Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? - Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen
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Jackson Simmer, unsplash Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen Studie von Prof. Dr. Michael Klundt für die Bundestagsfraktion DIE LINKE
Inhalt Vorwort 3 Einleitung 4 Arbeitshypothese 5 Interview-Abstract 5 Corona(-Maßnahmen) weltweit als (Kinder-)Armuts-Katalysator? 8 »Corona kills Chancengleichheit«? oder: Frisst die Covid-Krise ihre Kinder? 8 Ergebnis und Fazit 14 Ausblick, Konsequenzen und alternative Gegenmaßnahmen 15 Literatur 18 1
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128 E-Mail: fraktion@linksfraktion.de V.i.S.d.P.: Jan Korte Autoren: Michael Klundt, Norbert Müller Layout/Druck: Fraktionsservice Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden! Mehr Informationen zu unseren parlamentarischen Initiativen finden Sie unter: www.linksfraktion.de 200608 2
Vorwort Norbert Müller MDB, Sprecher für Kinder- und Jugendpolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Wie im Brennglas ließ sich in den vergangenen Wo- chen beobachten, welche gesellschaftliche Gruppe mit wieviel Macht ausgestattet ist. Denn im Ausnahmezu- stand regieren, noch mehr als sonst, die Interessen der Stärkeren. Das sind aus Kinderperspektive und auch ganz faktisch »die Erwachsenen«. Wie flächendeckend Kinderrechte zugunsten der Interessen Stärkerer zu- rücktreten mussten, zeigt Michael Klundt in dieser Stu- die eindrücklich. Dabei sollten Rechte ihre Träger*innen doch gerade in Krisen schützen und befähigen, egal ob Erwachsene oder Kinder. Oder wie der Autor es sagt: »Ein schönes Dach nutzt nur, wenn es auch bei Regen dicht ist und nicht nur bei Sonnenschein«. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen fanden und finden im Krisendiskurs kaum Beachtung. Sei es bei flächendeckenden Schließungen von Spielplätzen, der Schließung und Teilwiederöffnung der Schulen oder auch beim De-facto-Kontaktverbot von Heimkindern mit ihren leiblichen Eltern. Was vor der Krise mitunter Doch die Studie bilanziert nicht nur die kinderrechtliche abstrakt erschien, zeigt sich nun ganz offen: Kinder Tragödie der vergangenen Wochen, sondern gibt Politik sind nicht einfach kleine Erwachsene, sondern haben und Gesellschaft auch ganz konkrete Handlungsemp- individuell und auch als gesellschaftliche Gruppe eigene fehlungen. Armuts- und Pandemiebekämpfung müssen Bedürfnisse und Interessenlagen. Diese wurden und diesen zufolge Hand in Hand gehen. Kinder und Jugend- werden in der Krise sträflichst vernachlässigt. liche müssen dabei von Objekten und Risikofaktoren zu Protagonist*innen gemacht werden, ihre Meinung Und eine weitere Vor-Corona-Tendenz verstärkt sich: gehört und einbezogen werden. Als LINKE. im Bundes- Kinder aus armen Haushalten sind ungleich schwerer tag werden wir weiter genau dafür streiten! von der Krise betroffen. In kleiner Wohnung, mit nicht nur krisenbedingten Existenznöten und ohne die sonst wertvolle soziale Infrastruktur vergrößern sich Unter- schiede von Arm und Reich immens. 3
Einleitung Die UN-Kinderrechtskonvention gibt es nun schon seit über drei Jahrzehnten. Seit 1992 ist sie in der Bundes- republik ratifiziert und (mit Vorbehalten) als Bundesge- setz verankert. Seit zehn Jahren gilt sie in Deutschland vorbehaltlos. In ihr verpflichten sich die Vertragsstaaten bspw. in Artikel 3: »Bei allen Maßnahmen, die Kinder be- treffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwal- tungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.« (Art. 3, UN-Kinder- rechtskonvention; Bundesgesetz seit 1992; vorbehaltlos gültig seit 2010) Mehr als 13 Millionen Minderjährige und ihre Fami- lien waren bzw. sind deutschlandweit von Kita- und Schulschließungen und Kontakt- sowie Bewegungsein- schränkungen betroffen. Anlässlich des 28. Jubiläums Michael Klundt des Inkrafttretens der UN-Kinderrechtskonvention in Professor für Kinderpolitik Deutschland am 2. April 1992 erklärte die Leiterin der und Koordinator des Master-Studienganges Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deut- »Kinderwissenschaften und Kinderrechte« schen Instituts für Menschenrechte, Claudia Kittel am an der Hochschule Magdeburg-Stendal 5. April 2020: »Kinder und ihre Familien sind in beson- derem Maße von der aktuellen Corona-Pandemie sowie den damit verbundenen Einschränkungen betroffen. (…) ist absehbar, dass der UN-Kinderrechtsausschuss in Auch in Zeiten der Corona-Pandemie müssen Bund und seinen sog. Concluding Observations (Abschließen- Länder die Vorgaben aus der UN-Kinderrechtskonven- den Bemerkungen), die er voraussichtlich 2021 (nach tion vollumfänglich erfüllen: Die Schutz-, Fürsorge- und Zusammentreffen mit den Regierungs-Verantwortlichen Beteiligungsrechte gelten uneingeschränkt weiter.«1 Mit der BRD) formuliert, eine klare »Hausaufgaben-Liste« diesem Maßstab stellt sich für die vorliegende Studie für die Bundesrepublik Deutschland skizzieren wird. Bis auch die Frage, ob alle Entscheidungen und Maßnah- dahin sind Jugendverbände, Kinder, Jugendliche und men der Politik seit März/April 2020 völkerrechtsgemäß Kinderrechtsorganisationen auf sich alleine gestellt, und bundesgesetzmäßig unter vorrangiger Berück- um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in sichtigung des Kindeswohls vorgenommen wurden. Deutschland wieder lauter anzumahnen (vgl. Deutsches Sind in diesem Zusammenhang ausreichend Kinder Institut für Menschenrechte vom 29. Mai 2020). und Jugendliche beteiligt worden oder zumindest in Entscheidungsprozessen einbezogen oder wenigstens Der DIW-Wochenbericht Nr. 19 vom Mai 2020 zeigt auf angehört worden? Eine auch nur eingeschränkte Vernei- Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) nung einer dieser Fragen bedeutete eine völkerrechts- aus dem Jahr 2018, »dass in Deutschland in etwa sechs verstoßende und rechtsstaatswidrige Verletzung von Millionen Haushalten mindestens ein Kind lebt, das Kinderrechten in Deutschland. Hinsichtlich des 5. und nicht älter als zwölf Jahre und daher betreuungsbedürf- 6. Staatenberichts der Bundesregierung von 2019 über tig ist. Darunter sind etwa 900 000 Haushalte mit einem die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention müsste alleinerziehenden Elternteil, davon etwa 90 Prozent dann dringend nachgearbeitet werden. Frauen. In zwei Dritteln aller Paarhaushalte sind beide Elternteile erwerbstätig; bei Alleinerziehenden beträgt Der Nichtregierungs-Bericht zivilgesellschaftlicher Orga- die Erwerbsbeteiligung ebenfalls etwa 66 Prozent.