Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? - Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen

Die Seite wird erstellt Sibylle-Susanne Ruf
 
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Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? - Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen
Jackson Simmer, unsplash

                           Krisengerechte Kinder
                           statt kindergerechtem
                           Krisenmanagement?
                           Auswirkungen der Corona-Krise
                           auf die Lebensbedingungen junger Menschen

                           Studie von Prof. Dr. Michael Klundt
                           für die Bundestagsfraktion DIE LINKE
Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? - Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen
Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? - Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen
Inhalt

Vorwort                                     3

Einleitung                                  4

Arbeitshypothese                             5

Interview-Abstract                           5

Corona(-Maßnahmen) weltweit
als (Kinder-)Armuts-Katalysator?            8

»Corona kills Chancengleichheit«?
oder: Frisst die Covid-Krise ihre Kinder?   8

Ergebnis und Fazit                          14

Ausblick, Konsequenzen
und alternative Gegenmaßnahmen              15

Literatur                                   18

                                                 1
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128
E-Mail: fraktion@linksfraktion.de
V.i.S.d.P.: Jan Korte

Autoren: Michael Klundt, Norbert Müller
Layout/Druck: Fraktionsservice
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200608

2
Vorwort

Norbert Müller
MDB, Sprecher für Kinder- und Jugendpolitik
der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Wie im Brennglas ließ sich in den vergangenen Wo-
chen beobachten, welche gesellschaftliche Gruppe mit
wieviel Macht ausgestattet ist. Denn im Ausnahmezu-
stand regieren, noch mehr als sonst, die Interessen der
Stärkeren. Das sind aus Kinderperspektive und auch
ganz faktisch »die Erwachsenen«. Wie flächendeckend
Kinderrechte zugunsten der Interessen Stärkerer zu-
rücktreten mussten, zeigt Michael Klundt in dieser Stu-
die eindrücklich. Dabei sollten Rechte ihre Träger*innen
doch gerade in Krisen schützen und befähigen, egal ob
Erwachsene oder Kinder. Oder wie der Autor es sagt:
»Ein schönes Dach nutzt nur, wenn es auch bei Regen
dicht ist und nicht nur bei Sonnenschein«.

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen fanden
und finden im Krisendiskurs kaum Beachtung. Sei es
bei flächendeckenden Schließungen von Spielplätzen,
der Schließung und Teilwiederöffnung der Schulen oder
auch beim De-facto-Kontaktverbot von Heimkindern
mit ihren leiblichen Eltern. Was vor der Krise mitunter
                                                           Doch die Studie bilanziert nicht nur die kinderrechtliche
abstrakt erschien, zeigt sich nun ganz offen: Kinder
                                                           Tragödie der vergangenen Wochen, sondern gibt Politik
sind nicht einfach kleine Erwachsene, sondern haben
                                                           und Gesellschaft auch ganz konkrete Handlungsemp-
individuell und auch als gesellschaftliche Gruppe eigene
                                                           fehlungen. Armuts- und Pandemiebekämpfung müssen
Bedürfnisse und Interessenlagen. Diese wurden und
                                                           diesen zufolge Hand in Hand gehen. Kinder und Jugend-
werden in der Krise sträflichst vernachlässigt.
                                                           liche müssen dabei von Objekten und Risikofaktoren
                                                           zu Protagonist*innen gemacht werden, ihre Meinung
Und eine weitere Vor-Corona-Tendenz verstärkt sich:
                                                           gehört und einbezogen werden. Als LINKE. im Bundes-
Kinder aus armen Haushalten sind ungleich schwerer
                                                           tag werden wir weiter genau dafür streiten!
von der Krise betroffen. In kleiner Wohnung, mit nicht
nur krisenbedingten Existenznöten und ohne die sonst
wertvolle soziale Infrastruktur vergrößern sich Unter-
schiede von Arm und Reich immens.

                                                                                                                   3
Einleitung

Die UN-Kinderrechtskonvention gibt es nun schon seit
über drei Jahrzehnten. Seit 1992 ist sie in der Bundes-
republik ratifiziert und (mit Vorbehalten) als Bundesge-
setz verankert. Seit zehn Jahren gilt sie in Deutschland
vorbehaltlos. In ihr verpflichten sich die Vertragsstaaten
bspw. in Artikel 3: »Bei allen Maßnahmen, die Kinder be-
treffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten
Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwal-
tungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen
werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der
vorrangig zu berücksichtigen ist.« (Art. 3, UN-Kinder-
rechtskonvention; Bundesgesetz seit 1992; vorbehaltlos
gültig seit 2010)

Mehr als 13 Millionen Minderjährige und ihre Fami-
lien waren bzw. sind deutschlandweit von Kita- und
Schulschließungen und Kontakt- sowie Bewegungsein-
schränkungen betroffen. Anlässlich des 28. Jubiläums                       Michael Klundt
des Inkrafttretens der UN-Kinderrechtskonvention in                        Professor für Kinderpolitik
Deutschland am 2. April 1992 erklärte die Leiterin der                     und Koordinator des Master-Studienganges
Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deut-                      »Kinderwissenschaften und Kinderrechte«
schen Instituts für Menschenrechte, Claudia Kittel am                      an der Hochschule Magdeburg-Stendal
5. April 2020: »Kinder und ihre Familien sind in beson-
derem Maße von der aktuellen Corona-Pandemie sowie
den damit verbundenen Einschränkungen betroffen. (…)                       ist absehbar, dass der UN-Kinderrechtsausschuss in
Auch in Zeiten der Corona-Pandemie müssen Bund und                         seinen sog. Concluding Observations (Abschließen-
Länder die Vorgaben aus der UN-Kinderrechtskonven-                         den Bemerkungen), die er voraussichtlich 2021 (nach
tion vollumfänglich erfüllen: Die Schutz-, Fürsorge- und                   Zusammentreffen mit den Regierungs-Verantwortlichen
Beteiligungsrechte gelten uneingeschränkt weiter.«1 Mit                    der BRD) formuliert, eine klare »Hausaufgaben-Liste«
diesem Maßstab stellt sich für die vorliegende Studie                      für die Bundesrepublik Deutschland skizzieren wird. Bis
auch die Frage, ob alle Entscheidungen und Maßnah-                         dahin sind Jugendverbände, Kinder, Jugendliche und
men der Politik seit März/April 2020 völkerrechtsgemäß                     Kinderrechtsorganisationen auf sich alleine gestellt,
und bundesgesetzmäßig unter vorrangiger Berück-                            um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in
sichtigung des Kindeswohls vorgenommen wurden.                             Deutschland wieder lauter anzumahnen (vgl. Deutsches
Sind in diesem Zusammenhang ausreichend Kinder                             Institut für Menschenrechte vom 29. Mai 2020).
und Jugendliche beteiligt worden oder zumindest in
Entscheidungsprozessen einbezogen oder wenigstens                          Der DIW-Wochenbericht Nr. 19 vom Mai 2020 zeigt auf
angehört worden? Eine auch nur eingeschränkte Vernei-                      Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP)
nung einer dieser Fragen bedeutete eine völkerrechts-                      aus dem Jahr 2018, »dass in Deutschland in etwa sechs
verstoßende und rechtsstaatswidrige Verletzung von                         Millionen Haushalten mindestens ein Kind lebt, das
Kinderrechten in Deutschland. Hinsichtlich des 5. und                      nicht älter als zwölf Jahre und daher betreuungsbedürf-
6. Staatenberichts der Bundesregierung von 2019 über                       tig ist. Darunter sind etwa 900 000 Haushalte mit einem
die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention müsste                         alleinerziehenden Elternteil, davon etwa 90 Prozent
dann dringend nachgearbeitet werden.                                       Frauen. In zwei Dritteln aller Paarhaushalte sind beide
                                                                           Elternteile erwerbstätig; bei Alleinerziehenden beträgt
Der Nichtregierungs-Bericht zivilgesellschaftlicher Orga-                  die Erwerbsbeteiligung ebenfalls etwa 66 Prozent.«
nisationen unter der Leitung der National Coalition und                    (DIW-Wochenbericht 19/2020, S. 334) Was mit ihnen und
der zweite Kinderrechtereport aus Sicht von Kindern                        den Millionen älteren Kindern bzw. Jugendlichen (ca. 10
und Jugendlichen selbst von 2019 beobachteten bereits                      Millionen Schüler*innen; insgesamt etwa 13 Millionen
einige Schwachstellen in Deutschland (z.B. bezüglich                       Minderjährige) während der Corona-Krise betrieben wur-
Partizipation, Armut, Infrastruktur, Inklusion), die sich                  de, aber auch mit ihren Familien, soll in dieser Studie
mit der Corona-Krise sichtbar verschärft haben.2 Es                        untersucht werden. Erste Primärdaten liegen dazu auf
                                                                           Basis von Studien und Vorauswertungen der Vereinten
1
  Deutsches Institut für Menschenrechte (2020): Kinderrechte sind auch     Nationen, einer Oxford-Studie, einer Forsa-Befragung,
in Zeiten von Corona vollumfänglich gültig. Jahrestag UN-Kinderrechts-     einem IW-Report, einem DIW-Wochenbericht, einer
konvention, in: Pressemitteilung v. 5. April, Berlin.                      Vorauswertung der JuCo-Studie und Zwischenergebnis-
2
  Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ) (2019): Fünfter und Sechster Staatenbericht der Bundesrepu-
blik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über
die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention). Berlin; National        Ergänzender Bericht an die Vereinten Nationen; National Coalition
Coalition Deutschland (2019): Erweiterter Bericht der National Coalition   Deutschland (2019) (Hg.): Der zweite Kinderrechtereport. Kinder und
Deutschland, Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention:         Jugendliche bewerten die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in
Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. 5./6.          Deutschland 2019; Berlin.

