäi- skizzierten Dynamiken umzugehen oder schen Verteidigungspolitik sowie die be- ihre strategische Souveränität zu erhöhen. stehenden Vorbehalte einiger Mitgliedstaa- Doch auch aus Sicht der Partner dürfte ten gegen eine stärkere Kooperation und sich bei der Lektüre des SK die Frage stellen, Integration zu umgehen und ihre Legislativ- welchen Mehrwert die Zusammenarbeit mit vorschläge mit binnenmarktbezogenen der Union für sie bringt. Wird sich die EU Ansatzpunkten zu begründen. Zum anderen operativ oder durch Waffenlieferungen an strebt sie an, den Schwerpunkt der europäi- ihre Seite stellen, wenn terroristische Akteure schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Anschläge gegen staatliche Institutionen zu verschieben: von einem mitgliedstaat- oder kritische Infrastrukturen verüben, wenn lich zu einem supranational dominierten Drittstaaten den gesellschaftlichen Zusam- Politikfeld. Die neue Bundesregierung muss menhalt durch gezielte Desinformations- nun kritisch prüfen, ob eine solche Verlage- kampagnen zu zerstören suchen, wenn rung der Ausrichtung der GSVP, nämlich Handelswege oder Umschlagplätze blockiert, weg vom Krisenmanagement hin zu Resi- Abrüstungsverträge oder die territoriale lienz und eigenständiger Kontrolle des Cyber- Integrität verletzt würden? Reichen militä- raumes wie des Weltalls, ihren Prioritäten rische Manöver einiger Mitgliedstaaten entspricht und ob sie einen Kompetenz- etwa im Indopazifik aus, um der EU in der transfer in dem Politikbereich befürwortet. Welt von heute die Stellung eines Sicher- heitsanbieters zu garantieren? Autonomie versus Partnerschaften Politisch am bedenklichsten ist jedoch, dass es im Prozess der Erarbeitung des SK Zu den Verpflichtungen, die der Strategi- offenbar nicht gelungen ist, die zwischen sche Kompass anmahnt, damit die EU zu den EU-Staaten existierenden Differenzen einem Anbieter von Sicherheit wird, zählt hinsichtlich der Frage zu überwinden, in schließlich der Ausbau ihrer Partnerschaften. welchem Verhältnis die GSVP zur Nato (und Im vierten Kapitel stellt das Dokument damit zu den USA) stehen soll. Deutlich einerseits fest, dass die Partner von einer tritt im Dokument das Bemühen zu Tage, SWP-Aktuell 1 Januar 2022 6
positiv über die Atlantische Allianz zu minister der EU in Brest. Frankreich wird sprechen. So soll nicht nur die bilaterale die Gelegenheit ergreifen, dem Dokument Kooperationsagenda erweitert werden – bis zu dessen Annahme durch den Europäi- vielmehr soll ein angemessener Austausch schen Rat im März 2022 weiter seine Hand- von Informationen Kern der Kooperation schrift zu verleihen. Schon in der Entwurfs- sein. Dieser soll EU und Nato dazu befähi- fassung vom November konnte Paris er- gen, gemeinsame Übungen durchzuführen. reichen, dass die Sicherheits- und Verteidi- Wenige Seiten zuvor plädiert der SK indes gungspolitik der EU über den vertraglichen dafür, »[s]trategische Abhängigkeiten zu Rahmen der GSVP hinausgeht. Das zeigt reduzieren und unsere technologische Sou- sich in den Passagen zur Weltraum- und veränität zu erhöhen«. Wohl aus diesem Satellitenpolitik, die Paris nutzt, um seiner Grund finden sich im Dokument keine Raumfahrtindustrie EU-Fördergelder zu- Hinweise darauf, wie die transatlantische zuführen. Oder daran, dass dem Papier Zusammenarbeit bei der Rüstungsplanung zufolge künftig auch europäisch geführte und -beschaffung verbessert werden kann. Ad-hoc-Koalitionen ihre Aufwendungen für Darüber hinaus verliert der SK kein Wort militärische