« nisationen unter der Leitung der National Coalition und (DIW-Wochenbericht 19/2020, S. 334) Was mit ihnen und der zweite Kinderrechtereport aus Sicht von Kindern den Millionen älteren Kindern bzw. Jugendlichen (ca. 10 und Jugendlichen selbst von 2019 beobachteten bereits Millionen Schüler*innen; insgesamt etwa 13 Millionen einige Schwachstellen in Deutschland (z.B. bezüglich Minderjährige) während der Corona-Krise betrieben wur- Partizipation, Armut, Infrastruktur, Inklusion), die sich de, aber auch mit ihren Familien, soll in dieser Studie mit der Corona-Krise sichtbar verschärft haben.2 Es untersucht werden. Erste Primärdaten liegen dazu auf Basis von Studien und Vorauswertungen der Vereinten 1 Deutsches Institut für Menschenrechte (2020): Kinderrechte sind auch Nationen, einer Oxford-Studie, einer Forsa-Befragung, in Zeiten von Corona vollumfänglich gültig. Jahrestag UN-Kinderrechts- einem IW-Report, einem DIW-Wochenbericht, einer konvention, in: Pressemitteilung v. 5. April, Berlin. Vorauswertung der JuCo-Studie und Zwischenergebnis- 2 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2019): Fünfter und Sechster Staatenbericht der Bundesrepu- blik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention). Berlin; National Ergänzender Bericht an die Vereinten Nationen; National Coalition Coalition Deutschland (2019): Erweiterter Bericht der National Coalition Deutschland (2019) (Hg.): Der zweite Kinderrechtereport. Kinder und Deutschland, Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention: Jugendliche bewerten die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. 5./6. Deutschland 2019; Berlin. 4
sen diverser Untersuchungen und Stellungnahmen vor Umfeld zurückgegriffen werden darf. In der aktuellen (z.B. des UN-Ausschusses für die Rechte der Kinder, Coronalockdown-Exit-Debatte steht die Situation von des Kinderhilfswerks UNICEF, der Kinderkommission Familien im Hintergrund und es kommen die Bedürf- des Deutschen Bundestags, des Deutschen Kinder- nisse von Kindern und Jugendlichen fast gar nicht vor. schutzbundes, des Deutschen Kinderhilfswerkes, des Daher ist es wichtig, einen Fokus auf die Kinderpers- Deutschen Bundesjugendrings, des Deutschen Instituts pektive zu werfen. für Menschenrechte, der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), der Nationalen Armutskonfe- Interview-Abstract renz (NAK), dem Forum Familie, der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Diakonie, dem Verband allein erziehender Wie stellt sich der Lockdown inkl. Kontakt Mütter und Väter (VAMV), Save the Children e.V., Terre sperren und zurückgeworfen werden auf den des Hommes usw.). Diese wurden zur Anfertigung der familiären Haushalt aus Kinderperspektive dar? vorliegenden Studie herangezogen und ausgewertet. Nach einer Arbeitshypothese und einem Interview-Abs- Nach den bisherigen internationalen und nationalen tract folgen vier Kapitel. Zunächst ein kurzer Abschnitt Berichten und Untersuchungen lässt sich feststellen, über globale Zusammenhänge unter der Überschrift: dass Kinder im Allgemeinen ganz besonders unter den »Corona(-Maßnahmen) weltweit als (Kinder-)Armuts-Ka- Einschränkungen durch Kontaktsperren, Bildungs- talysator?« Dann eine Untersuchung der Fragen: »›Coro- exklusionen sowie Spiel- und Sportplatzverbote zu na kills Chancengleichheit‹? oder: Frisst die Covid-Krise leiden haben bzw. hatten. Sie wurden überwiegend ihre Kinder?«, welche sich v.a. auf Deutschland bezieht. zuhause eingesperrt und konnten ihre Freundinnen und Schließlich werden das »Ergebnis und Fazit« sowie an- Freunde sowie Verwandte plötzlich nicht mehr treffen. schließend ein »Ausblick, Konsequenzen und alternative Außerdem waren ihnen alle Bildungs-, Betreuungs-, Gegenmaßnahmen« vorgestellt. und Betätigungs-Einrichtungen versperrt, sodass sie auch ihre Sorgen nicht mehr z.B. Fachkräften mittei- Arbeitshypothese len konnten. Die Tatsache, dass sie dabei überhaupt nicht gefragt und weitgehend instrumentell behandelt Kinder und Jugendliche sind von der Krise besonders be- wurden, gestaltet(e) ihre eingeschlossene und prekäre troffen. Aber sie werden derzeit vor allem als schützens- Situation noch schwieriger. Dennoch macht es einen werte Objekte insbesondere vor ihren Eltern im Rahmen Unterschied, ob die Kinder wohlhabender Eltern mit des Kinderschutzes betrachtet. Familien, Kinder und großen Häusern, Gärten und anderen Kompensations- Jugendliche werden zusehends kritisch beäugt. Abseits leistungen gesegnet sind oder in einer viel zu kleinen vom Kinderschutz dreht sich der Diskurs vor allem um Großstadtwohnung mit viel zu wenig Bewegungsraum, Schulabschlussprüfungen, trotz Schulschließungen. Eine reduzierten Versorgungsmöglichkeiten, enormen Wiederaufnahme des (Regel-)Kitabetriebes scheint in existenziellen Sorgen und mangelhafter Hardwareaus- weite Ferne gerutscht zu sein. In diesem Kontext droht stattung zurechtkommen müssen. Kurz gesagt: Durch die soziale Spaltung der Gesellschafft zuzunehmen. Corona und die Maßnahmen dagegen konnten die Privilegierten ihren Vorsprung z.B. an Partizipation und Jegliche Rechte von Kindern nach der UN-Kinderrechts- Bildungschancen noch ausbauen. Sie blieben während konvention auf Beteiligung, Förderung und Schutz, die und nach der Corona-Krise bevorteilt und werden noch über den Kinderschutz hinausgehen, werden derzeit privilegierter, die Benachteiligten dagegen bleiben weitgehend negiert. Die öffentliche Infrastruktur auch durch Bildungsexklusion und »Homeschooling« über- für Kinder und Jugendliche sowie die Einrichtungen der wiegend weiterhin unterprivilegiert und werden – auch Kinder- und Jugendhilfe sind von März bis Mai 2020 von mangels finanzieller Mittel, z.B. für Hardware, Schreib- wenigen digitalen Angeboten oder telefonischen Kon- tisch, eigenes Zimmer, fehlender Nachhilfe – noch taktmöglichkeiten abgesehen nicht verfügbar (gewe- stärker benachteiligt. sen). Geschlossene Spielplätze standen symbolisch für versperrte Zugänge sowie den Ausschluss von gesell- Droht mit der Corona-Krise ein gesellschaftli schaftlicher Teilhabe. Dahinter standen unter anderem cher Rückschritt, entwickelt sich Deutschland geschlossene Kinder- und Jugendclubs, Skateanlagen, mit der Corona-Krise gar zu einem kinderfeind Tischtennis- und Bolzplätze, Tierparks, öffentliche Bade- lichen Land? stellen, Bibliotheken etc. Wenn über 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit ge- Der für Kinder und Jugendliche wichtige persönliche schickt werden, wenn damit durch wegfallendes Kontakt mit Gleichaltrigen ist altersabhängig de facto Erwerbseinkommen tendenziell Armutslagen, soziale stark reduziert bzw. unmöglich (gemacht worden). Polarisierung und durch Corona(-Maßnahmen) noch Private Treffen außerhalb von Haushaltsmitgliedern sind verstärkte Bildungsungleichheiten zunehmen, wenn die weitestgehend untersagt worden. Damit waren und in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der sind Kinder und Jugendliche häufig härter von der Krise Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und betroffen als ihre Eltern. Familien werden in der Krise die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitstei- auf sich selbst zurückgeworfen und es wird von ihnen lung begünstigen, so sind dies eindeutige Hinweise auf erwartet, dass sie unter schwierigen Bedingungen die einen gesellschaftlichen Rückschritt (sogar im Vergleich Krise meistern ohne dass gesellschaftliche Unterstüt- zum wahrlich nicht idyllischen Zustand vor der Krise), zungsmöglichkeiten verfügbar sind oder auf ein soziales der schwerlich aufzuhalten sein wird. 5