4
sen diverser Untersuchungen und Stellungnahmen vor          Umfeld zurückgegriffen werden darf. In der aktuellen
(z.B. des UN-Ausschusses für die Rechte der Kinder,         Coronalockdown-Exit-Debatte steht die Situation von
des Kinderhilfswerks UNICEF, der Kinderkommission           Familien im Hintergrund und es kommen die Bedürf-
des Deutschen Bundestags, des Deutschen Kinder-             nisse von Kindern und Jugendlichen fast gar nicht vor.
schutzbundes, des Deutschen Kinderhilfswerkes, des          Daher ist es wichtig, einen Fokus auf die Kinderpers-
Deutschen Bundesjugendrings, des Deutschen Instituts        pektive zu werfen.
für Menschenrechte, der Arbeitsgemeinschaft Kinder-
und Jugendhilfe (AGJ), der Nationalen Armutskonfe-          Interview-Abstract
renz (NAK), dem Forum Familie, der Arbeiterwohlfahrt
(AWO), der Diakonie, dem Verband allein erziehender         Wie stellt sich der Lockdown inkl. Kontakt­
Mütter und Väter (VAMV), Save the Children e.V., Terre      sperren und zurückgeworfen werden auf den
des Hommes usw.). Diese wurden zur Anfertigung der          familiären Haushalt aus Kinderperspektive dar?
vorliegenden Studie herangezogen und ausgewertet.
Nach einer Arbeitshypothese und einem Interview-Abs-        Nach den bisherigen internationalen und nationalen
tract folgen vier Kapitel. Zunächst ein kurzer Abschnitt    Berichten und Untersuchungen lässt sich feststellen,
über globale Zusammenhänge unter der Überschrift:           dass Kinder im Allgemeinen ganz besonders unter den
»Corona(-Maßnahmen) weltweit als (Kinder-)Armuts-Ka-        Einschränkungen durch Kontaktsperren, Bildungs-
talysator?« Dann eine Untersuchung der Fragen: »›Coro-      exklusionen sowie Spiel- und Sportplatzverbote zu
na kills Chancengleichheit‹? oder: Frisst die Covid-Krise   leiden haben bzw. hatten. Sie wurden überwiegend
ihre Kinder?«, welche sich v.a. auf Deutschland bezieht.    zuhause eingesperrt und konnten ihre Freundinnen und
Schließlich werden das »Ergebnis und Fazit« sowie an-       Freunde sowie Verwandte plötzlich nicht mehr treffen.
schließend ein »Ausblick, Konsequenzen und alternative      Außerdem waren ihnen alle Bildungs-, Betreuungs-,
Gegenmaßnahmen« vorgestellt.                                und Betätigungs-Einrichtungen versperrt, sodass sie
                                                            auch ihre Sorgen nicht mehr z.B. Fachkräften mittei-
Arbeitshypothese                                            len konnten. Die Tatsache, dass sie dabei überhaupt
                                                            nicht gefragt und weitgehend instrumentell behandelt
Kinder und Jugendliche sind von der Krise besonders be-     wurden, gestaltet(e) ihre eingeschlossene und prekäre
troffen. Aber sie werden derzeit vor allem als schützens-   Situation noch schwieriger. Dennoch macht es einen
werte Objekte insbesondere vor ihren Eltern im Rahmen       Unterschied, ob die Kinder wohlhabender Eltern mit
des Kinderschutzes betrachtet. Familien, Kinder und         großen Häusern, Gärten und anderen Kompensations-
Jugendliche werden zusehends kritisch beäugt. Abseits       leistungen gesegnet sind oder in einer viel zu kleinen
vom Kinderschutz dreht sich der Diskurs vor allem um        Großstadtwohnung mit viel zu wenig Bewegungsraum,
Schulabschlussprüfungen, trotz Schulschließungen. Eine      reduzierten Versorgungsmöglichkeiten, enormen
Wiederaufnahme des (Regel-)Kitabetriebes scheint in         existenziellen Sorgen und mangelhafter Hardwareaus-
weite Ferne gerutscht zu sein. In diesem Kontext droht      stattung zurechtkommen müssen. Kurz gesagt: Durch
die soziale Spaltung der Gesellschafft zuzunehmen.          Corona und die Maßnahmen dagegen konnten die
                                                            Privilegierten ihren Vorsprung z.B. an Partizipation und
Jegliche Rechte von Kindern nach der UN-Kinderrechts-       Bildungschancen noch ausbauen. Sie blieben während
konvention auf Beteiligung, Förderung und Schutz, die       und nach der Corona-Krise bevorteilt und werden noch
über den Kinderschutz hinausgehen, werden derzeit           privilegierter, die Benachteiligten dagegen bleiben
weitgehend negiert. Die öffentliche Infrastruktur auch      durch Bildungsexklusion und »Homeschooling« über-
für Kinder und Jugendliche sowie die Einrichtungen der      wiegend weiterhin unterprivilegiert und werden – auch
Kinder- und Jugendhilfe sind von März bis Mai 2020 von      mangels finanzieller Mittel, z.B. für Hardware, Schreib-
wenigen digitalen Angeboten oder telefonischen Kon-         tisch, eigenes Zimmer, fehlender Nachhilfe – noch
taktmöglichkeiten abgesehen nicht verfügbar (gewe-          stärker benachteiligt.
sen). Geschlossene Spielplätze standen symbolisch für
versperrte Zugänge sowie den Ausschluss von gesell-         Droht mit der Corona-Krise ein gesellschaftli­
schaftlicher Teilhabe. Dahinter standen unter anderem       cher Rückschritt, entwickelt sich Deutschland
geschlossene Kinder- und Jugendclubs, Skateanlagen,         mit der Corona-Krise gar zu einem kinderfeind­
Tischtennis- und Bolzplätze, Tierparks, öffentliche Bade-   lichen Land?
stellen, Bibliotheken etc.
                                                            Wenn über 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit ge-
Der für Kinder und Jugendliche wichtige persönliche         schickt werden, wenn damit durch wegfallendes
Kontakt mit Gleichaltrigen ist altersabhängig de facto      Erwerbseinkommen tendenziell Armutslagen, soziale
stark reduziert bzw. unmöglich (gemacht worden).            Polarisierung und durch Corona(-Maßnahmen) noch
Private Treffen außerhalb von Haushaltsmitgliedern sind     verstärkte Bildungsungleichheiten zunehmen, wenn die
weitestgehend untersagt worden. Damit waren und             in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der
sind Kinder und Jugendliche häufig härter von der Krise     Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und
betroffen als ihre Eltern. Familien werden in der Krise     die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitstei-
auf sich selbst zurückgeworfen und es wird von ihnen        lung begünstigen, so sind dies eindeutige Hinweise auf
erwartet, dass sie unter schwierigen Bedingungen die        einen gesellschaftlichen Rückschritt (sogar im Vergleich
Krise meistern ohne dass gesellschaftliche Unterstüt-       zum wahrlich nicht idyllischen Zustand vor der Krise),
zungsmöglichkeiten verfügbar sind oder auf ein soziales     der schwerlich aufzuhalten sein wird.