Einsätze über die EU-Gemein- über die seit Jahren bestehenden Blockaden schaftskosten geltend machen können. Seit in den Beziehungen zwischen den beiden 2017 wirkt Paris überdies darauf hin, die Organisationen. Im Angesicht der US-Regie- Beistandspflicht (Art. 42 Abs. 7 EUV) zu rung unter Präsident Joseph Biden, die als konkretisieren. erste amerikanische Regierung die Weiter- In der anstehenden Erarbeitung der entwicklung der europäischen Sicherheits- finalen Fassung dürfte Paris ferner darauf und Verteidigungspolitik hin zu mehr Eigen- pochen, ambitionierte Zeitpläne für die ständigkeit unterstützt, liest sich der SK strategischen Kernfähigkeiten festzuschrei- hier wie eine vertane Chance. ben. Zudem drängt die Regierung Macron Hingegen scheint die Regierung von Bun- seit langem auf ein sicherheits- und vertei- deskanzler Olaf Scholz den europäischen digungspolitisches Ambitionsniveau, das es Autonomiebestrebungen eher skeptisch der EU erlaubt, sich selbst und ihre Nach- gegenüberzustehen und setzt auf Vertrautes. barschaft gegen Versuche der politischen So hält der Koalitionsvertrag in bemerkens- wie strategischen Einflussnahme Dritter zu werter Klarheit fest, dass die transatlan- immunisieren, und das es ihr ermöglichte, tische Partnerschaft mit den USA zentraler ihre Interessen auch in entlegeneren Regio- Pfeiler deutscher Sicherheitspolitik sei. Die nen wie dem Indopazifik glaubhaft durch- neue Bundesregierung trete für eine Erneue- zusetzen. rung und Dynamisierung der transatlan- tischen Beziehungen ein, um die regel- basierte internationale Ordnung zu stabili- Empfehlungen sieren, autoritären Entwicklungen zu be- gegnen und in der östlichen wie südlichen Die neue Bundesregierung sollte die Gelegen- Nachbarschaft der EU verstärkt zusammen- heitsfenster nutzen, die sich bis März 2022 zuarbeiten. Nach einer strategischen Neu- in der Überarbeitung des Strategischen Kom- orientierung der deutschen Sicherheitspoli- passes eröffnen, und Einfluss auf das Doku- tik unter dem Vorzeichen europäischer ment nehmen. Im Einzelnen sollte sie in strategischer Souveränität klingt das nicht. den Verhandlungen: ∎ Klarheit über den Stellenwert des Doku- ments einfordern. Diese Empfehlung Die französische Perspektive mag merkwürdig klingen, aber seltsam ist eher, dass der SK mit seinem Titel, der Im Januar 2022 beginnt die Überarbeitung zwei Begriffe schräg zusammenführt des Strategischen Kompasses mit einem (eine Strategie definiert im besten Falle Treffen der Außen- und Verteidigungs- Ziele und die Mittel, diese zu erreichen; SWP-Aktuell 1 Januar 2022 7
ein Kompass hilft lediglich, den Weg ∎ »Den Elefanten im Raum klarer an- von einem Punkt zu einem anderen zu sprechen«, nämlich die Sicht der EU-Mit- finden), im Unklaren lässt, was er sein glieder auf und ihre Erwartungen an die soll: eine politikfeldspezifische Ableitung sicherheitspolitische Rolle der USA in der EUGS, ein Arbeitsprogramm für die Europa. Es ist irritierend, dass der Ent- Brüsseler Institutionen bis zum Jahr 2030 wurf des SK von der sino-amerikanischen oder ein Signal an den Rest der Welt Systemrivalität als Determinante der bezüglich der sicherheitspolitischen Ziele eigenen Sicherheitspolitik ausgeht, aber der EU. die Rolle der USA im Folgenden eher dila- ∎ Auf eine Klärung der regionalen Reich- torisch behandelt. Rechnen die EU-Mit- © Stiftung Wissenschaft weite des SK bzw. auf eine entsprechende glieder damit, dass das sicherheitspoliti- und Politik, 2022 Priorisierung drängen. Folgt