Gleichwohl waren und sind während der Corona-Krise ten Ansteckungswelle (vielleicht ab Herbst 2020) eine auch gesellschaftliche Solidarpotenziale und anti- ähnlich missachtende Vorgehensweise, wenn nicht end- neoliberale Tendenzen zu erkennen. Wenn es um ver- lich kritisch aufgearbeitet wird, wie bislang mit Kindern schiedenste Hilfsaktionen für bedürftige Mitmenschen und Jugendlichen umgegangen wurde. Somit müssen ging, waren übrigens stets auch Kinder, Jugendliche die Interessen von Kindern und die Kinderrechte in der und junge Erwachsene beteiligt. Und natürlich haben Pandemie deutlicher gestärkt werden. auch einige Menschen zur Kenntnis genommen, wer in unserer Gesellschaft wirklich wichtige Arbeit ausübt Entscheidend werden die Kräfteverhältnisse zwischen (bei meist äußerst schäbigen Bedingungen),3 wer von gemeinwohlorientierten Solidarinteressen und gewinn den Politikern noch kurz vor der Krise Krankenhäuser orientierten Partikularinteressen nach der Krise sein. privatisieren und schließen wollte sowie überhaupt Bitter ist es zu beobachten, wie seit Jahren die Kinder- Sozialausgaben z.B. zugunsten von Rüstung und Militär rechte und die Kinderrechtskonvention der Vereinten kürzen wollte; wer dann von NRW bis Bayern die »Coro- Nationen von politischer Seite gefeiert wurden, aber na-Pandemie« mit Biergärten, Fastnacht und Karneval zwischen Mitte März und Anfang Mai 2020 selbst die katastrophal verschlafen hatte und sich dann als großer minimalsten kinderrechtlichen Grundlagen, wie der Krisen-Manager inszenierte. Es wäre zu hoffen, dass die Kindeswohlvorrang, das Diskriminierungsverbot, das Bevölkerung diesbezüglich nicht allzu vergesslich ist. Recht auf Entwicklung und Spiel sowie das Recht auf Beteiligung beinahe vollständig abgeräumt wurden, Dennoch ist zu befürchten, dass die Starken noch ohne die geringsten Versuche, Kinder, Jugendliche stärker werden und sich Tendenzen entwickeln, wonach und Jugendverbände auch nur annähernd in Entschei- von den Krisenfolgen besonders Betroffene Sünden- dungsprozesse auf Bundes-, Landes- und kommunaler böcke für ihren (drohenden) gesellschaftlichen Abstieg Ebene einzubinden. Selbst die banalsten Formen der suchen. Auch das kann einen Rechtsrutsch und damit Anhörung Jugendlicher, wie sie bei Spiel- und Sport- anti-solidarische Rückschritte bewirken, die das Auf- plätzen, Bildungs-, Betreuungs- und anderen Jugendein- wachsen von Kindern und Jugendlichen nicht unerheb- richtungen mithelfen könnten, die Viren-Verbreitung zu lich beeinträchtigen könnten, da sozialdarwinistische bekämpfen und zugleich solidarische Potenziale in der Deutungs- und Handlungsmuster überhand nähmen. Gesellschaft zu stärken, wurden überwiegend sträflich vernachlässigt. Ob das nach dem Lockdown ohne wei- Beobachten lassen sich bereits Phänomene ge- teres wieder hochgefahren werden kann, ist fraglich. schlechtlicher Re-Traditionalisierung in verschiedensten Wie die allzu selektive Öffnung von Schulen, Kitas und Ländern4 sowie Mechanismen der Re-Privatisierung Offener Jugendarbeit aufzeigt, laufen viele Maßnahmen gesellschaftlicher und familiärer Aufgaben: Familien auch weiterhin auf Aussperrung und Entrechtung vieler (d.h. allzu oft nur: Frauen/Mütter; vgl. DIW-Wochenbe- Millionen Kinder hinaus, was ebenfalls als Rückschritt richt 19/2020, S. 331ff.) sollen alles machen und werden im Verhältnis zur ganz und gar nicht beschönigenswer- gleichzeitig in manchem Kinderschutz-Diskurs fast ten Vor-Corona-Zeit betrachtet werden muss. Zumal nur als »Risiko« und viel seltener als ungerechterweise sich viele kinderrechtliche Versprechen der letzten drei benachteiligte Gruppe mit zu fördernden »Ressourcen« Jahrzehnte innerhalb kürzester Zeit als offensichtlich dargestellt, mit der bzw. mit denen bei allen Gefähr- gehaltlos entpuppt hatten, wie auch das Deutsche dungen und Maßnahmen doch gearbeitet werden muss Kinderhilfswerk in seiner Stellungnahme von Anfang (vgl. Giffey-Brief v. 29.4.2020). Re-Traditionalisierung Mai 2020 befürchtet. So zeigt sich doch der Wert von bedeutet, dass die Verantwortung für Kinder vor allem Rechten gerade dann, wenn es darauf ankommt, z.B. in Zuhause und an ihre Mütter sprich Frauen delegiert einer Krise. Oder symbolisch gesagt: Ein schönes Dach wird. Damit entsteht für Kinder bzw. Kindheiten wieder nutzt nur, wenn es auch bei Regen dicht ist und nicht eine extreme Abhängigkeit von den häuslichen Ressour- nur bei Sonnenschein. So ist das offenbar auch mit den cen. Bislang ist dazu keine Umkehr in Sicht, auch wenn Kinderrechten. Dazu reicht es nicht, Kinderrechte bloß nach und nach Einrichtungen wieder öffnen. Insofern als Rechte auf (sicherlich begründeten) Schutz vor der ist zu fragen, ob jetzt auf Kinderschutz zu setzen, ohne Pandemie zu reduzieren, da ihre instrumentelle und (ausreichend) »präventive« bzw. »unterstützende« An- vollständig beteiligungsfreie Behandlung während der gebote (z.B. der offenen Jugendarbeit) zu fördern, nicht Corona-Krise vielmehr monatelang darauf hinauslief, ein Rückfall in Richtung »Fürsorge« und totale Objekti- Kinderrechte buchstäblich als Schutz vor Kindern (allein vierung von Kindern, Kindheiten und Familien bedeuten als Viren-Verbreiter!) zu begreifen. Oder, wie es die könnte. Zumindest werden bestehende Rechtsansprü- Leiterin der Monitoring Stelle zur UN-Kinderrechtskon- che von Kindern gegenüber der Gesellschaft vor allem vention beim Deutschen Institut für Menschenrechte, auf Fürsorge und Kinderschutz reduziert und ein Ende Claudia Kittel in der Presseerklärung zum internationa- ist nicht wirklich absehbar, eine Normalisierung nach len Kindertag formuliert: »Das Recht auf Gesundheit, der Pandemie wird nicht per Knopfdruck möglich sein. gemäß der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, Somit kann hier ohne Gegensteuerung leider nur ein ist ein ganzheitliches Konzept. Es definiert Gesundheit Rückschritt diagnostiziert bzw. prognostiziert werden. nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und schließt Leider droht deshalb bei einer zu befürchtenden nächs- auch andere für Kinder relevante Aspekte mit ein. Dazu zählen unter anderem auch Spiel und Freizeit sowie 3 Vgl. Alicia Lindhoff (2020): Migrantische Arbeitskräfte. Systemrelevant Kontakte zu anderen Kindern. Dieser ganzheitliche An- und unsichtbar: Corona-Krise zeigt die Doppelmoral gegenüber Migran- satz darf bei den aktuellen Diskussionen um den Schutz tinnen und Migranten, in: Frankfurter Rundschau v. 6.5.2020 4 Vgl. Höland 2020 sowie Charrel 2020. 6