                                                                                                                     5
Gleichwohl waren und sind während der Corona-Krise                          ten Ansteckungswelle (vielleicht ab Herbst 2020) eine
auch gesellschaftliche Solidarpotenziale und anti-                          ähnlich missachtende Vorgehensweise, wenn nicht end-
neoliberale Tendenzen zu erkennen. Wenn es um ver-                          lich kritisch aufgearbeitet wird, wie bislang mit Kindern
schiedenste Hilfsaktionen für bedürftige Mitmenschen                        und Jugendlichen umgegangen wurde. Somit müssen
ging, waren übrigens stets auch Kinder, Jugendliche                         die Interessen von Kindern und die Kinderrechte in der
und junge Erwachsene beteiligt. Und natürlich haben                         Pandemie deutlicher gestärkt werden.
auch einige Menschen zur Kenntnis genommen, wer
in unserer Gesellschaft wirklich wichtige Arbeit ausübt                     Entscheidend werden die Kräfteverhältnisse zwischen
(bei meist äußerst schäbigen Bedingungen),3 wer von                         gemeinwohlorientierten Solidarinteressen und gewinn­
den Politikern noch kurz vor der Krise Krankenhäuser                        orientierten Partikularinteressen nach der Krise sein.
privatisieren und schließen wollte sowie überhaupt                          Bitter ist es zu beobachten, wie seit Jahren die Kinder-
Sozialausgaben z.B. zugunsten von Rüstung und Militär                       rechte und die Kinderrechtskonvention der Vereinten
kürzen wollte; wer dann von NRW bis Bayern die »Coro-                       Nationen von politischer Seite gefeiert wurden, aber
na-Pandemie« mit Biergärten, Fastnacht und Karneval                         zwischen Mitte März und Anfang Mai 2020 selbst die
katastrophal verschlafen hatte und sich dann als großer                     minimalsten kinderrechtlichen Grundlagen, wie der
Krisen-Manager inszenierte. Es wäre zu hoffen, dass die                     Kindeswohlvorrang, das Diskriminierungsverbot, das
Bevölkerung diesbezüglich nicht allzu vergesslich ist.                      Recht auf Entwicklung und Spiel sowie das Recht auf
                                                                            Beteiligung beinahe vollständig abgeräumt wurden,
Dennoch ist zu befürchten, dass die Starken noch                            ohne die geringsten Versuche, Kinder, Jugendliche
stärker werden und sich Tendenzen entwickeln, wonach                        und Jugendverbände auch nur annähernd in Entschei-
von den Krisenfolgen besonders Betroffene Sünden-                           dungsprozesse auf Bundes-, Landes- und kommunaler
böcke für ihren (drohenden) gesellschaftlichen Abstieg                      Ebene einzubinden. Selbst die banalsten Formen der
suchen. Auch das kann einen Rechtsrutsch und damit                          Anhörung Jugendlicher, wie sie bei Spiel- und Sport-
anti-solidarische Rückschritte bewirken, die das Auf-                       plätzen, Bildungs-, Betreuungs- und anderen Jugendein-
wachsen von Kindern und Jugendlichen nicht unerheb-                         richtungen mithelfen könnten, die Viren-Verbreitung zu
lich beeinträchtigen könnten, da sozialdarwinistische                       bekämpfen und zugleich solidarische Potenziale in der
Deutungs- und Handlungsmuster überhand nähmen.                              Gesellschaft zu stärken, wurden überwiegend sträflich
                                                                            vernachlässigt. Ob das nach dem Lockdown ohne wei-
Beobachten lassen sich bereits Phänomene ge-                                teres wieder hochgefahren werden kann, ist fraglich.
schlechtlicher Re-Traditionalisierung in verschiedensten                    Wie die allzu selektive Öffnung von Schulen, Kitas und
Ländern4 sowie Mechanismen der Re-Privatisierung                            Offener Jugendarbeit aufzeigt, laufen viele Maßnahmen
gesellschaftlicher und familiärer Aufgaben: Familien                        auch weiterhin auf Aussperrung und Entrechtung vieler
(d.h. allzu oft nur: Frauen/Mütter; vgl. DIW-Wochenbe-                      Millionen Kinder hinaus, was ebenfalls als Rückschritt
richt 19/2020, S. 331ff.) sollen alles machen und werden                    im Verhältnis zur ganz und gar nicht beschönigenswer-
gleichzeitig in manchem Kinderschutz-Diskurs fast                           ten Vor-Corona-Zeit betrachtet werden muss. Zumal
nur als »Risiko« und viel seltener als ungerechterweise                     sich viele kinderrechtliche Versprechen der letzten drei
benachteiligte Gruppe mit zu fördernden »Ressourcen«                        Jahrzehnte innerhalb kürzester Zeit als offensichtlich
dargestellt, mit der bzw. mit denen bei allen Gefähr-                       gehaltlos entpuppt hatten, wie auch das Deutsche
dungen und Maßnahmen doch gearbeitet werden muss                            Kinderhilfswerk in seiner Stellungnahme von Anfang
(vgl. Giffey-Brief v. 29.4.2020). Re-Traditionalisierung                    Mai 2020 befürchtet. So zeigt sich doch der Wert von
bedeutet, dass die Verantwortung für Kinder vor allem                       Rechten gerade dann, wenn es darauf ankommt, z.B. in
Zuhause und an ihre Mütter sprich Frauen delegiert                          einer Krise. Oder symbolisch gesagt: Ein schönes Dach
wird. Damit entsteht für Kinder bzw. Kindheiten wieder                      nutzt nur, wenn es auch bei Regen dicht ist und nicht
eine extreme Abhängigkeit von den häuslichen Ressour-                       nur bei Sonnenschein. So ist das offenbar auch mit den
cen. Bislang ist dazu keine Umkehr in Sicht, auch wenn                      Kinderrechten. Dazu reicht es nicht, Kinderrechte bloß
nach und nach Einrichtungen wieder öffnen. Insofern                         als Rechte auf (sicherlich begründeten) Schutz vor der
ist zu fragen, ob jetzt auf Kinderschutz zu setzen, ohne                    Pandemie zu reduzieren, da ihre instrumentelle und
(ausreichend) »präventive« bzw. »unterstützende« An-                        vollständig beteiligungsfreie Behandlung während der
gebote (z.B. der offenen Jugendarbeit) zu fördern, nicht                    Corona-Krise vielmehr monatelang darauf hinauslief,
ein Rückfall in Richtung »Fürsorge« und totale Objekti-                     Kinderrechte buchstäblich als Schutz vor Kindern (allein
vierung von Kindern, Kindheiten und Familien bedeuten                       als Viren-Verbreiter!) zu begreifen. Oder, wie es die
könnte. Zumindest werden bestehende Rechtsansprü-                           Leiterin der Monitoring Stelle zur UN-Kinderrechtskon-
che von Kindern gegenüber der Gesellschaft vor allem                        vention beim Deutschen Institut für Menschenrechte,
auf Fürsorge und Kinderschutz reduziert und ein Ende                        Claudia Kittel in der Presseerklärung zum internationa-
ist nicht wirklich absehbar, eine Normalisierung nach                       len Kindertag formuliert: »Das Recht auf Gesundheit,
der Pandemie wird nicht per Knopfdruck möglich sein.                        gemäß der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention,
Somit kann hier ohne Gegensteuerung leider nur ein                          ist ein ganzheitliches Konzept. Es definiert Gesundheit
Rückschritt diagnostiziert bzw. prognostiziert werden.                      nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und schließt
Leider droht deshalb bei einer zu befürchtenden nächs-                      auch andere für Kinder relevante Aspekte mit ein. Dazu
                                                                            zählen unter anderem auch Spiel und Freizeit sowie
3
  Vgl. Alicia Lindhoff (2020): Migrantische Arbeitskräfte. Systemrelevant   Kontakte zu anderen Kindern. Dieser ganzheitliche An-
und unsichtbar: Corona-Krise zeigt die Doppelmoral gegenüber Migran-        satz darf bei den aktuellen Diskussionen um den Schutz
tinnen und Migranten, in: Frankfurter Rundschau v. 6.5.2020
4
  Vgl. Höland 2020 sowie Charrel 2020.