man der sche Engagement der USA in Europa Alle Rechte vorbehalten Bedrohungsanalyse des Dokuments sowie weiter zurückgeht, vor allem nach den dem Kapitel zu den Partnerschaften, muss nächsten US-Präsidentschaftswahlen Ende Das Aktuell gibt die Auf- unweigerlich der Eindruck entstehen, bei 2024, oder erwarten sie Kontinuität in fassung des Autors und der Autorin wieder. der EU handele es sich um einen global der amerikanischen Europa-Politik? Dar- agierenden Sicherheitsanbieter. Die opera- aus sollte sich für die EU vieles ableiten. In der Online-Version dieser tiven Ableitungen lassen aber kaum einen ∎ Den EU-Partnern gegenüber präzisieren, Publikation sind Verweise Zweifel daran aufkommen, dass der Fokus was das knapp formulierte, aber weit- auf SWP-Schriften und des Dokuments realistischerweise auf der reichende Ambitionsniveau ihres Koali- wichtige Quellen anklickbar. unmittelbaren europäischen Nachbar- tionsvertrags bezüglich der europäischen SWP-Aktuells werden intern schaft liegt. Damit droht die EU falsche Integration (»Weiterentwicklung [der EU] einem Begutachtungsverfah- Erwartungen bei sich und anderen zu zu einem föderalen europäischen Bundes- ren, einem Faktencheck und wecken: Zwar hat sie globale Interessen, staat«) für die Bereiche Sicherheit und einem Lektorat unterzogen. wird aber sicherheitspolitisch nicht global Verteidigung bedeutet. Sind hier weitere Weitere Informationen autonom handlungsfähig sein. Vertiefungsschritte auf deutscher Seite zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- ∎ Auch in funktionaler Hinsicht auf eine denkbar und gewünscht, trotz der Tat- Website unter https://www. Priorisierung drängen. Noch ist nicht sache, dass eine europäische Armee im swp-berlin.org/ueber-uns/ erkennbar, was aus Sicht der Mitglied- Koalitionsvertrag nicht thematisiert wird? qualitaetssicherung/ staaten die zentrale sicherheitspolitische Berlin sollte auch die Chance nutzen, den Herausforderung der kommenden Jahre SK politisch zu flankieren und die Finali- SWP Stiftung Wissenschaft und sein wird, an der sich die entsprechen- tät dieses EU-Politikfeldes zu skizzieren. Politik den Planungen in erster Linie auszurich- ∎ Schließlich sollte die Bundesregierung Deutsches Institut für ten haben und aus denen Fähigkeits- im Frühsommer 2022 ein Umsetzungs- Internationale Politik und erfordernisse abgeleitet werden können. dokument zu den deutschen Ableitungen Sicherheit Ist es vorwiegend das Krisenmanagement aus dem Strategischen Kompass vorlegen. in der europäischen Peripherie, der Schutz Damit könnte sie nach außen ihre Ernst- Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin vor islamistischem Terrorismus oder die haftigkeit unterstreichen, im Sinne der EU Telefon +49 30 880 07-0 Abwehr von Desinformation und Cyber- Konsequenzen für die eigenen sicherheits- Fax +49 30 880 07-100 angriffen? Auf diesem Schritt aufbauen politischen Planungen zu ziehen, und www.swp-berlin.org sollte eine kritische Durchsicht der vielen nach innen ihre Entschlossenheit bekun- swp@swp-berlin.org Projekte, die der Entwurf enthält. Eine den, dem SK wirklich strategischen Cha- ISSN (Print) 1611-6364 Konzentration auf strategische Kern- rakter für die deutsche Politik zu ver- ISSN (Online) 2747-5018 projekte würde die Glaubwürdigkeit der leihen. doi: 10.18449/2022A01 EU in der internationalen Sicherheits- politik erhöhen. Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 1 Januar 2022 8
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