der Gesundheit von Kindern nicht übersehen werden.«5 Kitas und Schulen kommen im Konjunktur-Programm Wenn jedoch selbst noch zum Weltspieltag (für Kinder!) des Bundeskabinetts leider viel »zu kurz«, wie C. Katha- am 28. Mai 2020 und zum Welt-Kindertag am 1. Juni 2020 rina Spieß vom DIW über den »Schaden einer ganzen die meisten öffentlichen Spiel-Einrichtungen für Kinder Generation« schreibt (siehe Frankfurter Rundschau v. geschlossen blieben, während Biergärten, Baumärkte 6./7.6.2020). und Bundesliga bereits wochenlang (für Erwachsene) geöffnet waren, stimmt etwas nicht. Zum Zweiten wären Partizipation von jungen Menschen und Kinderrechte wieder ernst zu nehmen zumindest Ob also die regierungsamtliche Kinderrechte-Politik der schon mal Schritte in die richtige Richtung. Viele Kinder letzten dreißig Jahre sich somit nur als Symbolpolitik und Jugendliche haben sich während der Corona-Krise erwiesen hat und was angesichts dessen z.B. der Ge- ungefragt solidarisch für ihre Verwandten und andere setzentwurf der Bundesjustizministerin für die Einfüh- Mitmenschen engagiert. Das medial vermittelte allei- rung von Kinderrechten ins Grundgesetz (noch) wert ist, nige Image von verantwortungslosen Jugendlichen auf lässt sich schwerlich abschätzen. sog. Corona-Partys ist eine von Ressentiments geleitete Verleumdung der Jugendlichen und eine Verzerrung der Wie könnte einem gesellschaftlichen Rück Realität. Anerkennung und gleichberechtigte Anspra- schritt oder gar einer Entwicklung zu einem che, wie die Verhältnisse innerhalb und außerhalb kinderfeindlichen Land entgegengesteuert von Kitas, Schulen und anderen (häufig ignorierten) werden? Welche Maßnahmen wären für die un Bildungseinrichtungen (z.B. der offenen Jugend- und Ju- mittelbare Krisenzeit denkbar, welche nach der gendverbandsarbeit) pandemie-gemäß gestaltet werden Krise notwendig? sollten, wären wichtig. Drei zentrale Forderungen sind während und nach der Zum Dritten gehören hierzu selbstverständlich die Krise unentbehrlich. Als erstes Maßnahmen gegen sozialen Strukturen insbesondere der wohnortnahen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Kinder- und Jugendhilfe und vor allem der präventiven Familien: Zweitens müssen die kinderrechtlichen und partizipativen offenen Kinder- und Jugendarbeit und Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Jugendverbandsarbeit. Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufge- Man könnte das gleichsam einen neuen (generationen-) baut bzw. umgesetzt werden. Damit verbunden wären solidarischen Gesellschaftsvertrag nennen, der oben- drittens Maßnahmen für einen (pandemiegerechten) drein die jugendlichen »Vorleistungen« und »Vertrau- Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld v.a. ensvorschüsse« während der Einschließungen berück- mittels Jugendhilfe und offener Arbeit. sichtigt (vgl. Allmendinger 2020). Ebenfalls aus diesem Grund wäre ein sog. Kindergipfel im Bundeskanzler Als Maßnahmen gegen Armut sind zum Ersten innenamt nicht nur symbolisch von wertschätzender schnellstmögliche Kompensationen der entgangenen Bedeutung, sofern Kinder, Jugendliche, Kinderrechtsor- kostenlosen Mittagessen für die ca. drei Millionen ganisationen und Jugendverbände daran auch beteiligt Kinder im Berechtigtenkreis des sog. Bildungs- und werden. Davon abgesehen sind selbstverständlich Teilhabepaketes notwendig. Demgegenüber erweisen zudem weiterhin unmittelbare Aktionen der Solidarität sich die bisherigen Lieferservice-Ideen der Bundesre- enorm wichtig, während auf der Makro-Ebene politisch gierung als weitgehend unrealistisch, unpraktisch und deutlich werden müsste, dass besonders Wohlhabende überbürokratisch (vgl. DKSB 2020). Genauso schnelle und die Krisen-Profiteure vor allem zur Finanzierung der und unbürokratische Corona-Zusatzhilfen v.a. für arme Krisen-Folgen herangezogen werden und nicht zuerst und armutsgefährdete Familien sowie ein sog. Corona- die Krisen-Opfer, wie es sich in manchen wirtschaftsna- Elterngeld wären dringend notwendig (vgl. Stellungnah- hen Spar-Diskursen bereits andeutet. So zeichnet sich me des DKSB v. 5.5.2020, Butterwegge 2020 etc.). Dass ab, dass die Haushalte sowohl im Bund wie auch in Län- sich die Bundesregierung hierfür Monate lang nicht be- dern und Kommunen unter enormen Einnahmeausfällen wegen ließ, ist angesichts der ansonsten mobilisierten leiden und damit generell weniger Haushaltsmittel zur Milliarden Euro für große Konzerne äußerst skandalös. Verfügung stehen (so beabsichtigt das Konjunkturpaket Insofern ist der von der Koalition Anfang Juni 2020 in ih- der Bundesregierung keine Übernahme kommunaler rem Konjunkturpaket beschlossene und nicht auf Hartz Altschulden; vgl. Frankfurter Rundschau v. 6./7.6.2020). IV angerechnete, einmalige Kinderbonus von 300 Euro Damit geraten auch die kommunalen Angebote unter zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch Druck, auf die Kinder und Jugendliche besonders an- wird er (für alle Familien gleich) nicht wirklich zielgenau gewiesen sind. Einschnitte an dieser Angebotsstruktur vergeben, denn die einen sind nicht wirklich auf ihn an- müssen unterbunden werden. Im Bereich des Sozialen gewiesen und für die anderen reicht er angesichts der und der öffentlichen Infrastruktur darf somit nicht gestiegenen Lebenshaltungskosten vorne und hinten gespart bzw. gekürzt werden. nicht aus, um damit die kindbezogenen Kriseneinbußen auch nur annähernd auszugleichen. Auch Jugendhilfe, 5 Deutsches Institut für Menschenrechte: Corona-Pandemie/Kinder müssen bei der Entwicklung staatlicher Maßnahmen gehört werden/ Internationaler Kindertag am 1. Juni 2020, in: Pressemitteilung v. 29.05.2020, Berlin. 7
Corona(-Maßnahmen) weltweit als (Kinder-) Der Kampf gegen Malaria wurde in vielen betroffenen Armuts-Katalysator? Ländern eingestellt oder gebremst. Dass diese Entwick- lungen durch militärische Konfrontationen und Konflikte, »Alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch nationalistische Wirtschaftskriege sowie vor allem hatten die Belange von Kindern und Jugendlichen viel US-geführte Sanktionsregime und Handels-Boykott-Sys- zu wenig im Blick.« (Sigrid Peter, Vizepräsidentin des teme gegen missliebige Staaten noch verschärft wer- Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), in: den, scheint inzwischen auch außer Zweifel zu sein. Der Frankfurter Rundschau v. 13.5.2020) UN-Generalsekretär Guterres hat deshalb mehrmals zu Waffenstillständen und der Beendigung von Wirtschafts- Bereits vor der Corona-Krise waren zum Beispiel in den Sanktionen in der Corona-Krise aufgerufen, da deren USA über 37 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Folgen vor allem der Zivilbevölkerung und deren sozialer Allein in der Stadt New York wurden über 100.000 und gesundheitlicher Versorgung schaden. Hauptopfer obdachlose Kinder gezählt.6 Laut Angaben des Berliner davon sind immer wieder und immer mehr Kinder. »Tagesspiegel” werden es seitdem immer mehr, sodass in der Corona-Krise sogenannte Food Banks zig-Millio- Derweil erwartet das Welternährungsprogramm, dass nen Bedürftige mit Nahrungsmitteln versorgen müssen, sich »die Zahl der extrem Hungernden dieses Jahr von um sie im reichsten Land der Erde vor dem Verhungern 135 auf 265 Millionen verdoppeln wird. Die Weltbank zu bewahren.7 schätzt, dass 40 bis 60 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut gestoßen werden. Es werden also In einer Kurzinformation der Vereinten Nationen von sehr viel mehr Menschen an den indirekten Folgen Mitte April 2020 wurde bereits befürchtet, dass Kinder von Corona sterben als an den direkten Folgen der zwar nicht das »Gesicht« der Corona«-Pandemie seien, Krankheit«, wie die Präsidentin von »Brot für die aber womöglich zu deren größten Opfern zählten.8 Welt- Welt«, Cornelia Füllkrug-Weitzel am 9./10. Mai 2020 in weit wurden demnach in den Monaten Mitte März bis der Frankfurter Rundschau schreibt. Verschiedenste Mai 