6
der Gesundheit von Kindern nicht übersehen werden.«5                 Kitas und Schulen kommen im Konjunktur-Programm
Wenn jedoch selbst noch zum Weltspieltag (für Kinder!)               des Bundeskabinetts leider viel »zu kurz«, wie C. Katha-
am 28. Mai 2020 und zum Welt-Kindertag am 1. Juni 2020               rina Spieß vom DIW über den »Schaden einer ganzen
die meisten öffentlichen Spiel-Einrichtungen für Kinder              Generation« schreibt (siehe Frankfurter Rundschau v.
geschlossen blieben, während Biergärten, Baumärkte                   6./7.6.2020).
und Bundesliga bereits wochenlang (für Erwachsene)
geöffnet waren, stimmt etwas nicht.                                  Zum Zweiten wären Partizipation von jungen Menschen
                                                                     und Kinderrechte wieder ernst zu nehmen zumindest
Ob also die regierungsamtliche Kinderrechte-Politik der              schon mal Schritte in die richtige Richtung. Viele Kinder
letzten dreißig Jahre sich somit nur als Symbolpolitik               und Jugendliche haben sich während der Corona-Krise
erwiesen hat und was angesichts dessen z.B. der Ge-                  ungefragt solidarisch für ihre Verwandten und andere
setzentwurf der Bundesjustizministerin für die Einfüh-               Mitmenschen engagiert. Das medial vermittelte allei-
rung von Kinderrechten ins Grundgesetz (noch) wert ist,              nige Image von verantwortungslosen Jugendlichen auf
lässt sich schwerlich abschätzen.                                    sog. Corona-Partys ist eine von Ressentiments geleitete
                                                                     Verleumdung der Jugendlichen und eine Verzerrung der
Wie könnte einem gesellschaftlichen Rück­                            Realität. Anerkennung und gleichberechtigte Anspra-
schritt oder gar einer Entwicklung zu einem                          che, wie die Verhältnisse innerhalb und außerhalb
kinderfeindlichen Land entgegengesteuert                             von Kitas, Schulen und anderen (häufig ignorierten)
werden? Welche Maßnahmen wären für die un­                           Bildungseinrichtungen (z.B. der offenen Jugend- und Ju-
mittelbare Krisenzeit denkbar, welche nach der                       gendverbandsarbeit) pandemie-gemäß gestaltet werden
Krise notwendig?                                                     sollten, wären wichtig.

Drei zentrale Forderungen sind während und nach der                  Zum Dritten gehören hierzu selbstverständlich die
Krise unentbehrlich. Als erstes Maßnahmen gegen                      sozialen Strukturen insbesondere der wohnortnahen
Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und                    Kinder- und Jugendhilfe und vor allem der präventiven
Familien: Zweitens müssen die kinderrechtlichen                      und partizipativen offenen Kinder- und Jugendarbeit und
Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der                 Jugendverbandsarbeit.
Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern,
Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufge-                     Man könnte das gleichsam einen neuen (generationen-)
baut bzw. umgesetzt werden. Damit verbunden wären                    solidarischen Gesellschaftsvertrag nennen, der oben-
drittens Maßnahmen für einen (pandemiegerechten)                     drein die jugendlichen »Vorleistungen« und »Vertrau-
Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld v.a.                 ensvorschüsse« während der Einschließungen berück-
mittels Jugendhilfe und offener Arbeit.                              sichtigt (vgl. Allmendinger 2020). Ebenfalls aus diesem
                                                                     Grund wäre ein sog. Kindergipfel im Bundeskanzler­
Als Maßnahmen gegen Armut sind zum Ersten                            innenamt nicht nur symbolisch von wertschätzender
schnellstmögliche Kompensationen der entgangenen                     Bedeutung, sofern Kinder, Jugendliche, Kinderrechtsor-
kostenlosen Mittagessen für die ca. drei Millionen                   ganisationen und Jugendverbände daran auch beteiligt
Kinder im Berechtigtenkreis des sog. Bildungs- und                   werden. Davon abgesehen sind selbstverständlich
Teilhabepaketes notwendig. Demgegenüber erweisen                     zudem weiterhin unmittelbare Aktionen der Solidarität
sich die bisherigen Lieferservice-Ideen der Bundesre-                enorm wichtig, während auf der Makro-Ebene politisch
gierung als weitgehend unrealistisch, unpraktisch und                deutlich werden müsste, dass besonders Wohlhabende
überbürokratisch (vgl. DKSB 2020). Genauso schnelle                  und die Krisen-Profiteure vor allem zur Finanzierung der
und unbürokratische Corona-Zusatzhilfen v.a. für arme                Krisen-Folgen herangezogen werden und nicht zuerst
und armutsgefährdete Familien sowie ein sog. Corona-                 die Krisen-Opfer, wie es sich in manchen wirtschaftsna-
Elterngeld wären dringend notwendig (vgl. Stellungnah-               hen Spar-Diskursen bereits andeutet. So zeichnet sich
me des DKSB v. 5.5.2020, Butterwegge 2020 etc.). Dass                ab, dass die Haushalte sowohl im Bund wie auch in Län-
sich die Bundesregierung hierfür Monate lang nicht be-               dern und Kommunen unter enormen Einnahmeausfällen
wegen ließ, ist angesichts der ansonsten mobilisierten               leiden und damit generell weniger Haushaltsmittel zur
Milliarden Euro für große Konzerne äußerst skandalös.                Verfügung stehen (so beabsichtigt das Konjunkturpaket
Insofern ist der von der Koalition Anfang Juni 2020 in ih-           der Bundesregierung keine Übernahme kommunaler
rem Konjunkturpaket beschlossene und nicht auf Hartz                 Altschulden; vgl. Frankfurter Rundschau v. 6./7.6.2020).
IV angerechnete, einmalige Kinderbonus von 300 Euro                  Damit geraten auch die kommunalen Angebote unter
zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch               Druck, auf die Kinder und Jugendliche besonders an-
wird er (für alle Familien gleich) nicht wirklich zielgenau          gewiesen sind. Einschnitte an dieser Angebotsstruktur
vergeben, denn die einen sind nicht wirklich auf ihn an-             müssen unterbunden werden. Im Bereich des Sozialen
gewiesen und für die anderen reicht er angesichts der                und der öffentlichen Infrastruktur darf somit nicht
gestiegenen Lebenshaltungskosten vorne und hinten                    gespart bzw. gekürzt werden.
nicht aus, um damit die kindbezogenen Kriseneinbußen
auch nur annähernd auszugleichen. Auch Jugendhilfe,

5
  Deutsches Institut für Menschenrechte: Corona-Pandemie/Kinder
müssen bei der Entwicklung staatlicher Maßnahmen gehört werden/
Internationaler Kindertag am 1. Juni 2020, in: Pressemitteilung v.
29.05.2020, Berlin.