2020 über 1,5 Milliarden schulpflichtige Kinder und Entwicklungshilfe-Organisationen kommen zu ähnlichen Jugendliche von Schulen und Bildungseinrichtungen Ergebnissen und prognostizieren, dass die Corona-Krise ausgesperrt.9 arme und benachteiligte Kinder weltweit besonders hart trifft und ihre Zukunft gefährdet.13 Derweil gehen Laut der Hilfsorganisation »SOS-Kinderdorf« »gibt es Analysen von Save the Children und UNICEF Ende Mai für Menschen in den Armenvierteln (des südlichen 2020 davon aus, dass die »Zahl der Kinder in von Armut Afrikas) de facto nur die Option, am Coronavirus oder betroffenen Haushalten weltweit in Folge der Covid- am Hunger zu sterben. Denn in den Ländern südlich 19-Pandemie bis Ende 2020 um 86 Millionen Kinder an- der Sahara leben mit 413 Millionen Menschen mehr als steigen. Dies entspricht einem Anstieg von 15 Prozent. die Hälfte der extrem Armen weltweit – davon sind 60 Wenn Familien nicht schnell vor den wirtschaftlichen Millionen unterernährt. Sogar 565 Millionen Menschen Risiken geschützt werden, würde dies bedeuten, dass verfügen über keinen Zugang zu sanitären Einrich- in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen tungen, 330 Millionen fehlt die Möglichkeit, sauberes bis Jahresende insgesamt 672 Millionen Kinder unter Wasser zu nutzen.«10 Laut UNICEF gibt es in 39 Prozent der nationalen Armutsgrenze leben.« Die Analyse aller Haushalte in Afrika gar keine sanitären Anlagen zur von UNICEF und Save the Children geht ferner davon Hand- und Körperreinigung (UNICEF v. 13.4.2020). aus, dass rund zwei Drittel der betroffenen Kinder in Subsahara-Afrika und Südasien leben. »Von einem An- Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, die Verein- stieg der Kinderarmut könnten Europa und Zentralasien ten Nationen, das Welternährungsprogramm WFP und am stärksten betroffen sein – mit bis zu 44 Prozent. In das Kinderhilfswerk UNICEF verweisen indessen seit Lateinamerika und der Karibik liegt der Anstieg voraus- April 2020 darauf, dass weltweit etwa 370 Millionen sichtlich bei 22 Prozent.«14 Kinder durch die Schließungen und Kontaktsperren auch keine Schulspeisungen mehr erhalten.11 Zugleich »Corona kills Chancengleichheit«? sind lebensrettende Impfkampagnen gegen Masern und oder: Frisst die Covid-Krise ihre Kinder? Kinderlähmung für 117 Millionen Kinder – unter anderem in Afghanistan und Pakistan – vorerst gestoppt worden.12 »Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind die Grundrechte so flächendeckend, so umfassend und so radikal eingeschränkt worden – aber Kritik oder Pro- 6 Vgl. Stefanie Dodt: Metropole der Ungleichheit. Mehr als 100.000 test vernimmt man kaum.« (Heribert Prantl: Wie lange Schulkinder in New York sind obdachlos, in: Deutschlandfunk v. 2.3.2019 noch, in: Süddeutsche Zeitung v. 5.4.2020; https:// 7 Vgl. Juliane Schäuble (2020): Coronakrise verschärft die Armut. Milli- www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-corona- onen hungern in den USA – Food Banks müssen Lebensmittel verteilen, virus-grundrechte-1.4868817-0#seite-2 in: Tagesspiegel.de v. 11.5.2020 8 Vgl. United Nations (2020): Policy Brief: The Impact of COVID-19 on children, 15.April 2020, New York; S. 2f. 9 Vgl. ebd., S. 7 DERN, in: Pressemitteilung v. 5.5.2020, Berlin/Köln 10 Vgl. SOS-Kinderdörfer Weltweit: Corona-Maßnahmen in Afrika. »Wer 13 Vgl. Child Fund Deutschland/Plan International/Save the Children/ zuhause bleibt, verhungert!«, in: Pressemitteilung v. 5.4.2020 SOS-Kinderdörfer weltweit/terre des hommes/World Vision 2020 11 Vgl. UNICEF: COVID-19: 370 MILLIONEN KINDER HABEN KEINE 14 Vgl. UNICEF/Save the Children (2020): COVID-19: BIS ZU 86 MILLI- SCHULSPEISUNGEN MEHR, in: Pressemitteilung v. 29.4.2020, Rom/ ONEN KINDER ZUSÄTZLICH KÖNNTEN IN FOLGE DER PANDEMIE BIS New York/Köln JAHRESENDE IN ARMUT ABRUTSCHEN, Pressemitteilung v. 28.5.2020 12 Vgl. UNICEF: EINE GLOBALE KATASTROPHE FÜR KINDER VERHIN- (Köln/Berlin). 8
Im DIW-Wochenbericht 19/2020 v. Mai 2020 heißt es Schon vor der sog. Corona-Krise gab es Armut in einführend: »Mitte März 2020 wurden wie in den meis- Deutschland und besonders Kinderarmut. Schon vor ten europäischen Ländern auch in Deutschland alle dem Frühjahr 2020 ließ sich die soziale Benachteiligung Kindertagesstätten (Kitas) und Schulen geschlossen, von über vier Millionen Minderjährigen als eine politisch um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. mit zu verantwortende, strukturelle Kindeswohlgefähr- Seit knapp zwei Monaten sind dadurch etwa 8,8 Milli- dung und Kinderrechteverletzung diagnostizieren.17 onen betreuungsbedürftige Kinder, die eigentlich eine Verschiedene Ergebnisse über zentrale Einflussfaktoren Kindertageseinrichtung oder Schule besuchen, zu Hau- und Folgen von Kinderarmut für die soziale Teilhabe ha- se. Dadurch werden diese Kinder nicht nur im Alltag, ben Silke Tophoven et al. vom Institut für Arbeitsmarkt- sondern auch in ihrer sozialen Entwicklung und ihren und Berufsforschung (IAB) in ihrer Studie »Aufwachsen Bildungschancen beeinträchtigt.« (ebd., S. 332). Dabei in Armutslagen« (2018) im Auftrag der Bertelsmann sind die mehr als vier Millionen Jugendlichen zwischen Stiftung vorgelegt. Den Autor(inn)en zufolge führen 12 und 18 Jahren noch nicht einmal mitgerechnet. Armutserfahrungen in der Kindheit dazu, »dass sich die Betroffenen weniger zugehörig zur Gesellschaft Ein Forschungsverbund zwischen den Universitäten fühlen: Je schlechter die Einkommenslage des Haus- Frankfurt. a. M., Hildesheim und Bielefeld (Prof. Sabine halts, desto geringer ist das Zugehörigkeitsgefühl und Andresen/Prof. Wolfgang Schröer u.a.) hat während die selbst eingeschätzte gesellschaftliche Positionie- der Corona-Krise tausende von Eltern und ihre unter rung der Jugendlichen.«18 Hinsichtlich der Folgen von 15jährigen Kinder sowie Jugendliche und junge Erwach- Armutserfahrungen für das Wohlbefinden ermitteln die sene zwischen 15 und 30 Jahren nach ihren Erfahrungen Forscher*innen, dass Jugendliche und junge Erwachse- und Perspektiven in der Corona-Zeit befragt. Der Vor- ne mit dauerhaften Armutserfahrungen im Durchschnitt auswertung ihrer Studie mit Jugendlichen und jungen angeben, weniger zufrieden mit ihrem Leben und mit Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren zufolge ist eine ihrem Lebensstandard zu sein als dauerhaft in einer zentrale Wahrnehmung der über 5000 Befragten das gesicherten Einkommenslage aufwachsende Menschen. Gefühl, in dieser Gesellschaft und in dieser Corona- »Insbesondere die Haushaltskonstellation sowie die Krise nicht gefragt (worden) zu sein. »Jugendliche und Erwerbssituation der Eltern haben großen Einfluss junge Erwachsene haben nicht den Eindruck, dass ihre darauf, ob ein Kind Armutserfahrungen macht bzw. wie Interessen in der derzeitigen Krise zählen. Sie nehmen lange diese Erfahrungen vorhalten. Gerade dauerhafte nicht wahr, dass ihre Sorgen gehört werden und sie Armutserfahrungen haben weitreichende Folgen für das in die Gestaltungsprozesse eingebunden werden.