                                                                                                                            7
Corona(-Maßnahmen) weltweit als (Kinder-)                                  Der Kampf gegen Malaria wurde in vielen betroffenen
Armuts-Katalysator?                                                        Ländern eingestellt oder gebremst. Dass diese Entwick-
                                                                           lungen durch militärische Konfrontationen und Konflikte,
»Alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie                                durch nationalistische Wirtschaftskriege sowie vor allem
hatten die Belange von Kindern und Jugendlichen viel                       US-geführte Sanktionsregime und Handels-Boykott-Sys-
zu wenig im Blick.« (Sigrid Peter, Vizepräsidentin des                     teme gegen missliebige Staaten noch verschärft wer-
Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), in:                     den, scheint inzwischen auch außer Zweifel zu sein. Der
Frankfurter Rundschau v. 13.5.2020)                                        UN-Generalsekretär Guterres hat deshalb mehrmals zu
                                                                           Waffenstillständen und der Beendigung von Wirtschafts-
Bereits vor der Corona-Krise waren zum Beispiel in den                     Sanktionen in der Corona-Krise aufgerufen, da deren
USA über 37 Millionen Menschen von Hunger bedroht.                         Folgen vor allem der Zivilbevölkerung und deren sozialer
Allein in der Stadt New York wurden über 100.000                           und gesundheitlicher Versorgung schaden. Hauptopfer
obdachlose Kinder gezählt.6 Laut Angaben des Berliner                      davon sind immer wieder und immer mehr Kinder.
»Tagesspiegel” werden es seitdem immer mehr, sodass
in der Corona-Krise sogenannte Food Banks zig-Millio-                      Derweil erwartet das Welternährungsprogramm, dass
nen Bedürftige mit Nahrungsmitteln versorgen müssen,                       sich »die Zahl der extrem Hungernden dieses Jahr von
um sie im reichsten Land der Erde vor dem Verhungern                       135 auf 265 Millionen verdoppeln wird. Die Weltbank
zu bewahren.7                                                              schätzt, dass 40 bis 60 Millionen Menschen zusätzlich
                                                                           in extreme Armut gestoßen werden. Es werden also
In einer Kurzinformation der Vereinten Nationen von                        sehr viel mehr Menschen an den indirekten Folgen
Mitte April 2020 wurde bereits befürchtet, dass Kinder                     von Corona sterben als an den direkten Folgen der
zwar nicht das »Gesicht« der Corona«-Pandemie seien,                       Krankheit«, wie die Präsidentin von »Brot für die
aber womöglich zu deren größten Opfern zählten.8 Welt-                     Welt«, Cornelia Füllkrug-Weitzel am 9./10. Mai 2020 in
weit wurden demnach in den Monaten Mitte März bis                          der Frankfurter Rundschau schreibt. Verschiedenste
Mai 2020 über 1,5 Milliarden schulpflichtige Kinder und                    Entwicklungshilfe-Organisationen kommen zu ähnlichen
Jugendliche von Schulen und Bildungseinrichtungen                          Ergebnissen und prognostizieren, dass die Corona-Krise
ausgesperrt.9                                                              arme und benachteiligte Kinder weltweit besonders
                                                                           hart trifft und ihre Zukunft gefährdet.13 Derweil gehen
Laut der Hilfsorganisation »SOS-Kinderdorf« »gibt es                       Analysen von Save the Children und UNICEF Ende Mai
für Menschen in den Armenvierteln (des südlichen                           2020 davon aus, dass die »Zahl der Kinder in von Armut
Afrikas) de facto nur die Option, am Coronavirus oder                      betroffenen Haushalten weltweit in Folge der Covid-
am Hunger zu sterben. Denn in den Ländern südlich                          19-Pandemie bis Ende 2020 um 86 Millionen Kinder an-
der Sahara leben mit 413 Millionen Menschen mehr als                       steigen. Dies entspricht einem Anstieg von 15 Prozent.
die Hälfte der extrem Armen weltweit – davon sind 60                       Wenn Familien nicht schnell vor den wirtschaftlichen
Millionen unterernährt. Sogar 565 Millionen Menschen                       Risiken geschützt werden, würde dies bedeuten, dass
verfügen über keinen Zugang zu sanitären Einrich-                          in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen
tungen, 330 Millionen fehlt die Möglichkeit, sauberes                      bis Jahresende insgesamt 672 Millionen Kinder unter
Wasser zu nutzen.«10 Laut UNICEF gibt es in 39 Prozent                     der nationalen Armutsgrenze leben.« Die Analyse
aller Haushalte in Afrika gar keine sanitären Anlagen zur                  von UNICEF und Save the Children geht ferner davon
Hand- und Körperreinigung (UNICEF v. 13.4.2020).                           aus, dass rund zwei Drittel der betroffenen Kinder in
                                                                           Subsahara-Afrika und Südasien leben. »Von einem An-
Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, die Verein-                       stieg der Kinderarmut könnten Europa und Zentralasien
ten Nationen, das Welternährungsprogramm WFP und                           am stärksten betroffen sein – mit bis zu 44 Prozent. In
das Kinderhilfswerk UNICEF verweisen indessen seit                         Lateinamerika und der Karibik liegt der Anstieg voraus-
April 2020 darauf, dass weltweit etwa 370 Millionen                        sichtlich bei 22 Prozent.«14
Kinder durch die Schließungen und Kontaktsperren
auch keine Schulspeisungen mehr erhalten.11 Zugleich                       »Corona kills Chancengleichheit«?
sind lebensrettende Impfkampagnen gegen Masern und                         oder: Frisst die Covid-Krise ihre Kinder?
Kinderlähmung für 117 Millionen Kinder – unter anderem
in Afghanistan und Pakistan – vorerst gestoppt worden.12                   »Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind
                                                                           die Grundrechte so flächendeckend, so umfassend und
                                                                           so radikal eingeschränkt worden – aber Kritik oder Pro-
6
  Vgl. Stefanie Dodt: Metropole der Ungleichheit. Mehr als 100.000         test vernimmt man kaum.« (Heribert Prantl: Wie lange
Schulkinder in New York sind obdachlos, in: Deutschlandfunk v.
2.3.2019                                                                   noch, in: Süddeutsche Zeitung v. 5.4.2020; https://
7
  Vgl. Juliane Schäuble (2020): Coronakrise verschärft die Armut. Milli-   www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-corona-
onen hungern in den USA – Food Banks müssen Lebensmittel verteilen,        virus-grundrechte-1.4868817-0#seite-2
in: Tagesspiegel.de v. 11.5.2020
8
  Vgl. United Nations (2020): Policy Brief: The Impact of COVID-19 on
children, 15.April 2020, New York; S. 2f.
9
  Vgl. ebd., S. 7                                                          DERN, in: Pressemitteilung v. 5.5.2020, Berlin/Köln
10
   Vgl. SOS-Kinderdörfer Weltweit: Corona-Maßnahmen in Afrika. »Wer        13
                                                                              Vgl. Child Fund Deutschland/Plan International/Save the Children/
zuhause bleibt, verhungert!«, in: Pressemitteilung v. 5.4.2020             SOS-Kinderdörfer weltweit/terre des hommes/World Vision 2020
11
   Vgl. UNICEF: COVID-19: 370 MILLIONEN KINDER HABEN KEINE                 14
                                                                              Vgl. UNICEF/Save the Children (2020): COVID-19: BIS ZU 86 MILLI-
SCHULSPEISUNGEN MEHR, in: Pressemitteilung v. 29.4.2020, Rom/              ONEN KINDER ZUSÄTZLICH KÖNNTEN IN FOLGE DER PANDEMIE BIS
New York/Köln                                                              JAHRESENDE IN ARMUT ABRUTSCHEN, Pressemitteilung v. 28.5.2020
12
   Vgl. UNICEF: EINE GLOBALE KATASTROPHE FÜR KINDER VERHIN-                (Köln/Berlin).

8
Im DIW-Wochenbericht 19/2020 v. Mai 2020 heißt es                       Schon vor der sog. Corona-Krise gab es Armut in
einführend: »Mitte März 2020 wurden wie in den meis-                    Deutschland und besonders Kinderarmut. Schon vor
ten europäischen Ländern auch in Deutschland alle                       dem Frühjahr 2020 ließ sich die soziale Benachteiligung
Kindertagesstätten (Kitas) und Schulen geschlossen,                     von über vier Millionen Minderjährigen als eine politisch
um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen.                        mit zu verantwortende, strukturelle Kindeswohlgefähr-
Seit knapp zwei Monaten sind dadurch etwa 8,8 Milli-                    dung und Kinderrechteverletzung diagnostizieren.17
onen betreuungsbedürftige Kinder, die eigentlich eine                   Verschiedene Ergebnisse über zentrale Einflussfaktoren
Kindertageseinrichtung oder Schule besuchen, zu Hau-                    und Folgen von Kinderarmut für die soziale Teilhabe ha-
se. Dadurch werden diese Kinder nicht nur im Alltag,                    ben Silke Tophoven et al. vom Institut für Arbeitsmarkt-
sondern auch in ihrer sozialen Entwicklung und ihren                    und Berufsforschung (IAB) in ihrer Studie »Aufwachsen
Bildungschancen beeinträchtigt.« (ebd., S. 332). Dabei                  in Armutslagen« (2018) im Auftrag der Bertelsmann
sind die mehr als vier Millionen Jugendlichen zwischen                  Stiftung vorgelegt. Den Autor(inn)en zufolge führen
12 und 18 Jahren noch nicht einmal mitgerechnet.                        Armutserfahrungen in der Kindheit dazu, »dass sich
                                                                        die Betroffenen weniger zugehörig zur Gesellschaft
Ein Forschungsverbund zwischen den Universitäten                        fühlen: Je schlechter die Einkommenslage des Haus-
Frankfurt. a. M., Hildesheim und Bielefeld (Prof. Sabine                halts, desto geringer ist das Zugehörigkeitsgefühl und
Andresen/Prof. Wolfgang Schröer u.a.) hat während                       die selbst eingeschätzte gesellschaftliche Positionie-
der Corona-Krise tausende von Eltern und ihre unter                     rung der Jugendlichen.«18 Hinsichtlich der Folgen von
15jährigen Kinder sowie Jugendliche und junge Erwach-                   Armutserfahrungen für das Wohlbefinden ermitteln die
sene zwischen 15 und 30 Jahren nach ihren Erfahrungen                   Forscher*innen, dass Jugendliche und junge Erwachse-
und Perspektiven in der Corona-Zeit befragt. Der Vor-                   ne mit dauerhaften Armutserfahrungen im Durchschnitt
auswertung ihrer Studie mit Jugendlichen und jungen                     angeben, weniger zufrieden mit ihrem Leben und mit
Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren zufolge ist eine                  ihrem Lebensstandard zu sein als dauerhaft in einer
zentrale Wahrnehmung der über 5000 Befragten das                        gesicherten Einkommenslage aufwachsende Menschen.
Gefühl, in dieser Gesellschaft und in dieser Corona-                    »Insbesondere die Haushaltskonstellation sowie die
Krise nicht gefragt (worden) zu sein. »Jugendliche und                  Erwerbssituation der Eltern haben großen Einfluss
junge Erwachsene haben nicht den Eindruck, dass ihre                    darauf, ob ein Kind Armutserfahrungen macht bzw. wie
Interessen in der derzeitigen Krise zählen. Sie nehmen                  lange diese Erfahrungen vorhalten. Gerade dauerhafte
nicht wahr, dass ihre Sorgen gehört werden und sie                      Armutserfahrungen haben weitreichende Folgen für das
in die Gestaltungsprozesse eingebunden werden.«15                       Aufwachsen und die Teilhabechancen von Kindern. Sie
Zudem haben sie das Gefühl, nur funktionieren zu müs-                   erleben materielle Unterversorgung und nehmen selte-
sen und dabei auch nur auf eine Rolle (z.B. Schüler/in,                 ner an Freizeitaktivitäten und organisierten Gruppen teil
Homeschooling) reduziert zu werden, während fast alle                   als junge Menschen in einkommenssicheren Familien.
anderen außerschulischen Lebensbereiche jugendlicher                    Dies alles führt zu einem geringeren Wohlbefinden und
Erfahrung völlig ausgeblendet wurden. »Jugendliche                      weniger Lebenszufriedenheit. Auch die Einschätzung
und junge Erwachsene werden bei den Diskussionen                        ihrer eigenen Position in der Gesellschaft leidet dar-
rund um die Corona-Pandemie und die damit verbun-                       unter.« 19 Alle bislang zur Verfügung stehenden (Vor-)
denen Maßnahmen auf ihre Rolle als Schüler*innen                        Untersuchungen und Studien verweisen darauf, dass
(bzw. Auszubildende oder Studierende) reduziert – die                   sich diese Effekte mit der Corona-Krise weiter verstärkt
funktionieren sollen. Zudem stehen vor allem nur die                    haben.
Jahrgänge im Fokus, die kurz vor einem Schulabschluss
stehen, insbesondere sich in den Abiturprüfungen                        Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten schon 2016 die
befinden. (…) Wer immer wieder aus dem Blick gerät,                     Sozialforscherinnen Claudia Laubstein, Gerda Holz
sind junge Menschen, die an Förderschulen sind und/                     und Nadine Seddig in der Bertelsmann-Studie über
oder eine Beeinträchtigung haben. Für diese jungen                      Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, wonach die
Menschen kann das Homeschooling derzeit in dieser                       Lebensqualität und die Zukunftschancen von Kindern
Form gar nicht stattfinden, da es beim normalen Schul-                  durch das Aufwachsen in Armut massiv beeinflusst
besuch schon schwierig ist und sie der Unterstützung                    werden. Überproportional oft wohnen sie unter beeng-
bedürfen. Dies wird in der öffentlichen Diskussion nicht                ten Verhältnissen und somit meist ohne einen ruhigen
berücksichtigt, wie diese jungen Menschen wieder in                     Platz für die Erledigung von Hausaufgaben.20 Obgleich
Schule und Ausbildung zurückgeführt werden können                       die Einschränkungen aufgrund von elterlichem Sparen
und wollen.«16 Insgesamt verweisen viele Lehrer*innen                   nicht an erster Stelle stünden, seien doch immerhin ein
darauf, dass sie seit den Schulschließungen mit einer                   Viertel der armen jungen Menschen von Schmälerun-
beträchtlichen Zahl von Schulkindern überhaupt keinen                   gen beim Essen betroffen,21 sie könnten also teilweise
Kontakt mehr hatten resp. haben, also Kinder buch-                      oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig
stäblich unerreichbar geworden sind (vgl. Frankfurter                   gesunde Ernährung erhalten. Während der permanente
Rundschau v. 6.5.2020).                                                 Mangel das Familienklima verschlechtere, seien auch

                                                                        17
                                                                           Vgl. Michael Klundt (2017): In reicher Gesellschaft: Politisch verant-
                                                                        wortete Kindeswohlgefährdung, in: Sozial extra 4/2017, S. 22ff.
15
   Vgl. Sabine Andresen u.a. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von   18
                                                                           Tophoven et al. 2018, S. 19
jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse          19
                                                                           Ebd. S. 20
der bundesweiten Studie JuCo, Hildesheim, S. 16.                        20
                                                                           Vgl. Laubstein/Holz/Seddig 2016, S. 13 ff.
16
   Ebenda                                                               21
                                                                           Vgl. ebd., S. 46

                                                                                                                                                    9
die sozialen Netzwerke kleiner, da die Kinder überdies                 meinschaft vollsanktioniert wurde (vgl. Tagesspiegel.de
weniger Freizeitangebote – seien es Musikschulen oder                  v. 21.11.2019). Damit gehörten für diese Jugendlichen und
Fußballvereine – wahrnehmen könnten. Nicht zuletzt                     Familien mit Kindern tatsächlich Probleme absoluter
aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickel-                   Armut – die Sorge um ein Dach über dem Kopf oder
ten viele arme Kinder daher ein geringeres Selbstwert-                 um Licht und Wärme in der Wohnung, Hunger, Man-
gefühl und starteten mit ungünstigeren Voraussetzun-                   gel an Kleidung und medizinischer Versorgung – zum
gen in die Schule, wo sie selbst bei gleichen Leistungen               täglichen existenziellen Überlebenskampf. Dennoch
dann auch noch oft schlechter bewertet würden als                      werden sie allzu oft ignoriert. Ihre Situation hatte sich
Kinder aus wohlhabenden Schichten.22                                   durch die Corona-Krise und die Hamsterkäufer sogar
                                                                       noch verschlimmert. Tafeln schlossen auch mangels
Somit lässt sich festhalten, dass ständige Erfahrungen                 (preiswerter) Waren, fehlenden Ehrenamtlichen u.a.
von Mangel und Verzicht vor, während und nach Corona                   und kaum jemand konnte auf der Straße angebettelt
mit dazu beitragen, dass sich junge Menschen, die in                   werden, aufgrund der Kontaktsperren und Einschrän-
ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen,                        kungen. Besonders schwer haben es Obdach- und
weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft                    Wohnungslose (in Not- bzw. Gemeinschaftsunterkünf-
fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die                      ten), Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige,
dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II Leistun-                     Suchtkranke, Flüchtlinge und Migrant(inn)en ohne
gen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an                   gesicherten Aufenthaltsstatus, Prostituierte, Erwerbs-
organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser            lose und Geringverdienende (»Hartz-IV«-Beziehende),
gestellte Gleichaltrige, sehen Annette Stein und Jörg                  Kleinstrentner*innen (Bezieher*innen der Grund­
Dräger von der Bertelsmann-Stiftung die Gefahr, dass                   sicherung im Alter) und Studierende, deren Nebenjob
sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene                         weggefallen ist.26 In einem der reichsten Länder der
aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft                Erde sind darüber hinaus auch relative Entbehrungen,
abkoppeln – mit weitreichenden Folgen. »So hängt                       Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis
unter anderem auch die politische Beteiligung mit dem                  zum allgemeinen gesellschaftlichen Lebensstandard als
sozialen Status zusammen: je niedriger der sozioöko-                   armutsrelevant anzusehen, wie die aktuellen Home-
nomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteili-                  schooling-Debatten um die angebliche Selbstverständ-
gung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisie-                    lichkeit von ausreichender Hardware-Ausrüstung bei
rung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein.«23              jedem Schulkind zeigen.27
Es sei daran erinnert, dass die beklagte »zunehmende
Polarisierung« gerade von der Bertelsmann-Stiftung seit                Wichtig ist jedoch ganz grundsätzlich, dass Armuts­
Jahrzehnten mit einflussreichen Konzepten zur Privati-                 anlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status,
sierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberali-              Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit nicht
sierung aller gesellschaftlicher Bereiche und besonders                mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen
von Bildung und Sozialstaat maßgeblich mit vorange-                    Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt werden.
trieben worden ist.24 Dazu zählten auch noch ein halbes                Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik
Jahr vor Beginn der Corona-Krise Vorschläge, die Hälfte                und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarkt-
aller Krankenhäuser bzw. Krankenhausbetten einzu-                      politik kann auch für Kinder von arbeitslosen, alleiner-
sparen (vgl. ZEIT v. 15.7.2019), womit im Frühjahr 2020 in             ziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies
Deutschland sicherlich ähnliche Verhältnisse erreicht                  Leben ermöglichen. Mit Abstrichen könnte dies selbst
worden wären wie in Nord-Italien oder in New York.                     für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger zur
                                                                       Ursache als zum Anlass von verschärften Verarmungs-
Die bislang erhältlichen, spärlichen empirischen                       prozessen landes- und weltweit geraten ist und die
Studien zur Kinderarmut während der Corona-Krise                       darunter liegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs-
zeigen, dass sich diese soziale Polarisierung nicht etwa               und gesundheits-systemischen Ursachen zu überstrah-
reduziert hat, sondern vielmehr noch deutlicher als vor-               len droht. Genauso problematisch wie die einseitige
her hervorscheint (vgl. Geis-Thöne 2020, in: IW-Report                 Kennzeichnung von Kindern als »Armutsrisiko« oder
15/2020, S. 2). Auch darf nicht vergessen werden, wie                  gar »Armutsursache«, hat sich in der Corona-Krise die
viele hunderttausende Menschen inzwischen wieder                       weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschrei-
in Deutschland auf der Straße leben (laut Tagesschau.                  bung und Behandlung von Kindern als reine »Viren-
de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um                    Schleudern« erwiesen.28
die 37.000 Jugendliche; vgl. DJI-Studie 2017)25 und wie
viele Menschen vom Flaschen-Sammeln, Betteln oder                      Corona-Krise wirkte und wirkt nicht
von Tafeln leben müssen. Für sie muss das Motto: »Wir                  auf alle Kinder gleich
bleiben zuhause!« einigermaßen befremdend gewirkt
haben. Etwa 80.000 Minderjährige lebten z.B. 2018 in                   Kinder in Armut und unter prekären Lebensbedingun-
teilsanktionierten ALG II-Haushalten und über 5.000                    gen sind durch die Kontaktsperren, Spiel-, Sport- und
Kinder mussten ertragen, dass Ihre sog. Bedarfsge-                     Bewegungs-Verbote, die Wohnungseinschließungen
                                                                       sowie Bildungs-Ausschließungen besonders hart be-
22
   Vgl. ebd., S. 56
23
   Tophoven et al. 2018, S. 7                                          26
                                                                          Vgl. Butterwegge 2020
24
   Vgl. Klundt 2019, S. 154f.                                          27
                                                                          Vgl. Bonath 2020
25
   Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/hilfe-   28
                                                                          Vgl. Deutsches Ärzteblatt 19/2020 v. 8.5.2020, S. 990ff.; Pamela
fuer-junge-wohnungs-und-obdachlose/133826                              Dörhöfer: Wie infektiös Kinder sind, in: FR v. 7.5.2020