«15 Aufwachsen und die Teilhabechancen von Kindern. Sie Zudem haben sie das Gefühl, nur funktionieren zu müs- erleben materielle Unterversorgung und nehmen selte- sen und dabei auch nur auf eine Rolle (z.B. Schüler/in, ner an Freizeitaktivitäten und organisierten Gruppen teil Homeschooling) reduziert zu werden, während fast alle als junge Menschen in einkommenssicheren Familien. anderen außerschulischen Lebensbereiche jugendlicher Dies alles führt zu einem geringeren Wohlbefinden und Erfahrung völlig ausgeblendet wurden. »Jugendliche weniger Lebenszufriedenheit. Auch die Einschätzung und junge Erwachsene werden bei den Diskussionen ihrer eigenen Position in der Gesellschaft leidet dar- rund um die Corona-Pandemie und die damit verbun- unter.« 19 Alle bislang zur Verfügung stehenden (Vor-) denen Maßnahmen auf ihre Rolle als Schüler*innen Untersuchungen und Studien verweisen darauf, dass (bzw. Auszubildende oder Studierende) reduziert – die sich diese Effekte mit der Corona-Krise weiter verstärkt funktionieren sollen. Zudem stehen vor allem nur die haben. Jahrgänge im Fokus, die kurz vor einem Schulabschluss stehen, insbesondere sich in den Abiturprüfungen Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten schon 2016 die befinden. (…) Wer immer wieder aus dem Blick gerät, Sozialforscherinnen Claudia Laubstein, Gerda Holz sind junge Menschen, die an Förderschulen sind und/ und Nadine Seddig in der Bertelsmann-Studie über oder eine Beeinträchtigung haben. Für diese jungen Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, wonach die Menschen kann das Homeschooling derzeit in dieser Lebensqualität und die Zukunftschancen von Kindern Form gar nicht stattfinden, da es beim normalen Schul- durch das Aufwachsen in Armut massiv beeinflusst besuch schon schwierig ist und sie der Unterstützung werden. Überproportional oft wohnen sie unter beeng- bedürfen. Dies wird in der öffentlichen Diskussion nicht ten Verhältnissen und somit meist ohne einen ruhigen berücksichtigt, wie diese jungen Menschen wieder in Platz für die Erledigung von Hausaufgaben.20 Obgleich Schule und Ausbildung zurückgeführt werden können die Einschränkungen aufgrund von elterlichem Sparen und wollen.«16 Insgesamt verweisen viele Lehrer*innen nicht an erster Stelle stünden, seien doch immerhin ein darauf, dass sie seit den Schulschließungen mit einer Viertel der armen jungen Menschen von Schmälerun- beträchtlichen Zahl von Schulkindern überhaupt keinen gen beim Essen betroffen,21 sie könnten also teilweise Kontakt mehr hatten resp. haben, also Kinder buch- oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig stäblich unerreichbar geworden sind (vgl. Frankfurter gesunde Ernährung erhalten. Während der permanente Rundschau v. 6.5.2020). Mangel das Familienklima verschlechtere, seien auch 17 Vgl. Michael Klundt (2017): In reicher Gesellschaft: Politisch verant- wortete Kindeswohlgefährdung, in: Sozial extra 4/2017, S. 22ff. 15 Vgl. Sabine Andresen u.a. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von 18 Tophoven et al. 2018, S. 19 jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse 19 Ebd. S. 20 der bundesweiten Studie JuCo, Hildesheim, S. 16. 20 Vgl. Laubstein/Holz/Seddig 2016, S. 13 ff. 16 Ebenda 21 Vgl. ebd., S. 46 9
die sozialen Netzwerke kleiner, da die Kinder überdies meinschaft vollsanktioniert wurde (vgl. Tagesspiegel.de weniger Freizeitangebote – seien es Musikschulen oder v. 21.11.2019). Damit gehörten für diese Jugendlichen und Fußballvereine – wahrnehmen könnten. Nicht zuletzt Familien mit Kindern tatsächlich Probleme absoluter aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickel- Armut – die Sorge um ein Dach über dem Kopf oder ten viele arme Kinder daher ein geringeres Selbstwert- um Licht und Wärme in der Wohnung, Hunger, Man- gefühl und starteten mit ungünstigeren Voraussetzun- gel an Kleidung und medizinischer Versorgung – zum gen in die Schule, wo sie selbst bei gleichen Leistungen täglichen existenziellen Überlebenskampf. Dennoch dann auch noch oft schlechter bewertet würden als werden sie allzu oft ignoriert. Ihre Situation hatte sich Kinder aus wohlhabenden Schichten.22 durch die Corona-Krise und die Hamsterkäufer sogar noch verschlimmert. Tafeln schlossen auch mangels Somit lässt sich festhalten, dass ständige Erfahrungen (preiswerter) Waren, fehlenden Ehrenamtlichen u.a. von Mangel und Verzicht vor, während und nach Corona und kaum jemand konnte auf der Straße angebettelt mit dazu beitragen, dass sich junge Menschen, die in werden, aufgrund der Kontaktsperren und Einschrän- ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, kungen. Besonders schwer haben es Obdach- und weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft Wohnungslose (in Not- bzw. Gemeinschaftsunterkünf- fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die ten), Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II Leistun- Suchtkranke, Flüchtlinge und Migrant(inn)en ohne gen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an gesicherten Aufenthaltsstatus, Prostituierte, Erwerbs- organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser lose und Geringverdienende (»Hartz-IV«-Beziehende), gestellte Gleichaltrige, sehen Annette Stein und Jörg Kleinstrentner*innen (Bezieher*innen der Grund Dräger von der Bertelsmann-Stiftung die Gefahr, dass sicherung im Alter) und Studierende, deren Nebenjob sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene weggefallen ist.26 In einem der reichsten Länder der aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft Erde sind darüber hinaus auch relative Entbehrungen, abkoppeln – mit weitreichenden Folgen. »So hängt Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis unter anderem auch die politische Beteiligung mit dem zum allgemeinen gesellschaftlichen Lebensstandard als sozialen Status zusammen: je niedriger der sozioöko- armutsrelevant anzusehen, wie die aktuellen Home- nomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteili- schooling-Debatten um die angebliche Selbstverständ- gung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisie- lichkeit von ausreichender Hardware-Ausrüstung bei rung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein.«23 jedem Schulkind zeigen.27 Es sei daran erinnert, dass die beklagte »zunehmende Polarisierung« gerade von der Bertelsmann-Stiftung seit Wichtig ist jedoch ganz grundsätzlich, dass Armuts Jahrzehnten mit einflussreichen Konzepten zur Privati- anlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, sierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberali- Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit nicht sierung aller gesellschaftlicher Bereiche und besonders mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen von Bildung und Sozialstaat maßgeblich mit vorange- Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt werden. trieben worden ist.24 Dazu zählten auch noch ein halbes Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik Jahr vor Beginn der Corona-Krise Vorschläge, die Hälfte und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarkt- aller Krankenhäuser bzw. Krankenhausbetten einzu- politik kann auch für Kinder von arbeitslosen, alleiner- sparen (vgl. ZEIT v. 15.7.2019), womit im Frühjahr 2020 in ziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Deutschland sicherlich ähnliche Verhältnisse erreicht Leben ermöglichen. Mit Abstrichen könnte dies selbst worden wären wie in Nord-Italien oder in New York. für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger zur Ursache als zum Anlass von verschärften Verarmungs- Die bislang erhältlichen, spärlichen empirischen prozessen landes- und weltweit geraten ist und die Studien zur Kinderarmut während der Corona-Krise darunter liegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- zeigen, dass sich diese soziale Polarisierung nicht etwa und gesundheits-systemischen Ursachen zu überstrah- reduziert hat, sondern vielmehr noch deutlicher als vor- len droht. Genauso problematisch wie die einseitige her hervorscheint (vgl. Geis-Thöne 2020, in: IW-Report Kennzeichnung von Kindern als »Armutsrisiko« oder 15/2020, S. 2). Auch darf nicht vergessen werden, wie gar »Armutsursache«, hat sich in der Corona-Krise die viele hunderttausende Menschen inzwischen wieder weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschrei- in Deutschland auf der Straße leben (laut Tagesschau. bung und Behandlung von Kindern als reine »Viren- de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um Schleudern« erwiesen.28 die 37.000 Jugendliche; vgl. DJI-Studie 2017)25 und wie viele Menschen vom Flaschen-Sammeln, Betteln oder Corona-Krise wirkte und wirkt nicht von Tafeln leben müssen. Für sie muss das Motto: »Wir auf alle Kinder gleich bleiben zuhause!« einigermaßen befremdend gewirkt haben. Etwa 80.000 Minderjährige lebten z.B. 2018 in Kinder in Armut und unter prekären Lebensbedingun- teilsanktionierten ALG II-Haushalten und über 5.000 gen sind durch die Kontaktsperren, Spiel-, Sport- und Kinder mussten ertragen, dass Ihre sog. Bedarfsge- Bewegungs-Verbote, die Wohnungseinschließungen sowie Bildungs-Ausschließungen besonders hart be- 22 Vgl. ebd., S. 56 23 Tophoven et al. 2018, S. 7 26 Vgl. Butterwegge 2020 24 Vgl. Klundt 2019, S. 154f. 27 Vgl. Bonath 2020 25 Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/hilfe- 28 Vgl. Deutsches Ärzteblatt 19/2020 v. 8.5.2020, S. 990ff.; Pamela fuer-junge-wohnungs-und-obdachlose/133826 Dörhöfer: Wie infektiös Kinder sind, in: FR v. 7.5.2020 10
troffen. Noch schlimmer traf es obdachlose Jugendliche zur Eindämmung des Corona-Virus wirken sich für die oder Flüchtlingskinder in Massenunterkünften, wo nie- betroffenen Kinder also besonders negativ aus und mand »social distancing« betreiben konnte und kann. können ihre Entwicklung in substanziellem Maße hem- Wer dagegen Garten, Pool und Indoor-Spielplatz sein men, wenn sie längerfristig aufrechterhalten werden Zuhause nennt, erlebt die überwiegenden Einschließun- müssen.«30 gen völlig anders, als jemand mit mehreren Personen in viel zu wenigen kleinen Räumen einer winzigen Behau- Während die verschiedensten bundesweiten Eltern- und sung mit ungesunder Wohnumgebung und schlechter Kinder-Befragungen und Studien noch ausgewertet technischer Ausstattung bei Eltern, die gerade um ihre werden, konnte eine im Mai 2020 noch laufende Studie wirtschaftliche Existenz kämpfen bzw. einen gravie- der Universität Oxford u.a. bereits untersuchen, wo die renden Teil ihres Gehalts oder gleich ihren Arbeitsplatz Hauptstressquellen für Eltern aktuell liegen. Sie zeigt, verlieren oder mangels Home Office-Möglichkeiten wie besorgniserregend sich die Corona-Krise auf die tägliche Infektionen befürchten müssen.29 Psyche von Familien auswirkt.31 Ihre ersten Zwischener- gebnisse vom 3. Mai 2020 besagen, dass von den bisher Deshalb hält auch die Armutsforscherin Gerda Holz 5.000 befragten Eltern ca. 80 % angaben, dass alle mehr Unterstützung seitens der Politik für nötig, um in Dienstleistungen, die bisher im Zusammenhang mit der dieser Zeit für Kinder, die in Armut leben, zu sorgen, Betreuung der Kinder standen aktuell fehlen. Besonders da ihnen die finanziellen Ressourcen, um eine ausrei- betroffen sind Eltern, deren Kinder einen erhöhten bzw. chende und gesunde Ernährung zu sichern, fehlen. »Der sonderpädagogischen Förderbedarf haben, wodurch Grund ist, dass armutsbetroffene Kinder und Jugend- bei ihnen das Stresslevel außerordentlich hoch sei.32 liche auf eine sozialstaatliche Sicherung angewiesen sind, die auf zwei Säulen basiert. Eine davon fällt in der Kinder und Jugendhilfe wochenlang Krise weg. Zum einen haben sie den Anspruch auf fi- nicht »systemrelevant«? nanzielle Unterstützung – zum Beispiel in Form des Re- gelsatzes, der ihnen nach Hartz-IV (SGB II) zusteht, zum Zu Beginn der fünften Woche des Shutdowns in anderen auf zusätzliche Leistungen zur Bildung und Deutschland, am Montag, dem 20. April 2020 ging es Teilhabe (BuT). Der Regelsatz wird als Geldleistung an auch bei »Hart, aber fair« mit Jörg Plasberg in der ARD die Eltern ausgezahlt. Die BuT-Leistungen bekommen mal wieder um Corona. Interessanterweise sagte bei die Kinder in Kitas, Schulen oder Vereinen, zum Bei- dieser Gelegenheit der Gesundheitsökonom und Bun- spiel, indem Kosten für eine Vereinsmitgliedschaft, den destagsabgeordnete Karl Lauterbach (SPD), dass unter Musikunterricht oder aber das gemeinschaftliche Mit- den nun vielen international und national bekannten tagessen in der Schule oder Kita übernommen werden. Studien zu Corona merkwürdigerweise keine einzige Mit der Schließung dieser Einrichtung bricht aber die untersuche, ob Kinder tatsächlich Viren-Verbreiter für Versorgung oder ein Zugang zu diesen BuT-Leistungen Erwachsene und Ältere seien (also sog. Spreader). weg. Und es ist klar: Der Regelsatz alleine reicht nicht.« Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der vie- (ZDF v. 3.5.2020) Die verschiedenen bürgerschaftlichen le Berufstätige mangels Home-Office-Möglichkeiten Initiativen zur Nothilfe seien selbstverständlich löblich, weiterarbeiten mussten, überall Märkte mittels Ord- doch, dass sich jemand um die existenziellen Belange nern Erwachsenen weiterhin zur Verfügung standen, von armutsbetroffenen Kindern kümmert, erst recht in aber Spielgelegenheiten und -Orte jeglicher Art und in Not- und Krisenzeiten, dürfe keine Frage von Wohltä- Großstädten sogar auf Privatgelände einfach mehr als tigkeit und bürgerschaftlichem Engagement sein. »Das sechs Wochen lang vor Kindern abgesperrt wurden, ist sozialstaatliche Verantwortung und über öffentli- ist dies schon bemerkenswert. Und es dauerte auch in che und im öffentlichen Auftrag tätige Institutionen Deutschland über einen Monat, bis öffentlich die Frage zu gewährleisten«, betont die Sozialwissenschaftlerin diskutiert werden konnte, ob nicht auch durch spiel- korrekterweise. betreuende Streetworker und Sozialarbeitende eine zumindest kontrollierte Nutzung von Spielplätzen in Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie Erwägung gezogen werden könnte (siehe Giffey in: FR v. für das »Institut der deutschen Wirtschaft« (IW) vom 23.4.2020). 