10
troffen. Noch schlimmer traf es obdachlose Jugendliche       zur Eindämmung des Corona-Virus wirken sich für die
oder Flüchtlingskinder in Massenunterkünften, wo nie-        betroffenen Kinder also besonders negativ aus und
mand »social distancing« betreiben konnte und kann.          können ihre Entwicklung in substanziellem Maße hem-
Wer dagegen Garten, Pool und Indoor-Spielplatz sein          men, wenn sie längerfristig aufrechterhalten werden
Zuhause nennt, erlebt die überwiegenden Einschließun-        müssen.«30
gen völlig anders, als jemand mit mehreren Personen in
viel zu wenigen kleinen Räumen einer winzigen Behau-         Während die verschiedensten bundesweiten Eltern- und
sung mit ungesunder Wohnumgebung und schlechter              Kinder-Befragungen und Studien noch ausgewertet
technischer Ausstattung bei Eltern, die gerade um ihre       werden, konnte eine im Mai 2020 noch laufende Studie
wirtschaftliche Existenz kämpfen bzw. einen gravie-          der Universität Oxford u.a. bereits untersuchen, wo die
renden Teil ihres Gehalts oder gleich ihren Arbeitsplatz     Hauptstressquellen für Eltern aktuell liegen. Sie zeigt,
verlieren oder mangels Home Office-Möglichkeiten             wie besorgniserregend sich die Corona-Krise auf die
tägliche Infektionen befürchten müssen.29                    Psyche von Familien auswirkt.31 Ihre ersten Zwischener-
                                                             gebnisse vom 3. Mai 2020 besagen, dass von den bisher
Deshalb hält auch die Armutsforscherin Gerda Holz            5.000 befragten Eltern ca. 80 % angaben, dass alle
mehr Unterstützung seitens der Politik für nötig, um in      Dienstleistungen, die bisher im Zusammenhang mit der
dieser Zeit für Kinder, die in Armut leben, zu sorgen,       Betreuung der Kinder standen aktuell fehlen. Besonders
da ihnen die finanziellen Ressourcen, um eine ausrei-        betroffen sind Eltern, deren Kinder einen erhöhten bzw.
chende und gesunde Ernährung zu sichern, fehlen. »Der        sonderpädagogischen Förderbedarf haben, wodurch
Grund ist, dass armutsbetroffene Kinder und Jugend-          bei ihnen das Stresslevel außerordentlich hoch sei.32
liche auf eine sozialstaatliche Sicherung angewiesen
sind, die auf zwei Säulen basiert. Eine davon fällt in der   Kinder und Jugendhilfe wochenlang
Krise weg. Zum einen haben sie den Anspruch auf fi-          nicht »systemrelevant«?
nanzielle Unterstützung – zum Beispiel in Form des Re-
gelsatzes, der ihnen nach Hartz-IV (SGB II) zusteht, zum     Zu Beginn der fünften Woche des Shutdowns in
anderen auf zusätzliche Leistungen zur Bildung und           Deutschland, am Montag, dem 20. April 2020 ging es
Teilhabe (BuT). Der Regelsatz wird als Geldleistung an       auch bei »Hart, aber fair« mit Jörg Plasberg in der ARD
die Eltern ausgezahlt. Die BuT-Leistungen bekommen           mal wieder um Corona. Interessanterweise sagte bei
die Kinder in Kitas, Schulen oder Vereinen, zum Bei-         dieser Gelegenheit der Gesundheitsökonom und Bun-
spiel, indem Kosten für eine Vereinsmitgliedschaft, den      destagsabgeordnete Karl Lauterbach (SPD), dass unter
Musikunterricht oder aber das gemeinschaftliche Mit-         den nun vielen international und national bekannten
tagessen in der Schule oder Kita übernommen werden.          Studien zu Corona merkwürdigerweise keine einzige
Mit der Schließung dieser Einrichtung bricht aber die        untersuche, ob Kinder tatsächlich Viren-Verbreiter für
Versorgung oder ein Zugang zu diesen BuT-Leistungen          Erwachsene und Ältere seien (also sog. Spreader).
weg. Und es ist klar: Der Regelsatz alleine reicht nicht.«   Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der vie-
(ZDF v. 3.5.2020) Die verschiedenen bürgerschaftlichen       le Berufstätige mangels Home-Office-Möglichkeiten
Initiativen zur Nothilfe seien selbstverständlich löblich,   weiterarbeiten mussten, überall Märkte mittels Ord-
doch, dass sich jemand um die existenziellen Belange         nern Erwachsenen weiterhin zur Verfügung standen,
von armutsbetroffenen Kindern kümmert, erst recht in         aber Spielgelegenheiten und -Orte jeglicher Art und in
Not- und Krisenzeiten, dürfe keine Frage von Wohltä-         Großstädten sogar auf Privatgelände einfach mehr als
tigkeit und bürgerschaftlichem Engagement sein. »Das         sechs Wochen lang vor Kindern abgesperrt wurden,
ist sozialstaatliche Verantwortung und über öffentli-        ist dies schon bemerkenswert. Und es dauerte auch in
che und im öffentlichen Auftrag tätige Institutionen         Deutschland über einen Monat, bis öffentlich die Frage
zu gewährleisten«, betont die Sozialwissenschaftlerin        diskutiert werden konnte, ob nicht auch durch spiel-
korrekterweise.                                              betreuende Streetworker und Sozialarbeitende eine
                                                             zumindest kontrollierte Nutzung von Spielplätzen in
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie              Erwägung gezogen werden könnte (siehe Giffey in: FR v.
für das »Institut der deutschen Wirtschaft« (IW) vom         23.4.2020).
20. April 2020. Auf Basis einer Datenauswertung des
sozio-ökonomischen Panels gelangt deren Autor Wido           Sah und hörte man im Fernsehen Kinder und ihre Per-
Geis-Thöne zu dem Resümee, dass sich die Lage bei            spektiven, so waren diese überwiegend mittelschichts-
den verschiedenen im SOEP erfassten materiellen Res-         orientiert (oft saßen sie im Garten und hinter ihnen
sourcen für Kinder aus sog. bildungsfernen Familien,         sah man sogar noch ein großes Trampolin). Selten ging
aus Familien im Transferbezug, bei Alleinerziehenden         es um Arbeiter- und Kassiererinnen-, Krankenschwes-
und aus Familien mit Migrationshintergrund deutlich          tern- und Altenpfleger-Kinder. Und sozial benachtei-
ungünstiger darstellt als für andere Kinder. »Beste-         ligte Kinder und Familien wurden fast ausschließlich
hen in den betrachteten Bereichen Defizite, kann dies        unter Kinderschutz-Kriterien betrachtet, als würden
die Aktivitätsmöglichkeiten der Kinder im häuslichen         nur die Armen ihre Kinder misshandeln. Die sozioöko-
Umfeld deutlich einschränken, das Lernen zu Hause            nomischen Sorgen der Familien in prekären Verhält-
im Rahmen von Homeschooling schwierig machen und
zu Konflikten in den Familien führen. Die Maßnahmen          30
                                                                Geis-Thöne 2020, S. 20
                                                             31
                                                                Vgl. https://www.familie.de/familienleben/oxford-studie-so-geht-es-
                                                             eltern-und-kindern-in-der-corona-zeit-wirklich/
29
     Vgl. Tagesspiegel.de v. 10.5.2020 und Rosendorff 2020   32
                                                                Vgl. Waite u.a. 2020, S. 3f.