20. April 2020. Auf Basis einer Datenauswertung des sozio-ökonomischen Panels gelangt deren Autor Wido Sah und hörte man im Fernsehen Kinder und ihre Per- Geis-Thöne zu dem Resümee, dass sich die Lage bei spektiven, so waren diese überwiegend mittelschichts- den verschiedenen im SOEP erfassten materiellen Res- orientiert (oft saßen sie im Garten und hinter ihnen sourcen für Kinder aus sog. bildungsfernen Familien, sah man sogar noch ein großes Trampolin). Selten ging aus Familien im Transferbezug, bei Alleinerziehenden es um Arbeiter- und Kassiererinnen-, Krankenschwes- und aus Familien mit Migrationshintergrund deutlich tern- und Altenpfleger-Kinder. Und sozial benachtei- ungünstiger darstellt als für andere Kinder. »Beste- ligte Kinder und Familien wurden fast ausschließlich hen in den betrachteten Bereichen Defizite, kann dies unter Kinderschutz-Kriterien betrachtet, als würden die Aktivitätsmöglichkeiten der Kinder im häuslichen nur die Armen ihre Kinder misshandeln. Die sozioöko- Umfeld deutlich einschränken, das Lernen zu Hause nomischen Sorgen der Familien in prekären Verhält- im Rahmen von Homeschooling schwierig machen und zu Konflikten in den Familien führen. Die Maßnahmen 30 Geis-Thöne 2020, S. 20 31 Vgl. https://www.familie.de/familienleben/oxford-studie-so-geht-es- eltern-und-kindern-in-der-corona-zeit-wirklich/ 29 Vgl. Tagesspiegel.de v. 10.5.2020 und Rosendorff 2020 32 Vgl. Waite u.a. 2020, S. 3f. 11
nissen z.B. nach Wegfall kostenloser Mittagessen in privatisieren, dann über Wochen die Corona-Brisanz in Kitas, Horten und Schulen für viele hunderttausende Bayern und NRW mit Fastnacht, Biergärten und Karne- Kinder waren zumindest einen Monat lang praktisch val zu verschlafen, und schließlich die großen Krisen- gar kein öffentliches Thema.33 Da war und ist jeder Manager zu spielen. Profi-Fußballverein und jeder millionenschwere Promi medienrelevanter als 13 Millionen Kinder und Jugendli- Auf den Appell vieler Wissenschaftler*innen »Mehr che zusammen (übrigens auch hinsichtlich Hygienema- Kinderschutz in der Corona-Pandemie« vom 29. März terial, Masken-, Test- und Behandlungsmöglichkeiten, 2020 antwortete die Bundesfamilienministerin in einem an die immer noch jeder Bundesliga-Club schneller Brief an die Initiatorinnen am 29. April 2020. Dr. Franzis- herankommt, als alle Fachkräfte von Altenheimen und ka Giffeys Antwort spricht über »besonders belastete Jugend-Einrichtungen zusammen). Familien« weitgehend in der Objektperspektive und von den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe immerhin Privatisierung der Krisen-Risiken überwiegend in der würdigenden Subjektperspektive. als neoliberales Programm? An keiner Stelle spricht die ziemlich wohlfeile Antwort Giffeys jedoch davon, was Familien und Kinder gera- Wenn es etwas gab, was die Corona-Krise weltweit lehr- de in Corona-Zeiten »belastet«, an keiner Stelle von te, so war es die Erkenntnis, dass Gesundheitssysteme Kinderarmut, von fehlendem, kostenlosen Mittagessen niemals (nach Fallpauschalen) marktgemäß, sondern in der Kita oder der Schule, von sinkenden Familien- besser bedarfsorientiert gestaltet sein sollten. Die Einkommen und steigenden Betreuungs-Anforderungen Privatisierung diverser Gesundheitssysteme weltweit in Familien, von starken Einschränkungen der Kinder- hat vielen Menschen buchstäblich das Leben gekostet. rechte, während Fabriken und Geschäfte, Kirchen und Unterdessen wurden alle Probleme und Risiken der Profi-Fußballer längst wieder fröhlichen Körper-Kontakt Corona-Krise auf die privaten Haushalte und Familien ausüben.34 abgewälzt, was zumeist nur hieß und heißt: auf die Frauen und Mütter, die in re-traditionalisierter Weise die Eine Lehre in »Marktversagen« meisten Sorgetätigkeiten aufgedrängt bekamen. Dieses oder ganz normaler Kapitalismus? Muster der Privatisierung sozialer Risiken passt selbst- verständlich auch in wirtschaftsliberale Modelle der Während seit Mai 2020 in Deutschland über 7 Millionen Privatisierung aller sozialer Bereiche (wie Bildung, Al- Beschäftigte in Kurzarbeit gemeldet sind und damit tersvorsorge, Pflegebedarf, Krankheit usw.). Somit lässt enorme Einkommenseinbußen zu erwarten haben, sich die Privatisierung der Krisen-Folgen und -Probleme kamen einige Krisen-Profiteure bereits zu Beginn des mühelos in neoliberale Programme der marktgemäßen Corona-Crashs gar nicht mehr aus dem Jubel-Modus Re-Regulierung der Gesellschaft integrieren, was sie heraus. Denn nicht alle leiden unter den Corona- jedoch nur umso pandemie-anfälliger macht (s. USA). bedingten Wirtschaftsabstürzen. Finanz-Spekulanten wie der Fonds-Manager Hendrik Leber können dem Vielerorts vergaß man angesichts der medienwirk- Börsencrash viel abgewinnen. Auf die Frage von Focus samen Inszenierung der sog. Krisen-Manager, dass Online, ob man sich als sog. Value-Investor über einen manch einer von ihnen eben noch verschärftem Abbau Börsencrash freue, antwortete der sog. Finanzprofi: »Ja, des Sozialstaates das Wort redete. So sagte z.B. der ich habe meinem Team gesagt, lasst uns auf die Jagd Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor etwa drei gehen. Denn uns kommen reihenweise tolle Gelegen- Jahren noch als damaliger Staatssekretär im Finanzmi- heiten entgegen, Aktien die bisher immer zu teuer nisterium, dass doch der Sozialetat ruhig zugunsten von waren. Ich bin in einer richtig positiven Stimmung!« Militär und Rüstung zurückstehen könnte. »Etwas weni- (Börsencrash als günstigen Einstieg nutzen. Finanz- ger die Sozialleistungen erhöhen in dem einen oder an- profi glaubt: »Dax wird noch tiefer fallen – aber das ist deren Jahr – und mal etwas mehr auf Verteidigungsaus- egal«, in: Focus.de v. 15.3.2020) gaben schauen«, forderte der CDU-Spitzenpolitiker in einem BILD-Interview (Jens Spahn, in: BILD v. 21.2.2017). Man musste nicht abwarten, bis der US-Präsident Noch Ende Januar 2020 sprach der Gesundheitsmi- relativ offen darauf spekulierte, alleinige Zugriffsrech- nister Jens Spahn »von einem im Vergleich zur Grippe te auf Anti-Corona-Medikamente oder -Impfstoffe zu ‚milden Infektionsgeschehen‘. Anfang Februar (2020) erhalten, die er dann gerne allen anderen Ländern behauptete er, es seien ausreichend Intensivstationen teuer hätte verkaufen wollen. Es musste kein Masken- da mit guter Ausstattung. Am 26. Februar wandte er diebstahl durch die USA stattfinden, um zu zeigen, wie sich öffentlich gegen das Absagen von Großveranstal- wirtschaftliche und zwischenstaatliche Konkurrenz tungen. Noch am 14. März (2020) trat Spahn ‚Gerüchten‘ funktioniert. Dazu reichten bereits die ersten Wochen entgegen, die Bundesregierung plane Einschränkungen der Corona-Krise in Europa des Frühjahrs 2020 und die des öffentlichen Lebens« (Frankfurter Rundschau v. jeweiligen nationalistisch-egoistischen Maßnahmen der 30.5./31.5./1.6.2020). Viele seiner Kolleg(inn)en waren EU-Staaten gegeneinander, die sich lieber gegenseitig wie er bislang damit beschäftigt, das Gesundheitssys- die Masken und Beatmungsgeräte wegnahmen, ihre tem u.a. mit Fallpauschalen kaputt zu kürzen und zu Grenzen gegeneinander abschlossen und jegliche soli- darische Wirtschaftshilfen wie Corona-Bonds (erstmal) ausschlossen. 33 Vgl. Danzer/Spieß u.a. 2020: Bildungsökonomischer Aufruf. Bildung ermöglichen! Unterricht und frühkindliches Lernen trotz teilgeschlosse- ner Schulen und Kitas v. 3.5.2020 34 Vgl. Giffey 2020, S. 1-4 12
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