                                                                                                                                  11
nissen z.B. nach Wegfall kostenloser Mittagessen in                       privatisieren, dann über Wochen die Corona-Brisanz in
Kitas, Horten und Schulen für viele hunderttausende                       Bayern und NRW mit Fastnacht, Biergärten und Karne-
Kinder waren zumindest einen Monat lang praktisch                         val zu verschlafen, und schließlich die großen Krisen-
gar kein öffentliches Thema.33 Da war und ist jeder                       Manager zu spielen.
Profi-Fußballverein und jeder millionenschwere Promi
medienrelevanter als 13 Millionen Kinder und Jugendli-                    Auf den Appell vieler Wissenschaftler*innen »Mehr
che zusammen (übrigens auch hinsichtlich Hygienema-                       Kinderschutz in der Corona-Pandemie« vom 29. März
terial, Masken-, Test- und Behandlungsmöglichkeiten,                      2020 antwortete die Bundesfamilienministerin in einem
an die immer noch jeder Bundesliga-Club schneller                         Brief an die Initiatorinnen am 29. April 2020. Dr. Franzis-
herankommt, als alle Fachkräfte von Altenheimen und                       ka Giffeys Antwort spricht über »besonders belastete
Jugend-Einrichtungen zusammen).                                           Familien« weitgehend in der Objektperspektive und von
                                                                          den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe immerhin
Privatisierung der Krisen-Risiken                                         überwiegend in der würdigenden Subjektperspektive.
als neoliberales Programm?                                                An keiner Stelle spricht die ziemlich wohlfeile Antwort
                                                                          Giffeys jedoch davon, was Familien und Kinder gera-
Wenn es etwas gab, was die Corona-Krise weltweit lehr-                    de in Corona-Zeiten »belastet«, an keiner Stelle von
te, so war es die Erkenntnis, dass Gesundheitssysteme                     Kinderarmut, von fehlendem, kostenlosen Mittagessen
niemals (nach Fallpauschalen) marktgemäß, sondern                         in der Kita oder der Schule, von sinkenden Familien-
besser bedarfsorientiert gestaltet sein sollten. Die                      Einkommen und steigenden Betreuungs-Anforderungen
Privatisierung diverser Gesundheitssysteme weltweit                       in Familien, von starken Einschränkungen der Kinder-
hat vielen Menschen buchstäblich das Leben gekostet.                      rechte, während Fabriken und Geschäfte, Kirchen und
Unterdessen wurden alle Probleme und Risiken der                          Profi-Fußballer längst wieder fröhlichen Körper-Kontakt
Corona-Krise auf die privaten Haushalte und Familien                      ausüben.34
abgewälzt, was zumeist nur hieß und heißt: auf die
Frauen und Mütter, die in re-traditionalisierter Weise die                Eine Lehre in »Marktversagen«
meisten Sorgetätigkeiten aufgedrängt bekamen. Dieses                      oder ganz normaler Kapitalismus?
Muster der Privatisierung sozialer Risiken passt selbst-
verständlich auch in wirtschaftsliberale Modelle der                      Während seit Mai 2020 in Deutschland über 7 Millionen
Privatisierung aller sozialer Bereiche (wie Bildung, Al-                  Beschäftigte in Kurzarbeit gemeldet sind und damit
tersvorsorge, Pflegebedarf, Krankheit usw.). Somit lässt                  enorme Einkommenseinbußen zu erwarten haben,
sich die Privatisierung der Krisen-Folgen und -Probleme                   kamen einige Krisen-Profiteure bereits zu Beginn des
mühelos in neoliberale Programme der marktgemäßen                         Corona-Crashs gar nicht mehr aus dem Jubel-Modus
Re-Regulierung der Gesellschaft integrieren, was sie                      heraus. Denn nicht alle leiden unter den Corona-
jedoch nur umso pandemie-anfälliger macht (s. USA).                       bedingten Wirtschaftsabstürzen. Finanz-Spekulanten
                                                                          wie der Fonds-Manager Hendrik Leber können dem
Vielerorts vergaß man angesichts der medienwirk-                          Börsencrash viel abgewinnen. Auf die Frage von Focus
samen Inszenierung der sog. Krisen-Manager, dass                          Online, ob man sich als sog. Value-Investor über einen
manch einer von ihnen eben noch verschärftem Abbau                        Börsencrash freue, antwortete der sog. Finanzprofi: »Ja,
des Sozialstaates das Wort redete. So sagte z.B. der                      ich habe meinem Team gesagt, lasst uns auf die Jagd
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor etwa drei                        gehen. Denn uns kommen reihenweise tolle Gelegen-
Jahren noch als damaliger Staatssekretär im Finanzmi-                     heiten entgegen, Aktien die bisher immer zu teuer
nisterium, dass doch der Sozialetat ruhig zugunsten von                   waren. Ich bin in einer richtig positiven Stimmung!«
Militär und Rüstung zurückstehen könnte. »Etwas weni-                     (Börsencrash als günstigen Einstieg nutzen. Finanz-
ger die Sozialleistungen erhöhen in dem einen oder an-                    profi glaubt: »Dax wird noch tiefer fallen – aber das ist
deren Jahr – und mal etwas mehr auf Verteidigungsaus-                     egal«, in: Focus.de v. 15.3.2020)
gaben schauen«, forderte der CDU-Spitzenpolitiker in
einem BILD-Interview (Jens Spahn, in: BILD v. 21.2.2017).                 Man musste nicht abwarten, bis der US-Präsident
Noch Ende Januar 2020 sprach der Gesundheitsmi-                           relativ offen darauf spekulierte, alleinige Zugriffsrech-
nister Jens Spahn »von einem im Vergleich zur Grippe                      te auf Anti-Corona-Medikamente oder -Impfstoffe zu
‚milden Infektionsgeschehen‘. Anfang Februar (2020)                       erhalten, die er dann gerne allen anderen Ländern
behauptete er, es seien ausreichend Intensivstationen                     teuer hätte verkaufen wollen. Es musste kein Masken-
da mit guter Ausstattung. Am 26. Februar wandte er                        diebstahl durch die USA stattfinden, um zu zeigen, wie
sich öffentlich gegen das Absagen von Großveranstal-                      wirtschaftliche und zwischenstaatliche Konkurrenz
tungen. Noch am 14. März (2020) trat Spahn ‚Gerüchten‘                    funktioniert. Dazu reichten bereits die ersten Wochen
entgegen, die Bundesregierung plane Einschränkungen                       der Corona-Krise in Europa des Frühjahrs 2020 und die
des öffentlichen Lebens« (Frankfurter Rundschau v.                        jeweiligen nationalistisch-egoistischen Maßnahmen der
30.5./31.5./1.6.2020). Viele seiner Kolleg(inn)en waren                   EU-Staaten gegeneinander, die sich lieber gegenseitig
wie er bislang damit beschäftigt, das Gesundheitssys-                     die Masken und Beatmungsgeräte wegnahmen, ihre
tem u.a. mit Fallpauschalen kaputt zu kürzen und zu                       Grenzen gegeneinander abschlossen und jegliche soli-
                                                                          darische Wirtschaftshilfen wie Corona-Bonds (erstmal)
                                                                          ausschlossen.
33
  Vgl. Danzer/Spieß u.a. 2020: Bildungsökonomischer Aufruf. Bildung
ermöglichen! Unterricht und frühkindliches Lernen trotz teilgeschlosse-
ner Schulen und Kitas v. 3.5.2020                                         34
                                                                               Vgl. Giffey 2020, S. 1-4

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